Eine Nacht zum Verlieben - Clare Ashton - E-Book

Eine Nacht zum Verlieben E-Book

Clare Ashton

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Beschreibung

Liebe oder Reichtum? Dem Kopf oder dem Herzen folgen? Pia Benitez-Smith ist eine hoffnungslose Romantikerin. Als Fotojournalistin versucht sie aus der Masse herauszustechen, scheint jedoch vom Pech verfolgt zu sein. Eines Tages fällt sie der eleganten und faszinierenden Cate buchstäblich in die Arme. Als die beiden über die Bedeutung von Liebe und Geld streiten, ist Cate fest davon überzeugt, dass die perfekte Nacht immer teuer sein muss. Die bodenständige Pia ist ganz anderer Meinung und kann der Herausforderung nicht widerstehen. Mit Hilfe einer verführerischen Sommernacht in London will sie ihre neue Freundin ordentlich verzaubern. Wird ihr das gelingen?

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Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Von Clare Ashton außerdem lieferbar

Danksagung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über Clare Ashton

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Von Clare Ashton außerdem lieferbar

Poppy Jenkins liebt das Leben

Für Diana,

die mir nicht aus dem Kopf ging.

Kapitel 1

Lässig spazierte Pia am Rand des ruhigen Londoner Platzes entlang. Sie lief mit weit ausholenden Schritten und summte ein Liedchen. Unter ihrem Arm hielt sie die Kamera mit dem langen Zoomobjektiv fest an sich gedrückt. Sie lugte über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg. Niemand war außerhalb der hohen georgianischen Häuserreihe zu sehen. Niemand saß unter den Bäumen des großen Privatgartens im Zentrum des Kensington Square. Sie rollte ihre Schultern unter den Rucksackträgern und nach einem letzten Kontrollblick versuchte sie einen wendigen Sprung über das schwarze Geländer in den Garten.

Sie hörte hinter sich ein reißendes Geräusch und landete dumpf auf dem Rasen.

»Mist.«

Am Zaun aufgespießt flatterte die ausgefranste Gesäßtasche ihrer Jeans. Sie drehte den Oberkörper und prüfte ihr Hinterteil, konnte die Stelle aber einfach nicht sehen. Sie musste aussehen wie ein Hund, der seinen eigenen Schwanz jagt. Schließlich befühlte sie mit der Hand die ehemalige Position der Tasche. Ihre warme Hand fand nur ein kühles Stück Pobacke. »Verdammt noch mal.«

In den Bäumen über ihr schreckten zwei Tauben hoch und sie ärgerte sich darüber, laut geworden zu sein. In ihrer Panik stießen die Vögel gegen Äste, flatterten lauthals im Blattwerk und ein kleiner Tropfen grüner Flüssigkeit platschte zu Boden.

Pia wich dem superschnellen Platscher im letzten Moment aus und sah kichernd nach oben. »Entschuldigt, dass ich euch verschreckt habe«, flüsterte sie den Vögeln zu.

Sie wollte gerade auf den nächstbesten Baum klettern, als sie eine Frau den Platz betreten sah. Pia linste zwischen den Büschen hindurch und hoffte, nicht entdeckt worden zu sein. Die Frau neigte ihren Kopf, um in ihr Handy zu sprechen. Das lange honigblonde Haar, das ihr dabei ins Gesicht fiel, strich sie mit eleganten Fingern hinter ihr Ohr. Ihr Kleid sah adrett aus, aber nicht nach Büro.

Maßgeschneidert, cremefarben, ärmellos, sodass schlanke Arme zu sehen waren, und kurz genug, um lange, wohlgeformte Beine anzudeuten. Sie trug ein Tablet in einer Tasche bei sich. »Ich brauche eine Stunde, Süße«, sagte sie.

Die melodische, wohlklingende Stimme drang zu Pia herüber. Hingerissen von den sanften, tiefen Tönen starrte sie sie an.

»Tut mir leid. Schneller geht es nicht, nicht im Berufsverkehr.«

Der samtweiche Klang brachte Pias Innerstes zum Kribbeln.

»Natürlich freue ich mich darauf.« Das Lachen der Frau war verführerisch. Sie strich sich mit den Fingern durch ihr langes Haar. »Nein, ich muss zugeben, das ist nicht meine übliche Freitagabendbeschäftigung, aber ich werde dich wohl kaum im Stich lassen.«

Die Wangen der Frau erröteten und ihr Lächeln erhellte jeden Winkel ihres Gesichts. Es sah wunderbar aus. Sie hatte hohe Wangenknochen und volle Lippen. Die Rundung ihres Kiefers, die elegante Linie des Halses und der sanfte Anstieg ihrer Brust waren betörend. Wie in Trance hatte sich Pia in ihrem Dekolleté verloren, als die Frau sich umdrehte und vom Platz schlenderte.

»Reiß dich zusammen, Benitez-Smith«, flüsterte Pia. Sie schüttelte den Kopf, um die von der Frau verursachte Hypnose zu durchbrechen.

Pia blickte sich noch einmal um, hängte sich dann die Kamera über die Schulter und hüpfte auf die Bank zu Füßen einer großen Platane. Sie kletterte hinauf und nach einem Mundvoll Blätter und dem gelegentlichen Hängenbleiben an einem Zweig, schwang sie sich auf einen großen Ast, von dem aus sie einen guten Blick auf das höchste Gebäude der Häuserreihe hatte.

Auf ihren Ellenbogen gestützt, richtete sie das Objektiv auf das vierstöckige Stadthaus. Sie zoomte das Erdgeschoss heran und bewegte das Sichtfeld an der perfekten weißen Fassade und der glänzenden schwarzen Tür vorbei. Sie wechselte auf manuellen Fokus, um durch das Schiebefenster ins Innere des Hauses zu blicken. Am hinteren Ende des Zimmers befand sich ein großer Wohn- und Essbereich, durch das rückwärtige Fenster leuchtete das Grün eines gepflegten Gartens. Niemand war zu sehen.

Pia hob das Objektiv auf Höhe des ersten Stocks und war überrascht, eine graue, verschwommene Masse zu sehen. Sie bewegte sich sogar. Und machte Krach. Beim Blick über die Kamera hinweg entdeckte sie am Ende des Zweigs ein Eichhörnchen, das ärgerlich meckerte und quiekte. Es rannte mit einem irritiert klingenden Geräusch auf sie zu, rannte wieder weg, drehte sich dann um und starrte sie an. Spräche sie die Eichhörnchen-Sprache, würde sie wohl so etwas zu hören bekommen wie Raus aus meinem verdammten Baum. So eine wie dich wollen wir hier nicht.

»Wahnsinn, in diesem Teil der Stadt halten sich sogar die Eichhörnchen für etwas Besseres«, meinte Pia.

Das Tier saß schmollend am Ende des Astes. Es knabberte an etwas, von dem Pia hoffte, dass es eine Nuss war und nicht der vorherige unerwünschte Eindringling.

Sie ignorierte ihren pelzigen Begleiter und zoomte zu einem geräumigen Wohnzimmer im ersten Stock heran. An den weißen Wänden war farbenfrohe Kunst angebracht und niedrige, moderne Sofas standen in der Mitte aneinandergereiht. Die einzige Person, die sich im Zimmer befand, war eine kleine ostasiatische Frau mit Schürze, die einen geschwungenen Couchtisch polierte. In den großzügigen Schlafzimmern mit angeschlossenem Bad auf den beiden darüber liegenden Stockwerken bewegte sich sonst nichts.

Pia lehnte sich zurück und ließ die Kamera an ihrem Hals baumeln. »Er ist noch nicht da.« Sie seufzte und zuckte mit den Schultern in Richtung des Eichhörnchens, das abweisend quiekte und ihr den Rücken zudrehte.

Das vibrierende Telefon in der Tasche ihrer Jeans beendete ihr Gekicher. Auf dem Display blinkte unter dem Wort »Mama« die Telefonnummer von zu Hause.

»Hola, Mama«, seufzte Pia amüsiert. Ihre Mutter schien es immer zu ahnen, wenn sie etwas im Schilde führte.

»Mija.« Ihre Mutter dehnte das Kosewort. In den 25 Jahren, die sie in England lebte, hatte sie ihren spanischen Akzent nicht verloren, was Pia sehr mochte.

»Gibt es etwas Wichtiges, Mama? Ich bin … ich habe zu tun.« Ihr Blick streifte über den Platz und den Garten zu ihren Füßen.

»Was machst du gerade, Chica?« Die Stimme ihrer Mutter klang argwöhnisch.

»Ich arbeite, Mama.«

Pia hörte, wie ihre Mutter schnaubte. »Es ist nur Arbeit, wenn du dafür bezahlt wirst.«

»Wenn ich das hier richtig anstelle, werde ich bezahlt. Und es könnte einiges dabei herausspringen.« Sie war irritiert und betete, dass ihre Zielperson auftauchen und ihr einen Grund liefern würde, diese erneute Auseinandersetzung mit ihrer Mutter für heute zu beenden.

»Sorg dafür, dass es klappt«, fuhr ihre Mama sie an. »Bueno. Wirst du zum Abendessen zu Hause sein?«

»Habe ich dir doch schon gesagt, Mama.« Pia fragte sich, was ihre Mutter wirklich von ihr wollte. »Ist das der einzige Grund für deinen Anruf?«

»Na ja … Ich war heute auf dem Markt einkaufen …« Pia verdrehte die Augen. Da war es wieder. »Ich habe an diesem Stand wunderschöne Paprika gekauft und die junge Frau, wie nennst du sie?«

»Charlie.«

»Charlie. Sie ist immer noch Single, weißt du, und sie hat heute Abend nichts vor. Ich dachte, du könntest sie zu uns einladen. Ich koche deine Lieblingspaella, mache eine Flasche Rotwein auf, und lasse Euch beide −«

»Mama«, fiel Pia ihr ins Wort.

»Mija. Was stimmt nicht mit ihr? Sie ist freundlich. Sie hat eine ehrliche Arbeit.«

»Sie gibt dir billiges Gemüse.«

»Du solltest darüber keine Witze machen. Sie ist sehr großzügig mit Lebensmitteln. Das ist eine positive Eigenschaft bei einer Frau. Sie würde dich aufpäppeln.«

»Mama. Sie ist sehr nett.«

»Und hübsch.«

»Ja, und hübsch. Aber sie hat einfach nicht …« Vor sich hinstarrend überlegte Pia, wie sie es ihrer Mutter erklären sollte. Durch die Blätter hindurch sah sie wieder die wunderschöne Fremde.

Die Frau telefonierte und wanderte zurück zum Platz. Sie hielt ihr sonnengebleichtes Haar aus ihrem Gesicht, ihr Arm sah weich und geschmeidig aus. Pia erwischte sich dabei, wie sie die ansprechende Figur erneut bewunderte: die von der Sonne geküsste Haut, die üppigen Brüste, ihre elegante und entspannte Art zu gehen. Dieses warme Gefühl kribbelte wieder in ihr und Pia seufzte. »Ihr fehlt einfach diese Magie. Dieses gewisse Etwas. Ich weiß nicht.«

»Pia. Du wartest auf ein Hirngespinst.«

Pia protestierte und sackte in Erwartung der allzu vertrauten Ermahnung in sich zusammen.

»Du möchtest von einer Prinzessin erobert werden, aber die gibt es nicht. Und eines Tages wachst du als alte Frau auf und bist allein. Du brauchst eine, die sich um dich kümmert. Die dich bekocht. Die dich nachts in ihren Armen hält.«

»Mama, wie kannst du so was sagen, wenn du Dad hast?«

»Das ist was anderes. Bei uns war das etwas anderes. Und wo ist er jetzt? Was nützt ein Ritter in strahlender Rüstung, wenn …«

Pia hörte den letzten Satz nicht mehr. Ein schwarzer Mercedes hielt unter ihr an. Der Fahrer in einem dunklen grauen Anzug marschierte um den Wagen herum und öffnete die hintere Tür. Der Parlamentsabgeordnete Ihrer Majestät für West-Surrey stieg aus. Sein Kopf voller gepflegter grauer Haare, dem seine weibliche Wählerschaft so verfallen war, war eindeutig zu erkennen.

»Mama«, flüsterte Pia. »Ich muss los. Ich bin zum Abendessen zu Hause.«

Der Minister ignorierte seinen Fahrer und entfernte sich von dem Auto. Die Vordertür des Hauses wurde von einer unsichtbaren und unbeachteten Person geöffnet. Während der Minister drinnen verschwand, stieg der Fahrer, kaum überrascht über die gleichgültige Behandlung, zurück ins Fahrzeug und verließ den Platz.

Beim Gedanken an den Politiker − den seit Jahrzehnten kompromisslosesten Immigrationsminister, der Asylgesuche der verzweifeltsten Menschen ablehnte − drehte sich Pia der Magen um. Er lebte ein bequemes Leben und ließ sich von genau den Leuten bedienen, die er aus dem Land schmeißen wollte.

Pia zoomte in den ersten Stock, wo das Zimmermädchen putzte. Sie stellte auf Weitwinkel, um die volle Breite des Raums zu erfassen, und sah den Minister durch die Tür kommen. Kaum war er eingetreten, verzog er irritiert das Gesicht. Die kleine Frau verbeugte sich entschuldigend und versuchte, das Zimmer zu verlassen, wobei sie Staubtuch und Politur dicht an ihren Bauch drückte. Der Minister grinste spöttisch, sein Gesichtsausdruck war hässlich bei der Tirade von Worten, die für Pia nicht hörbar, aber in ihrer Absicht eindeutig waren.

Aber was Pia hören konnte, war ein beharrliches Gefiepe. Sie versuchte, es zu ignorieren. Sie machte ein paar Bilder von der Auseinandersetzung und konzentrierte sich auf den Vorfall am anderen Ende des Objektivs. Doch ihr Fokus wurde plötzlich unscharf und Haare schoben sich über das Bild.

»Was zum …?«

Pia nahm die Kamera herunter und entdeckte das besitzergreifende Eichhörnchen, dass ihr den Blick versperrte.

»Oh nein, jetzt nicht. Kusch. Geh weg.«

Pia reckte sich in die Höhe, um über das nervöse Vieh hinweg zu fotografieren. Im Haus schrie der Minister und deutete auf das Zimmermädchen, das versuchte, sich mit erhobenen Armen zu schützen. Pia drückte auf den Auslöser, in der Hoffnung, ein verfängliches Szenario einzufangen.

Über das verzweifelte Klicken der Kamera hinweg wurde das Quietschen des Eichhörnchens lauter und hartnäckiger. Pia bewegte langsam die Kamera außer Reichweite und versuchte, weiter zu fotografieren. Die Beharrlichkeit des Tieres war jedoch so nervig, dass sie schließlich hinschauen musste.

Das kleine Biest saß starr auf dem Ast. Würde ein Eichhörnchen spöttisch aussehen und knurren können, so würde es das jetzt sicher tun. Das verfluchte Tier kauerte sich nieder, wackelte mit dem Hintern und sprang vorwärts.

»Scheiße!«

Seine Krallen kratzten an der Rinde, als es auf sie zuraste. Während Pia aufsprang, sah sie, wie der Minister den Arm hob, um zuzuschlagen. Sie presste ihren Finger auf den Auslöser und zielte in Richtung Haus. Sie hörte, wie ihre Kamera ein Foto nach dem anderen schoss, und konzentrierte all ihre Energie drauf, den Knopf zu drücken. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass um sie herum nur noch Luft war.

Für einen Moment fühlte Pia sich federleicht. Schmetterlinge breiteten sich in ihrem Magen aus. Das atemberaubende Gefühl, aus dem Baum geworfen zu werden, war fast angenehm, bis sie fast wieder auf dem Boden landete.

Ihr Gürtel verfing sich an einem Ast und spannte ihr um den Bauch. Ihr ganzes Gewicht presste sich in die Schlinge und es raubte ihr den Atem. Sie hing kopfüber, hechelte, und ihre Füße waren in den raschelnden Zweigen über ihr verheddert.

Obwohl sie in der Luft hing, fühlte sie sich beengt. Als sie schmerzhaft einzuatmen versuchte, presste sich weicher Stoff gegen ihren Mund und ihre Nasenlöcher. Sie öffnete die Augen und sah bloß strahlendes Weiß vor sich. Ihr T-Shirt war über ihr Gesicht gefallen. Außerdem spürte sie eine leichte Brise auf ihrem nackten Bauch und den halb entblößten Brüsten.

»Oh je, alles in Ordnung?«

Trotz ihrer Atemlosigkeit und des Gefühls, sich gleich kopfüber erbrechen zu müssen, spürte sie ein Flattern im Bauch und ihr Herz schlug ein wenig schneller. Das war die unverwechselbare Stimme der schönen Frau.

Kapitel 2

Ein letztes Mal schlenderte Cate den Weg von der U-Bahn-Station zum Kensington Square. Sie bestaunte die hohen verzierten Gebäude der Kensington High Street. Sie bewunderte den imposanten grauen Block des Art-déco-Kaufhauses und nahm die roten Schemen der vorbeirumpelnden Doppeldecker-Busse wahr. Sie bog von der belebten Hauptstraße in die ruhige Abgelegenheit des begrünten Platzes ein und ließ sich von dessen Frieden durchströmen.

Sie seufzte. Sie hatte es geliebt, hier zu wohnen. Auf der anderen Seite des Platzes hatte sie eine kleine Atelierwohnung über der Kunstgalerie gehabt. Die Miete war immer zu hoch für ihr Einkommen gewesen, aber sie hatte viele angenehme Stunden damit verbracht, die Privatgärten anzuschauen. Sie kannte jeden Baum und, durch die Blätter hindurch, jeden Bewohner hinter den Fenstern der georgianischen Häuserreihe.

Panik und Sehnsucht wallten in ihrer Brust auf. Jedes Mal, wenn ihr klar wurde, was sie aufgab, wurde sie davon ergriffen. Sie versuchte, es durch tiefe, lange Atemzüge loszuwerden. Sie würde diesen Ort vermissen. Sie warf einen letzten Blick über den Platz, um sich von ihren Nachbarn zu verabschieden.

Und nur dank dieser Verzögerung bemerkte sie eine verdächtig wirkende junge Frau mit kurzen, dunklen Haaren. Sie bemühte sich, am Zaun zum Garten unbeteiligt zu erscheinen. Was hatte sie vor? Die zierliche Frau prüfte die Straße in beide Richtungen und sprang mit einem geschmeidigen Satz über den Zaun. Cate war zu weit weg, um zu verstehen, was sie sagte, aber sie schien zu fluchen. Sie nahm ein Stück Stoff von einer Zaunstange und wirbelte herum, wobei sie nach ihrem Hintern tastete. Cate lächelte, als die Frau ihre Hand wegnahm und ein blasser Streifen Haut sichtbar wurde.

Cates besser werdende Laune erfuhr einen Dämpfer, als ihr Handy klingelte.

»Hallo Libby. Ich wollte dich gerade anrufen.« Gleichzeitig lugte sie durch Bäume und Sträucher, um die fluchende Frau dahinter im Blick zu behalten.

»Entschuldige, was hast du gesagt?«, fragte Cate. »Gib mir eine Stunde, Süße.« Über die Seitenstraße schlenderte sie zurück und versuchte zu verbergen, dass sie die junge Frau beobachtete. Sie blickte rechtzeitig über ihre Schulter, um zu sehen, wie ein Paar schlanker Beine in einem Baum verschwand.

Die Frau fuchtelte eine Weile zwischen den Ästen umher, spuckte Blätter aus und schaute dann durch eine Kamera mit einem großen Teleobjektiv.

»Was zum Teufel?«, murmelte Cate. »Nein, tut mir leid. Du warst nicht gemeint, meine Liebe.« Die Stimme ihrer besten Freundin ertönte wieder blechern durch das Handy und Cate schlich zu den Gärten zurück.

Was führte die kleine Frau im Schilde? Einer der Minister des Kabinetts wohnte in dem Gebäude. War sie ein Paparazzo? Als Cate gerade nach ihr rufen wollte, fing die Frau im Baum an, mit den Armen zu wedeln. Cate konnte immer noch nichts hören. Sie sah, wie sie den Mund bewegte, aber mit wem sprach sie?

Ein Eichhörnchen? Sie sprach mit einem Eichhörnchen. Was in aller Welt …?

»Hörst du mir zu, Cate?«, erklang es lauter an ihrem Ohr.

»Entschuldige. Was hast du gesagt? Nein, wirklich nicht, ich schaffe es nicht früher.« Cate ließ ihre Freundin eine Triade von Warnungen über sie ergießen, während sie weiterhin die Fotografin beobachtete. Das Eichhörnchen war verschwunden. Aber die Frau sprach immer noch und gestikulierte nachdrücklich mit einem Arm. In der anderen Hand hielt sie ein Handy.

Cate spazierte näher an den Zaun und allmählich hörte sie das ein oder andere Wort aus dem Monolog im Baum über ihr heraus. Spanisch. Sie sprach definitiv spanisch, aber zu schnell, als dass Cate es verstehen konnte.

Diese Spanisch- und Eichhörnchen-Sprache-sprechende Frau war die seltsamste Pressevertreterin, die ihr je begegnet war. Cate wandte sich wieder zur Straße, um nicht erwischt zu werden. Wenig später bemerkte sie, wie der Wagen ihres Nachbarn in den Square einbog.

»Das sollte interessant werden … Nein, nicht du«, erwiderte Cate, als ihre Freundin ihr ins Ohr quäkte. »Ich meinte nicht, dass du nicht interessant bist. Ja. Ich höre zu. Ich werde da sein. Wir sehen uns später.« Sie beendete das Telefonat.

Cate hielt inne und sah dabei zu, wie sich die Situation entwickelte. Der Minister − einer der unangenehmsten Sorte, wie sie fand − betrat das Haus und sein Wagen wurde weggefahren. Cate öffnete das Tor mit ihrem Anwohnerschlüssel und betrat den Garten. Die junge Frau, die Cates Anwesenheit nicht bemerkt hatte, schoss weiterhin Fotos vom Haus des Ministers. Cate trat näher heran.

Plötzlich fluchte die Frau, quietschende Geräusche wurden laut und eine Sekunde später brachen Äste und Zweige unter dem Gewicht der fallenden Fotografin.

»Oh mein Gott!« Cate sprang aus Reflex vorwärts. Hätte sie darüber nachgedacht, wäre ihr der Versuch, den Sturz der Frau aufhalten zu wollen, lächerlich vorgekommen. In ihren ausgestreckten Armen landete allerdings nur die Kamera.

Die Frau hing über ihrem Kopf, an einem Ast hängend. Ihre Arme baumelten in Richtung Boden und das weiße T-Shirt bedecke ihr Gesicht.

»Oh je, alles in Ordnung?«

Die dumpfe Antwort hinter dem T-Shirt klang angespannt. »Mir ist ein bisschen übel.«

»Aber sind Sie verletzt?«

»Mir ist ein bisschen übel«, erklang die jämmerliche Stimme.

Cate grinste. Die junge Frau hatte sich nicht ernsthaft verletzt. Cate blickte auf die zierliche Gestalt, die kopfüber schaukelte. Eine schwarze Jeans lag eng an ihren schlanken Beinen. Der straffe Bauch lag frei und Cate bemerkte ihre einladende und makellose Haut. Sie lugte auf den BH hinab, der weiß gegen einen dunklen, mediterranen Teint leuchtete, und erlaubte sich den dreisten Gedanken, dass er die üppigen Brüste in dieser Lage nicht länger stützen musste.

Cate riss sich zusammen und legte die Kamera auf den Boden.

»Hier. Wir sollten Sie bedecken.« Sie hob das T-Shirt der jungen Frau an und steckte es ihr in die Hose. Der Anblick des freigelegten, leuchtend roten Gesichts brachte sie zum Lachen. »Wir müssen Sie da runterholen, bevor Sie explodieren.«

Cate schob ihre Hände unter die Arme der Frau und stützte ihren Kopf mit ihrer Schulter, während die Frau sich abmühte, freizukommen. Mit einem brechenden Ast und einem dumpfen Schlag auf den Boden landete die neugierige Fotografin wieder auf der Erde. Sie stöhnte und hielt sich den Magen. Als das Blut aus den Wangen der Fotografin zurückgewichen war, stellte Cate überrascht fest, was für ein hübsches Gesicht sie hatte. Sie hatte feine Gesichtszüge und wunderschöne Lippen. Große braune Augen und tiefschwarze Wimpern ließen sie eher wie ein hilfloses Tier erscheinen und nicht wie ein Paparazzi-Monster. Sie war ein paar Jahre jünger als Cate, vermutlich Anfang zwanzig.

»Sie haben meine Kamera aufgefangen«, sagte die junge Frau. Ihre Stimme klang vor lauter Unwohlsein angespannt, aber sie wirkte überrascht. Sie streckte sich über den Rasen.

»Oh nein, so läuft das nicht.« Cate schnappte sich die Kamera und die Fotografin war immer noch zu erschöpft, um sich zu wehren. »Ich bin nicht gemein genug, Sie in einem Baum hängen zu lassen, aber ich kann nicht zulassen, dass Sie Schnappschüsse von meinen Nachbarn machen. Mal sehen, was Sie von denen wollten.«

Cate betrachtete die Bilder im Display der Kamera. Die ersten waren verschwommene Fotos von Blättern und Ästen und dem Eichhörnchen. Einzelne zeigten das Haus des Ministers, waren aber unscharf und daher nicht zu verwerflich.

Auf dem nächsten war jedoch das Dienstmädchen zu sehen, die ihren Kopf schützte und versuchte, aus einem Raum zu verschwinden. Sie wich zurück und duckte sich. Cate ging weiter, wodurch in umgekehrter Reihenfolge eine Sequenz sichtbar wurde, die aussah, als würde der Minister seine Hand von der Angestellten wegziehen. Dann stoppte Cate bei einem eindeutigen Foto. Der Minister hielt die Hand nach hinten und sein Gesicht zeigte eine derart brutale Entschlossenheit, dass sein Vorhaben unmöglich missverstanden werden konnte.

Cate betrachtete die junge Frau. »Wissen Sie, was Sie hier haben?«

»Habe ich es erwischt?« Ihr Blick schien gleichzeitig besorgt und aufgeregt. Als Cate die Kamera zu ihr drehte, strahlte sie vor Freude.

»Hab das Schwein erwischt«, sagte sie.

Cate betrachtete sie abschätzend. »Was haben Sie damit vor?«

»Sie an jede einzelne Zeitung verkaufen. Alle sollen wissen, was für ein verlogener Scheißkerl der angeblich so respektable Herr Minister ist.«

»Wirklich?« Cate wunderte sich über die heftige Reaktion. »Warum legen Sie sich dann mit ihm an?«

Der Gesichtsausdruck der jungen Frau zeigte eindeutige Abscheu. »Er lehnt jeden einzelnen Asylantrag von Lesben und Schwulen ab. Er will die Einwanderungszahlen für Länder begrenzen, von denen er weiß, dass dort Tyrannei herrscht. Und all das im Namen der Wahrung britischer Werte. Die Leute sollen sehen, welche Werte er tatsächlich vertritt.«

Cate blickte zwischen der leidenschaftlichen Frau auf dem Boden und dem Display der Kamera hin und her, während sie noch einmal die Bilder betrachtete. Sie sah die wütende Auseinandersetzung vom Ende bis zum Anfang, als der Minister durch die Tür trat. Dann wechselten die Aufnahmen zu einem gestochen scharfen Foto mit Kindern drauf.

Cate machte bei diesem Szenenwechsel einen Schritt zurück. Ein bewölkter Himmel und graue Betonhochhäuser waren im Hintergrund zu sehen. Drei kleine Kinder in alter Kleidung, deren Farbe durch unzählige Wäschen verblasst war, standen auf einem Schutthaufen. Aber ihre Gesichter strahlten. Cate fragte sich, was die Fotografin gesagt haben könnte, dass sie so fröhlich machte. Ihre rosigen Wangen brachten Farbtupfer in die karge Umgebung, die dem Farbton der roten Mohnblumen glich, die in den Trümmern im Hintergrund wuchsen.

Cate betrachtete die ernsthafte junge Frau auf dem Rasen, deren Gesicht immer noch voller Leidenschaft und Entschlossenheit war.

»Wie heißen Sie?«, fragte Cate sanft.

»Pia. Pia Benitez-Smith.«

Cate lächelte. »Nun, Pia Benitez-Smith. Ich glaube, Sie sind eine sehr talentierte Fotografin mit dem Herzen am rechten Fleck.«

Cate wollte gerade die Kamera aushändigen, bemerkte aber, dass sich Pias Benehmen verändert hatte. Sie wirkte plötzlich schüchtern. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihre Mimik weich und ehrfürchtig. Der Veränderung von der wild entschlossenen Fotografin, die gegen den Minister wetterte, war verblüffend. Cate kniete sich neben sie. Pias schockierter Blick folgte ihren Bewegungen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Cate und nahm Pias Gesicht in ihre Hände.

Sie berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen. Pias weiche, warme Haut ließ sie erschaudern. Ihre Fingerspitzen kribbelten. Das wohlige Gefühl vibrierte durch ihre Arme und drang bis tief in ihr Inneres. Sie konnte sich nicht bewegen. Wie eine Statue, wenn auch eine, deren Herz schlug und deren Blut heiß zu werden schien.

»Mir geht es gut, danke«, sagte Pia und blinzelte mit diesen riesigen Augen. Tiefe, haselnussbraune Augen mit tiefschwarzen Pupillen.

Cate wurde von diesem Anblick immer mehr in den Bann gezogen und wollte tiefer und tiefer darin versinken. Einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke und ihr Gegenüber schaute mit der gleichen Intensität zurück. Es fühlte sich an, als könnte Pia durch sie hindurchsehen: durch jedes Atom, jedes Geheimnis, jeden Moment in Cates Leben.

»Mir geht es gut«, flüsterte Pia.

Cate zuckte zurück. »Gut«, sagte sie schnell. Die Trance war durchbrochen. Sie überspielte ihre Verlegenheit über den intimen Moment zwischen ihnen mit einem Lachen und zog ihre Hand zurück. »Ja, gut.« Und sie drückte Pia die Kamera in die Hand.

Cate stand auf und strich sich die Grashalme von den Knien. »Sie sollten sich beeilen, die Bilder rauszuschicken, wenn Sie noch den Redaktionsschluss der Tageszeitungen schaffen wollen.«

Pia starrte sie immer noch mit offenem Mund an.

Cate räusperte sich. »Und so sehr ich auch die Entlarvung des ehrenwerten Ministers begrüße und hoffe, dass seine Frau ihn rausschmeißt und sich um die Bediensteten kümmert, lassen Sie sich bitte nicht noch einmal von mir hier erwischen.« Sie bemühte sich, ernst zu klingen, schaffte es aber nicht, ein amüsiertes Lächeln zu unterdrücken.

»Viel Glück, Pia Benitez-Smith.« Cate drehte sich um und verließ den Garten. Die ganze Zeit spürte sie dabei Pias Blick auf ihrem Rücken.

Kapitel 3

Das Ganze war so schnell geschehen, dass Pia der schönen Frau nur noch schockiert hinterherstarren konnte. Der Versuch, intelligent auszusehen, war schwierig genug gewesen, während ihr Bauch sich noch davon erholte, auf schmerzhafte Weise eingequetscht worden zu sein. Sie hatte ihr letztes bisschen Energie darauf verwendet, die Frau nicht von oben bis unten abzuchecken. Doch als sie ihren Namen mit dieser samtenen Stimme aussprach, ihr Komplimente über ihre Arbeit machte und anfing, sie zu berühren, hatte Pias Verstand ausgesetzt.

Die Frau hatte sie fasziniert. In diesem Moment hätte sie Pia befehlen können, eine Bank auszurauben, und sie hätte es getan. Also starrte sie nur, völlig unberührt von Zeit und Raum, alles war verschwommen, alles außer der Frau, der die Sonne durch die Haare schimmerte und deren Stimme einen tobenden Elefanten hätte unterwerfen können.

Und mit dem gleichen einfältigen Ausdruck schaute Pia ihr beim Weggehen zu. Die Hüften der Frau schwangen, als sie durch den grünen, schattigen Garten schlenderte. Sie wurde immer kleiner, verließ den umzäunten Bereich und verschwand in einem Durchgang an der Ecke des Platzes. Pia wusste nicht, wie lange sie so benebelt war, aber ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie der Frau quasi nach Hause gefolgt war. Sie drehte sich schnell um, wollte nicht wie ein Stalker wirken.

Wie war ihr Name? Sie hatte noch nicht mal nach ihrem Namen gefragt.

Pia prüfte in der Kamera, welches Foto die Frau zuletzt gesehen hatte. Es war das mit den Kindern, das sie an diesem Morgen beim Vorbeigehen an einer Reihe von Hochhäusern geschossen hatte. Sie hatte ihr Kichern gehört, während sie auf einem verfallenen Haufen Geröll und Betonblöcken herumtobten. Ein paar Meter entfernt kämpfte deren Mutter mit einem kleinen Baby in einem Kinderwagen, das lieber seine Füße als seinen Hintern in eine Windel stecken wollte.

»Entschuldigen Sie bitte. Darf ich ihre Kinder fotografieren?«, hatte Pia gefragt.

»Wozu?«, hatte die Frau mit einem Blick über ihre Schulter gefragt.

»Ich möchte ein Foto für eine Ausstellung machen. Sie heißt Schönheit an ungewöhnlichen Orten. Ihre Kinder sehen so glücklich beim Spielen auf dem Schutt aus. Ich finde das wunderschön.«

»Ha! Die kleinen Scheißer? Klar, tun Sie sich keinen Zwang an, Schätzchen.« Und damit hatte sich die Frau wieder dem Baby zugewandt, dass sich die Windel übers Gesicht zog.

Pia hatte nur einen Versuch gehabt, die Kinder zu fotografieren, bevor sie es bemerkten. Sie hatten hochgeschaut, das in sich versunkene und ehrliche Lächeln noch immer im Gesicht, und Pia hatte das Foto geschossen. Es war ihr gelungen, ihr Wesen einzufangen. Weitere Versuche waren nicht nötig gewesen.

Pia spürte, wie ihr vor Stolz warm ums Herz wurde, weil die wunderschöne Frau ihre Arbeit bewundert hatte. Automatisch blickte sie zu dem Gebäude, in dem die Frau verschwunden war.

»Wow«, flüsterte Pia, immer noch wie betäubt durch ihre Begegnung.

Nach und nach nahm sie die kalte, harte Kamera in ihren Händen wahr.

»Mist, ich muss die abschicken.« Sie klickte durch die Bilder und betrachtete den abgelichteten Vorfall. Das Bild, das die Frau ihr gezeigt hatte, war definitiv das Beste. Sie hatte ein gutes Auge dafür. Pia wurde immer aufgeregter, während sie das Foto auf ihr Smartphone übertrug. Für eine Bildbearbeitung zu Hause war keine Zeit. Sie schrieb hastig eine E-Mail an ihren Agenten und schickte sie mit zitternden Fingern ab.

Pia stand auf und atmete aus. Nicht wissend, was sie tun sollte, lief sie unter den Bäumen hin und her. Sie hoffte, ihr Agent würde ein oder zwei Käufer finden, die den Minister nur zu gerne bloßstellen wollten. Mindestens eine Minute verging. Pia wurde nervös und fragte sich, ob sie anrufen sollte. Sie hielt das Telefon in der Hand, drückte es und trommelte mit den Fingern auf dem Display herum.

Sie schreckte aufgeregt auf, als das Telefon zu vibrieren begann.

»Hallo. Ist es angekommen?«, fragte Pia hastig in das Gerät.

»Pia, das ist Gold wert«, krächzte ihr alter Agent »Es ist etwas spät am Tag, aber willst du einen Exklusivkäufer dafür haben?«

Pia lief mit kurzen, unruhigen Schritten im Garten auf und ab. »Nein. Bring es bei möglichst vielen Zeitungen, Nachrichtensendern und was dir sonst noch so einfällt unter.«

»Bist du sicher? Mit der richtigen Strategie könntest du ein paar Tausend dafür bekommen.«

»Ich will es einfach veröffentlicht haben.«

Ihr Agent schwieg am anderen Ende des Telefons.

»Bitte«, sagte Pia.

»Weißt du, du und deine Mutter könnten mehrere Tausend gut gebrauchen«, versuchte ihr Agent zu argumentieren.

Pia zögerte beim Gedanken an ihre Mutter für den Bruchteil einer Sekunde. »Vielleicht. Möglicherweise verkauft es sich aber überhaupt nicht, wenn wir uns verspekulieren. Ich will es jetzt draußen haben.«

»Okay, okay. Ich bin dran.« Ihr Agent legte auf.

Pia sackte auf einer Bank zusammen und hielt das Telefon umklammert. Sie versuchte mit reiner Willenskraft, ihren Agenten zu einem Rückruf zu bewegen, obwohl nur ein paar Sekunden vergangen waren.

Eine SMS-Benachrichtigung ertönte. Gib mir etwas Zeit. Geh was Trinken oder sonst was. Ich weiß, dass du am Telefon wartest.

Pia schmunzelte bei der Nachricht. Ihr Agent kannte sie nur zu gut. Etwas entspannter wandte sie sich ihrer Kamera zu. Sie durchsuchte weiter die Bilder zum Vorfall und analysierte jedes Foto auf seine verwertbaren Eigenschaften. Testfoto. Verschwommen. Schlechtere Version des verschickten Fotos. Nettes Bild mit Baum und Himmel. Porträt eines Eichhörnchens, das ihr von einem vertrauten Ast entgegenblickt.

Pia lachte trocken auf. »Du kleines …«

»Sie sind immer noch da.«

Die betörende Stimme war unverkennbar und Pia sprang auf.

»Hi«, sagte Pia. »Tut mir leid. Ich bin so froh, Sie wiederzusehen. Ich habe Sie gar nicht nach Ihrem Namen gefragt oder mich bedankt.«

Zum Glück hatte sie vor dem Sprechen keine Zeit zum Nachdenken gehabt, denn als sie sich auf die Frau konzentrierte, konnte sie nicht mehr klar denken.

Die Frau lächelte. »Catherine. Oder Cate. Bitte nennen Sie mich Cate.«

Pia nahm den Namen kaum wahr. Sie achtete viel mehr auf ihr Kleid und was es bedeckte, oder auch nicht bedeckte, zumindest nicht sehr gut. Cate trug ein weißes Seidenkleid, das von einem einzigen breiten Band um die Schulter gehalten wurde. Ihr Dekolleté lag frei, sogar von Schmuck. Das weiche Material umschmeichelte ihre Brüste und Pia musste nicht zweimal hinschauen, um zu sehen, dass Cate keinen BH trug. Das war in gewisser Weise enthüllender, suggestiver als Nacktheit. Als Pia das dünne Material betrachtete, blieben auch keine Zweifel hinsichtlich der schönen Form von Cates Beinen.

Pia hörte ein Husten und bemerkte, dass Cate sie anstarrte, als würde sie auf eine Antwort warten.

»Hä?«, murmelte Pia.

Cate runzelte die Stirn. »Geht es Ihnen wirklich gut?«

»Mmh.«

Pias Wangen wurden heiß, als Cate sich runterbeugte und sie eindringlich musterte. Sie sah, wie Cates Augen zwischen den ihren und ihrer Stirn besorgt hin und her blickten. Ihre Iris schimmerte zwischen grau und blau und Pias Lippen öffneten sich ehrfürchtig.

»Haben Sie sich bei dem Sturz auch ganz sicher nicht den Kopf gestoßen?«, fragte Cate.

Pia beobachtete, wie sich die Furchen auf Cates Stirn vertieften, und bewunderte ihre Augenbrauen: zwei perfekte Bögen, die sich in der Mitte fragend hoben. Pia öffnete ihren Mund, aber ihre Sprachfähigkeit war immer noch angeschlagen. Sie schüttelte langsam und mit Nachdruck ihren Kopf.

»Wohnen Sie in der Nähe? Kann ich Sie nach Hause bringen?« fragte Cate, deren Augenbrauen sich jetzt verwirrt wölbten.

Pia schüttelte ihren Kopf, wobei sie dämlich lächelte.

Cate warf einen Blick auf die dünne, goldene Uhr auf ihrem nackten Arm und schaute Pia stirnrunzelnd an. »Wir sollten uns irgendwo hinsetzen. Ich möchte sichergehen, dass es Ihnen gut geht.«

Pia hatte nicht ganz registriert, warum Cate besorgt war, doch sie schob ihren Arm unter Cates und ließ sich in angenehmer Benommenheit wegführen.

Pia folgte Cate in das Roof Garden Restaurant hoch über dem alten Kensington Kaufhaus.

Cate stand mit ruhiger Selbstsicherheit neben ihr, in der Hand ihre schwarze Clutch, während sie darauf warteten, zum Platz geführt zu werden.

Pia fragte sich, ob sie genauso schmuddelig aussah, wie sie vermutete, und fummelte am Träger ihres Rucksacks herum. Sie fühlte sich, als wäre sie rückwärts durch eine Hecke gezogen worden. Nur dass es ein Baum gewesen war. Sie fiel in diesem steifen, weißen Restaurant mit seinen floralen Tapetenakzenten und der modernen Bar auf. Selbst die Leinentischdecken waren makellos. Zumindest war es ruhig im Restaurant, da nur ein oder zwei Tische mit gut gekleideten, frühen Abendgästen besetzt waren.

Cate drehte sich zu ihr. »Alles in Ordnung? Wir sind bestimmt gleich dran.«

»Mir geht es gut«, antwortete Pia und bemühte sich, locker zu klingen. »Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, hier herauf zu gehen. Viel zu vornehm für mich.«

Cates Lippen kräuselten sich amüsiert. »Es ist schon ziemlich mutig von Ihnen, sich die Blöße zu geben, heute Abend hierherzukommen.«

»Wirklich?« Und dann verstand Pia, was Cate damit gemeint hatte, als sie die Blöße ihrer linken Pobacke wahrnahm. Schnell bedeckte sie mit der Hand ihren Po.

Cate lachte. »Alles gut. Es wird fast von Ihrem T-Shirt verdeckt. Fast.«

Ein junger, vollständig in schwarz gekleideter Mann erkannte Cate und führte sie zu einem Tisch am Fenster, das sich über die gesamte Länge des Raumes erstreckte. Pia hörte mit halbem Ohr, wie Cate ein Glas Mineralwasser für Pia und einen Kaffee für sich selbst bestellte.

»Setzen Sie sich, Madam. Es dauert nicht lange«, meinte der Kellner, aber die Aussicht hatte Pia sprachlos gemacht und sie konnte nicht antworten. Sie hatte London schon ihr Leben lang bewundert und das Panorama raubte ihr den Atem. Sie konnte über die spitzen und gebogenen rot-grauen Dächer der großartigen Häuser Kensingtons bis zur Kuppel der Albert Hall blicken. Die satt-grünen Bäume der Parks unterbrachen die Skyline und in der Ferne rundeten das Gherkin und das London Eye den Anblick ab.

Sie bemerkte Cates Lächeln. »Gut, nicht wahr?«

»Unglaublich.« Pia wünschte sich, sie könnte drauflosknipsen.

»Setzen Sie sich und trinken Sie was.« Cate deutete auf das Glas, das der unaufdringliche Kellner dagelassen hatte. »Ich möchte, dass Sie sich ausruhen, und sichergehen, dass es Ihnen gut geht.«

Kaum hatte Pia ihr Hinterteil auf den Stuhl gesetzt, vibrierte schon ihr Telefon. Sie schnappte es sich.

»Mein Agent«, sagte sie grinsend zu Cate. »The Guardian hat das Foto angenommen.«

»Das glaube ich sofort. Herzlichen Glückwunsch. Das ist ein ziemlicher Knüller.«

Pia rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl herum. Eine weitere Textnachricht ließ ihr Telefon vibrieren.

»Oh, BBC wird es auch bringen.« Pia konnte ihre Begeisterung kaum zurückhalten, blieb aber still sitzen, als sie Cates ernsten Blick bemerkte.

»Sie haben sich nicht für Exklusivrechte entschieden?«

Pia schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will, dass das Foto überall gedruckt wird.«

Cate nickte. »Ja, natürlich wollen Sie das.« Vergnügt beugte sie sich verschwörerisch vor. »Gehören Sie wirklich zu den Paparazzi? Sie scheinen nicht von der üblichen Sorte zu sein.«

»Ehrlich gesagt bin ich ziemlich miserabel darin«, gab Pia zu. »Das ist nicht mein Vollzeit-Job. Also nicht dieser Enthüllungskram.«

Cate zog eine Augenbraue hoch. »Was machen Sie dann, wenn Sie nicht gerade am Kensington Square herumhängen?«

Pia lächelte. »Zurzeit bin ich freiberufliche Fotografin. Ich fotografiere lokale Ereignisse und verhökere sie an jedes Blatt, das sie haben will. Manchmal habe ich Glück und entdecke Prominente, aber mit Sonnenbrillen getarnte Menschen zu knipsen, ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung.«

»Was denn dann?«

Pia beugte sich vor, sodass sie nur noch kurzen Abstand zu Cate hatte. »Ich liebe es, Schnappschüsse zu machen und die Menschen ganz natürlich zu erwischen.« Sie sah nachdenklich zur Seite, auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihre Freude daran zu beschreiben. »In einem Moment der ungestörten Freude oder wenn sie etwas berührt, kann man ganz kurz erkennen, wer die Person wirklich ist.« Sie drehte sich wieder zu Cate und hatte deren volle Aufmerksamkeit. Pia zuckte mit den Schultern. »Aber berühmte Menschen dabei zu erwischen, wie sie genauso Mist bauen wie wir alle, das macht mir keinen Spaß. Ich liebe es, die echten Momente der Menschen einzufangen, aber auf ehrliche Art und Weise.«

»Aber jemanden wie den Immigrationsminister auszuspionieren, geht in Ordnung?«

Pia kicherte. »Ja. Es stört mich nicht, widerwärtige Typen zu entlarven, insbesondere, wenn sie unehrlich oder heuchlerisch sind.«

Cates Mimik schwankte zwischen Anerkennung und einem anderen Gefühl, das sie verbarg, bevor Pia es deuten konnte. Sie blinzelte und ihr Gesicht entspannte sich zu einem weichen Schmunzeln. Ihre Augen blieben immer auf Pia gerichtet und wechselten zwischen grau und grün, als ein Schatten über ihr Gesicht strich.

»Glauben Sie, dass Sie Menschen gut lesen können?«, fragte Cate.

»Ihre Mimik? Was sie denken?«, fragte Pia zurück.

Cate nickte.

»Mein Vater sagt, ich kann das. Er sagt, ich hätte das Auge einer Künstlerin. Ich beobachte Menschen permanent und frage mich, wer sie sind, was sie beruflich machen und worüber sie reden. Betrachten trainiert.« Pia zuckte mit den Schultern. »Aber meine Mama sagt, ich würde nur sehen, was ich sehen will.« Sie kicherte.