Rückkehr ins Leben - Clare Ashton - E-Book

Rückkehr ins Leben E-Book

Clare Ashton

4,9

Beschreibung

Ein Dorf an der Küste Cornwalls. In dem kleinen Supermarkt folgen ihr die verstohlenen Blicke der Einheimischen, ihr mitleidiges Getuschel. Deshalb bleibt Lucy am liebsten für sich. Sie trauert. Um Jake, ihren Lebensgefährten, der bei einem Autounfall ums Leben kam. Hinzu kommt Lucys wachsendes Unbehagen: Rätselhafte Vorkommnisse häufen sich. Oder bildet Lucy sich das nur ein? Die Begegnung mit Karen und deren Kindern Sophia und George, die in das nahegelegene Gutshaus einziehen, lockt Lucy langsam aus ihrer Verschlossenheit hervor. Der kleine George berührt ihr Herz auf ganz eigene Weise, und zwischen den beiden Frauen entsteht eine Freundschaft, die mehr verheißt … "Rückkehr ins Leben", das eindrucksvolle Debüt der britischen Autorin Clare Ashton, spielt in der rauen Küstenlandschaft Cornwalls und ist eine hochspannende Mischung aus Schauerroman, Krimi und Liebesgeschichte.

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FRAUEN IM SINN

Verlag Krug & Schadenberg

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

Clare Ashton

Rückkehr ins Leben

Roman

KAPITEL 1

1

Sie beobachteten mich. Ich musste nicht aufblicken und mich umsehen, um das zu wissen. Der Dorfsupermarkt war zu ruhig – niemand kaufte hier tatsächlich gerade ein. Niemand schritt auf der Suche nach bestimmten Dingen durch die Gänge. Niemand redete. Ich konnte mir vorstellen, wie sie über die Regale hinweg nach mir spähten.

Eine Frau flüsterte am anderen Ende des Ladens. »Wirklich ein Jammer.« Ich schloss die Augen und versuchte bei der vertrauten Aufmerksamkeit nicht zu erröten. Früher hieß es: »Wirklich ein Jammer. So ein nettes junges Paar. Aber sie ist noch jung ...«, als hätte ich jede Menge Zeit und Kraft, mich zu erholen.

Jetzt, ein Jahr später, hieß es nur noch: »Wirklich ein Jammer.«

Ich zwang mich, mich auf die Dosensuppen im Regal vor mir zu konzentrieren. Ich brauchte für jeden Tag eine als Mittagessen. Tomate, Pilze, Hühnchen. Ich legte von jeder eine in meinen Korb. Ich musterte die restliche Auswahl, wie ich es immer tat, und nahm nochmal je eine Tomate, Pilze und Hühnchen. Eine brauchte ich noch, um eine Woche auszukommen.

Unter den beobachtenden Blicken setzte mein Verstand aus. Unschlüssig las ich die Etiketten auf den Dosen vor mir, aber die Worte blieben nicht lange genug in meinem Kopf, um eine Entscheidung treffen zu können. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich spürte das Herz in meiner Brust schlagen, und die Klauen, die meinen Magen zusammendrückten, machten sich auf den Weg nach oben. Ich musste weg hier. Ich würde einen Tag ohne Mittagessen auskommen müssen.

Ich ging in den hinteren Teil des Ladens. In der Ecke hing ein konvexer Spiegel oben an der Decke. Darin erschien ich übergroß, verzerrt, mit einem Riesenkopf, während sich mein Körper zu winzigen Füßen verjüngte. Selbst dieses verzerrte Abbild zeigte mir, dass ich anders aussah als früher.

Ich hatte nie viel Make-up aufgelegt. Jetzt machte ich mir überhaupt nicht mehr die Mühe. Mein Gesicht war einförmig blass, die Wangen leicht gewölbt, stumpfe waagerechte Striche für Augenbrauen und Mund. Mein Haar hatte ich zurückgebunden, was mich noch nichtssagender aussehen ließ. Mit hängenden Schultern stand ich da, über meinen Korb gebeugt. Je mehr ich mich zu verbergen suchte, desto mehr zog ich die Aufmerksamkeit der Leute auf mich. Doch ich brachte es nicht fertig, die Schultern zu straffen und selbstbewusst aufzutreten.

In der durch den Spiegel verstärkten Ferne konnte ich zwei Frauen an der Kasse ausmachen. Ihre winzigen Gesichter waren mir zugewandt, sie schauten in meine Richtung. Vielleicht glaubten sie, dass ich sie nicht sehen könnte. »Wirklich ein Jammer. So ein nettes junges Paar ...«, hörte ich die eine schließlich sagen. Einer der winzigen Köpfe wurde geschüttelt. Ich hätte nicht sagen können, ob es der Kopf derjenigen war, die gesprochen hatte, oder ob es der Kopf der anderen war, die so ihre Zustimmung kundtat.

Sie waren alt, so viel konnte ich sehen. Was ich alt nannte. Sie mussten alt sein, wenn sie uns als junges Paar bezeichneten. Ich war tatsächlich noch immer recht jung, sechsundzwanzig, aber Jake war vierzig gewesen. Wir waren drei Jahre zusammen gewesen. Vielleicht meinten sie das, wenn sie uns als junges Paar bezeichneten.

Ich ging weiter und spürte, wie sie mir mit ihren Blicken durch den Laden folgten. Ich versuchte, nicht hinzuhören. Ich nahm zwei Laibe Brot und sieben Päckchen Nudeln. Ich überlegte, dass ich noch etwas anderes auswählen sollte, etwas ganz anderes zum Kochen oder für die Mikrowelle oder den Toaster, aber es hatte mich bis dahin sowieso schon zu viel Zeit gekostet. Ich nahm noch drei große Packungen Milch und eine Handvoll Schokoriegel und ging zu der anderen Kasse. Ich versuchte, nicht zu den Frauen hinüberzusehen.

Ich hielt den Atem an, den Blick gesenkt, während ich die Einkäufe auf das Band legte. Ich wollte nicht sehen, wie mich die Person an der Kasse erkannte. Ich wollte dem mitleidigen Blick ausweichen, der folgen würde: das Neigen des Kopfes, die geschürzten Lippen, die hochgezogenen Brauen. Es würde den Klammergriff um meinen Magen nur verstärken, ihn heben und mir erstickte Tränen abringen; ich würde verkrampfen und vor Angst beben, würde mich fürchten vor diesem ganzen Mitleid, das ich nicht verdiente.

Ich packte meine Einkäufe in meinen Rucksack und zwei Tragetaschen und bezahlte bar, ohne aufzublicken. Es war fast neun Uhr, als ich den Laden verließ, und ich war spät dran.

Draußen herrschte trotz der Morgenstunde Abenddämmerung, es war windstill und bedeckt. Wir hatten Ende Oktober, und bei schlechtem Wetter wurden die Tage nicht richtig hell. Die mit devonischem Schiefer gedeckten Läden und Häuser um den Dorfanger sahen dunkel und nass aus. Die Luft war feucht von dem unablässigen Nieselregen und den Wolken, die vom Meer her ins Tal krochen. An diesem Tag sahen die Gebäude aus wie elende Tiere, die sich zusammen um den Dorfanger kauerten, weil sie nichts Besseres zu tun hatten.

Ich blickte die Straße hinauf, die landeinwärts führte. Jakes Mutter würde auf dem Weg zu ihrer Arbeit im Postamt jeden Moment die Straße entlangkommen. Mir graute davor, ihre charakteristische Gestalt zu erblicken: die leicht hängenden Schultern, über die ihre Einkaufstasche hing, die bequemen blauen Nylonhosen, der rote Wollmantel, der um ihre Mitte herum spannte und sich so gemein mit ihrem ergrauenden rostroten Haar biss. In meiner bangen Besorgnis sah ich sie so lebhaft vor mir, dass ich ein paarmal blinzeln musste, um ihr Bild von der leeren Straße zu wischen. Ich öffnete die Augen weit, so dass sie die Kälte in der Brise spürten, und versuchte sie zu zwingen, die Wirklichkeit zu sehen. Einen Augenblick lang sah ich die leere Straße, und dann erschien eine kleine rote Gestalt in der Ferne, am Horizont; sie war aus einem der weißgetünchten Cottages am Rande des Dorfes getreten.

Brust und Kehle zogen sich mir zusammen, meine Bedrängnis äußerte sich in einem unterdrückten Gurgeln. Tränen füllten meine Augen, und aus schierer Verzweiflung über das zeitliche Zusammentreffen entfloh ein Schluchzen meinem Mund. Ich rannte über die Straße zu meinem Fahrrad, das an einer Bank am Rande des Dorfangers angeschlossen war. Meine Hände zitterten, als ich versuchte, es aufzuschließen; die beiden Plastiktüten waren mir im Weg. Meine Finger waren fühllos, und ein scharfer Schmerz zuckte durch meine Fingerknöchel, als ich das Schloss aufzerrte und mich mit der Hand an der Pedale stieß.

Das Schloss glitt mir aus den nassen Fingern und fiel laut auf das Pflaster. Ich wäre fast in Tränen ausgebrochen. Ich war versucht, das Rad, die Einkäufe und das Schloss zurückzulassen und davonzulaufen.

Stell die Taschen ab, sagte ich mir und musste jedes Wort der Anweisung einzeln denken, um mich zu beruhigen. Heb das Schloss auf. Jetzt steck das Schloss in die Tragetasche. Gut so. Schwing das Bein über die Stange und setz dich auf den Sattel. Jetzt tritt in die Pedalen.

Das Rad kippelte unter mir, als ich vom Dorfanger davonfuhr, die beiden Tragetüten schwangen links und rechts vom Vorderrad. Ich trat heftig in die Pedalen; meine Beine waren ganz schwach vor nervöser Anspannung. Es war nicht weit bis zu der einspurigen Straße, die mich aus dem Dorf heraus zum Meer bringen würde. Ich würde es schaffen. Ich durfte nicht zurückblicken.

»Lucy!«, hörte ich. Die Stimme war unverwechselbar, und ich vernahm sie deutlich, auch wenn der Klang vom Nebel gedämpft war. »Lucy!«, rief sie wieder. Aber ich war schon in die Straße eingebogen, und das Rad nahm hügelab Fahrt auf. Mein Nacken fühlte sich steif an, mein Kopf blieb stur geradeaus gerichtet, nicht willens, sich umzudrehen und einen Blick auf sie zu werfen.

Ich begann leichter zu atmen, als das Rad im Freilauf am letzten Haus des Dorfes vorbei und weiter hügelabwärts rollte. Ich meinte das Meer zu riechen. Ich glaube nicht, dass es möglich war, nicht an einem Tag wie diesem, an dem meine Nase vor Kälte fühllos war.

Die Straße machte einen Bogen; sie führte direkt in Richtung Meer. Zu dieser Jahreszeit konnte man über die Hecken spähen und weit über die Felder blicken. Im Süden waren die Felder mit Schafen getupft, weiß aus der Ferne, aber aus der Nähe ein schmutziges Creme. Manche sahen zu mir herüber, als ich auf meinem Rad vorbeihetzte, und starrten mich aus weiten Augen an, die nicht echt aussahen: große, verständnislose Glasmurmeln. Die Schafe waren mir unheimlich, wie sie die Köpfe hoben, aufgestört, und auf mich herabsahen.

Wieder geriet ich ins Eiern, eine Dose in einer der Plastiktüten schlug immer wieder gegen die Speichen. Ich fluchte. Ich hätte besser den größeren Rucksack genommen oder es riskieren sollen, zu Fuß zu gehen. Zu dieser Jahreszeit waren weniger Leute unterwegs; keine Menschen, die anhielten, wenn sie mich erkannten, und mir anboten, mich mitzunehmen, und es freundlich meinten.

Zu dieser Jahreszeit würde ich höchstens dem Bauern begegnen. Er wusste inzwischen, dass er nicht zu halten brauchte. Er war hartnäckig gewesen mit seinem Angebot, mich in seinem Land Rover mitzunehmen. Ich hatte ihn anschreien müssen, bis er kapierte, dass ich nicht wollte. Er hatte beleidigt gewirkt und verdutzt über meine hartnäckige Weigerung. Jetzt sah er peinlich berührt aus, wann immer er an mir vorüberfuhr. Vielleicht hatte ihm jemand erklärt, wie unangemessen es gewesen war, mich zu drängen, wieder in ein Auto einzusteigen.

Ich musste nur eine halbe Meile fahren, ehe ich von der Straße in den Weg zu meinem Haus abbog. Der Weg führte in ein bewaldetes Tal hinunter, das sich vom Meer bis nach Pennance zog. Ich wohnte etwa in der Mitte dazwischen.

Das Tal sah dunkel aus. Die nackten Bäume waren schwarz, ihre Stämme und Äste von Feuchtigkeit getränkt. Sie wirkten gespenstisch, als ich zwischen ihnen hindurch zu meinem Cottage hinunterfuhr. Sie wirkten, als gäben sie nur vor stillzustehen – jeden Moment bereit loszustürzen. Ich konnte mir vorstellen, wie sie sich hinter meinem Rücken nach mir umwandten, wenn ich an ihnen vorbeigefahren war.

Auf dieser Seite des Tales war es am dunkelsten, obwohl der Baldachin aus Zweigen keine Blätter mehr trug. Die Sonne stieg zu dieser Zeit des Jahres nicht mehr hoch genug, um über die sich aufwölbenden Wände des Tales zu lugen. Die Luft war unbewegt und feucht, und ein durchtränkter grüner Moosteppich zog sich um das Cottage. Es war eine Erleichterung, zur Haustür hochzufahren. Ich hatte das Cottage zu meinem Heim gemacht und ich rechnete nicht damit, vor Ablauf einer Woche wieder jemanden zu Gesicht zu bekommen.

Das Cottage war ein weißgetünchtes altes Steinhaus, das einst wohl für die Landarbeiter errichtet worden war. Weiter den Weg entlang, in der Mitte des Tales, lag ein größeres georgianisches Anwesen, das vermutlich der eigentliche Gutshof gewesen war. Es stand leer, seit das ältere Paar, das dort gelebt hatte, zwei Jahre zuvor gestorben war, und meist kam wochenlang niemand den Weg entlang.

Ich machte mir nicht die Mühe, das Rad abzuschließen. Ich schob es um die Ecke des Cottage und lehnte es an das Feuerholz unter dem Schutzdach, das sich hinter dem Haus bis zum Boden hinunterzog. Ich stellte meine Einkaufstüten beiseite und tastete die Taschen meiner Jeans nach dem langen Schlüssel für das Einsteckschloss ab. Ich schaute auf die Tür. Durch das Glas konnte man nicht hindurchgucken. Das Haus war dunkel und wirkte nicht so, als lebte jemand darin. Ich sah nur mein Spiegelbild, als ich die Hand ausstreckte und den Schlüssel ins Schloss steckte.

Im Haus war es kälter als draußen, es bewahrte noch immer die Kühle der Nacht. Die modrige Luft umfing mich, als ich durch die Tür trat; sie strich über mein Gesicht und machte es klamm. Ich schloss die Tür hinter mir, brachte das Rauschen des fernen, sich brechenden Meeres zum Schweigen. In der Stille des Hauses fühlten sich meine Ohren steif und strapaziert an. Ich wartete einen Moment mit geschlossenen Augen, nahm die kalte, feuchte Luft auf meinen Lidern wahr. Ich wartete darauf, dass Jake erschien.

Er schien immer hinter mir aufzutauchen. Seine Anwesenheit erzeugte eine Gänsehaut auf meinem Nacken, meinen Schultern, meinem Rücken. Ein kühles Luftkissen schien mich zu berühren, strich sanft über meinen Rücken, indem er hinter mir Gestalt annahm. Ich hörte ihn atmen, konnte ihn fast riechen. Für mich roch er immer nach frischem Schweiß.

Er folgte mir nur innerhalb des Hauses, er begleitete mich nie nach draußen. Ich dachte an ihn, wenn ich aus dem Haus war, er ging mir kaum je aus dem Sinn. Aber ich dachte nie so klar an ihn wie im Cottage. Wenn ich nach hinten langte, erwartete ich, dass er meine Hand ergriff – meine Finger prickelten in Erwartung, seine großen fleischigen Hände zu spüren.

Diesmal erschien er nicht. Ich öffnete meine Augen in der leeren dunklen Küche. Seit einem Jahr schon herrschte hier das reinste Chaos. Auf dem Esstisch in der Mitte des Raumes befanden sich Stapel von Post: bezahlte Rechnungen, ungeöffnete Werbung, Briefe an Jake. Der hintere Teil der Küche war seit Monaten ungenutzt. Auf dem Gasherd standen die Töpfe von der letzten Mahlzeit, die ich gekocht hatte, ehe die Gasflasche leer war. Ich hatte zu große Angst, sie auszutauschen.

Ich benutzte nur die schmale Küchenzeile am Fenster. Ich benutzte die Mikrowelle, den Kessel, den Toaster und die Spüle, um ein einziges Besteckset, einen Becher und einen Teller abzuwaschen. Manchmal starrte ich beim Abwaschen aus dem Fenster. Irgendwann merkte ich dann, wie ich mich auf die durchgedrückten Arme stützte, die Hände bis zu den Handgelenken in kaltem Wasser, sämtliche Blasen des Spülmittels waren längst geplatzt und hatten nur noch einen seifigen Rand rings um meine Arme hinterlassen. Ich bin nicht sicher, woran ich dachte, während ich hinausstarrte – meistens an nichts.

Ich packte meinen Rucksack und die Einkaufstüten aus, reihte die Suppendosen nebeneinander auf und legte die Nudeln tageweise obenauf. Der Kühlschrank musste saubergemacht werden, stellte ich fest, als ich die Milch hineinstellte. Er roch immer noch nach dem Weichkäse, den ich im vergangenen Jahr gekauft hatte.

Ich knüllte die Plastiktüten zusammen und warf sie unter den Tisch. Sie flogen raschelnd über den Steinfußboden. Der sah dreckig aus. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich ihn das letzte Mal geputzt hatte. Er wies einen dünnen gallertartigen Schmutzfilm auf, eine Mischung aus Essensresten, Erde und was immer ich sonst noch an den Schuhen hereingetragen hatte. Er hatte ein Stadium erreicht, in dem er dreckiger nicht mehr aussehen konnte, und so war ich froh, mich nicht darum kümmern zu müssen.

Ich wandte mich um und ging die engen Stufen zwischen Küche und Wohnzimmer hinauf, dann stieg ich ins Licht. Mein Schlafzimmer war im vorderen Teil des Hauses und bot einen Blick auf den Weg und in die Bäume. Vom Treppenabsatz aus konnte ich durch das niedrige Fenster sehen. Die Glasscheiben waren mit Kondenswasser beschlagen, das sich auf dem Fensterbrett sammelte. Die Bäume draußen bewegten sich, als ich in den Raum trat, ihre Zweige wischten durch die feuchten Schlieren am Fenster.

Die Decke war niedrig und wurde von einem mächtigen schwarzen Balken geteilt. Ich kam mir übergroß vor, eine hochgewachsene moderne Frau in einem Haus, das für Arbeiterinnen und Arbeiter mit bescheideneren Essgepflogenheiten erbaut worden war. Ich dachte an Jake, wie er sich unter dem Balken duckte, wenn er in das Doppelbett am Fenster stieg. Die tiefverwurzelte Erinnerung an ihn, wie er sich duckte und dann auf die Bettkante setzte, die langen muskulösen Beine hineinschwang, schien ihn herbeizurufen.

Ich konnte spüren, wie er hinter mir stand. Ich stellte mir seinen kalten Atem auf meinem Scheitel vor. Er war ein großer Mann. Er war ein großer Mann gewesen. Ich dachte an ihn, wie er auf mich herabsah, der Atem durch seine Nasenlöcher entwich. Er stand da, die starken Arme vor seiner kräftigen Brust verschränkt. Es war eine Haltung, die ich inzwischen mit Polizisten allgemein in Verbindung bringe.

Er hatte rostrotes Haar, wie seine Mutter, und die bleiche Hühnerhaut, die rothaarigen Menschen eigen ist. Es war nicht unattraktiv, nur seltsam zart für einen hünenhaften Mann.

Ich stellte mir vor, mich umzudrehen und mich in seine Arme zu schmiegen und den Kopf an seine feste Brust zu legen. Er würde mich sachte drücken und sein Kinn auf meinen Scheitel legen. Er würde mir versichern, dass alles gut wäre – falls ich ihn reden ließe –, trotz dem, was ich getan hatte. Ich stellte mir vor, wie er sich mit dem, was geschehen war, ausgesöhnt hatte. Es waren meine Schuld und das Urteil anderer, wovor ich mich fürchtete.

»Entschuldige, ich muss mit meiner Arbeit vorankommen«, dachte ich voller Unbehagen, als mir meine Schuld in den Sinn kam.

Ich zog mich um, tauschte die Jeans, die schlammbespritzt und schmierig vom Fahrrad war, gegen eine saubere. Ich streifte meine wasserdichte Jacke ab, ließ sie auf den Boden fallen und zog mir das kalte, verschwitzte T-Shirt über den Kopf.

Aus reiner Gewohnheit kratzte ich meinen Unterarm, die lange Narbe entlang, die sich bis zu meiner Hand zog. Ich fuhr mit dem Finger darüber. Sie fühlte sich wulstig, aber glatt an. Sie sah aus wie ein riesiger Regenwurm, der plattgedrückt auf meinem Arm klebte. Ich stellte mir vor, wie Jakes kalte Gestalt um mich herum griff und sie ebenfalls berührte, meinen Arm mit leichter Zartheit streichelte. Ich wünschte, ich könnte seine Hand in meine nehmen, könnte ihm vermitteln, sich keine Gedanken zu machen und dass die Narbe mich überhaupt nicht störte. Es war komisch, sich klarzumachen, was der Autounfall hinterlassen und was er genommen hatte.

Ich begann zu zittern, prickelnde Gänsehaut überlief mich. Schnell zog ich mir zwei Fleecepullis über und dicke Socken und ging nach unten ins Wohnzimmer. Ich musste das Licht anmachen. Der Raum besaß nur ein Fenster, das auf den Durchgang an der Seite des Hauses hinausging – es war der dunkelste Raum im ganzen Cottage. Er sah trist aus mit dem leeren Sofa, das dem nackten Kamin zugewandt war. Es gab nur wenige andere Dinge in dem Zimmer abgesehen von meinem Schreibtisch mit dem Computer, der zwischen die Rückenlehne des Sofas und das Fenster gequetscht war. Auch hier war es kalt. Ich schaltete den Ölradiator an, auf die höchste Stufe, ehe ich mich an den Schreibtisch setzte.

Ich hatte den Computer im Standby-Modus gelassen, damit ich mich sofort ans Werk machen konnte, wenn es mir möglich war. Ich war nicht in der Lage, acht Stunden am Stück zu arbeiten. Meine Tage waren zerstückelt; ich schlief, arbeitete und aß, wenn ich konnte, nicht, wenn ich sollte.

Ich checkte meine E-Mails. Die Firma hatte in letzter Minute eine Änderung des Designs für die Website verlangt, die ich gerade überarbeitete. Mein Chef hatte das Ansinnen aufs Freundlichste formuliert, um angesichts der Dringlichkeit bloß keine Unruhe in mir hervorzurufen. Seine mit Bedacht gewählten Worte weckten Schuldgefühle in mir.

Ich antwortete ihm, versprach, den angepassten Website-Code bis zum Wochenende in das Software-Repository der Firma eingestellt zu haben. Meine Gedanken kreisten bereits um die Änderungen, die ich würde vornehmen müssen, begierig, das Programmierpuzzle zu lösen.

Ich hielt inne. Jake war gekommen. Ich merkte, dass er hinter mir stand. Ich meinte seine kalten Hände auf meinen Schultern zu spüren, wie er über meinen Kopf hinweg auf den Bildschirm schaute.

»Ich kann nicht arbeiten, wenn du da bist«, dachte ich, entschuldigend, und richtete die Worte in Gedanken an ihn. »Ich werde jetzt eine Weile abtauchen.«

Ich setzte meine Kopfhörer auf. Musik vertrieb ihn, löste das kalte Gefühl hinter mir auf. Musik half mir, mich zu konzentrieren, löschte jede andere Ablenkung aus, umhüllte mich mit vertrauten Lauten. Ich begann zu denken, meine Sicht verschwamm, während das Software-Repository vor meinem geistigen Auge Gestalt annahm.

2

Da war ein Gesicht am Fenster, das Gesicht eines Mannes, dunkel und unrasiert. Seine Handkante war gegen das Glas der Scheibe gedrückt, um seine Augen zu beschatten. Sein Atem ließ das Bild einen Moment lang verschwinden, dann erschien es wieder. Seine Augen funkelten unter dem welligen schwarzen Haarschopf und waren auf mich gerichtet.

Ich saß da, starrte ihn an und spürte, wie sich die Wärme meines Körpers vor Angst verflüchtigte. Mein Mund stand offen, und meine Augen waren schreckgeweitet. Das Herz schlug mir so schnell in der Brust, dass ich meinte, es müsste zu sehen sein, wie es unter meiner Haut pulsierte.

Ich erkannte ihn nicht auf Anhieb. Der Schreck lähmte meinen Geist ebenso wie meinen Körper. Vor mir öffnete sich der Mund des Mannes; er verzog sich mit den Sätzen, die er sprach, seine dunkelrote Zunge bewegte sich hinter einer Reihe gelber Zähne, die sich über den Worten schloss. Ohne dass ich in der Lage war, einen Laut zu vernehmen, sah es beängstigend aus, ekelerregend.

Es war Tom Riley von der Autowerkstatt. Mir wurde übel, als ich ihn erkannte. Ich hatte einen Stapel Briefe von ihm auf dem Küchentisch zu liegen, jeder noch verzweifelter als der vorherige, in denen er mich bat, sich außergerichtlich mit ihm zu einigen und den Vorwurf der Fahrlässigkeit so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen.

Ich riss meine Kopfhörer herunter und stand schnell auf. Mein Stuhl schrammte geräuschvoll über den Boden, als ich ihn zurückschob. »Mrs. Arundell!«, hörte ich ihn in seiner behäbigen ländlichen Mundart sagen. Mir kam es so vor, als grummele er die Worte, als ließe er gutturale Laute in seiner Kehle rollen.

Ich trat von meinem Schreibtisch zurück und wandte mich der Treppe zu. Er spiegelte meine Bewegungen, folgte mir draußen am Haus entlang zur Eingangstür. Vermutlich dachte er, ich ginge in die Küche, um ihn hereinzulassen. Wieder erstarrte ich vor Panik, suchte Halt an der Lehne eines Stuhls.

Wieder erschien er am Fenster. »Mrs. Arundell! Ich hab an Ihre Tür geklopft. Ich dachte, Sie können mich wohl nicht hören.« Ich hörte ihn, aber ich nahm nicht auf, was er sagte.

Ich fühlte mich elend und in die Ecke gedrängt. Ohne nachzudenken, hetzte ich zur Treppe und sprang hinauf bis auf die halbe Höhe. Ich wandte mich um, vergewisserte mich, dass ich außer Sicht war. Ich sah seinen verschwommenen Schatten über den Boden streichen, als er vom Wohnzimmerfenster zur Küche hinüber und wieder zurück ging. Er kam mir vor wie ein Tier, das um das Haus schlich und einen Weg suchte hineinzugelangen.

Ein verzweifeltes Schluchzen kam aus meinem Mund, als mir klar wurde, dass die Haustür nicht abgeschlossen war. Ich ließ mich auf die Stufe sinken und machte mich klein; ich schlang die Arme um die Knie und barg mein Gesicht auf ihnen.

»Ich will doch nur mit Ihnen reden. Bitte, Mrs. Arundell!« Ich hörte, dass seine Stimme höher klang, verzweifelt. Er verharrte draußen vor dem Wohnzimmer. »Es kommt keine Kundschaft mehr in die Werkstatt!«, rief er. »Bitte, Mrs. Arundell! Ich möchte die Sache aus der Welt schaffen.«

Ich saß zusammengekauert auf den Stufen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich gab ein ersticktes Stöhnen von mir, als ich mich noch kleiner zusammenkauerte.

»Ich hab den Kerl rausgeschmissen, der an Ihrem Wagen gearbeitet hat. Alle anderen habe ich noch mal geschult. Ich versuche, alles ins Reine zu bringen. Bitte, Mrs. Arundell. Ich habe meinem Anwalt gesagt, er soll das Angebot erhöhen, aber er hat mir gesagt, dass Sie ihn gar nicht anhören.«

Ich begann mich fremd und fern zu fühlen. Ich schloss die Augen und fand mich von einer tröstlichen weichen Dunkelheit umhüllt. Ich schien mich mit dem starken Schlagen meines Herzens zu wiegen. Mein Kopf bewegte sich unwillkürlich vor und zurück, wie nickend. Ich hörte nicht, was er danach noch sagte, obwohl er weiterhin laut rief und draußen hin und her strich.

Stattdessen sah ich den Abend des Unfalls vor mir. Die Szene spielte sich oft in meinem Kopf ab. Alle sorgten dafür, dass ich sie niemals vergaß, von der Polizei am Unfallort bis hin zu dem Anwalt, den Jakes Familie sich genommen hatte – wieder und wieder lief sie vor meinem geistigen Auge ab.

Wir waren schon beinahe zu Hause gewesen. Wir hatten im Dartmoor gezeltet, hatten die letzten trockenen Tage im vergangenen September genutzt. Ich war müde, mir war ein bisschen kalt. Es war spät am Abend und sehr dunkel, sämtliche Sterne waren zu sehen.

Wir fuhren eine Meile von Pennance entfernt hügelaufwärts, als ich ein Geräusch hörte, das von unterhalb des Chassis kam: eine Mischung aus einem dumpfen Knall und einem scharfen metallischen Laut. »Was war das?«, fragte ich, ohne wirklich alarmiert zu sein. Ich war zu müde, um mir ernsthaft Sorgen zu machen. Ich wandte mich Jake zu. Er schürzte die Lippen und runzelte die Stirn. Er zuckte die Achseln, auch ohne wirkliche Besorgnis.

Wir kamen eben über die Kuppe des Hügels und fuhren eine enge Straße hinunter, die von Bäumen gesäumt war. Im Lichte der Scheinwerfer blitzten die Stämme zu beiden Seiten der Straße grau auf; ihre Zweige über uns bildeten fast einen Tunnel.

Ein Wagen kam uns um eine Kurve entgegen, etwa hundert Meter von uns entfernt; er wechselte von Fernlicht zu Abblendlicht. Jake schaltete einen Gang herunter und wollte bremsen, doch sein Fuß traf auf dem Boden auf, das Bremspedal bot keinerlei Widerstand. Jake sah erschrocken nach unten. Wieder und wieder trat er mit dem Fuß das Bremspedal bis zum Boden durch. »Scheiße!«, hörte ich ihn sagen. Ich blickte ihn an; Panik stieg in mir auf. Ich sah, wie er die Arme durchdrückte, sich vom Lenkrad wegschob. Im hellen Scheinwerferlicht des entgegenkommenden Autos war sein Gesicht sehr blass.

»Nein, bitte nicht!«, rief ich. Ich betete, dass die Flut von Erinnerungen aufhören möge. Ich atmete schnell und heftig, von Panik erfüllt. Ich zitterte am ganzen Leib. Ich hörte, wie Tom draußen fluchte. Ich hörte einen Aufprall und dann splitterndes Glas. Wieder schrie ich auf; ich dachte, es wäre eine eingeworfene Fensterscheibe.

»Das wird für Sie auch nicht schön werden!«, hörte ich Tom schreien. »Je länger sich das hinzieht, desto hässlicher wird es. Das hier ist ein kleines Dorf, wissen Sie. Hier kriegen alle alles mit.«

Er hielt inne, und dann hörte ich, wie er langsam wieder zum Wohnzimmerfenster hinüberging. Der düstere Schatten auf dem Boden wurde länger. Er musste wohl wieder durch das Fenster lugen. »Wir werden etwas finden, wissen Sie. Wenn Sie sich nicht einigen wollen ... dann müssen wir eben etwas finden ...«

Wieder wurde mir übel. Furcht presste meinen Magen zusammen. Ich begann zu schluchzen, mein Mund starr und offen in einem stummen Schrei. Ich senkte den Kopf, grub meine Zähne fest in meine Knie, und Speichel sickerte in meine Jeans.

Er hämmerte an die Fensterscheibe; gedämpfte Schläge, erzeugt von den fleischigen Unterkanten seiner Fäuste. »Mrs. Arundell – bitte!«, rief er.

Bei seinen Rufen kauerte ich mich nur noch kleiner zusammen; ich versuchte, ihn auszublenden. Ich weiß nicht, ob er noch irgendwas sagte; ein paar Minuten später hörte ich jedenfalls, wie ein Motor ansprang und ein Wagen davonfuhr.

Ich kam langsam wieder zu mir; mir wurde bewusst, wo ich war. Ich spürte, wie Jake erschien, wie er sich neben mir auf der Treppe niederließ. Ich hob den Kopf von den Knien und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen und den Sabber fort. Ich schniefte laut, wandte mich von Jake ab und starrte auf die Wand neben der Treppe. »Es tut mir leid.« Ich schluckte.

Jake sagte nichts.

Ich saß starr da und stellte mir vor, was Tom und sein Anwalt wohl als Nächstes tun würden, was sie ausgraben würden. Übelkeit stieg wieder in mir auf, hochgedrückt von der fortwährenden Umklammerung meines Magens. Ich fürchtete, ohnmächtig zu werden, ausgelaugt von meiner andauernden Angst.

»Es tut mir leid«, dachte ich laut, an Jake gewandt. »Ich kann das nicht durchziehen.« Er stand schweigend auf, wandte sich um und stieg die Treppe hinauf. Selbst Jakes Geduld hatte ein Ende, wie mir schien.

Ich ging nach unten zum Telefon auf meinem Schreibtisch. Feigling, wie immer ein Feigling – ich wählte die Nummer von Jakes Mutter, obwohl ich wusste, dass sie nicht zu Hause sein würde.

Das Telefon schnarrte mehrmals in mein Ohr und bat mich dann, eine Nachricht zu hinterlassen.

»Hi, Margaret«, sagte ich. Meine Stimme war zittrig, brach. Mein Hals fühlte sich wund an; ich war es nicht gewohnt, laut zu sprechen. »Tom Riley war gerade hier.« Ich musste husten, um meine Kehle freizukriegen. »Ich denke, wir sollten uns auf einen Vergleich einlassen.« Meine Augen füllten sich mit Tränen, und mein Mund wurde ganz starr vor Schmerz. »Ich glaube, es wäre das Beste, wenn du – wenn wir einem Vergleich zustimmten.« Weiter kam ich nicht mehr. Ich legte schnell auf, damit der Anrufbeantworter nicht aufnahm, wie ich scharf Luft holte und aufschluchzte.

Ich sank auf meinem Stuhl zusammen. Tränen rannen mir übers Gesicht. Mir graute davor, Jakes Mutter wiederzusehen.

3

Ich war nicht Mrs. Arundell. Wie anmaßend von Tom, davon auszugehen, dachte ich, als ich mich ein wenig beruhigt hatte. Jake und ich hatten nie geheiratet. Er hatte mich nie darum gebeten. Ich fragte mich, ob er je vorgehabt hatte, mir einen Antrag zu machen. Hätte ich ja gesagt, wenn er es getan hätte?

Ich war davon ausgegangen, dass er verheiratet war, als wir uns das erste Mal begegneten.

»Hallo, ich bin Jake«, hatte er gesagt. Wir wanderten in einer Gruppe den Küstenpfad westlich von Plymouth entlang. Ich hatte mich zwei Jahre nach meinem Universitätsabschluss, als auch die letzten meiner Studienfreundinnen und -freunde weggezogen waren, einer Wandergruppe angeschlossen.

Jake gesellte sich zu mir und nannte mir voller Selbstvertrauen seinen Namen, so als sollte ich ihn mir merken. Ich hatte den Eindruck, er stelle sich mir in freundschaftlicher Absicht vor. Seine Kontaktaufnahme schien frei von Hintergedanken zu sein, anders als bei den Avancen jüngerer Männer. Ich fühlte mich unbefangen in seiner Gegenwart.

»Schön, ein neues Gesicht zu sehen«, hatte er gesagt. »Wie hast du von uns erfahren?«

»Über die Website, obwohl ich zum Telefon greifen musste, um herauszufinden, wann die nächsten Touren geplant waren. Sie ist ein bisschen veraltet.«

»Oje!« Er lachte, ein Laut tief aus seiner Brust. »Ich fürchte, das ist meine Schuld. Ich habe vor ein paar Jahren eines der Kids dazu gebracht, sie aufzusetzen. Und jetzt habe ich keinen blassen Schimmer, wie man sie aktualisiert.«

Ich dachte, er spräche von einem seiner Kinder.

»Ich könnte sie aktualisieren, wenn du möchtest. Oder sie komplett neu aufsetzen«, erbot ich mich. »Es gibt jede Menge Content-Management-Systeme, die es ermöglichen, Webseiten ganz einfach zu aktualisieren. Irgendeine Blog- oder Wiki-Software.«

Er wandte sich mir näher zu, während wir unseren Weg fortsetzten, runzelte die Stirn und sah mich anklagend an.

Ich lachte. »Tut mir leid. Ich kann dir ein paar Beispiele zeigen, um zu verdeutlichen, wovon ich rede. Ich könnte dir ein paar Links schicken, wenn du eine E-Mail-Adresse hast.«

»Äh ... E-Mail?«, zog er mich auf.

Wieder lachte ich.

»Also, Lucy, wie kommt eine junge Frau wie du nach Plymouth und in unsere Wandergruppe?«, fragte er später, als wir vorneweg gingen.

Ich blinzelte; ich fragte mich, warum er die Sprache darauf brachte, dass ich eine junge Frau war. Ich wandte mich um und betrachtete den Rest der Gruppe, der allmählich zurückfiel. Über den roten und blauen Regenjacken machte ich eine große Anzahl an grauen Köpfen aus. Es gab ein Paar, das schätzungsweise in den Dreißigern war, und zwei schlaksige Jungen im Teenageralter, die vor sich hin trotteten und eine Flappe zogen.

Ich wandte mich wieder Jake zu. Ich fragte mich, wo seine Frau war. In der Gruppe hinter uns hatte ich keine möglichen Kandidatinnen ausgemacht. Er war in den mittleren Jahren, sein Hals und sein Gesicht wurden von den ersten rötlichen Linien durchzogen. Ich konnte mir vorstellen, dass so manche Frau ihn attraktiv finden mochte, auch wenn ich mich nicht in dieser Weise von ihm angezogen fühlte. Ich vermutete, dass seine Frau so ähnlich war – eine hübsche Frau mittleren Alters.

Ich lächelte. »Ich habe an der Universität von Exeter studiert und wollte hinterher einfach nicht fortgehen. Mir gefällt es hier unten im Süden«, sagte ich und schaute zum Meer hinüber.

Er folgte meinem Blick und lächelte ebenfalls. »Das ist nicht zu toppen, stimmt’s? Ich lebe schon immer hier«, sagte er. Ich bemerkte den weichen hiesigen Akzent, mit dem er sprach. »Ich habe bislang noch keinen Grund gehabt, von hier wegzugehen«, fuhr er fort und schob seine Brust vor, als er die Hände in die Hosentaschen steckte.

Ich hörte, wie sich hinter uns ein Rascheln und dröhnende Schritte näherten. Eine verärgerte Stimmbruchstimme sagte: »Sarge, Sarge ...« Einer der Teenager tauchte schweißgebadet neben uns auf. Er warf mir einen finsteren Blick zu. Eine lange Narbe zog sich durch die eine Augenbraue, was seinem Gesicht einen für sein Alter drohenden Ausdruck verlieh. »Ich dachte, heute sollte ich die Wanderung anführen«, beschwerte er sich. Sein Ärger galt mir.

Jake blieb stehen und drehte sich um. Wir hatten die Gruppe bereits weit hinter uns gelassen.

»Du hast recht, Junge«, sagte er jovial. Er schlug ihm auf die Schulter. Er war größer als der Teenager und konnte ihn ohne Probleme mit seinem muskulösen Arm umfangen. »Geh du voran. Los!« Er tätschelte ihn und schob ihn vorwärts.

Der Ärger verschwand aus dem Gesicht des Jungen, und er trottete vorneweg.

Jakes Blick folgte ihm. »Kein Grund, sich seinetwegen Sorgen zu machen«, meinte er, als der Junge außer Hörweite war. »Hat ’ne schwierige Kindheit gehabt, ist aber kein schlechter Kerl, glaube ich. Das sind zwei Kids aus der Gruppe der Jugendlichen, die polizeiauffällig geworden sind.« Er wies mit dem Kopf auf den zweiten Teenager. »Nach Möglichkeit nehme ich bei jeder Wanderung zwei von ihnen mit. Es war einer von denen, die die Website aufgesetzt haben.«

Das Bild von Jake mit seinen eigenen Kindern, das ich im Kopf gehabt hatte, war ausradiert.

»Du meinst also, du könntest eine neue Website für uns machen?«

»Ja, klar, das ist keine große Sache. Nächstes Wochenende geht es allerdings nicht – da ziehe ich um. Ich habe nicht viel Zeug, aber ich fürchte, das hält mich das ganze Wochenende beschäftigt. Aber danach ...« Ich zuckte die Achseln.

»Kannst du Hilfe gebrauchen?«, fragte er.

Ich hatte keine Ahnung, wie er das meinte. Womöglich wollte er mir einige seiner Teenager anbieten – bei dem Gedanken war mir nicht ganz wohl.

»Ich habe nächsten Samstag frei«, fuhr er fort. »Falls dir das was nützt. Ich könnte auch den Van von der Station haben, falls du nicht schon einen Wagen gemietet hast.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Vielleicht war er gar nicht verheiratet. Ich schaute auf seine Hand, sah aber keinen Ring.

»... für deine Hilfe bei der Website«, fuhr er fort. »Meine Muckis im Gegenzug für deine grauen Zellen.«

Ich stand im Schlafzimmer des gemeinschaftlich genutzten Hauses und sah ihn vom Fenster aus. Oben auf dem Scheitel wurde sein Haar schon etwas dünn. Er trat von der Haustür zurück und stemmte die Hände in die Hüften. Er wartete darauf, dass ich ihm die Tür öffnete.

Er sah nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte erwartet, er würde ein verschlissenes T-Shirt tragen, Jeans und Turnschuhe, um mir beim Umzug zu helfen, so wie die Jungs auf der Uni. Er hingegen trug zwar Jeans, dazu aber ein gestreiftes Hemd, einen Wollpullover und Halbschuhe.

Ich schob das Fenster nach oben. »Die Tür ist offen. Komm rauf!«

»Ist das alles, was du hast?«, sagte er, als er in mein Zimmer getreten war und die ordentlich gestapelten Kisten sah.

Ich zuckte die Achseln. »Bücher, Kleidung, Klettersachen, Computer. Was sollte ich sonst noch brauchen?«

Er grinste. »Du bist ein seltenes Exemplar.«

»Ich muss noch ein paar letzte Dinge einpacken, aber eigentlich bin ich so ziemlich fertig.«

»Schön. Dann fange ich mit diesen hier schon mal an.« Er beugte sich zu einer offenen Kiste Bücher hinunter. »Das habe ich auch«, sagte er und richtete sich mit einer Ausgabe von The Cuillin wieder auf, einem Buch über eine Gebirgslandschaft auf der schottischen Insel Skye. »Die Cuillin Hills sind großartig, nicht wahr?«

»Bist du schon mal auf Skye gewesen?«, fragte ich.

»Nein, aber ich würde da gern mal hinfahren. Ich wollte immer schon mal die Cuillins erwandern. Und du?«

»Unbedingt!« Ich grinste. »Der Wanderclub der Uni hatte den Trip schon geplant, aber dann habe ich die Grippe gekriegt.«

»Tja, dann nichts wie hin«, sagte er.

Ich nickte enthusiastisch und dachte, er meinte den ganzen Wandertrupp.

Ich stand da und hielt mit dem Fuß die Tür zu meiner neuen Wohnung auf. Jake eilte mit einer Kiste in den Armen die Eingangstreppe herauf.

»Bitteschön!«, meinte er.

Ich konnte den frischen Schweiß riechen, als ich mich vorbeugte, um die Kiste entgegenzunehmen. Unsere Hände berührten sich kurz.

»Sorry«, sagte er bei diesem ersten Körperkontakt.

Ich schüttelte nur den Kopf.

Beim nächsten Mal entschuldigte er sich nicht, und unsere Hände schienen sich bei jeder Übergabe an der Haustür mehr zu berühren. Am Ende des Tages ergriff er meine Hand und hielt sie fest, während wir in meiner neuen Küche standen und Tee tranken.

Ich sah auf seine Hand hinunter – bleich und kräftig, mit dicken Fingern, eine Hand, in deren Zugriff meine Hand verschwand. Ich überlegte, ob ich diesen liebenswürdigen Mann meinen Körper berühren lassen konnte – ob ich es würde genießen können, wenn er meine Brüste umfasst hielt.

4

Ich starrte aus dem Fenster, durch das Tom Riley einige Stunden zuvor hereingespäht hatte. Draußen war es dunkel; der Tag machte den Anschein, als ginge er bald zu Ende, seine Augen schon halb geschlossen. Ich drehte mich um und schaute nach, ob Jake auf der Treppe war, aber ich spürte seine Gegenwart nicht. Ich spürte jedoch das Gewicht seiner Missbilligung, und seine Abwesenheit machte mich unruhig. Ich stand auf und drehte rastlos eine Runde nach der anderen vor dem unbeheizten Kamin.

Ich fühlte mich krank. Vermutlich war ich einfach bloß müde und gestresst. Manchmal sah ich merkwürdige Dinge, wenn ich so erschöpft war, ich sah, wie sich Dinge vor meinen Augen bewegten, die es in Wahrheit nicht taten. Ich wünschte, ich könnte schlafen. Ich hätte mich fast umgedreht, um die Treppe hoch und ins Bett zu gehen, aber ich befürchtete, dass Jake, der sich zur Strafe von mir fernhielt, dort oben war.

Wieder schaute ich nach draußen. Ich schätzte, dass noch etwa eine Stunde Tageslicht blieb – Zeit genug, um joggen zu gehen. Wenn ich eine Stunde lang zügig lief, dann würde ich müde genug zum Schlafen sein, trotz Jakes Missbilligung.

Ich zog meine Joggingklamotten an. Sie lagen auf einem Haufen auf dem Küchenboden. Ich hatte sie eigentlich waschen wollen, sie waren schlammbespritzt und rochen nach altem Schweiß. Die Trainingshose fühlte sich steif und unangenehm an, als ich hineinstieg, und das Sweatshirt müffelte eklig, als ich es mir überstreifte. Ich schob die Füße in die Laufschuhe, die auf der Matte standen, und streckte die Hand aus, um den Schlüssel umzudrehen und die Tür aufzuschließen.

Der Schlüssel drehte sich nicht. Ich stand verblüfft da, bis mir wieder einfiel, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Ich starrte sie an und wunderte mich, dass Tom nicht einfach ins Haus eingedrungen war. Eine Woge der Furcht hob sich in meiner Brust. Einen Moment lang zweifelte ich an meinem Gedächtnis. War er ins Haus eingedrungen? Hatte er mich angestarrt, wie ich da auf der Treppe gekauert hatte, verloren in meinen schuldbeladenen Erinnerungen? Ich fühlte mich desorientiert; ich war mir nicht sicher, was geschehen war.

Meine Hand zitterte, als ich den Schlüssel abzog. Ich trat aus der Tür, vorsichtig; ich ertastete den festen Boden unter meinen Füßen, ehe ich den nächsten Schritt setzte. Die kalte Luft draußen strich über mein Gesicht und ernüchterte mich. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, die Erinnerungen an ihren rechtmäßigen Platz zurückzuschicken. Wie lange war es her, dass Tom Riley hiergewesen war? Ich sah zu den Bäumen hinüber und den Weg entlang. Kein Anzeichen, dass jemand in der Nähe war. Zwischen den kahlen Bäumen regte sich nichts. Ich lauschte, aber ich hörte nichts als das Branden der See am Ende des Tales und irgendwo über den Bäumen eine Krähe. Ich schloss die Tür ab und schob den Schlüssel in die Reißverschlusstasche meiner Jogginghose. Dann machte ich mich auf und lief mit geschärfter Aufmerksamkeit den Weg ins Tal hinab.

Hundert Meter lang lief ich im Schutz der Bäume, dann trat ich auf die Lichtung hinaus. Der Weg endete an einer kreisförmigen Auffahrt vor dem weißen gregorianischen Anwesen. Es stand selbstbewusst da, die acht viereckigen Augen aufs Meer gerichtet. Hinter den Fenstern regte sich nichts; das Haus lag dunkel und still da wie im Schlaf. Die Steinstufen, die zur Eingangstür hinaufführten, waren mit grau und orange blühenden Flechten gesprenkelt. Auf den Rasenflächen und Blumenbeeten zu beiden Seiten der Auffahrt hatten sich struppiges Unkraut und vertrocknete Büschel von langem Gras breitgemacht.

Aus reiner Gewohnheit blieb ich vor dem Haus stehen. Jake und ich waren diesen Weg oft entlanggegangen. Er blieb immer stehen, kehrte dem Haus den Rücken zu und sah über das Tal hinweg zum Meer.

»Als Junge habe ich in den Ferien immer hier gespielt«, sagte er und wies auf den überwucherten Wasserlauf.