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Poppy Jenkins ist die gute Seele von Wells, einem zauberhaften Dorf in Wales. Sie hat einen herumstreunenden Hund, eine kleine Schwester mit Flausen im Kopf und liebevolle Eltern. Es gibt allerdings eine Sache, die nicht ganz so rund läuft. Im verschlafenen Wells sind die Aussichten auf eine Romanze für Poppy nicht rosig. Sie ist die einzige lesbische Frau im Ort, und ihr letzter Kuss ist ewig her. Dafür lebt sie ein ansonsten ruhiges und zufriedenes Leben. Bis eines Tages ein teurer Sportwagen ins Dorf rauscht. Hinter dem Steuer sitzt die letzte Person, die Poppy sehen möchte: Rosalyn Thorn, ehemals Poppys beste Freundin. Doch eines Tages verließ sie Wells und ließ Poppy ohne jede Erklärung zurück. Jetzt ist die erfolgreiche Geschäftsfrau wieder da. Um neue Unruhe zu stiften, vor allem in Poppys Herz. Werden die beiden alten Freundinnen sich versöhnen und wieder näherkommen?
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Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Für alle, die neugierig sind …
Danksagung
Über Clare Ashton
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Küsse in Amsterdam
Falling Into Place: Der Geschmack von Glück
Ungebunden ins Glück - Liebe ist, wenn man’s trotzdem macht
Herzklopfen und Granatäpfel
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Kapitel 1
Mit einem Lächeln auf den Lippen dachte Poppy Jenkins darüber nach, wie gut sich das Leben für sie anließ. Die meisten Leute würden sicherlich meinen, dass es nicht perfekt sei. Aber Poppy war nicht wie die meisten Leute. Ein Spaziergang am Fluss an einem sonnigen Morgen, der strahlend Gutes für das kommende Jahr verhieß, war für sie der Inbegriff von Vollkommenheit.
Versonnen betrachtete sie das sonnenglitzernde Wasser mit zusammengekniffenen Augen. Der River Rhiw wand sich durch fruchtbares Grün vorbei an geschwungen Kiesstränden und ergoss sich über Felsgestein in stille Seen, deren Anblick selbst die achtbarsten Menschen zu einem Bad im Freien verführen konnte. Überall brachen Frühlingsblumen aus den Hecken hervor. Wiesenkerbel und Butterblumen zogen die ersten Bienen an, und Poppy sog die frische Luft tief ein, als wolle sie so dem Duft ihres Paradieses besondere Anerkennung zollen.
Es war warm genug für ihr Sommerkleid, einen leichten Baumwollstoff mit weithin leuchtendem Muster aus grünen Blättern und gelben Zitronen. Der weiche Stoff umfloss sanft ihren Körper und verlieh ihr ein Gefühl genüsslicher Freiheit, das sie sonst nur mit Nacktheit verband. Sie wandte ihr Gesicht der Sonne zu und streckte ihre Hände aus, um die Wärme mit jedem Teil ihres Körpers zu empfangen. Sogar ihre Frisur saß an diesem Tag perfekt. Die dunklen Locken, die sich in einer steifen Meeresbrise üblicherweise zu einem Gewirr kräuselten, das jeden Pudel vor Neid erblassen lassen würde, hatten sich heute brav zu kastanienbraun glänzenden Wellen bändigen lassen.
Ein Stück voraus tanzte ihre kleine Schwester Pip so energiegeladen den Weg entlang, wie es nur Elfjährige können – um dann schmollend zusammenzusacken und zu behaupten, sie könnten keinen Finger mehr rühren. Pips buntkariertes Kleid und weiße Kniestrümpfe blitzten immer wieder durch die Hecke, und auf ihrem Rücken hüpfte ein Schulrucksack bei jedem ungelenken Sprung auf und ab.
»Nicht weiter als bis zur Brücke!«, rief Poppy ihrer Schwester hinterher, bevor sie sie an einer Kurve aus den Augen verlor. In der Ferne war jetzt das Dorf Wells zu sehen mit seinem Kern aus alten Fachwerk- und georgianischen Backsteinhäusern, umgeben von merkwürdig anmutenden viktorianischen Reihenhäusern und noch seltsameren Baustilen der Dreißigerjahre. Diese Zeit war wohl der Höhepunkt der Dorfentwicklung gewesen, denn neuere Häuser waren selten und Bauten aus dem 21. Jahrhundert gab es schlicht und ergreifend nicht.
Der Ort war typisch für diese Region von Wales - dies hier waren weder die Täler im Süden noch die Berge im Norden, sondern der mittlere Teil, der, über den kaum jemand etwas zu berichten hatte. Allzu viel gab es auch nicht zu erzählen. Meist wurde die Gegend einfach als »Mid-Wales« abgetan. Aber gerade das gefiel Poppy: ein ländliches Idyll, an dem die Zeit und die Touristen vorbeigegangen waren, wo sich Wales dicht an England drängte und leicht auszusprechende Ortsnamen wie Clun gleich neben Zungenbrechern wie Llansantffraed-Cwmdeuddwr anzutreffen waren.
Pip wartete gehorsam bei der kleinen Metallbrücke am Ufer. Sie warf Blumen in den Fluss und sah zu, wie sie unter der Brücke verschwanden. Als sie Poppy entdeckte, galoppierte sie sofort wieder los. Poppy hatte kaum den Mund zu einer weiteren Warnung geöffnet, da winkte Pip schon ab und rief: »Ich weiß, ich weiß, im Dorf auf dich warten!« Poppy musste lächeln und ließ sie laufen.
Nach kaum hundert Metern kamen die ersten Fachwerkhäuschen in Sicht. Neben dem Weg erschien Mrs Morgans Garten, umgeben von weiß getünchten Steinmauern. Zu dieser Jahreszeit eroberten rosarote Malvenblüten und königsblauer Rittersporn die Beete. Zwischen ihren leuchtenden Farben bewegte sich ein grauer Fleck eifrig auf und ab.
»Guten Morgen, Mrs Morgan!«, rief Poppy.
Der graue Haarschopf fuhr hoch und ließ ein überraschtes wettergegerbtes Gesicht erkennen. »Ah, cariad!« Mrs Morgan lächelte erfreut. »Es ist wirklich ein guter Morgen. Fast so schön wie dein Kleid.« Sie gestikulierte mit der Gartenschere in ihrer behandschuhten Hand. »Ich wollte beinahe schon sagen, so schön wie dein Lächeln – aber etwas Schöneres gibt es ja nicht.«
Poppy kicherte geschmeichelt, und ihre Wangen röteten sich.
Mrs Morgan war eine der Dorfbewohnerinnen, die Poppy schon immer als alte Frau betrachtet hatte. Seit ihrer Kindheit war Mrs Morgans Haar immer mit Lockenwicklern starr in Form gelegt gewesen, und es war schwer zu erkennen, ob es in den letzten dreißig Jahren überhaupt gewachsen war. Aber nun hatte sich das geändert. Mrs Morgan hatte aufgehört, sich die Haare zu färben, und ein natürliches Silbergrau hatte jede Strähne erfasst. Poppy wurde zu ihrer Verblüffung klar, dass Mrs Morgan um die Vierzig gewesen sein musste, als Poppy klein war – eine alarmierende Erkenntnis, da dieses Alter für sie selbst nun nur noch weniger als ein Jahrzehnt entfernt lag.
»Und wo geht es heute Morgen hin in dem schönen Kleid?«, fuhr Mrs Morgan fort.
»Ich bringe Pip zur Schule, und dann geht’s ins Café wie immer. Ich dachte nur, ich führe das Sommerkleid mal aus.«
»Na, wenn es hier im Dorf eine interessierte junge Dame gibt, dann wird sie ohne Zweifel heute ein Auge auf dich werfen.«
Poppy freute sich aufrichtig über das Kompliment und strahlte. Aber sie war sich bewusst, dass sie nicht nur heute die einzige Frau in Wells war, die auf diese Art und Weise an einer anderen Frau interessiert wäre.
»Und die kleine Pip – wie geht’s, bach?« Mrs Morgan wandte sich an Pip, die auf dem Weg umherwirbelte und mit den Füßen scharrte.
»Sehr gut, danke«, erwiderte Pip und setzte stirnrunzelnd hinzu: »Aber ich bin nicht mehr klein.«
Mrs Morgan prustete belustigt. »Oh, dich nenne ich noch bach, wenn du einmal größer bist als ich. Und auch noch dann, wenn du verheiratet bist – falls ich so lange lebe. Aber wie geht’s in der Schule? Was ist dein Lieblingsfach?«
»Geschichten schreiben«, antwortete Pip etwas zugänglicher. »Und Kunst.«
»Ah, künstlerisch begabt! Genau wie deine Mam!«
Sofort verdüsterte sich Pips Miene wieder, und sie sah zu Poppy auf. »Kann ich mir jetzt was Süßes kaufen?«
»Aber Pip!«, wies Poppy sie zurecht.
»Schon gut, cariad. Lauft nur weiter.« Mrs Morgan wandte sich wieder ihrem Garten zu und winkte zum Abschied mit der Gartenschere.
Poppy lief ein Stück, um ihre Schwester einzuholen. »Das war sehr unhöflich von dir.«
Pip verdrehte die Augen. »Sie sagt immer dasselbe. Ich wette, das hat sie im letzten Frühjahr wörtlich genauso gesagt.«
»Sie will bloß freundlich sein. Das macht man so.«
Pip sah nicht überzeugt aus.
»Es ist nett.« Poppy musste lachen. »Und es gefällt den Menschen.«
»Du bist einfach zu allen zu lieb«, tadelte Pip sie.
»Das ist auch ein Glück, bei derart vorpubertären Mädchen um mich herum.«
»Ach, du lässt den Leuten immer alles durchgehen. Die reden nur immer darüber, was es zum Mittag gibt oder welche Farbe vor zehn Jahren mal die Gardinen hatten.«
Poppy beugte sich verschwörerisch zu Pip hinunter. »Ich verrate dir mal was: Gardinen sind ganz und gar faszinierend. Ich habe eine absolute Vorliebe dafür. Ich liebe Kurzwaren.«
Pip stieß ihr den Ellbogen in die Seite. »Du solltest es so machen wie Mum: So tun, als würdest du geistig gerade an einem Gemälde arbeiten, und dann einfach weggehen.«
»Ich befürchte, sie tut nicht nur so«, erwiderte Poppy milde. »Sie ist tatsächlich die meiste Zeit geistig ganz woanders.«
Sie bogen vom Uferweg ab und auf den Marktplatz ein, an dem die Hauptstraße begann. Pip hakte sich bei Poppy unter und verfiel in das freudige Auf und Ab eines Kindes in der Erwartung von Süßigkeiten.
Poppy musste beim Anblick ihres Dorfes lächeln. Wie jeder richtige walisische Ort hatte es eine Burg. Die graue Ruine bewachte den Marktplatz von einem abgelegenen Grashügel aus. Die Menschen machten gern Scherze darüber, was für ein kriegerisches Völkchen die Waliser im Mittelalter gewesen sein mussten. Aber es war doch verständlich, dass sie die ständigen Überfälle der Engländer irgendwann leid waren. Wäre so eine Invasion nur einmal geschehen, könnte man das englische Vorurteil gegen die reizbaren Waliser vielleicht noch nachvollziehen. Aber nach ein paar hundert Jahren solcher Invasionen wäre wohl auch das heiterste Volk ein wenig verärgert.
Die Burg lag im Norden und darunter war direkt der Marktplatz mit seinen Fachwerkhäuschen. Sich auf das Burggelände mit seinen hervorspringenden Brüstungen und geneigten Mauern zu begeben, sorgte meistens dafür, dass man leicht orientierungslos wurde. Es schien ständig in Bewegung zu sein, und es kam nicht selten vor, dass Besucher, die dort die Architektur bewundern wollten, ins Straucheln kamen wie auf hoher See.
Am Südende des Platzes führte eine steinerne Brücke über den Fluss, auf die genau ein Handkarren passte, dem Fußgänger in dreieckig gemauerten Buchten ausweichen mussten.
Hinter dem Fluss lag die Marienkirche Llanfair. Im Ort gab es so viele Dinge, die zu seinem früheren Namen beigetragen hatten, dass selbst der geübteste Waliser bei dem Versuch, diesen Namen auszusprechen, einen Zwerchfellbruch riskieren musste. Schließlich hatte jemand mit den armen Ortsschildschreibern und Touristen Mitleid gehabt und den Ortsnamen zu Wells abgekürzt. Ironischerweise war das Wissen um die Lage der historischen Quellen im Ort schon lange verloren gegangen. Und so waren die wells der einzige Bestandteil des Originalnamens, der gar nicht mehr existierte.
Der Dorfladen duckte sich in eine Ecke hinter der Burg. Er war eine Mischung aus Lebensmittelgeschäft, Zeitungskiosk und Apotheke und in zwei alten Häusern einer Fachwerkreihe untergebracht.
Davor parkte ein sportlicher schwarzer Jaguar. Der Wagen hätte überall Blicke auf sich gezogen. Hier, mitten im Nirgendwo, wo das übliche Transportmittel ein schlammbespritzter Geländewagen war, war er eine echte Attraktion.
Der wahre Blickfang für Poppy aber war die Rückseite der schlanken Erscheinung, die sich gerade ins Innere des Wagens beugte: lange Beine in engen Jeans, ein herzförmiger Po und ein dünnes T-Shirt, das den sonnengebräunten Rücken kaum verhüllte. Das Gesicht der Frau war hinter schulterlangen blonden Haaren verborgen, die ihre Wangen glatt umspielten. Die Frisur war teuer. Das erkannte sogar Poppy, die selbst am liebsten zum kostengünstigen Super Snip ging. Die Frau beugte sich weiter in den Fußraum hinunter, und das locker fallende T-Shirt erlaubte Poppy einen kurzen Blick auf ihren BH. Ebenfalls von allerfeinster Qualität – genau wie die verheißungsvolle Rundung, die er verhüllte. Zarte, volle Brüste.
Poppy schluckte und warf Pip einen nervösen Blick zu. Doch ihre Schwester hatte weder die Frau noch Poppys bewundernde Blicke bemerkt. Sie war voll auf ihre eigene süße Verlockung im Ladeninnern konzentriert. Poppy wandte den Kopf. Jetzt stand die Frau aufrecht neben ihrem Wagen. Ihr Gesicht war klar zu erkennen und ergänzte die elegante Figur perfekt. Es war eines der schönsten Gesichter, die Poppy je gesehen hatte, und sie hätte es überall wiedererkannt.
»Rosie«, flüsterte sie und spürte die Erinnerung wie eine eiserne Faust im Magen.
Selbst unter Schock sah die Frau schlicht umwerfend aus. Blitzblaue Augen funkelten unter hochgezogenen Brauen, deren elegante Bögen jede Emotion von Entzücken bis hin zu vernichtender Ablehnung ausdrücken konnten, wie Poppy nur allzu gut wusste. Die vollen Lippen hatten sich gern zu einem göttlichen Lächeln verdichtet, aber heute sahen sie nicht danach aus. Die ganze Miene war reifer, als Poppy sie in Erinnerung hatte. Damals hatte der Babyspeck der Pubertät noch die hohen Wangenknochen verborgen. Das schmale Gesicht der zweiunddreißigjährigen Rosalyn Thorn aber war atemberaubend.
Poppy stockte buchstäblich der Atem.
Kapitel 2
Rosalyn Thorn aus Rhiw Hall. Geheimnisbewahrerin, Vertraute und die beste Freundin, die sich ein Mädchen nur wünschen konnte. Seit ihrem sechsten Lebensjahr waren sie sich näher gewesen als Schwestern. Bis sie dann sechzehn wurden und auf einmal alles anders war.
Poppy hätte lügen müssen, wenn sie behauptet hätte, nie an Rosalyn gedacht zu haben. Auch wenn mittlerweile Wochen oder gar Monate vergehen konnten, kehrte der Gedanke an ihre frühere Freundin stetig zurück. Und nun stand sie hier, wenige Schritte von Poppy entfernt.
»Poppy.« Rosalyn hauchte den Namen förmlich aus. Sie stand mit offenem Mund und bleichen Wangen da.
Poppy durchfuhr es eiskalt. Sie konnte sich nicht rühren.
Rosalyn entfuhr ein nervöses Lachen. Sie griff sich mit der Hand an die Stirn. Als sie den Arm wieder sinken ließ und sich ein paar Schritte näher wagte, erschien ein verlegenes Lächeln auf ihren Lippen.
»Ich habe mich schon gefragt, ob ich dir wohl zufällig begegne, aber ich hab’s nicht wirklich geglaubt … Poppy Jenkins!« Rosalyn musterte Poppy von Kopf bis Fuß, ließ ihren Blick über ihr Haar, ihre nackten Arme und den Ausschnitt ihres Sommerkleides gleiten.
»Du siehst gut aus. Wirklich gut!« In ihrem Lächeln schien ein Bedauern mitzuschwingen, das Poppy nicht ergründen konnte. Rosalyn streckte die Hand aus, aber Poppy war noch immer zu gelähmt, um darauf einzugehen.
»Du besuchst sicher deine Eltern? Deine Familie?«, fragte Rosalyn freundlich.
»Nein«, versuchte Poppy es mit einer Antwort – aber ihre erstarrten Züge ließen nicht einmal das richtig zu. Sie blinzelte und beschloss, sich zusammenzureißen. »Nein, ich wohne hier. Ich lebe tatsächlich in Wells.«
Für diese Auskunft entschuldigte sich Poppy im Allgemeinen nicht. Aber jetzt vor Rosalyn machte ihr Wohnort ihr plötzlich zu schaffen. War es vielleicht diese Stimme, die sie so in Aufruhr versetzte? Hatte Rosalyn schon immer mit einem derart glasklaren BBC-Akzent gesprochen, der jede Silbe zur Perfektion modulierte? Waren es ihre Eleganz und Körperhaltung bis hin zu dem anmutigen Schwung, mit dem sie Poppy die Hand zur Begrüßung angeboten hatte? Vielleicht war es auch ihr Auto, das so weit außerhalb von Poppys eigenen finanziellen Möglichkeiten lag, dass es ebenso gut hätte aus Gold sein können.
»Hier?« Rosalyn versuchte nicht einmal, ihre Überraschung zu verbergen. »Du lebst hier? Wirklich?« Dann überlegte sie kurz. »Warst du denn nicht auf der Uni? In York, dachte ich.«
»Ja, schon. Aber ich bin zurückgezogen. Wieder nach Haus. Wieder hierher. Zu meinen Eltern. Ja, ich lebe hier.« Die Sätze reihten sich in einem sonderbar einsilbigen Stakkato aneinander.
Rosalyn runzelte die Stirn, fragte aber nicht weiter. Stattdessen wanderte ihr Blick zu Poppys Arm. Irgendetwas dort schien sie zu irritieren. Erst dann bemerkte Poppy, dass sie Pip die ganze Zeit fest umklammert hielt.
»Entschuldige Schatz, tut mir leid!« Erschrocken entließ sie Pip aus ihrem Schraubstock-Griff und rieb das Handgelenk des Kindes, um die Durchblutung wieder anzuregen. Sie hatte glatt die Existenz ihrer Schwester vergessen!
»Mach mal nicht so viel Wind«, grummelte Pip und schlug Poppys Hand weg.
Poppy ließ es gut sein, und Pip verstummte wieder. Alles war still. Auffallend still.
»Ähm …?« Rosalyn sah auffordernd von Poppy zu Pip.
»Ja?«
»Und das ist …?«
»Ach so, das ist Pip«, stieß Poppy hervor, als ihr ihr erneuter Fauxpas bewusst wurde. Sie legte ihrer kleinen Schwester den Arm um die Schultern und lachte in dem verzweifelten Bemühen, die Situation zu normalisieren. »Wir sind auf dem Weg zur Schule. Nur noch ein paar Bonbons, nicht wahr, meine Kleine?« Poppy sah Pip beschwörend an und schluckte nervös. Mit jeder Sekunde kam ihr ihre Kehle enger vor.
Pip und Rosalyn nickten und tauschten einen Blick, aus dem zu gleichen Teilen Besorgnis und Argwohn sprach. Rosalyn sagte betont freundlich: »Ich bin übrigens Rosalyn.« Sie lächelte Pip kameradschaftlich zu.
»Danke«, sagte Pip mit einem vorwurfsvollen Seitenblick auf ihre pflichtvergessene Schwester.
Dann war es wieder still. Sehr still.
»Äh …«, begann Rosalyn, »ich lasse euch jetzt wohl mal besser weitergehen. Nicht, dass ihr noch zu spät kommt. Ich schätze, es gibt immer noch Strafen für Verspätungen?«
»Ja, das stimmt. Leidige Angelegenheit.«
Leidig? Wo war das Wort hergekommen? So geschraubt sprach Poppy sonst nicht. Sie und Pip hatten den Akzent ihrer Mutter übernommen, eine Art neutrale Hochsprache mit einem Hauch weichem Walisisch. Jetzt aber hatte ihre Stimme eine ganze Oktave zugelegt, und Poppy hatte das Gefühl, sie müsse ihren Hals nach oben recken wie ein Vogel Strauß. Das sah bestimmt wenig attraktiv aus, aber sie wurde und wurde einfach nicht lockerer.
Rosalyn nickte und öffnete schon den Mund zu einem Abschiedsgruß. Dann aber fragte sie: »Wie sieht es denn später aus?«
»Wie bitte?«
»Was hast du später vor? Hast du Zeit?«
»Oh, ach so. Nein. Das Café.« Zum ersten Mal im Leben sprach Poppy das Wort Café aus wie die Queen es auch tun würde. Sie versuchte es mit Lässigkeit und senkte betont die Stimme. »Tja, das ist mein Job, ich arbeite in so einem Schuppen.« Na toll, jetzt klang sie wie jemand aus einer Castingshow.
»Aha«, sagte Rosalyn.
Poppy konnte ihr die knappe Erwiderung kaum übelnehmen. »Und wie ist es um dich selbst bestellt?« Und wieder verfiel sie in dasselbe Oxford English, das auch die Queen benutzte. Poppys Augenbrauen hatten indessen ein Eigenleben auf Höhe ihres Haaransatzes begonnen. Ihr Mund fühlte sich so verkrampft an wie eine geschlossene Auster.
Pip stellte sich demonstrativ neben Rosalyn, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihre große Schwester mit offenem Mund an.
»Ich lebe jetzt in London«, sagte Rosalyn zu Poppy. »Clerkenwell. Kennst du das?«
»Nein, ich fürchte nicht.« Mittlerweile war ihr ganzer Körper so verkrampft wie ihr Mund, aber sie konnte nichts dagegen tun.
»Ich hab ein Loft in einer ehemaligen Uhrenfabrik. Da bin ich nach meinem Abschluss am King’s College hingezogen.«
»Klingt ja kolossal.«
»Ich hatte Glück. Ich war gerade zur Event Managerin bei Clean Water befördert worden. Das ist die gemeinnützige Organisation, für die ich arbeite. Das war noch bevor die Preise für solche Immobilien ins Unermessliche stiegen. Heute könnte ich es mir dort nicht mehr leisten.«
Poppy warf einen Blick auf den Jaguar und fragte sich, ob das die Wahrheit war. »Dir geht es ja offenbar glänzend.« Sie schloss die Augen, um das Elend wenigstens nicht mehr mitansehen zu müssen. Als sie die Augen wieder aufschlug, verabschiedete sich Pip gerade mit einem besorgten Seitenblick.
»Ich geh Bonbons kaufen«, murmelte sie.
»Okay, Schatz.« Poppy strahlte Pip an, um ihr zu versichern, dass alles in schönster Ordnung war.
Als sich die Ladentür hinter Pip schloss, standen sich die beiden ehemaligen Freundinnen allein gegenüber.
Rosalyn stand jetzt so nah bei ihr, dass Poppy gut erkennen konnte, wie gnädig die Zeit mit ihr verfahren war. Sie hatte eine Spur Lachfältchen um die Augen, einen Anflug von Sorge zwischen den Augenbrauen, aber alles in allem sah sie fantastisch aus. Ihre vollen Lippen, ihre glatte, zarte Haut waren ebenso einladend wie früher. Auch die kleine Narbe auf ihrer linken Wange war noch da und zeugte von einer unliebsamen Begegnung mit Brombeersträuchern in früher Kindheit. Und diese blitzblauen Augen, wie sie funkelten! Seit vielen Jahren hatte Poppy nicht mehr die Gelegenheit gehabt, diesen Glanz aus der Nähe zu bewundern. Eisblaue Tiefen – Augen, in denen man sich verlieren konnte.
Ein Hauch von rosa kroch über Rosalyns Wangen.
Ob ihr Poppys Bewunderung aufgefallen war, oder ob sie sie gar ebenso prüfend gemustert hatte, war Poppy nicht ganz klar. Aber sie war wirklich rot geworden.
»Ich muss mich entschuldigen«, sagte Rosalyn schnell. Sie trat einen Schritt zurück und hob die Hand. »Ich weiß, du bist in Eile.« Sie zögerte kurz. »Vielleicht sieht man sich ja mal wieder?«
»Denkbar«, flötete Poppy und wünschte, sie hätte etwas zur Hand, mit dem sie sich selber hätte knebeln können.
Rosalyn winkte kurz und schlenderte dann zu ihrem Wagen zurück. Ihr Abgang war ein echtes Schauspiel: schwingende Hüften, elegante Armhaltung, kurze Einblicke auf den straffen Körper unter ihrem T-Shirt. Poppy sah ihr gebannt nach. In einer einzigen fließenden Bewegung ließ sich Rosalyn ins Auto gleiten und zog anmutig ihre langen Beine nach.
Die Ladentür schwang auf, und die Glocke riss Poppy aus ihrer Erstarrung. Einen Moment lang füllte die gewaltige Statur von Dai Edwards den ganzen Eingang aus, dann erschien er schon neben ihr. Mit zwei Metern Körpergröße und der Schulterbreite eines Kleiderschranks verkörperte Dai das Klischee des typischen Rugbyspielers. Ein wenig von seiner massigen Gestalt hatte sich zwar in letzter Zeit körpermittig angesetzt, nachdem immer mehr Trainingswochenenden den Kneipenabenden gewichen waren. Aber Dai besaß auf jeden Fall die Art physischer Präsenz, die man lieber nicht gegen sich aufbringen wollte. Obwohl er auf dem Rugbyplatz kämpfen konnte wie ein Löwe, verhielt er sich außerhalb des Spielfelds eher wie ein Lamm.
»Poppy! Es tut mir so leid, Süße! Ich hatte gehofft, sie wäre weg, bevor ihr kommt.«
Poppy musste über seinen schmelzenden walisischen Bariton schmunzeln. »Ist schon gut, Dai. Alles okay. Ich war einfach nur überrascht, sonst nichts.«
Er beugte die Knie, bis sich sein Gesicht auf einer Höhe mit Poppys Gesicht befand, und sie erkennen konnte, dass er die Stirn runzelte.
»Du siehst blass aus, Liebes. Erzähl mir also nichts von okay. Komm mal her!« Und bevor sie sich wehren konnte, zog er sie an seine breite Brust. Als diese Arme vom Umfang eines durchschnittlichen Oberschenkels sie umfingen, hatte keine missliche Regung in ihrem Innern mehr eine Chance. Dais stürmische Umarmung vertrieb sie einfach.
Als er Poppy losließ, legte er fürsorglich den Arm um sie, und beide beobachteten Rosalyn dabei, wie sie sich an einigen Sachen auf dem Beifahrersitz des Jaguars zu schaffen machte.
»Hast du mit ihr gesprochen?«, fragte Poppy.
»Ja, aber nur kurz. Ich wusste ja, du würdest vorbeikommen, und wollte dich unbedingt rechtzeitig warnen, dass sie hier ist.«
Poppy sah schräg zu Dai herauf und zog die Mundwinkel hoch. »Mir geht’s gut. Danke dir. Es ist ja schon lange her. Ich war eigentlich überrascht, dass sie sich noch an meinen Namen erinnert.«
»An deinen Namen erinnert?« Dai schaute sie konsterniert an. »Pah, Poppy, du machst Witze, weil du so ein unglaublich positives und fröhliches Ding bist. Aber mir musst du nichts vormachen. Vollkommen egal, wie lange es her ist, Rosalyn Thorn wird dich immer aus der Bahn werfen. Es gibt nichts, das den Horizont so verdüstern kann wie eine ehemals beste Freundin, besonders eine, die dich so wenig verdient wie diese hier.«
Unangenehm berührt wechselte Poppy das Thema. »Weißt du, wie lange sie bleiben will?«
»Eine oder zwei Wochen, sagt sie. Keine Ahnung warum. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie vorher je ihre Eltern besucht hat. Muss wohl einen besonderen Anlass geben.«
Poppy zuckte die Achseln, und beide starrten auf Rosalyns Wagen. Was hatte die erfolgreiche Großstädterin wohl nach all den Jahren wieder nach Wells geführt?
»Ihre Eltern leben immer noch in Rhiw Hall, oder?«, fragte Dai.
Poppy nickte. Die Thorns wohnten seit 25 Jahren in dem Herrenhaus, und obwohl es kaum einen Fünf-Minuten-Fußmarsch entfernt lag, hätten sie doch ebenso gut am anderen Ende von Wales leben können. »Ich sehe sie zwar nie, aber sie sind immer noch da.«
»Vielleicht will sie heiraten«, mutmaßte Dai.
Poppys Herz tat einen unliebsamen Satz.
»Das Herrenhaus wäre ein toller Ort für eine Hochzeit.« Dai sah Poppy schmunzelnd an. »Ich wette, das ist es. Soll ich sie mal fragen?«
»Nein, auf keinen Fall! Nein!« Von der Vehemenz in ihrer Stimme war Poppy selbst überrascht. Was war denn nur los? Ihr Herz raste, und sie musste ein paarmal tief Luft holen, um sich zu beruhigen.
Dai warf ihr einen verwirrten Blick zu. Es war genau der Blick, mit dem er auch seine feste Freundin ansah, wenn er sie nicht recht verstand und sich vor ihren wahren Beweggründen fürchtete. »Schon gut«, murmelte er beschwichtigend. »Vielleicht auch nicht. Ich würde aber ein Pint drauf verwetten. Der laufen ganz sicher genügend Kerle nach.«
Poppy hätte die Gedanken, die sich in ihrem Kopf überschlugen, und die Gefühle, die ihr den Magen zu verdrehen drohten, nicht in Worte fassen können. Die unerwartete Begegnung mit ihrer früheren Freundin hatte ein verwirrendes Chaos in ihr hinterlassen.
Dai beobachtete Poppy konzentriert.
Sie hatte Mitgefühl mit dem armen Kerl, der ihre Gedanken zu ergründen versuchte. Sie verstand sie ja selbst nicht.
Wieder erklang die Ladenglocke, und eine zufriedene Pip erschien mit einer Papiertüte in der Hand. Die dünne Karamellspur um ihren Mund und das theatralische Kauspektakel, das sie veranstaltete, ließen Poppy vermuten, dass sie wohl ihre Lieblingstoffees erstanden hatte.
»Issie weg?«, brachte Pip kauend hervor.
»Wer?« Poppy war immer noch ein wenig benommen.
Pip verdrehte die Augen. »Na Rosie.«
»Oho.« Dai sog scharf den Atem ein. »So würde ich sie nicht mehr nennen. Definitiv eine Rosalyn mittlerweile.«
Pip ließ sich mit einem kleinen Grunzen von den beiden an sich ziehen. Poppy legte ihrer Schwester die Hand auf die Schulter, und Dai drückte Poppy tröstend die Hand.
Gedankenverloren betrachtete sie Rosalyns Gesicht im Rückspiegel, noch immer gebannt von ihrer Schönheit. Und einen Augenblick lang richteten sich auch Rosalyns Augen ein letztes Mal im Spiegel auf Poppy. Doch dann wirbelte sie den Kopf herum und starrte das Trio an. Was auch immer sie von Dai, Poppy und Pip denken mochte, war offensichtlich enttäuschend, denn ihre vorherige Freundlichkeit verlor sich. Resigniert wandte sie sich wieder der Straße zu. Dann startete sie den Motor, und der Jaguar schoss mit einem kraftvollen Aufheulen davon.
Kapitel 3
Dai und Pip unterhielten sich angeregt über Toffees. Ihre Stimmen verklangen, als Poppy wie betäubt über den Platz lief. Der Jaguar war schnell verschwunden – aber Rosalyns Gegenwart klang spürbar nach.
Mary hat ein kleines Lamm,
das wirft sie in den Himmel.
Sie fängt es auch gleich wieder auf,
und zwar an seinem P…
Poppy hatte die Gesänge der achtjährigen Rosie noch im Ohr. Auf der Bank am Ende des Marktplatzes hatten sie sich im Schneidersitz gegenübergesessen. Sie erinnerte sich so lebhaft daran, dass sie meinte, die Berührung ihrer klatschenden Hände spüren zu können. Klatsch – links über Kreuz – klatsch – rechts über Kreuz.
Pim, der kleine Vogel,
pfeift fröhlich einen Marsch.
Da kommt ne dicke Hummel
und sticht ihm in den A…
Sie konnte noch Rosalyns verschwörerisches Lachen sehen, das ihre Augen im Reiz des Verbotenen aufleuchten ließ.
»Pass auf, die nächste ist sogar noch besser.« Rosalyn hatte sich zu Poppy gebeugt und leise weitergesungen.
Mary hat ein kleines Huhn
und den Hahn, der Körner pickt.
Mary schaut und wartet ab,
ob er es wohl f…
»Rosalyn Thorn!«, hatte damals eine Stimme hinter Poppy gehallt. Alarmiert war sie von der Bank hochgeschossen. Mrs Morgan Morgan war ihnen auf den Fersen gewesen, hochrot im Gesicht.
»Rosalyn Thorn, dein Vater würde sich ja schämen! Und die kleine Poppy verleitest du auch noch.«
Rosalyn war ganz ruhig geblieben und hatte sanft gelächelt. »Ob er es wohl flattern sieht, Mrs Morgan. So geht die Strophe weiter.«
Poppy hatte Rosalyns Worte wieder im Ohr. Diesen glasklaren Akzent. Sie hatte schon immer so gesprochen, das war Poppy als Kind nur nie aufgefallen. Zu dieser Zeit war Rosalyn ihre Freundin, und sie waren eins und einig in allem gewesen, das Poppy wichtig war.
Die Bank stand heute noch am selben Ort. Dort hinten am Marktplatz, dessen loses Kopfsteinpflaster ihr immer wieder einen anderen Sitzwinkel verlieh. Die Bank hatte etliche der älteren Dorfbewohner zur Verzweiflung gebracht, die stets aufs Neue versuchten, ihren Sitz so auszurichten, dass sie nicht schräg saßen oder mit jeder Bewegung fürchten mussten, das Gleichgewicht zu verlieren. Ein hoffnungsloses Unterfangen.
Poppy wurde von einem lauten Kaugeräusch aus ihren Tagträumen gerissen.
Pip wedelte mit einer Hand vor ihrer Nase herum. In der anderen hielt sie eine deutlich schlanker gewordene Tüte mit Süßigkeiten.
»Aber Pip! Du sollst sie doch nicht alle auf einmal essen!«
Pip grinste sie mit toffeeverklebten Zähnen an.
»Du kannst doch in der Schule nicht gleich mit einem Zucker-High auftauchen.« Poppy wollte streng klingen, wusste aber, dass ihr liebevoller Blick sie verriet.
Pip grinste noch breiter und ließ die klebrige Masse zwischen den Zähnen quietschen.
»Komm schon!« Poppy schnappte Pip die Tüte aus der Hand und verschloss sie, so fest sie konnte. »Mum gibt sie dir zurück, wenn sie dich von der Schule abholt« sagte sie, als sie sich wieder auf den Weg machten.
Pip kaute geräuschvoll zu Ende, und Poppy erwartete schon Widerworte, als Pip stattdessen fragte: »War Rosalyn deine feste Freundin?«
»Was?« Das hatte Poppy nicht erwartet.
»Rosalyn – wart ihr beide ein Paar?«
»Um Gottes willen, nein. Wie kommst du denn darauf?«
Pip zuckte die Achseln.
»Waren wir nicht.« Ihr gereizter Ton tat Poppy sofort leid.
Pip starrte sie an, und Poppy fühlte sich zu weiteren Ausführungen genötigt. »Das ist lange her, und wir waren noch sehr jung. Das letzte Mal, als wir miteinander gesprochen haben, waren wir erst sechzehn.«
Der Blick, den Pip ihr zuwarf, drückte Verachtung gegen alle Nicht-Teenager aus.
»Ja-ja, ich weiß, dass man auch mit sechzehn schon Sex haben kann – äh, feste Freundinnen haben kann. Aber auf mich traf das nun mal nicht zu. Kein bisschen.«
Pips Blick schwankte zwischen Belustigung und Entrüstung. Poppy hielt den Atem an, aber Pips Verhör schien tatsächlich ein Ende gefunden zu haben. Schweigend setzten sie ihren Weg fort.
»Aber du bist in sie verknallt.«
»Bin ich nicht!« Poppy spie die Worte nur so heraus und verschluckte sich dann fast an ihrem eigenen ungläubigen Lachen. Wie kam Pip denn auf so etwas?
»Bist du doch.«
»Bin ich nicht.«
Pip nickte und grinste altklug.
»Wirklich nicht!« Poppys Stimme überschlug sich, und sie bremste sich mit Mühe, bevor der kindische Streit ihre Verzweiflung allzu deutlich zu erkennen gab. »Na schön«, lenkte sie mit gespielter Gleichgültigkeit ein. »Und warum bin ich deiner Meinung nach in sie verknallt?«
»Weil du dich voll merkwürdig aufgeführt hast.«
»Ach ja? Hab ich das?« Poppy versuchte, einen belustigten Ton anzuschlagen.
»Ja. Total bescheuert!«
»Wie denn genau?«
»Genauso wie Owen Davies mit Joanne. Ich dachte schon, als Nächstes boxt du sie auf den Arm oder zerrst sie den Hügel runter.«
»Oh.« Poppy sah Pip alarmiert an. »Na ja, tut mir leid, dass du den Eindruck hattest. Aber ich bin nicht in Rosalyn Thorn verknallt.«
»Okay.« Pip zog die Schultern hoch. »Schade.«
»Was? Warum?«
»Weil sie in dich verknallt ist.«
»Ist sie nicht!« Poppy hielt abrupt an.
»Warum denn nicht?«
»Darum!« Poppys aufheulender Ton hatte das Potenzial einen Hund im Dorf zum Jaulen zu bringen. Sie schluckte und rang um Fassung. »Erstens weil Rosalyn Thorn nicht lesbisch ist. Und zweitens …«
Weil Rosalyn Thorn schon mit sechzehn Jahren viel eleganter und kultivierter als Poppy gewesen war. Und dass sie als erfolgreiche Karrierefrau aus der Großstadt für eine kleine Cafébesitzerin vom Dorf auch nur einen freundlichen Blick übrighätte, schien mehr als unwahrscheinlich.
Poppy schenkte Pip ein bedauerndes Lächeln. »Zweitens fand sie mich nicht gut.«
Pip schwieg immerhin, und sie konnten ihren Weg fortsetzen.
»Also.«
Poppy ahnte nichts Gutes, als Pip das Thema nicht ruhen ließ.
»Warum hast du ihr dann nicht gesagt, dass ich deine Schwester bin?«
Oje. Warum hatte sie das nicht gesagt? »Ich weiß nicht. Spielt das eine Rolle? Glaubst du, es spielt eine Rolle? Glaubst du, sie glaubt, es spielt eine Rolle?«
Pip verzog verwirrt den Mund. »Na ja, sie wird denken, ich sei deine Tochter. Das denken doch alle, wenn sie uns nicht kennen.«
Ja, das stimmte.
»Versuchst du, dich zu schützen?«
»Was?«
»Du weißt schon, so wie Anne Jones, wenn sie behauptet, sie hätte schon einen festen Freund, nur damit Glyn Davies sie in Ruhe lässt. Weil er ein betrügerisches Arschloch ist und sie nichts mit ihm zu tun haben will, obwohl er von allen Jungs auf der Schule am besten aussieht. Rosalyn sieht auch echt gut aus.«
»Okay.« Poppy war ehrlich verblüfft und fühlte sich ertappt. »Zunächst einmal möchte ich nicht, dass du das A-Wort benutzt.«
»Welches? Arsch…«
»Genau das.«
Pip verdrehte die Augen.
»Und außerdem …« Poppy seufzte. Sie wusste nicht, was bemerkenswerter war: dass Pip, deren Erfahrungshorizont kaum über ein paar picklige Schuljungen hinausging, Rosalyns Schönheit zu würdigen wusste, oder dass sie Poppys Bewunderung für die Fremde sofort durchschaut hatte.
Poppy nahm das Gesicht ihrer Schwester liebevoll in beide Hände. »Meine süße Pip. Es ist wirklich lieb von dir, dass du tatsächlich glaubst, eine Rosalyn Thorn könnte sich in mich verlieben. Und ja, sie ist schön.« Oh Gott, wie wunderschön sie war. Sie war auch als Mädchen schon hübsch gewesen, aber nie hätte Poppy sich träumen lassen, zu welch umwerfender Frau sie eines Tages heranwachsen würde. »Ich finde sie sehr attraktiv, aber ich bin nicht in sie verknallt.«
Pip wollte widersprechen.
»Glaub mir. Und wenn ich der letzte Mensch auf der Welt wäre, würde sich Rosalyn ganz sicher nicht in mich verlieben.«
Pip seufzte resigniert. Das schwesterliche Gleichgewicht war wiederhergestellt. Poppy war die Erwachsene und Pip das Kind.
»Jetzt aber los, du kommst noch zu spät«, ermahnte Poppy sie. »Lauf!«
Pip schaute auf ihre Armbanduhr und fluchte so leise, dass Poppy sie nicht einmal dafür tadeln konnte. Pip sprang mit großen Schritten los, wobei ihre Gliedmaßen in alle Richtungen ruderten und es allen Regeln der Physik zu widersprechen schien, dass sie überhaupt vorankam.
»Bis heute Abend!«, rief ihr Poppy nach und lächelte versonnen, als Pip hinter der Brücke verschwand.
Seit Poppy laufen konnte war ihre Mutter Emma Jenkins bereits Inhaberin des Bioladens in Wells. Der Laden hatte sich seitdem kaum verändert. Ihr Vater Iwan hatte das hölzerne Ladenschild geschnitzt, je eine Weizenähre links und rechts vom Schriftzug, und das Haus hatte seine ursprünglichen georgianischen Sprossenfenster behalten. Der ordentlich aufgebrachte weiße Putz verbarg das wahre Alter des Gebäudes nach außen, aber im Innern bog sich das uralte Eicheninterieur ebenso schief und krumm wie alles andere.
Auf dunklen Regalen stapelten sich Tüten mit Vollwertflocken, Vollkornmehl und jeder vorstellbaren Sorte getrockneter Hülsenfrüchte. Reihen voller großer bernsteinfarbener Gläser hielten alle Gewürze bereit, die sich eine Köchin nur wünschen konnte. Eine Lage winziger Papiertüten hing neben einem Schäufelchen aus Metall, an dem Reste von Kurkuma noch den jüngsten Kauf erahnen ließen. Als Poppy klein gewesen war, hatten alle Räume nach Tee und Gewürzen geduftet: Jasmin, Lapsang Souchong, Koriander und Sternanis. Mittlerweile dominierten der Duft nach frisch gebackenem Brot und Kuchen aus der Caféküche. Denn am oberen Ende der Wendeltreppe begann mit dem Real Food Café Poppys Verantwortungsbereich, während ihre Mutter sich unten entweder um den Laden kümmerte oder in einem kleinen Atelier malte, das sie hinter der Verkaufstheke angebaut hatten.
An diesem Morgen starrte ihre Mutter mit auf den Händen aufgestütztem Kinn in die Ferne. Ohne zu blinzeln, fixierte sie eine leere Stelle mitten im Laden. Das war kein ungewohnter Anblick für Poppy, schien aber eine ältere Kundin zu irritieren, die neben ihr stand.
Cerys Mathews, Kopf bis Fuß in khakifarbene Wolle gekleidet, rückte zu Poppy auf. »Geht es ihr auch gut? Ich hab nur gefragt, ob sie neue Bilder zu verkaufen hat.«
»Ah.« Poppy lächelte. »Das reicht manchmal schon aus.«
Ihre Mutter wandte sich um, wobei die Quasten an ihrer lebhaft gemusterten Outdoor-Strickjacke im kleinen Bogen mitschwangen. Dann teilte sie versonnen den Bambusvorhang und war im hellen Atelier dahinter verschwunden.
»Ich glaube, sie kommt noch mal zurück«, erklärte Poppy.
»Das ist gut.« Beide Frauen spähten gespannt in Richtung des Geräusches klappernder Rahmen und Leinwände.
»Hattest du an etwas Bestimmtes gedacht?« Poppy wollte sich sicherheitshalber erkundigen, denn vermutlich hatte ihre Mutter versäumt, das zu tun.
Cerys runzelte die Stirn. »Ich suche nach einem hübschen Gemälde von der Gegend hier für meine Schwester. Sie ist auch hier aufgewachsen, dann aber weggezogen. Jetzt fehlt ihr ihre Heimat.«
Poppy nickte aufmunternd.
»Jemand hat mir deine Mam empfohlen. Ich hatte aber ohnehin vorher schon ein Auge auf ihre Bilder geworfen. Ich finde, es sollte von einer Künstlerin sein, die aus der Gegend stammt.«
Poppy nickte wieder, diese Denkweise teilte sie. »Welchen Untergrund oder welchen Stil hattest du denn im Sinn?«
»Ach, ich weiß nicht. Einfach was Hübsches für an die Wand. Was Nettes. Das mögen doch die meisten, oder?«
In diesem Augenblick kam Poppys Mutter zurück, schwer beladen mit bemalten Sperrholztafeln und Leinwänden. Sie drehte das erste Gemälde zu den beiden um: eine düstere Aquarellstudie der Schlossruine im Winter. Darauf nahmen Krähen mit Skelettgesichtern die großen grauen Tore in Beschlag. Ihr schwarzes Gefieder ging in einen dunkelgrauen Himmel über.
»Oh«, sagte Cerys. »Ähhm … Hast du vielleicht noch ein hübsches Bild von der Kirche irgendwo?«
Poppys Mutter zog ein weiteres Aquarell hervor, eine Szenerie mit verschneiten Grabsteinen, die es absolut unmöglich machte, beim Betrachten nicht an den Tod zu denken.
Poppy mischte sich ein: »Du bevorzugst sicher etwas weniger Trübsinniges?!«
»Ach, hallo Liebling.« Ihre Mutter bemerkte sie erst jetzt und schenkte ihr das mütterliche Lächeln, das sich fest in Poppys Psyche eingenistet hatte und dort stets eine Portion Herzenswärme aktivierte. Ihre Mutter hatte ein breites Gesicht, das auch dann noch zufrieden aussah, wenn sie innerlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt war. Derselbe Ausdruck war klar bei der kleinen Pip zu erkennen.
»Ich denke, Cerys will eher ein fröhliches Landschaftsgemälde, Mum.«
»Ja, das stimmt«, pflichtete Cerys ihr eifrig bei. »Es soll ein Geburtstagsgeschenk für meine Schwester sein. Und ich hoffe, sie hat noch viele Geburtstage vor sich. Da möchte ich lieber nicht andeuten, dass es ihr letzter sein könnte.« Sie lachte auf und verlagerte ihr Gewicht dann verlegen von einem Fuß auf den anderen.
Poppys Mutter nickte nachdenklich und überprüfte die verbleibenden Gemälde.
»Vielleicht möchtest du ein bestimmtes Motiv bestellen? Mum malt auch Auftragsarbeiten, und die kleineren sind nicht so furchtbar teuer.«
»Na, ich weiß nicht. Ich hatte gehofft, gleich etwas zu finden, das gut passt.«
»Magst du denn Aquarelle?«
»Ach ja, schon. Aber in hellen, bunten Farben, weißt du? Eher so wie die Strickjacke deiner Mam.« Sie deutete neidisch auf die lebhaften Wollfarben. »Nicht schwarz oder grau.«
Poppy sah ihre Mutter an, Emma aber blieb ganz ungerührt.
»Wie wäre es mit einer Frühlingslandschaft?«, schlug Poppy vor.
»Oh ja, ein bisschen Sonne wäre schön!«
»Vielleicht ein Bild vom Schloss mit Osterglocken im Vordergrund?«
»Oh, da iawn. Gute Idee! Genau so etwas suche ich. Ein hübsches Frühlingsbild.« Cerys klatschte begeistert in die Hände.
Emma hatte für Pip schon ein ganz ähnliches Bild gemalt, und Poppy wusste, dass sie ihrer Mutter das zumuten konnte. Wenig später einigte sich Emma dann auch mit Cerys auf einen guten Preis, wie Poppy fand, und beide waren am Ende zufrieden.
»Ich freu mich schon auf das fertige Bild«, erklärte Cerys. »Vielleicht behalte ich es doch lieber selbst.« Sie kicherte und verließ den Laden leichten Schrittes. Die Ladentür schloss sich mit leisem Klimpern.
»War das in Ordnung, Mum?«
Emma sah zerstreut aus dem Fenster. Sie ließ sich leicht ablenken. Die meisten Menschen schrieben das entweder ihrem kreativen Temperament zu oder weniger freundlich dem Gras, das sie in den Siebzigerjahren geraucht hatte. Poppy fand den Gemütszustand ihrer Mutter sehr beruhigend und machte sich über seinen Ursprung keine weiteren Gedanken.
»Hm?« Ihre Mutter richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Poppy. »Aber ja. Es ist schön, etwas zu tun zu haben. Das ist der erste Auftrag in diesem Jahr.«
Die Zeiten standen nicht gut für den Umsatz. Davon zeugte die große Anzahl vorhandener Gemälde einerseits und der auf den Gewürzgläsern angesammelte Staub andererseits. Ihre Mutter blätterte die Aquarelle durch und hielt kurz inne, um eines näher zu betrachten.
»Ich weiß wirklich nicht, warum die Krähen auf dem Friedhof keinen Käufer finden«, sagte sie. »Das ist mein Lieblingsbild.«
»Dann solltest du es für dich behalten.« Poppy lächelte.
»Warum wollen alle immer nur Sonne und Blümchen?«
»Weil sie die Menschen glücklich machen, Mum.« Poppy hätte fast laut gelacht, als ihre Mutter das Gesicht verzog. »Sie wollen ein hübsches Bild an der Wand, dessen Anblick sie im grauen Alltag aufheitert. Es ist eine so einfache Quelle der Freude.«
»Hm.« Ihre Mutter nickte. »Aber die Winterlandschaften sind für mich eine Freude.«
»Ich mag beide.« Poppy lächelte ihre Mutter nachsichtig an.
Sie war mit den Gedanken schon bei ihrer Arbeit im Obergeschoss, als ihre Mutter sie noch einmal zurückhielt. »Bist du glücklich, Poppy?« Emma richtete einen durchdringenden Blick auf sie. Offenbar war es einer jener Momente, in denen sie aus ihrer Wolke herabstieg und den anderen eine verblüffend klare Erkenntnis präsentierte. »Ich fürchte, mir entgeht da einiges. Du bist ja immer so gut gelaunt. Aber hast du selbst in deinem Leben auch eine einfache Quelle der Freude?«
Hätte ihre Mutter vor nur einer Stunde gefragt, hätte Poppy ohne zu zögern geantwortet. Doch jetzt musste sie einen Moment innehalten, während sich ein nervöser Knoten in ihrem Inneren zusammenzog. Sie sah ihre Mutter an. »Ja, Mum. Natürlich bin ich glücklich.« Rasch stieg sie die Treppe hinauf. Niemand musste wissen, dass es eine kleine Sache gab, die ihrem Glück im Weg stand: Rosalyn Thorn.
Kapitel 4
Die Erinnerung an Poppys erste Begegnung mit Rosalyn war so klar, wie das Wasser in den Bächen von Wales.
»Poppy!«, hatte ihre Mutter sie damals von der Ladentür gerufen. »Komm runter und lern Rosie kennen.«
Draußen hatte ein Mann gestanden, groß und attraktiv. Er hatte mit gleichmäßig weißen Zähnen gelächelt. Poppy hätte nicht sagen können, wie alt er war. Erwachsene sahen für sie alle gleich alt aus – entweder so alt wie ihre Eltern oder noch älter, wie ihre Großeltern Nain und Taid. Er trug ähnliche Schuhe wie ihr Vater, glänzend geputzte hellbraune Schnürschuhe mit winzigen Löchern vorn im Leder. Ihr gefielen diese Schuhe. Ihr Vater bewahrte sie für besondere Anlässe wie Hochzeiten, Beerdigungen oder für Weihnachten auf. Dieser Mann aber trug sie so selbstverständlich, als wären es Gummistiefel.
»Hallo Poppy«, sagte er.
Seine Stimme klang tief und bestimmt. Poppy kam sie beruhigend vor, so als wäre er es gewöhnt, dass man ihm mit Respekt begegnete. Das flößte Poppy Vertrauen ein.
»Ich heiße David. Das ist meine Tochter Rosalyn. Wir nennen sie Rosie.«
Schützend umfasste er mit beiden Händen die Schultern eines kleinen Mädchens, das allerdings nicht so aussah, als bräuchte es viel Schutz.
Rosie strahlte die gleiche nonchalante Selbstsicherheit wie ihr Vater aus. Ihr weißblondes Haar war zu zwei perfekten Zöpfen geflochten, und ihre Stirn schmückte ein beneidenswert gerader Pony. Klare blaue Augen schauten unter außerordentlichen Brauen hervor, die dem Mädchen Reife und Autorität verliehen. Sie trug ein Kleid aus rosa und lila Karostoff, das Poppy bekannt vorkam. Es hatte in einem Schaufenster gehangen, an dem Poppy mit ihrer Mutter manchmal vorbeikam. »Tut mir leid, mein Schatz. Hier ist es zu teuer für uns«, hatte sie gehört.
Die Beine des Mädchens waren ungewöhnlich braungebrannt, was durch ihre reinweißen Strümpfe und glänzenden Lackschuhe umso mehr auffiel. Poppys eigene Beine unter dem selbstgenähten Kleid waren frühjahrsbleich; ihre knochigen Knie krönten Schienbeine voller grau verschorfter Schürfwunden.
»Rosie kommt morgen auf deine Schule, Poppy«, sagte David. Er ging neben ihr in die Knie. »Ich hoffe, ihr werdet Freundinnen.« Er lächelte, und Poppy hoffte, ihm mit ihrer Freundschaft gefallen zu können. »Wir können Rosie nicht gleich nach der Schule abholen, also nimmt deine Mutter sie nachmittags mit hierher in euren Laden. Ich denke, ihr werdet viel Spaß zusammen haben.« Er erhob sich wieder. »Sag hallo, Rosie!«
Ohne zu zögern, trat das Mädchen vor und lächelte. Ihr waren schon richtige Schneidezähne gewachsen, anders als bei Poppy mit ihrer klaffenden Zahnlücke.
»Deine Haare sind schön«, sagte Rosie. Mit den Fingern fuhr sie durch Poppys Locken und zog eine davon hervor.
Die Berührung kitzelte.
»Ich wünschte, ich hätte auch Locken!«
Poppy hätte gern blondes Haar gehabt. Ihres war immer schon dunkel gewesen.
»Mum sagt, meine Haare werden immer glatt sein wie trockene Spaghetti«, erklärte Rosalyn. »Aber Oma meint, wenn ich die Brotrinde mitesse, kriege ich Locken. Isst du die Brotrinde mit?«
Poppy rümpfte die Nase und schüttelte den Kopf.
»Ich glaube das auch nicht«, sagte Rosie. »Mein Dad sagt, sie redet ganz schön viel Unsinn.«
»Aber Rosie! Tut mir sehr leid, Mrs Jenkins.« David sprang beruhigend ein, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre, so amüsiert wie Emma dreinschaute.
Rosalyn blieb ungerührt. »Gehen wir spielen!«, entschied sie.
Poppy grinste. »Nach oben!«, rief sie und stiefelte los zur alten Holztreppe, die sich zur ersten Etage hinaufwand.
Dort war ihr Lieblingsort, der Lagerraum. Zartes Sonnenlicht drang durch die staubigen Fenster. Große Papiersäcke voller Mehl und Haferflocken lagen hoch gestapelt neben Kisten voller Tomatendosen und Saftflaschen. Poppy nahm Rosalyn an der Hand und führte sie zum Fenster. Mit einem beherzten Sprung saß sie auf der Fensterbank, und ihre neue Freundin tat es ihr mühelos nach.
Rosalyn ließ die Beine baumeln und stieß mit den Füßen an die Wand. »Was ist dahinter?«
»Eine alte Küche«, antwortete Poppy. »Mum sagt, der Mann, dem der Laden früher gehörte, hat hier auch gewohnt.«
»Und da oben?« Rosalyn deutete auf eine eiserne Wendeltreppe.
»Nur ein leeres Zimmer. Mum lässt mich da nicht spielen. Sie sagt, der Boden hält nicht mehr.«
»Ein bisschen so wie Rhiw Hall«, meinte Rosalyn. »Die Hälfte der Zimmer oben sind leer. Es gibt sechs Schlafzimmer. Mum und Dad sagen, ich kann das zweitgrößte haben. Aber das liegt ganz am Ende vom Flur, das ist unheimlich.«
Mehrere Zimmer übrig zu haben klang vornehm. Poppys Vater hatte ihr versprochen, dass sie eines Tages auch ein eigenes Zimmer haben würde, wenn er mit dem Umbau fertig wäre. Bis dahin schlief sie noch in einem Kinderbett im Elternschlafzimmer.
»Was ist das?« Rosalyn zeigte auf einen Werkzeugkasten aus Metall.
»Der gehört meinem Dad. Er ist Tischler. Im Moment arbeitet er für meine Mum.« Aus dem Werkzeugkasten ragten bedrohliche Meißel, Ahlen und Sägen mit grässlichen Zähnen. Poppy wollte es Rosalyn ganz genau erklären: »Er zerschneidet Holz und baut daraus Sachen.«
Rosalyn sah sie an. »Mein Vater ist Chirurg. Er zerschneidet Menschen.«
»Oh.« Poppy war überrascht. Das schien so gar nicht zu der beruhigenden Erscheinung von David Thorn zu passen. »Warum?«
»Um sie gesund zu machen«, antwortete Rosalyn. »Er schneidet nur die Teile heraus, die kaputt sind.«
Poppy gefiel die Vorstellung nicht, dass sie beschädigte Teile von sich verlieren könnte. Es ging doch ständig etwas kaputt. Der Toaster röstete nur noch von einer Seite. Und seit der Schalter vom Wasserkocher abgefallen war, musste ihre Mutter immer ein Messer hineinstecken, wenn sie heißes Wasser brauchte.
Rosalyn aber blieb ungerührt. »Dad hat einem Mann die Zehen abgeschnitten, weil sie vergammelt waren.«
Poppy stellte sich Zehen vor, die braun wurden wie ein alter Apfel. »Tat das weh? Musste er weinen?«
»Dad sagt, er macht das, wenn die Leute schlafen.«
In dem Moment wurde bei Poppy der Grundstein einer Lebensangst vor nächtlichen Operationen und dem Aufwachen ohne Gliedmaßen gelegt.
»Magst du ›Operation‹?« Rosalyn beugte sich zu ihrer Schultasche herunter und zog eine nagelneue gelbe Schachtel heraus. »Zu Hause spielt keiner mit mir. Hast du noch Geschwister?«
Poppy schüttelte den Kopf und betrachtete das Spiel mit Neid. Sie hatte die Fernsehwerbung dafür gesehen.
Rosalyn klappte das Spielbrett mit dem rundlichen rosa Patienten auf, der erschrocken dreinschaute. Sie fügte die kleinen weißen Plastikknochen nacheinander in die vorgesehenen Lücken ein. »So, fertig.« Sie betrachtete stirnrunzelnd ihr Werk. »Der sieht albern aus.«
»Wieso?« Poppy selbst hatte nichts auszusetzen.
»Er hat keinen Pimmel.«
Poppy kicherte. »Vielleicht soll das ein Mädchen sein.«
»Dann hat sie keinen Busen … Ich weiß, was wir machen.« Rosalyns Augen funkelten unternehmungslustig. Sie griff in ihre Schultasche und holte einen Kugelschreiber hervor.
»Du darfst da nicht drauf malen!« Poppy war entsetzt, dass Rosalyn ihr neues Spielzeug verunstalten wollte.
Rosalyn aber reckte entschlossen das Kinn vor und ergänzte einen großen Penis bis zu den Knien des Patienten. Trotzig verschränkte sie die Arme, als wollte sie Poppy herausfordern, sie zu verpetzen.
Poppy dachte einen Moment nach und sagte dann: »Du hast die Hoden vergessen.«
Rosalyn grinste und zeichnete das Gewünschte ein.
»Du bist okay und deine Mum auch«, erklärte sie ihrer neuen Kameradin zufrieden. »Hier wird es mir bestimmt gefallen.«
> ~ ~ ~ <
Poppy betrat ihr Café. Statt der gestapelten Säcke standen in dem Raum jetzt acht Tische und etliche Stühle mit geschwungener Rückenlehne. Durch die blitzblanken Fensterscheiben schien die Sonne herein. Derek, ein Student vom Tech College, stampfte in der modern ausgestatteten Küche umher. Poppys Vater hatte das Obergeschoss renoviert, in dem nun zehn weitere Tische Platz fanden.
Wie meist zu dieser Tageszeit war ihr einziger Gast der alte Geraint Jones. Er beugte sich hinten in der Ecke über seinen Kaffee und eine gebutterte Scheibe Bara Brith. Mit gesenktem Kopf kritzelte er etwas in ein schwarzes Notizbuch. Sein graues Haar stand wirr vom Kopf ab.
»Bore da, Geraint«, begrüßte ihn Poppy.
Er nickte knapp und wandte sich wieder seinen Notizen zu, deren Inhalt allen ein Rätsel war.
Poppy stemmte die Arme in die Hüften, atmete tief ein und schloss die Augen. In Gedanken sah sie sich und Rosalyn im Schneidersitz zwischen den Säcken, Gläsern und Flaschen auf dem Boden hocken. Seit Jahren schon hatte sie sich nicht einmal mehr die Erinnerung an Rosalyn in diesen Mauern gestattet. Jetzt aber spürte sie ihre Gegenwart so deutlich, dass sie sich auf der Stelle hätte hinknien und »Operation« spielen können.
Was machte Rosalyn bloß in Wells? Warum war sie gerade jetzt zurückgekommen? Dai hatte ganz recht, sie war sehr lange nicht mehr dagewesen. Nain wüsste genau, wie lange nicht. Sie wusste alles, was sich hier abspielte.
Poppy fiel Rosalyns schockierter Gesichtsausdruck von vorhin wieder ein, und ihr Magen zog sich nervös zusammen. Ihr Zusammentreffen hätte nicht qualvoller ausfallen können. Dennoch, Rosalyn schien weicher geworden zu sein, oder nicht? Sie hatte sogar gefragt, ob Poppy für ein weiteres Gespräch Zeit hätte.
Sicherlich aus Höflichkeit. Reiner Höflichkeit. Gott, was für ein himmelweiter Unterschied zu früher, dachte Poppy. Was an Rosalyn als Kind schon hübsch gewesen war, wirkte in der erwachsenen Person noch schöner. Poppy wurde rot, als sie sich ins Gedächtnis rief, wie attraktiv sie Rosalyn gefunden hatte, bevor sie wusste, wer sie war. Ihre wohlgeformten Beine, der Schwung ihrer Hüften, der aufreizende Anblick ihres bloßen Rückens. Und erst ihre Brüste – Poppy errötete noch tiefer.
Sie schüttelte sich kurz, um sich von dem Gefühl peinlicher Scham zu befreien. Rosalyn war sicher bald wieder fort. Was hatte Dai noch gesagt? Eine oder zwei Wochen? Und danach würde es zweifelsfrei ein weiteres Jahrzehnt dauern, bis sie sie wieder zu Gesicht bekäme.
»Immer noch keine neuen Gäste?«
Automatisch sah sie zur Treppe und dann zur Küche, ob dort jemand gesprochen hatte. Da alles leer war, blieb nur ihr einsamer Stammgast. Poppy war nicht daran gewöhnt, dass Geraint mit ihr redete.
»Geraint?« Poppy strahlte ihn an. »Hast du gerade etwas gesagt?« Erfreut trat sie zu ihm an den Tisch.
»Immer noch nicht mehr los hier?«
»Nein, ich fürchte nicht.«
»Denen entgeht was Feines.« Er hielt seine Scheibe Kuchen hoch. »Das Beste Bara Brith, das ich je probieren durfte.«
Das klebrige Früchtebrot mit einer guten Portion schwarzem Tee war Nains besondere Spezialität.
»Die werden schon noch kommen. So etwas Gutes muss sich einfach durchsetzen.«
»Ich hoffe es, Geraint.« Poppy hätte den kleinen alten Mann dafür küssen können, dass er sie so aufmunterte – und auf andere Gedanken brachte. Mit frischer Energie marschierte sie in die Küche, um dort das Mittagessen vorzubereiten und weitere Kuchen zu backen für die belebtere Tageszeit, wenn die Schule aus war. Poppy kochte, servierte, schwatzte und lachte bis sechs Uhr abends. Sie schätzte, sie hatte dabei höchstens noch zehn weitere Male an Rosalyn Thorns schönes Gesicht gedacht. Allerdings war der Tag noch nicht vorbei.
Kapitel 5
Poppys größter Wunsch als Jugendliche war es gewesen, auch einen Busen zu haben. So wie Rosalyn, die bereits einen B-Cup-BH trug, seit sie zehn war, während Poppy weiterhin aussah wie ein Kind.
»Oeufs sur le plat«, erklärte Rosalyn. »So heißt das auf Französisch.«
Poppy strich sich mit den Fingern über die flache Brust. Eier auf dem Teller.
Sie kamen von der Schule und liefen über die Brücke zum Marktplatz, wo der Schlossberg mit seinen alten Ruinen schon lange Schatten warf. Dann scharf links hinunter zum Fluss, ihr gemeinsamer Heimweg. Hier neben der alten Brücke lag der reizvollste Teil des River Rhiw. In schäumenden Kaskaden stürzte das Wasser von oben herab in ein großes Sammelbecken, in dem Kinder problemlos schwimmen konnten.
Es herrschte reges Treiben. Die Sommersonne ließ das Wasser unter den Felsen gleißen. Überall plantschten und kreischten Kinder in Badeanzügen, Shorts oder Unterhosen.
Der große Dai Edwards vom Dorfladen winkte Poppy zu. »Komm spielen!«
Poppy winkte lachend zurück und wandte sich zu Rosalyn um. »Badest du mit?«
Rosie schüttelte den Kopf. »Ich hab keinen Badeanzug.«
Poppy wollte schon erwidern, dass sie doch in der Unterhose gehen könnte, als ihr klar wurde, dass das für Rosie nicht mehr angemessen war. Was kein Problem für Poppy mit dem flachbrüstigen Kinderkörper war, war für die hochgewachsene, kurvenreiche Rosalyn definitiv eins.
Poppy ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und warf die Kleider von sich. Zwei Mädchen in der Nähe musterten sie verstohlen. Poppy wollte nicht lauschen, aber ihr Walisisch drang klar herüber. ›Warum spielt sie nur mit dieser englischen Sau?‹ So lautete noch die höflichste Übersetzung, die Poppy einfiel.
»Kannst du denn allein nach Hause?«, fragte Poppy ihre Freundin laut, um die beiden zu übertönen. »Lässt dein Dad dich ganz allein gehen?«
Rosalyn sah ihr in die Augen und lächelte. »So viel Walisisch verstehe ich schon noch.«
»Oh.«
»Mach dir keinen Kopf. Ich weiß ganz gut, dass die Welshies mich nicht leiden können.«
Poppy runzelte die Stirn. Sie fühlte sich unwohl, weil die anderen so über Rosie sprachen, aber dass Rosie »Welshies« sagte, gefiel ihr auch nicht.
»Keine Ahnung, warum die so sind«, murmelte Poppy. »Beachte sie gar nicht.«
»Dad sagt, das liegt daran, dass wir das große Haus gekauft haben. Sie finden, jemand aus Wales sollte dort wohnen.
»Warum?«
Rosie zuckte die Achseln.
»Aber daran bist du doch nicht schuld! Du hast dir das Haus ja nicht ausgesucht!«
Rosie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ist schon okay. Du und deine Mum seid nett zu mir, und nur das ist wichtig. Bis morgen!« Lässig warf sie sich ihre Schultasche über die Schulter und schlenderte davon.
Trotz der heißen Sonne war das Wasser kalt, und Poppy hüpfte bibbernd im seichten Uferbereich auf und ab. Als ein Stein direkt vor ihr ins Wasser klatschte und sie über und über bespritzte, schrie sie auf. »Du …« Sie warf Dai, der oben stand und lachte, einen vernichtenden Blick zu.
»Pass auf, sonst rutscht dir noch etwas Ungehöriges heraus, Poppy Jenkins!«
Sie tauchte ihre Hand tief ins Wasser und schöpfte einen großen Schwall mit viel Kraftanstrengung nach oben. Das hohe Kreischen und zugleich tiefe Ächzen von Dais Stimme, die auf der Schwelle zur Männlichkeit hörbar brach, war süße Rache für sie.
»Das ist verdammt eiskalt!«, rief Dai. Sofort griff er nach einem noch größeren Stein und ließ ihn ins Wasser fallen. Ein dichter Wasserschleier durchnässte Poppy vom Kopf bis zu den Knöcheln. Sie prustete und spuckte und rieb sich die Augen. Gerade als sie zu einer weiteren Tirade ansetzen wollte, bemerkte sie eine Bewegung am Flussufer.
Alan Watkins, ein dicklicher Junge aus ihrer Klasse, näherte sich mit ungewohnter Geschwindigkeit. Er hatte ihre Anziehsachen gefunden und watschelte mit heraushängender Zunge auf sie zu.
»He!«, schrie Poppy, den Mund noch immer voller Wasser. »Was soll das?«