Wer kennt Jessica Lambert? - Clare Ashton - E-Book

Wer kennt Jessica Lambert? E-Book

Clare Ashton

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Beschreibung

Ein lesbischer Liebesroman über zwei außergewöhnliche Frauen und ihren Versuch, eine Liebe jenseits des Scheinwerferlichts zu leben.  Als Anna in der Londoner U-Bahn Jess begegnet, wirkt die attraktive junge Frau, als sei sie auf der Flucht. Anna hilft ihr und bietet ihr einen Zufluchtsort in ihrer kleinen Dachgeschosswohnung. Schnell kommen sich die beiden Frauen näher und entwickeln starke Gefühle füreinander. Doch Anna ahnt nicht, dass Jess eine der bekanntesten und begehrtesten Filmschauspielerinnen ist und in der Welt lebt, die Anna so sehr fürchtet und hasst – der Öffentlichkeit. Als Anna von dritter Seite erfährt, wer Jess in Wirklichkeit ist, zieht sie sich verletzt zurück. Kann Anna es schaffen, über ihren Schatten zu springen? Wird sich Jess' große Sehnsucht nach einem ruhigen Leben an Annas Seite erfüllen?

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Seitenzahl: 608

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Von Clare Ashton außerdem lieferbar

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über Clare Ashton

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Von Clare Ashton außerdem lieferbar:

Eine Nacht zum Verlieben

Poppy Jenkins liebt das Leben

Widmung

Für Jayne

Kapitel 1

Zuerst fielen Anna die hektischen Bewegungen der Frau auf dem Bahnsteig auf.

Als die U-Bahn in die Station einfuhr, schaute Anna auf und sah in der Fensterscheibe kurz ihr eigenes Spiegelbild – blass, mit einem Ausdruck, der irgendwo zwischen gelangweilt und desinteressiert lag, das blonde Haar hing um ihr Gesicht.

Dann gingen die Türen der U-Bahn auf. Die junge Frau in den engen, schwarzen Jeans und der schicken Jacke bewegte sich schnell, überquerte mit wenigen langen Schritten den Bahnsteig und sprang dann mit panisch aufgerissenen Augen in den Wagen.

»Mach schon!«, presste die Frau hervor. Ein Befehl, der an niemanden gerichtet war. Außer vielleicht an das Universum. Sie wich vor den sich schließenden Türen zurück und drückte sich neben Anna, die Schultern eingezogen, als wolle sie sich kleiner machen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Anna aus einem Reflex heraus, während ihr Magen sich zusammenzog. Sie kannte diese Art von Angst. Diese Panik war ihr vertraut.

Die Frau reagierte nicht und starrte ängstlich durch die Glasscheiben in den Türen nach draußen. Als sich die U-Bahn ruckartig in Bewegung setzte, klammerte sie sich an die Trennwand hinter ihr. Der Zug fuhr aus der Station, ratterte immer schneller werdend in den dunklen Tunnel. Die Gespräche, die Blicke, die dicht aneinandergedrängten Körper der Passagiere in der engen Bahn ließen die Frau Stück für Stück näher in Richtung Anna rücken.

»Ich muss hier raus«, flüsterte sie scheinbar zu sich selbst. »Ich muss hier raus.«

Anna senkte ihre Stimme auf eine Art und Weise, die sie über die Jahre perfektioniert hatte, sodass sie beruhigend wirkte und Vertrauen vermittelte. »Möchten Sie, dass ich Ihnen helfe?«, fragte sie. Und als die Frau nicht antwortete: »Haben Sie eine Panikattacke? Hat Sie jemand verfolgt?«

Die Frau schaute auf. »Ja«, keuchte sie.

Der Zug nahm schlingernd eine Kurve und die Beleuchtung flackerte und ging aus.

Ein Blitzlicht flammte hinter der Frau auf. Als das Licht in der Bahn wieder anging, sah Anna eine Gruppe kichernder Jugendlicher, die mit ihren Handys spielten. Das schien die Unruhe der jungen Frau zu verstärken, und sie verbarg ihren Kopf mit ihren Armen, die langen Finger fest in ihr kurzes schwarzes Haar gekrallt.

Die Frau hatte offensichtlich die Aufmerksamkeit eines jungen Mannes auf der anderen Seite des U-Bahnwagens erregt. Er lächelte und musterte sie von oben bis unten.

Die Frau war unbestreitbar attraktiv, so viel hatte Anna mitbekommen, als sie eingestiegen war, aber es ging ihr offensichtlich nicht gut. Was war nur los mit den Menschen? Es gehörte sich einfach nicht, jemand Fremdes anzustarren. Ein Geschäftsmann, der in der Nähe stand und verächtlich herüberschaute, war auch keine Hilfe.

Frustriert über die Reaktion ihrer Mitreisenden sagte Anna: »Es ist etwa noch eine halbe Minute bis zur nächsten Haltestelle«, und sie streckte beruhigend ihre Hand aus, ohne zu überlegen, wie die Frau wohl auf eine Berührung reagieren würde.

Diese griff sofort nach Annas Trenchcoat und begann hektisch atmend zu zählen: »Eins, zwei, drei.« Sie schwankte, als die U-Bahn um eine weitere Kurve bog.

Der Wagen ruckte und die Lichter flackerten erneut. Ein weiterer Lichtblitz blendete Anna.

»Vier, fünf, sechs«, zählte die junge Frau jetzt etwas lauter.

»Hey«, rief Anna in die Richtung, aus der der Blitz gekommen war. Das mussten die Teenager gewesen sein. Anna schob sich vor die junge Frau, um sie etwas abzuschirmen. »Wir sind gleich da.«

Das Gedränge nahm zu und drückte Anna gegen die Frau.

»Zehn, elf, zwölf«, keuchte die Unbekannte und vergrub ihr Gesicht in Annas Mantel, als die Bahn endlich langsamer wurde. Sie war fast bei dreißig angekommen, als der Zug endlich anhielt.

»Folgen Sie mir«, sagte Anna entschlossen und griff den Arm der Frau.

Ihre Begleiterin folgte, wobei sie ständig über ihre Schulter schaute.

»Normalerweise gehe ich nicht hier entlang«, sagte Anna zögernd, »aber der Weg ist ruhiger und wir kommen schneller aus der U-Bahnstation.« Die Frau nickte zustimmend und Anna zerrte sie in Richtung des unscheinbaren Durchgangs zum Treppenhaus.

»Zählen Sie die Schritte, wenn Sie das beruhigend finden«, fuhr Anna fort. »Ich habe es auch einmal versucht. Es sind siebzig.«

Zählen war einer von Annas kleinen Tricks. Eine Möglichkeit, sich zu beruhigen und im Hier und Jetzt zu bleiben, anstatt sich ihrer Panik zu ergeben.

Die Frau nickte abermals und begann, Zahlen vor sich hin zu murmeln, während sie mit schnellen, flüssigen Schritten die Treppe hinaufstiegen. Wenige Augenblicke später wurden die feuchte und stickige Luft der U-Bahn, der Geruch nach Öl und Schweiß, die in den Tunneln hingen, durch die frische herbstliche Nachtluft verdrängt. Vor ihnen lag ein Ausgang, hinter dem sie schon das orangefarbene Licht der Straßenbeleuchtung sehen konnten. Er führte in eine ruhige Seitenstraße, fernab von den anderen Fahrgästen.

»So«, sagte Anna. »Wir sind draußen.« Sie ließ den Arm der Frau los.

»Wo sind wir?«, platzte die Frau heraus, ihre Angst wuchs offensichtlich wieder. »Ich habe keinen blassen Schimmer, wo wir sind.«

»Ist schon gut«, sagte Anna. »Glauben Sie, dass Sie immer noch verfolgt werden?«

»Ich weiß es nicht.« Die Frau schaute sich um, aber wer konnte schon sagen, was unten in der Dunkelheit der Tunnel lag? »Ich bin mit meiner Oyster Card durch den nächstbesten Eingang gekommen und zu irgendeinem Zug gelaufen. Ich weiß nicht mal, welche Linie es war.«

»Die Northern Line«, sagte Anna und setzte all ihre Erfahrung ein, um Ruhe auszustrahlen. »Wo wollten Sie hin?«

»Ich weiß nicht.« Es war, als würde der Körper der Frau vor Stress glühen.

»Schon gut«, murmelte Anna und rückte näher, wobei sie einen vagen Geruch von Alkohol wahrnahm. »Haben Sie getrunken?«

»Ich bin nicht betrunken«, gab die Frau schnell zurück. »Ich trinke normalerweise nicht. Es ist nur … Ja, ich habe was getrunken.« Sie atmete tief aus. »Ich musste mich beruhigen. Ein schneller Wodka. Dann noch einen. Vielleicht noch einen Dritten. Aber die Leute schauten schon. Und da kam dieser Typ auf mich zu. Ich geriet in Panik. Ich war sicher, er folgt mir in die U-Bahn.«

»Ich will Sie nicht verurteilen«, sagte Anna und senkte absichtlich ihre Stimme, »ganz und gar nicht.« Sie sah, wir ihr Tonfall die Frau beruhigte. »Ich dachte, wir könnten vielleicht einen Kaffee für Sie besorgen, damit Sie wieder nüchtern werden.«

»Ja. Das ist eine gute Idee. Aber …«

»Irgendwo, wo es ruhig ist?«

»Ja, bitte. Gehen wir irgendwohin, wo ich mich eine Weile ausruhen kann. Wo ich mich verstecken kann.«

Die junge Frau zitterte, als Anna ihren Arm nahm und sie aus der Seitenstraße führte. Vielleicht ließ nun die Anspannung etwas nach. Jetzt, wo Anna sie in Ruhe betrachten konnte, hätte sie die Frau auf Mitte zwanzig geschätzt. Ihre Stimme hatte, obwohl sie voller Angst war, ein tiefes Timbre, das auf eine gewisse Reife schließen ließ, aber sie hatte auch noch die Klarheit der Jugend, und ihr Gesicht, obwohl es große Verzweiflung zeigte, hatte eine Makellosigkeit, die nur die Jugend genießt.

Anna führte sie mit einem Selbstvertrauen weiter, das sie selbst nicht spürte, aber mit all ihrer Erfahrung vorspielen konnte. Die junge Frau ging jetzt aufrecht und war genauso groß wie Anna. Ihr Griff um Annas Arm war fest und sie wirkte sehr präsent, egal, wie sehr sie versucht hatte, sich im Zug unsichtbar zu machen. Es war albern gewesen, wie sie sich an Anna gedrückt und klein gemacht hatte, ihr dichtes schwarzes Haar an Annas Mantel vergraben.

Aber Anna wusste, wie es war, sich verletzlich zu fühlen, Angst zu haben, und sie war verzweifelt darüber, dass niemand sonst bereit gewesen war zu helfen. »Lass uns zu Costa gehen«, sagte sie.

»Ist es da ruhig?«

Es war Freitagabend. Gegen acht Uhr, schätzte Anna. »Vielleicht«, antwortete sie ohne Hoffnung. »Schauen wir es uns an.« Sie erschrak ein wenig, als sie auf die Hauptstraße einbogen, in das grelle Licht der Straßenlaternen traten und die Taxis, Busse und Fahrräder an ihnen vorbeirauschten. »Es geht hier lang«, sagte sie und holte tief Luft.

Anna machte sich wie immer im Geiste eine Notiz von den Geschäften entlang ihrer gewohnten Route. Zuerst war da das Nagelstudio, in dem ihre beste Freundin Penny vor Jahren gearbeitet hatte, daneben die dunkle Gasse, die Anna immer besonders im Blick hatte, um keine bösen Überraschungen zu erleben. Dann kam der Lebensmittelladen, in dem sie einkaufte. Der Friseur, wo die vertraute und sehr geschätzte Lucca Annas praktischen Bob stets perfekt nachschnitt. Die Eingangstüren zu den Büros waren um diese Zeit dunkel, aber leer, wie sie mit Erleichterung registrierte. An der Ecke dann lag das Costa, das sie manchmal besuchte.

Sie stieß die Tür des Cafés auf und eine Welle von lauten Gesprächen und unaufhörlichem Geschirrklappern verriet sofort, dass es voll war.

Die junge Frau wich einen Schritt zurück. »Mein Gott, alles besetzt.«

»Sollen wir hinten im Raum nachsehen? «

»Nein, ich kann nicht hierbleiben«, sagte sie, und schon zerrte sie Anna in Richtung Straße, aufgeregter denn je.

»Es ist Freitag«, sagte Anna. »Wahrscheinlich ist überall viel los. Lassen Sie uns einen freien Tisch suchen.«

»Ich kann nicht. Da sind Hunderte von Leuten drin. Und alle starren mich an. Ich muss hier raus.«

Der Gesichtsausdruck der Frau war wieder sehr angespannt. Lag es an ihrer Verfolgungsangst? Anna würde es ihr nicht übel nehmen, aber es war sinnlos, hier im Lärm des Cafés danach zu fragen. Das würde sie sicher nur aufregen, also schwieg Anna. Jedes Mal, wenn sie Hilfe angeboten hatte, hatte die Frau gut darauf reagiert.

Anna dachte nach. Pubs waren ein schlechter Ort für jemanden, der wieder nüchtern werden sollte. Restaurants würden am Freitagabend voll sein, die Cafés auf der Hauptstraße waren überfüllt, die weniger frequentierten in den Seitenstraßen bereits geschlossen. Abgesehen vom Zehra’s, das sie bisher aus gutem Grund gemieden hatte.

Anna seufzte. »Nicht weit entfernt von hier gibt es ein türkisches Café. Es macht in einer Stunde zu, also wird es ruhig sein. Da könnten wir hingehen.«

»Ja bitte«, hauchte die Frau.

Sie drehten sich um, Anna griff wieder nach dem Arm der Frau, traf aber auf die Wärme ihrer Hand. Das Gefühl war eindringlich und geradezu intim. Die zarten Finger der Frau umklammerten Annas Hand, und als Anna ihren Blick erwiderte, schauten die junge Frau sie offen und intensiv an. Anna erkannte, dass die Frau ihr Vertrauen in sie gesetzt hatte. Sie vertraute Anna, dass sie sie in Sicherheit bringen würde.

Kapitel 2

In Jessʼ Kopf ging alles drunter und drüber. Ihr Magen war zu einem kleinen Klumpen verkrampft und ihr Körper verspannt. Die Finger der Frau, die ihre eigenen umschlossen, waren ihr einziger Anker, und sie klammerte sich daran fest.

»Ist es noch weit?«

»Gar nicht, obwohl wir gerade einen kleinen Umweg machen.«

Die Frau hatte eine Stimme, der Jess vertraute, sie klang wie die eines Arztes. Sie hatte etwas Beruhigendes, Reifes und Selbstbewusstes, strahlte eine Autorität aus, und sie hielt Jessʼ Aufmerksamkeit fest in ihrem Meer von Angst.

Jess hatte jegliches Gefühl für die Richtung verloren. Sie hatten mehrere belebte Straßen überquert, spielten russisches Roulette auf den Zebrastreifen, die Scheinwerfer der Autos und Busse blinkten in alle Richtungen, die Hupen schrillten und die ganze Zeit über behielt die Frau ihr gleichmäßiges Tempo bei.

Sie bogen in eine Seitenstraße ein, die Straßenlaternen wurden spärlicher und der Verkehr ruhiger, und gingen dann in eine noch engere Gasse auf ein kleines Café mit ockerfarbenen Markisen zu. Draußen vor der Tür standen verstreut Tische und Stühle, jeder Tisch mit einer kunstvollen Wasserpfeife darauf.

»Kommen Sie rein«, sagte die Frau und Jess folgte ihrer Samtstimme. »Gehen Sie in die Sitzecke da hinten. Ich bin gleich bei Ihnen.«

Jess hielt den Kopf gesenkt, verdeckte ihr Gesicht mit einer Hand, täuschte vor, ihren Pony richten zu müssen, und ging zu der ruhigen Nische vor dem Fenster mit Blick auf die dunkle Gasse. Sie ließ sich auf die gepolsterte Bank sinken.

Na endlich. Ein Ort, wo es ruhig war. Wo sie nicht beobachtet werden würde.

Sie war am frühen Abend so dumm gewesen und hatte sich in einen Pub geflüchtet, um ihre Nerven mit einem schnellen Wodka zu beruhigen, dann mit noch einem und noch einem größeren hinterher. Sie hatte die Stimmen derer gehört, die sie wiedererkannt hatten, wie sie in der Kneipe geflüstert hatten, wie das junge Publikum ihre Anwesenheit registriert hatte, und ihr Rücken hatte begonnen zu kribbeln, als ihr bewusst wurde, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Köpfe hatten aus dunklen Sitzecken heraus geschaut, um einen Blick auf sie zu erhaschen, und ein Mann war auf sie zugekommen. Natürlich hatte sie angefangen zu lallen und das hatte ihre Panik noch verstärkt.

Sie war geflüchtet und das Gefühl, beobachtet zu werden, war ihr die Straße hinunter bis in die U-Bahn gefolgt, aber Jess war zu verunsichert, um zu erkennen, ob die Bedrohung real oder eingebildet war. Dann, in der U-Bahn, hatte eine Gruppe von Teenagern gekichert und auf sie gezeigt. Ein junger Mann versuchte krampfhaft, sie nicht allzu deutlich anzustarren und seine Neugierde mit einem Seitenblick zu verbergen. Jess hatte Angst, dass jeder wusste, wer sie war, nur der Geschäftsmann, der aus einer anderen Sphäre stammte, blickte verächtlich auf sie herab. Wahrscheinlich zählte sie in seinen Augen zu den kichernden Teenagern, die in Wirklichkeit zehn Jahre jünger waren als sie. Dann sah sie, wie eine Handvoll anderer Fahrgäste nachdenklich die Stirn runzelte, als ob sie überlegten, woher sie sie kannten, aber gerade nicht draufkamen.

Von allen Anwesenden schenkte die blonde Frau ihr die meiste Aufmerksamkeit, ließ aber gleichzeitig am wenigsten erkennen, dass sie wusste, wer Jess sein könnte. Es war ernüchternd und schuf zugleich Vertrauen und Jess, verloren und kurz davor zusammenzubrechen, hatte die ausgestreckte Hand angenommen.

Jetzt endlich löste sich die Anspannung. Jessʼ Körper wurde vor Müdigkeit bleischwer. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf in die Hände sinken. Ihre Atmung wurde langsamer und das Gedankenkarussell und die Kakophonie in ihrem Kopf begannen nachzulassen, bis nur noch ein dumpfes Hintergrundrauschen aus Gesprächen und dem Klirren von Tassen zu hören war. Geräusche, von denen sie wusste, dass sie wie der Duft von Kaffee und süßem Gebäck zu einem Café gehörten.

Jess war endlich gefasst genug, um ihre Umgebung zu betrachten. Die eine Hälfte des Cafés lag schon im Dunkeln, bereit zum Schließen, die andere war noch laut und belebt. Auf der Theke standen Tabletts mit winzigen Süßigkeiten und Kuchen hinter Glas und Regale mit bemalten Dosen säumten eine Seite des Raumes. Die Wände leuchteten in Rosa-, Gelb- und Grüntönen, eine Mosaikbordüre umgab den ganzen Raum und verfärbte Fotos von – wie Jess vermutete – Filmstars und Sängern lächelten mit unvorstellbarem Glamour von den Wänden.

Die Frau aus der U-Bahn unterhielt sich am Tresen mit einem jungen Mann und einer Frau mittleren Alters mit langem, schwarz-grau meliertem Haar. Sie gaben sich die Hände und Jess’ Begleiterin bekam von der älteren Frau, die ihren Arm hielt und sehr herzlich mit ihr plauderte, einen Kuss auf die Wange. Die Vertrautheit war tröstlich, ebenso wie ihr Desinteresse an Jess, und das ließ eine weitere Welle der Anspannung abebben und sie rutschte tiefer in ihren Sitz.

Die Frau beendete ihr Gespräch, kam zu Jess und setzte sich ihr gegenüber auf die Bank. Jess hatte nur einen Moment Zeit, sie zu mustern, während sie es sich bequem machte. Eine Frau, Ende dreißig oder Anfang vierzig, schätzte sie. Von Natur aus mit einer sehr blassen Haut oder einer, die schon lange keine Sonne mehr gesehen hatte, mit hohen Wangenknochen und einer vornehmen Haltung.

»Hier können Sie sich ausruhen«, sagte die Frau und ihre Stimme tat ebenso viel dazu wie die Umgebung, um Jess zu beruhigen. Sie war wohlklingend, wie Jess’ Mutter es beschrieben hätte. »Posh«, hätte ihre Oma hämisch gesagt. Es entsprach nicht Jess’ Akzent oder dem, wie er einmal gewesen war. Seine Ecken und Kanten hatten sich in den letzten Jahren abgeschliffen und kamen nur noch am Telefon mit ihren Eltern voll zur Geltung, wo sie in den Tonfall der Bewohner Birminghams abrutschte und »Mom« statt »Mum« sagte und mit ihrem Vater in den Dialekt des Nordens verfiel, durchzogen von ein paar ausgewählten jamaikanischen Patois-Ausdrücken aus dem früheren Leben ihrer Nan. Jess’ Akzent war eine Mischung mit dem Aroma vieler Orte und doch unverkennbar britisch.

Diese Frau, die einen Meter entfernt saß, kam bestimmt aus einer ganz anderen Welt. Sie entstammte einer anderen Generation und Klasse, kaufte wahrscheinlich an Orten ein, die Jess noch nicht einmal im Traum aufsuchen würde. Jess war vielleicht nur einen Schritt von einem Millionär am anderen Ende der Welt entfernt, aber viele von dieser Landsmännin. Ohne diese zufällige Begegnung in der U-Bahn hätte mit Sicherheit keine der beiden jemals von der Existenz der anderen erfahren.

Das schien unglaublich und aufregend zugleich, und die Möglichkeit erfüllte Jess mit einer seltsamen Hoffnung. Konnte es sein, dass sie der einzigen Person in ganz London begegnet war, die keine Hintergedanken hatte und einer jungen Frau namens Jess einfach so ihre Hilfe angeboten hatte?

»Ich habe Ihnen eine Auswahl von Desserts zum Kaffee bestellt«, sagte die Frau. »Essen Sie so wenig oder so viel, wie Sie wollen, aber ich dachte, Zucker und Koffein könnten Ihnen helfen, sich zu beruhigen. Ich warte noch, bis die Sachen kommen und Sie sich besser fühlen.«

»Danke«, sagte Jess. Wenigstens war sie jetzt wieder ihrer Sprache mächtig. »Ich danke Ihnen.«

»Gern geschehen«, sagte die Frau, ein Bild von Leichtigkeit und Anstand. »Wissen Sie nun, wo Sie sind?«

Jess schüttelte den Kopf. Sie hatte keinen blassen Schimmer.

»Sie könnten sich auf Ihrem Telefon den Stadtplan ansehen.«

»O ja, natürlich. Entschuldigung.« Ihr Gehirn war immer noch träge. »Ich habe es ausgeschaltet.«

Jess fasste in ihre Jackentasche, drückte auf die Taste an der Seite ihres Handys und es begann aufzuleuchten. Es dauerte eine Weile, bis es startete, aber sobald es den Startbildschirm anzeigte, piepte es unaufhörlich, und die eingehenden Benachrichtigungen hörten mehrere Sekunden lang nicht mehr auf.

»Jesus.« Jess ließ das Telefon auf den Tisch fallen, als ob sie sich verbrannt hätte.

Die Frau rutschte unruhig auf ihrem Platz herum, als habe Jess’ Reaktion sie verunsichert. »Sind Sie in Schwierigkeiten? Wer hat Sie verfolgt?«

Jess’ Hirn begann, erneut zu blockieren, versagte unter dem Druck, sobald sie versuchte, ihre Lage zu überdenken. »Ich habe es wirklich vermasselt«, murmelte sie. Sie fasste sich an den Kopf. »Ich war schon längst auf der Flucht. Ich habe so viele Menschen im Stich gelassen.«

Ihr Telefon piepte und surrte wieder und wieder. Jess griff danach, reduzierte die Lautstärke und warf es hin. Es war stumm, aber es leuchtete immer und immer wieder und hörte gar nicht mehr auf damit.

Die Frau blieb still sitzen, ihre Stimme war ruhig. »Gibt es jemanden, den Sie anrufen können? Jemanden, dem Sie vertrauen?« Vielleicht suchte sie nach einem Ausweg.

»Nein«, sagte Jess schnell. Es gab niemanden. Ihr fiel keine einzige Person ein, die sie im Moment sehen wollte. Jeder, der ihr wichtig war, jeder, der ihr etwas bedeutete, würde wütend auf sie sein.

»Jemand, der Sie nach Hause bringen könnte?«

»Ich wohne nicht in London. Ich kenne die Stadt kaum«, platzte Jess heraus. »Es gibt ein Hotelzimmer, wo auch meine Sachen sind, aber …« Ihre Hände taten weh. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie sie so fest zusammengepresst hatte, bis sie schmerzten.

Jess hörte auf, ihre Hände zu ringen, und betrachtete die Fremde auf der anderen Seite des Tisches, die eindeutig keine Ahnung hatte, wer sie war. Da saß lediglich eine freundliche Frau, die über Jess’ Verhalten erschrocken war. »Sie wissen nicht, wer ich bin, oder?«, fragte Jess, unfähig, den Blick von ihrer Begleiterin abzuwenden.

»Nein.« Anna sah sie forschend an, der Inbegriff von Ruhe.

Jess fragte laut und ungläubig: »Sie wissen nichts über mich?«

»Nein.«

Spannung lag in der Luft.

»Aber Sie haben mir geholfen.«

Die Frau nickte.

Eine weitere Pause.

»Sie waren in Schwierigkeiten«, erklärte die Frau. »Mir gefiel es nicht, dass Ihnen niemand Hilfe anbot. Ich fürchte, ich bin nicht der beste barmherzige Samariter, aber ich konnte nicht danebenstehen und nichts tun.«

Jess starrte ihre Begleiterin an, eine gut gekleidete Frau in einem Burberry-Trenchcoat. Eine tatsächlich schöne Frau, wie Jess jetzt deutlich sehen konnte, selbstsicher und rücksichtsvoll und mit offenbar keiner anderen Motivation, Jess zu helfen, als ihrer offensichtlichen Not. Vor einer Stunde schien die Existenz einer solchen Person noch undenkbar. »Danke«, sagte Jess, ihre Stimme endlich kontrolliert genug, um ihre Aufrichtigkeit deutlich zu machen. »Wirklich, ich danke Ihnen von Herzen.«

Jetzt, da Jess ruhiger war und selbst das Kuriose an der Situation erkennen konnte, entspannte sich die Frau und sie sank etwas bequemer in ihrem Sitz zurück.

Sie öffnete den Mund, machte dann eine kleine Pause. »Ich bin übrigens Anna«, sagte sie und bot ihr die Hand an.

»Jess.« Sie lächelte, erleichtert darüber, dass sich die Frau damit zufrieden zeigte. »Ich bin …«, der Kellner näherte sich ihrem Tisch, »einfach Jess«, beendete sie den Satz.

Als er den Kaffee und die Süßigkeiten auf den Tisch gestellt hatte, ließen sie die Hände los. Anna, deren Namen Jess gerade erst erfahren hatte, machte Anstalten, als wolle sie gehen.

»Bleiben Sie nicht? Wenigstens noch ein bisschen?« Jess hörte, wie rau ihre eigene Stimme klang, und eine Welle schuldbewusster Verlegenheit überkam sie. »Tut mir leid. Sie haben schon so viel getan. Danke.«

Anna zögerte. Sie hatte sich bereits halb aufgerichtet und hielt nun so lange inne, dass Jess lächeln musste.

»Bitte. Sie müssen nicht höflich sein«, fügte Jess hinzu. »Ich habe Ihnen den Freitagabend verdorben und bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich hergebracht haben.«

»Ich möchte sichergehen, dass Sie in Sicherheit sind«, sagte Anna, ihre Stimme gedämpft vor Verantwortung. »Was werden Sie tun? Wo werden Sie hingehen?«

»Ich …« Jess’ Kopf war leer. Von all den Dingen, die sie hätte tun können, gefiel ihr nicht eines – oder war ohne Folgen möglich.

»Ich trinke wenigstens noch einen Kaffee mit Ihnen und helfe Ihnen dann auf Ihrem Weg. Entschuldigung, Yusuf?« Anna setzte sich wieder und rief dem Kellner nach. »Könnte ich bitte noch einen Kaffee bekommen?«

Sie drehte sich wieder zu Jess um, ein warmes Lächeln lag auf ihren Lippen, und Jess konnte nicht verhindern, dass ihr Blick dorthin wanderte. Volle, rosafarbene Lippen, ungeschminkt, sodass man all die winzigen, zarten Fältchen sehen konnte, die Annas Mund dafür umso zerbrechlicher wirken ließen. Jess spürte, dass ihr Blick unangemessen war, und wandte ihre Aufmerksamkeit ihrem Getränk zu. »Was ist das?«, fragte sie und deutete auf die kleine, goldverzierte Tasse aus Porzellan.

»Türkischer Kaffee«, antwortete Anna. »Ich kann Ihnen auch einen einfachen schwarzen Kaffee oder etwas anderes bestellen, wenn Sie mögen. Sie schienen nicht in der besten Verfassung zu sein, als wir ankamen. Ich dachte, ein Schluck hiervon könnte Sie wiederbeleben.«

Jess nickte, nahm den zarten Henkel der Tasse zwischen Daumen und Zeigefinger und hob sie an ihre Lippen.

»Wenn Sie noch nie einen probiert haben, trinken Sie die Tasse nicht ganz leer. Er wird nicht gefiltert. Man lässt das Sediment zurück.«

Jess nahm einen winzigen Schluck. Der Duft von aromatisch geröstetem, starkem Kaffee stieg in ihre Nase. Er hatte einen fruchtigen Beigeschmack und ein bitteres Aroma, das ihre Zunge etwas stumpf werden ließ. Sie konnte sich ein genussvolles Seufzen nicht verkneifen, nachdem sie geschluckt hatte. »Genau das, was ich brauchte«, sagte sie. »Und das da?«

»Eine kleine Auswahl von Baklava und Sekerpare.«

Jess erkannte die Blätterteigschichten des rautenförmigen Baklava und vermutete, die runden, mit Sirup getränkten Gebäckstücke mit einer Mandel drauf müssten die Sekerpare sein. Sie nahm eines davon und knabberte daran. Das saftige, zuckersüße Dessert war eine perfekte Ergänzung zum bitteren Kaffee, und die Aromen vermischten sich in ihrem Mund, wobei ein köstlicher Duft von Zitrone aufstieg.

»Gut?«, murmelte Anna, ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

Jess ertappte sich dabei, wie sie sie wieder anstarrte. Anna hatte eine Andeutung von kleinen halbkreisförmigen Fältchen an den Mundwinkeln, dort, wo ihr Lächeln entstand. Ihre beruhigende Stimme war perfekt für Jess – sanft und von guter Erziehung geprägt, aber mit einem Hauch regionalem Einfluss. »Edinburgh«, sagte Jess.

»Wie bitte?«

»Sie kommen aus Edinburgh?«

»Ja, das stimmt. Mir war nicht bewusst, dass ich noch einen Akzent habe.«

»Er ist sehr schwach. Aber ich habe ein Ohr für so etwas«, sagte Jess stolz. »Eines meiner Talente.«

Jess bewunderte Annas Profil, als diese sich lachend abwandte, wobei ihre elegante Kieferpartie voll zur Geltung kam und ihr schlanker Hals im Schatten der dunkelblonden Haare verlockend wirkte.

»Wie wäre es mit noch ein paar Süßigkeiten?«, schlug Anna vor, wobei ihre Mundwinkel sich ganz leicht vor Belustigung verzogen, als sie Jess’ prüfenden Blick auf sich spürte.

Kapitel 3

Anna saß in ihrem Lieblingscafé, das sie fast täglich aufsuchte, nur ein paar Schritte vom Heiligtum ihrer Wohnung entfernt. Diese beiden Orte waren die zwei Säulen ihres geordneten privaten Lebens. Diesmal aber war sie mit einer Frau hier, die sie nicht kannte, die vor Gott weiß was und vor Gott weiß wem Angst hatte.

Das Auftauchen der Fremden war sehr irritierend und lästig, brachte aber gleichzeitig einen Nervenkitzel in Annas Leben. Einer Unbekannten ihre Hilfe anzubieten war etwas, das die alte Anna getan hätte, die damals noch das entsprechende Selbstvertrauen hatte. Bei der Anna von heute hatte es einer gehörigen Portion Mitgefühl bedurft, um sie aus ihrem sicheren Schneckenhaus herauszulocken, als die Frau in die U-Bahn geflüchtet war.

Sie würde Penny davon erzählen müssen. Ihre beste Freundin wäre stolz auf Annas Abweichung von ihrer Routine. Tatsächlich würde Penny überglücklich und ermutigt über den Fortschritt sein. Vielleicht aber auch zu ermutigt, und Anna beschloss, das Ereignis doch besser für sich zu behalten.

Die junge Frau nippte an ihrem Kaffee und schaute aus dem Fenster. Sie sah umwerfend aus, das musste Anna anerkennen. Braune Augen, dachte Anna, so dunkel, dass sie im schummrigen Licht des Cafés fast schwarz erschienen. Lange Wimpern mit einem Hauch von Make-up. Ein Gesicht, so wohlgeformt und schön, dass man nur schwer glauben konnte, dass diese Frau nicht von einem Künstler geschaffen worden war. Und sie war jung, ihre braune Haut glatt und zart. Nur eine kleine Narbe auf ihrer Wange zeigte, dass sie aus Fleisch und Blut war. Als die Frau sich entspannte und nicht mehr ständig auf ihre Unterlippe biss, zeigte sich, dass ihr Mund perfekt geschwungen war. Anna fragte sich, wer sie verfolgte.

Jess’ Augen blieben einen Moment lang auf Anna haften und huschten dann wieder weg, als hätte sie sich dabei ertappt, sie zu forschend anzusehen. Dann lächelte sie und hob ihre Tasse. »Das ist köstlich«, sagte sie.

Schaute Jess immer so intensiv? Es war selten, dass jemand Anna in diesen Tagen wirklich beachtete. Aufmerksamkeit war vielleicht nicht ungewöhnlich, aber sie war unerwünscht und Anna war sehr geschickt darin, von sich abzulenken. Aber heute Abend tat es gut, von jemandem auf diese Weise angesehen zu werden. Dass es Anna dabei innerlich ganz warm wurde, war eine Überraschung. Auch das Vertrauen, das die Frau in sie setzte, war neu, irgendwie erfreulich und wohltuend.

»Wollen Sie darüber reden, was Sie bedrückt?«, bot Anna mit etwas von der Sicherheit und Autorität an, die sie früher einmal gehabt hatte. Es war klar, dass hinter der Anspannung der jungen Frau mehr steckte als nur jemand, der sie verfolgte. »Würde Ihnen das helfen?«

Jess ließ ihre Schultern nach unten fallen. »Ich bin so müde«, sagte sie, und die Müdigkeit war sowohl in ihrer Stimme als auch in ihrem Auftreten zu erkennen. Das Sprechen schien ihr schwerzufallen, wenn ihre Angst überhandnahm, wurden ihre Sätze einsilbig. »Ich kann nicht mehr, ich bin erschöpft, mein Kopf …« Es war ihrer Stimme anzuhören, wie sie mit sich rang. »Mein Kopf funktioniert nicht mehr richtig.«

Anna unterbrach sie nicht. Jess war eindeutig verzweifelt und Anna gab ihr Zeit, sich zu erholen.

»Ich habe sieben Jahre lang ununterbrochen gearbeitet«, fuhr Jess fort, »seit ich die Schule verlassen habe. Gott, das scheint Jahrzehnte her zu sein. Sie werden lachen, wenn ich Ihnen sage, dass ich mich alt fühle.« Die junge Frau wartete auf eine Antwort.

»Nein, ich lache nicht«, antwortete Anna. Ehrlich gesagt kannte sie das Gefühl.

»Ich glaube, ich war in den letzten Jahren nicht länger als ein paar Stunden zu Hause bei Mom und Dad. Und …« Sie stöhnte. »Ich weiß, ich sollte gerade die beste Zeit meines Lebens haben, aber das habe ich nicht. Ich könnte nicht weiter davon entfernt sein.« Jess ließ den Kopf sinken und ihre Augenlider schienen so schwer zu sein, dass sie sie kaum oben halten konnte.

»Was arbeiten Sie? Können Sie nicht eine Pause machen?«, fragte Anna.

»Nein.« Jess’ Stimme brach fast vor Verzweiflung, ihre glatten, jugendlichen Züge bekamen tiefe Falten. »Mein Terminkalender ist voll. Das hier«, sie deutete in den Raum, »ist seit, ich weiß nicht, Monaten am ehesten das, was ich als Pause bezeichnen würde.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde noch verrückt. Ich meine«, fügte Jess hastig hinzu, »ich habe genug von den ständigen Anforderungen und davon, dass alle etwas von mir erwarten.«

Ihr Telefon auf dem Tisch vibrierte wieder.

»Hier«, sagte sie und hielt ihr Handy hoch. »Ich habe nicht einen Moment Ruhe. Selbst wenn ich schlafe, wollen die Leute noch etwas von mir.«

Anna war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach mehr Einzelheiten und der Sorge, den Druck noch mehr zu erhöhen.

»Heute Abend«, fuhr Jess fort, bevor Anna nachfragen konnte, »sollte ich ein Interview geben. Ich bin heute erst aus Frankreich gekommen und morgen werde ich in Manchester erwartet, und ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dass mich ein Fremder ausfragt.«

Anna verkniff es sich, diesen Punkt zu vertiefen, und fragte stattdessen: »Gibt es jemanden, der sich Sorgen um Sie macht? Gibt es jemanden, den Sie anrufen müssten?«

Jess schüttelte den Kopf. »Ich möchte das nicht.«

»Und Ihre Familie, die sich Sorgen machen könnte?«

»Sie haben recht. Ich sollte meiner Mutter eine SMS schicken.«

Anna nickte ermutigend.

Jess wandte ihre Aufmerksamkeit dem Telefon zu, hielt es in beiden Händen und tippte mit den Daumen. Sie wollte das Handy gerade weglegen, als das Display wieder aufleuchtete. »Scheiße«, flüsterte Jess.

»Was ist los?«

Jess erstarrte. »Sehen Sie.« Sie schob Anna das Telefon zu und die zuckte erschrocken zusammen, als sie das Foto sah.

»Es ist ein Bild von hier drin. Ein Bild von uns. Mein Gott.«

Ein undeutliches Foto von Jess und Anna, die einander gegenüber am Tisch sitzen, füllte den Bildschirm. Es war beschnitten und vergrößert worden, aber es waren eindeutig sie beide.

»Das ist es, was ich meine«, Jess’ Stimme wurde wieder etwas schriller.

Auch Annas Herzschlag beschleunigte sich und sie wagte nicht, sich umzudrehen. »Wer war das? Wer hat das geschickt? Können Sie das sehen?«

»Es ist anonym.«

»Ist es die Person aus dem Zug?«

»Ich weiß es nicht.« Jess’ Stimme wurde wieder fester. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht paranoid bin. Ich bin aus dem Pub gerannt, vor einem Mann an der Bar geflüchtet. Ich hatte Angst, dass er … Aber auch andere … Der Drink … Ich wusste nicht, ob ich mir selbst trauen konnte.«

Anna begann zu frieren. Gefahr lag in der Luft. Sie fühlte sich von allen Seiten bedroht und die Angst strich mit kalten Fingern über ihren Körper. Wie schnell das Gefühl wieder zurückkam, wie empfindlich ihr ganzes Wesen für diese Art von Terror war. Es war erschreckend, wie man sich in einem Moment noch als Teil der zivilisierten Gesellschaft fühlte, sich sicher wähnte in einer Stadt, umgeben von Restaurantgästen, die den Freitagabend genossen, und im nächsten war man von allen Seiten angreifbar.

»Können Sie ihn sehen?«, fragte Anna, ihr Gesicht auf Jess gerichtet. »Ist er hier? Der Mann aus dem Pub?«

Jess bewegte sich ein wenig hin und her und beugte sich aus der Sitzecke. »Ich habe ihn nicht richtig gesehen. Es könnte jeder sein. Ich will hier raus.« Jess’ Stimme klang erstickt.

»Okay«, sagte Anna. »Okay«, flüsterte sie zu sich selbst. Davor fürchtete sie sich am meisten, in Panik zu geraten, sodass sie eine Situation nicht mehr richtig einschätzen konnte.

Sie griff über den Tisch und sofort packte Jess ihre Hand. Die junge Frau hielt sich an ihr fest, als ginge es um ihr Leben. Anna konnte ihre Angst spüren. Jess’ verzweifelter Griff verriet, wie angespannt ihre Nerven waren, wie groß der Drang zu fliehen.

Anna atmete langsam aus. Dass sie Luft mühsam herauspressen musste, verriet, wie nervös sie selbst war. »Ich kann Ihnen helfen.«

»Bitte!«

Anna setzte sich aufrecht hin. Sie befand sich weit außerhalb ihrer Komfortzone, aber die Eigendynamik der Situation hatte sie im Griff. »Es gibt einen Notausgang auf der Rückseite, hinter den Toiletten«, sagte sie leise. »Meine Wohnung ist ein paar Meter weiter. Sie gehen zuerst, ich bezahle die Rechnung und folge Ihnen. Sie können dort eine Weile warten, wenn Sie möchten.«

»Was, wenn er uns folgt?«

»Wir können aus dem Gebäude und bei mir zu Hause sein, bevor er es merkt.«

»Soll ich jetzt gehen?«

Anna nickte und als Jess den Tisch verließ, winkte sie in Richtung Theke, um sich die Rechnung bringen zu lassen.

Die üppige Zehra kam zu ihr und drückte Anna liebevoll die Schulter. »Hat deiner Freundin mein Baklava nicht geschmeckt?«, sagte sie mit gespielter Entrüstung und deutete auf den Tisch.

»Tut mir leid, wir müssen gehen«, sagte Anna und ergriff Zehras Hand auf ihrer Schulter.

»Was ist los?«, sagte Zehra, die Annas Unruhe sofort spürte.

»Ich muss durch die Hintertür raus. Ich glaube, meine Freundin hat einen Stalker. Aber ich weiß es nicht genau.« Vieles ergab keinen Sinn. »Weil …«, ein Gefühl von Kälte breitete sich in ihrem Magen aus, als sie Zehra gestand, »ich sie kaum kenne.«

Das lag alles so weit außerhalb von Annas Komfortzone, dass sich die Welt zu drehen begann und ihr ganz schwindlig wurde. Sie schloss die Augen und griff nach Zehras Hand, bis das Trudeln aufhörte.

Nicht zum ersten Mal verfluchte sie ihre Angst und ihre Einschränkungen. Aber der Trieb, der Frau zu helfen, war wieder da. Schon im Zug hatte niemand ihr geholfen, und so wie Anna dort nicht danebenstehen und die offensichtliche Not der Frau ignorieren konnte, konnte sie sich auch jetzt nicht zurückhalten, als sie deren Angst so deutlich spürte. Jess, sagte sie sich. Die Frau hieß Jess und sie bat um Hilfe.

Anna löste ihren Griff und öffnete die Augen. »Ich muss sie mit zu mir nehmen, bis sie sich sicher fühlt.«

»Bist du sicher, dass du das willst?«

»Nein«, sagte Anna mit einem schiefen Grinsen.

»Hmm«, sinnierte Zehra und legte ihr reifes Gesicht nachdenklich in Falten. »Wenn du meine Meinung hören willst, für mich sah sie gut aus, obwohl so etwas schwer zu beurteilen ist. Besorgt ja, aber nicht beunruhigend. Um ehrlich zu sein frage ich mich die ganze Zeit, ob ich sie nicht schon einmal irgendwo gesehen habe. Aber ich kann sie beim besten Willen nicht einordnen. Soll ich nachsehen, ob es dir gut geht, wenn ich abgeschlossen habe?«

Anna drückte Zehra die Hand. »Danke«, sagte sie und begann, sich von ihrem Platz zu erheben.

»Kein Problem. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Hast du eine Ahnung, wer sie belästigt hat?«

»Nein, leider nicht«, schüttelte Anna hilflos den Kopf.

»Ich werde auf jeden achten, der geht.«

»Danke dir.«

»Geh. Wir rechnen morgen ab.« Zehra nahm Annas Kopf in beide Hände, zog sie zu sich und küsste ihren Scheitel.

Anna schlüpfte hinaus, verdeckt von Zehra, die den Tisch abräumte. Der Korridor war leer, bis auf Jess, die unruhig auf und ab ging.

»Los gehts«, sagte Anna. Sie drückte die Klinke des Notausgangs nach unten und beide betraten die dunkle Seitenstraße. Anna schlug die Tür hinter ihnen zu.

»Geradeaus«, sagte sie, und Jess huschte neben ihr die Straße entlang. Anna betete, dass sich in der Dunkelheit ihres gewohnten Heimwegs nichts und niemand versteckte. »Hier links, es ist gleich das erste Haus.«

Anna tastete im schummrigen Licht nach dem Türschloss und zog mit der anderen Hand die Schlüssel aus der Hosentasche. Ihre Finger zitterten, als sie aufschloss, und dann stürzten die beiden fast in den Hausflur des Reihenendhauses. »Mach die Tür zu«, sagte Anna. »Ich wohne im obersten Stockwerk.«

Sie ging voran, zog sich am Geländer hinauf, lief schnell die drei Stockwerke hoch und zitterte immer noch, als sie die Wohnungstür zu ihrer Einzimmerwohnung öffnete. Beide gingen hinein und standen dann schwer atmend in dem dunklen Raum. Das einzige Licht fiel durch das breite Balkonfenster und kam vom orangefarbenen Schein der Stadt draußen.

»Bitte, setzen Sie sich.« Anna schnappte nach Luft. Sie deutete zum Fußende des Betts, während sie in den Sessel daneben sank. »Ich brauche einen Moment«, keuchte sie.

Jess sackte auf das Bett und rollte sich ganz klein zusammen, Arme und Beine eng an sich gezogen.

Anna beobachtete, wie sie angespannt dalag, und wartete darauf, dass sich ihr eigener Herzschlag beruhigte. »Hier bist du sicher«, murmelte sie.

Jess rollte sich mit einem Stöhnen fester zusammen, ihre Angst so groß, dass sie völlig die Sprache verloren zu haben schien. Anna wartete darauf, dass Jess sich erholte und sich erklären würde. Tatsächlich wartete sie zu lange, denn die junge Frau sagte kein Wort mehr und schloss die Augen. Irgendwann später in der Nacht löste sich Jess’ angespannte Körperhaltung und Anna konnte sie tief und gleichmäßig atmen hören.

Ihr wurde angst und bange, als sie die schlafende Fremde betrachtete, fassungslos darüber, dass jemand in ihre geordnete Welt eindringen und ihr das Gefühl der Kontrolle entgleiten konnte. Es war aufregend und erschreckend zugleich.

Kapitel 4

Als Jess ihre Augen öffnete, fühlte sie sich erstaunlich ruhig.

Sie lag gemütlich unter einer Bettdecke und ihr Körper war entspannt und angenehm schwer nach dem tiefen Schlaf. Aber sie spürte auch immer noch die tiefe Erschöpfung. Die akute Angstattacke in der letzten Nacht hatte ihrer Verfassung nicht gerade gutgetan.

Dafür, dass das Schlimmstmögliche passiert war, ging es ihr dennoch überraschend gut. Gestern hatte sie den Tiefpunkt erreicht und der Staub, den sie aufgewirbelt hatte, setzte sich irgendwo da draußen ab, aber sie war immer noch hier. Sie war vor ganz London ausgeflippt, hatte das Interview versaut, so viele Dinge getan, vor denen sie sich gefürchtet hatte, und jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Es war, als hätte sie eine Droge genommen und wäre endlich leicht und unbeschwert.

Sie setzte sich auf, blinzelte und dehnte ihre Arme, bis diese angenehm schmerzten.

Das Tageslicht schien durch die dünnen Jalousien vor den Fenstern in der Dachgaube, die sich über die gesamte Breite des kleinen Appartements erstreckte. Jess konnte vom Bett aus die gesamte Wohnung überblicken. In der linken Ecke vor dem Fenster gab es einen Kochbereich mit einer kleinen Kücheninsel. Auf der rechten Seite bildeten ein Sofa, Bücherregale und ein Fernseher einen gemütlichen Wohnbereich. Das Bett stand mit dem Rücken zur Wand mit Blick auf die Wohnungstür und die Dachschräge verlief nach hinten ins Dunkel.

Sie konnte kein Lebenszeichen von Anna entdecken, dann hörte sie das Plätschern von Wasser in einer Dusche. Eine weitere Tür, etwas zurückgesetzt neben der Wohnungstür, führte offensichtlich zu einem Badezimmer.

Jess könnte sich davonmachen, wenn sie wollte. Letzte Nacht hatte der Wodka sie unvorsichtig gemacht und verzweifeln lassen. Konnte sie Anna schon nach einigen wenigen Stunden trauen? Ihr Gefühl sagte Ja. Aber Fotos von Jess, wie sie in diesem Bett schlief, könnten bereits überall in den sozialen Medien und auf den Klatschseiten zu sehen sein.

Sie drehte ihr Handy zu sich, das Akkusymbol leuchtete rot. Es gab Hunderte von Benachrichtigungen, verpasste Anrufe, Repostings von Fotos, wie sie in der U-Bahn kauerte oder Kaffee trank. Sonst aber wenig und vor allem nichts, was in diesem Raum aufgenommen worden war, und ihr Herzschlag blieb ruhig, während sie auf die Badezimmertür starrte.

Vielleicht hatte sie, mutig vom Wodka, doch gut entschieden. Die Frau interessierte sich entweder nicht für Jess’ Berühmtheit oder sie war sich ihrer nicht bewusst. Jess leckte sich über die Lippen. Ihr verwegenes Wodka-Ich könnte ein Glas Wasser und eine Zahnbürste gebrauchen.

Sie überprüfte die Nachrichten in ihrem Postfach für Freunde und Bekannte. Es gab eine Nachricht von Mom, »Ruf an, sobald du kannst«, und eine andere von Nan, die nur aus Emojis bestand, und Jess vermutete, dass die Katze wieder am Telefon ihrer Großmutter herumgeschnüffelt hatte.

Eine E-Mail von ihrem Manager kam mit einem »Ping« an und der Betreffzeile »WTH – U-Bahn-Fotos?«

Ihr Magen zog sich vor Panik zusammen und eine Eiseskälte lief ihre Wirbelsäule hoch. »Nein.« Sie ballte die Hand um das Handy und presste es an ihre Brust, als wollte sie es ersticken. Die harten Kanten drückten sich in ihre Finger, bis der Bildschirm erlosch.

Das Geräusch der Dusche hörte auf und Jess setzte sich erwartungsvoll aufrecht hin.

Sie wartete und strich die Bettdecke über ihren Beinen glatt. Anna musste sie letzte Nacht zugedeckt haben, nachdem sie eingenickt war. Die Bettwäsche war ockergelb, eine ziemlich grelle Farbe, die irgendwie gar nicht zu Anna passte, aber die ganze Wohnung war sehr lebhaft gestaltet. Ein satter Terrakottaton zierte die Wände mit den Holzschnittdrucken von Meereslandschaften in klobigen Holzrahmen und die Küchenschränke waren in einer Palette von Blautönen gehalten. Jess hätte etwas Gedeckteres erwartet, vielleicht eher ein viktorianisches Zimmer mit kalkweißen Wänden und modernen klassischen Möbeln.

Und es war alles sehr ordentlich. »Ach du Scheiße«, flüsterte sie.

Jetzt fiel Jess auf, wie symmetrisch und systematisch die Wohnung eingerichtet war. Die präzise aufgereihten Behälter auf der Arbeitsplatte der Küche und die Reihe von Pantone-Tassen, die unter den Oberschränken hingen. Die Matrix aus kleinen Schubladen, die in die Kücheninsel eingelassen waren. Die Kehrschaufel und der Handbesen, die neben dem Schrank hingen. Die Büste – genauer gesagt handelte es sich um ein kopfloses Paar Brüste, wie Jess feststellte – auf dem Bücherregal, das entlang der Sitzecke verlief, exakt ausgerichtet auf eine Vase mit Schwertlilien und eine kurvenreiche polynesische Skulptur.

Jess hatte einen flüchtigen Verdacht, was Annas sexuelle Präferenzen betraf, tat ihn aber gleich wieder ab. Konnte es nicht auch in einem nicht-queeren Frauenhaushalt solch einen Akt geben? Alles hatte seinen genauen Platz, nichts stand einfach nur da, abgesehen von einer wild wuchernden Vegetation, die in der Küchenecke vor einem schmalen Fenster hing. Grünlilien. »Die kriegt man unmöglich klein«, hörte Jess ihre Nan sagen. »Selbst wenn man es versucht.« Komisch, dass sie in den letzten Stunden so oft und so lebhaft an ihre Familie gedacht hatte.

»Guten Morgen.«

Jess’ Herz schlug schneller bei Annas Stimme, nicht nur wegen ihrer überraschenden Anwesenheit, sondern auch, weil sie so gut klang. Sie hatte eine Qualität, die Jess auf mehr als eine Weise anziehend fand. Die Stimme beruhigte sie und ließ die letzte Nacht weniger schlimm erscheinen, sie überflutete Jess jetzt mit einem Gefühl der Leichtigkeit, aber sie erfreute sie auch.

Anna stand vor Jess, ihr blondes Haar war nach der Dusche noch nass und schien dunkler. Sie wirkte heute Morgen blasser, obwohl sich ihre helle Haut leicht gebräunt von ihrem klassischen Leinenhemd abhob. Schlanke Arme ragten aus den hochgekrempelten Ärmeln und die Sonnenbrille, die aufreizend in ihrem Dekolleté steckte, zog Jess’ Aufmerksamkeit auf sich.

Vielleicht lag es an Annas fehlendem Make-up – sie trug überhaupt keines, soweit Jess es erkennen konnte. Sie hatte beneidenswerte dunkle Wimpern, die ihre blauen Augen akzentuierten, aber nein, sie hatte überhaupt kein Make-up aufgetragen. Nichts verdeckte das tiefe Rosa ihrer vollen Lippen, nichts verdeckte die winzigen Sommersprossen auf ihrer Nase. Sie war einfach eine schöne Frau. Eine selbstbewusste Frau, deren Gedanken hinter ihrem ruhigen Gesichtsausdruck undurchdringlich waren. Eine selbstsichere Frau. Eine Frau, die geduldig auf Jess’ Antwort wartete, wie diese realisierte.

»Hi«, sagte Jess, schüchtern und ein wenig albern angesichts der Situation.

Anna wartete, ein kleines Lächeln kräuselte ihre Mundwinkel.

»Es tut mir so leid«, murmelte Jess. »Ich erinnere mich gar nicht mehr so genau daran, wie ich hierher gekommen bin. Ich meine, wenn ich es getan hätte, wenn ich so gewesen wäre, wie ich normalerweise bin, wäre ich erst einmal nicht geblieben, aber weißt du …«

Anna neigte ihren Kopf zur Seite.

»Ich hätte vielleicht … zumindest … du weißt schon …« Jess holte Luft. »Ich bin komplett in deinem Bett versackt, oder?«

Annas Gesicht hellte sich auf und ihre Blicke trafen sich. »Du hast es gebraucht.«

Ein Hochgefühl durchströmte Jess, als sie Annas Augen leuchten sah, als sie über die Situation letzte Nacht sprachen. Es reichte aus, damit Jess sich einen Moment lang in diesen funkelnden blauen Augen verlor.

»Oh«, sagte sie und kam wieder zu sich. »Habe ich wenigstens so getan, als würde ich dir etwas Platz lassen?« So, wie sie lag, als sie aufgewacht war, war dies eher unwahrscheinlich.

Anna lachte. »Nein. Ich habe das Sofa genommen.« Sie deutete in Richtung des Wohnbereichs in der Nähe des Fensters und auf ein Kissen und eine Decke, die säuberlich gefaltet auf dem Couchende lag.

»Ich habe mich wirklich aufgedrängt, oder?«, sagte Jess und ließ die Schultern sinken.

»Ja, das hast du.« Anna stimmte zu, aber ihre Stimme klang vergnügt. »Doch ich habe mich wohl dabei gefühlt.«

»Ich bin dir so dankbar. Glaub mir, meine Mutter würde einen Anfall bekommen, wenn sie wüsste, dass ich so unhöflich war.«

»Nun, falls deine Mutter nachfragt, kannst du ihr sagen, dass du ein braver Gast warst, nachdem du erst anmaßend das einzige Bett in Beschlag genommen hast.«

Jess stöhnte innerlich auf.

Anna lächelte noch einmal, neigte ihren Kopf zur Seite und die Wärme in ihrem Blick schien auf Jess überzuspringen und sie innerlich zum Glühen zu bringen. Wahrscheinlich machte sie vor lauter Dankbarkeit einen albernen Gesichtsausdruck. Nicht, dass sie alle Gefühle zeigte, vielleicht senkte Anna ihren Blick ja auch nur aus Höflichkeit.

Anna pflückte ihre Sonnenbrille vom Hemd und sah einen Moment lang so aus, als wolle sie sie aufsetzen, bevor sie sie auf ein Bücherregal legte. Sie setzte sich neben Jess auf das Bett, auf diese jederzeit angemessene Art und Weise, die sie an sich hatte, nicht so nah, um sich zu berühren, aber dennoch intim und tröstend.

Annas dezente Art war die perfekte Medizin für Jess. Ihre Erinnerungen an die letzte Nacht waren ein wildes Durcheinander, aber ihr Eindruck von dieser Frau war der gleiche wie am Abend zuvor. Anna war sicher, verantwortungsbewusst, freundlich, aber nicht überheblich. Es war erstaunlich, wie man die Hinweise aufnimmt, die von einer Person ausgehen. Annas selbstsichere, aber vorsichtige Bewegungen hatten etwas, das Jess Vertrauen einflößte. Das und jegliches Fehlen eines Wiedererkennens. Es gab sonst keinen einzigen Menschen, der sich Jess ohne Hintergedanken näherte.

Sie spürte nichts von der Panik, die sie sonst fühlte, nachdem sie in einem fremden Hotelzimmer aufgewacht war, mit einer vagen Erinnerung daran, bezahlt zu haben, mit einer Frau im Arm und zu viel Alkohol im Blut. An das Entsetzen, wenn sie am Morgen feststellen musste, dass ihre Kleidung weg war, Slips, BH, T-Shirt, alles weg war, als Souvenir mitgenommen und auf eBay angeboten mit dem Hinweis »original getragen«. Sie schauderte bei der Erinnerung und fühlte sich innerlich ganz klein. Alles war so öffentlich. Sie fühlte sich nackt und für alle sichtbar. Nicht einmal ihre getragene Unterwäsche blieb privat, sie wurde wie Freiwild behandelt. Sie hatte daraus gelernt, vorsichtiger zu sein, oder nicht?

»Wie geht es dir?«

Annas Anwesenheit, respektvoll, aber nah, bedeutete ihr in diesem Moment alles und besänftigte Jess’ quälende Erinnerungen.

»Ich fühle mich geborgen.« Eine seltsame Antwort, wenn man darüber nachdachte. Aber es war genau das, was sie fühlte – sie war entspannt, ruhig, ein angenehmes Kribbeln lief durch ihren ganzen Körper.

»Hast du über letzte Nacht nachgedacht und darüber, was du nun tun willst?«

»Nein.« Welchen Teil der vergangenen Nacht meinte Anna? Was Jess getan hatte, würde erhebliche Nachwirkungen haben. Sie war sich nicht sicher, wie viel sie Anna gegenüber ausgeplaudert hatte.

»Willst du den Mann, der dir gefolgt ist, bei der Polizei anzeigen?«

»Oh.« Das also meinte sie. »Ich glaube, ich habe nicht genug Hinweise, die ich ihnen geben kann.«

»Du hast seinen Online-Account«, sagte Anna. »Und ich habe nachgedacht. Zehra hat eine Überwachungskamera im Café. Vielleicht können sie ihn dadurch identifizieren?«

Jess’ Kehle schnürte sich zu. Sie wollte nicht darüber nachdenken. So viele Leute könnten es gewesen sein. Es gab in diesen Tagen so viele Spinner, die sie trollten. Wer wusste schon, was hinter jedem Einzelnen steckte? Sie wollte sich hier verstecken, an dem Ort, an dem das Gewicht der Welt von ihren Schultern gefallen war. Hier war sie anonym, hatte einen geheimen Zufluchtsort bei einer reifen, nachdenklichen Frau gefunden. Einer attraktiven, reifen Frau. Jess schüttelte über sich selbst den Kopf. Hatte sie Anna deshalb ihr Vertrauen geschenkt, weil sie sich zu älteren, meist heterosexuellen Frauen hingezogen fühlte und sich von Gefühlen und Hormonen leiten ließ?

»Denkst du darüber nach?« Anna drückte ihr Knie. »Wir sollten Zehra wenigstens bitten, die Aufnahme von gestern Abend aufzuheben.«

Jess nickte. Ja, es gab gute Gründe, Vertrauen in Anna zu haben. »Danke. Für den Vorschlag.«

»Ich werde mit dir kommen. Ich kenne Zehra gut und werde es ihr erklären, aber sie wird erst später im Café sein, weil sie gestern Abend lange gearbeitet hat.«

»Verstehe.«

»Du kannst hier warten und wir gehen in ein oder zwei Stunden runter, einverstanden?«

»Entschuldige bitte vielmals. Bin ich dir im Weg? Du hast sicher Pläne. Hast du überhaupt Zeit für so etwas? Ich kann in einer Sekunde weg sein.« Jess’ Herz schlug heftig bei dem Gedanken, ungeschützt in die Welt hinauszustürzen. Vor allem bei dem Gedanken, ohne Annas Gesellschaft hinauszustürzen.

Anna zögerte und Jess konnte ihre Miene hinter dem Vorhang aus Haaren, der über Annas Gesicht gefallen war, nicht erkennen. Sie starrte sie an und wartete auf eine Antwort.

Anna strich mit ihren schlanken Fingern die Haarsträhnen hinter ihr Ohr. »Zufällig«, sagte sie, ihre Stimme ein beruhigendes Murmeln, »habe ich heute Morgen Zeit.«

Das war die beste Antwort, die Jess sich hatte vorstellen können. Ein paar weitere Stunden mit dieser Frau mit der honigsüßen Stimme und der Aura, die Jess innerlich warm werden ließ. Die Frau mit dem rätselhaften Lächeln und Augen so blau wie das Meer. Die Frau mit der glatten Haut und den Sommersprossen, die über ihre Wangen verstreut waren und bis in ihr Dekolleté hinabreichten.

Ein kleiner Dämon meldete sich in ihrem Hinterkopf. »Jess Mayhew. Du und ältere Frauen«, säuselte er begleitet von einem heftigen Kopfschütteln. Der kleine Dämon hatte die Stimme ihrer Nan. Sie blinzelte und der Dämon verschwand in einer Rauchwolke.

»Danke«, sagte Jess.

Sie hoffte, dass sie nicht zu breit grinste.

Kapitel 5

»Hast du dich zurechtgefunden?«, fragte Anna.

Ihr Gast schien an diesem Morgen bemerkenswert entspannt zu sein, bis hin zu ihrem breiten, beinahe albernen Lächeln. Sie lümmelte sich in ihrer engen schwarzen Jeans und der Jacke auf dem Bett.

»Hast du jemandem gesagt, wo du bist?«, fuhr Anna fort.

»Nein, glaubst du, dass ich das muss?«

Anna war etwas verwirrt. Vielleicht war es die Unbesiegbarkeit der Jugend, die aus Jess sprach. »Immerhin bist du in einer fremden Wohnung mit einer Frau aufgewacht, die du am Tag zuvor noch nicht kanntest.«

»Ich bin vierundzwanzig, nicht sechzehn«, lachte Jess, und das tiefe Timbre ihrer Stimme verstärkte ihre Aussage. Dann fügte sie hinzu: »Obwohl ich an vielen seltsamen Orten aufgewacht bin, als ich es noch war.«

Die Antwort war mit Anspielungen gespickt, und so, wie Jess sie ansah, hatte Anna keinen Zweifel an der Richtigkeit der Aussage. Das abrupte Schweigen, das folgte, zeugte vermutlich von Jess’ Verlegenheit, den Bogen überspannt zu haben. Die junge Frau schaute einen Moment lang weg.

Anna war sich immer noch nicht sicher, aber schaute Jess sie manchmal länger und intensiver an als üblich? Nicht, dass es von Bedeutung wäre. Nichts und niemand würde es über ihre Scheu und ihre Schranken hinweg schaffen. Anna würde es nicht zulassen. Aber für den Moment? Konnte Anna es sich erlauben, ihn zu genießen? Es machte ihr Angst, aber Jess würde bald genug weg sein.

Es war überraschend, wie entspannt auch Anna war. Nachdem Zehra nach der Schließung des Cafés leise nach ihr geschaut und Jess tief geschlafen hatte, war auch Anna fest eingeschlafen und am Morgen erfrischt aufgewacht. Sie hatte gedacht, es würde eine elende Nacht mit einer Fremden in der Wohnung werden, aber Jess’ Anwesenheit war beruhigend gewesen, Gesellschaft zu haben, und die regelmäßigen Atemzüge ihres Gasts hatten auch Anna in den Schlummer gelullt. Ausnahmsweise hatte sie die Tür nicht dreifach abgeschlossen. Und hier saß nun ihre Besucherin, entspannt, wenn auch ein wenig aufgewühlt.

»Ähm«, Jess räusperte sich, »ich mag deine Wohnung.« Das Grinsen, das den Satz begleitete, zeugte von echter Wertschätzung, auch wenn der Themenwechsel unbeholfen gewesen war. Jess stieg aus dem Bett. »Sie ist wirklich schön. Ich liebe die Farbgestaltung.« Ihre großen Augen leuchteten vor Begeisterung.

»Es war die Wohnung meiner Tante«, sagte Anna. »Ich habe sie ihr abgekauft, als sie in ein Heim zog. Eine Freundin von mir, eigentlich eine Bühnenbildnerin, hat sie vor ein paar Jahren für mich eingerichtet. Ich hatte Glück.«

»Großes Glück. Es ist umwerfend.«

Anna zögerte, wollte nicht zu viel erklären. »Ich wollte eine komplette Veränderung. Ich wollte kräftige und intensive Farben.« Um sich sicher zu fühlen, geborgen, gestützt, eine eigene Welt abseits der realen zu haben. Dominique mit ihrem künstlerischen Auge hatte Anna eine Palette aus satten gelben und roten Ockertönen für das Schlafzimmer und den gemütlichen Wohnbereich und Preußischblau für die Küchenschränke vorgeschlagen. Die Behälter und Gefäße auf den Regalen waren in Farben aus der gesamten Palette gehalten. Es war alles aufeinander abgestimmt und angenehm harmonisch und edel.

»Ich liebe es«, sagte Jess. »Die Farben allein bringen mich zum Lächeln und ich möchte mich in deinem Bett wälzen und den Luxus von alledem genießen.« Jess hielt inne, das Lächeln gefror ihr auf ihrem Gesicht, während die Worte abgeschnitten in der Luft hingen, als sie merkte, was sie gerade gesagt hatte.

Steckte mehr hinter Jess’ Wunsch, sich in Annas Bett zu wälzen, als nur die Einrichtung zu genießen? Anna verwarf den Gedanken, um Jess’ und ihrer selbst willen, und sagte: »Ich musste sie mir zunächst mit zwei anderen teilen, um die Hypothek bedienen zu können.«

»Drei Leute? Verflixt. Wie habt ihr denn alle hier reingepasst?« Jess wirbelte herum, ihre ausdrucksstarken und schönen Gesichtszüge zeigten eine gespielte Verwunderung.

»Die beiden anderen waren auch auf dem College und wir waren alle pleite«, antwortete Anna. »Wir hatten kaum ein paar Habseligkeiten und schafften es, uns hineinzuquetschen.«

»Habt ihr euch auch alle in ein Bett gequetscht?«, scherzte Jess und zeigte auf das Bett, auf dem Anna immer noch saß.

Anna neigte ihren Kopf zur Seite. »Ja. Alle drei. Zu dritt gemütlich in einem Bett.«

»Oh«, sagte Jess.

Anna konnte beinahe hören, wie sich die Räder in Jess’ Kopf drehten. Hatte sie Jess neugierig gemacht, was ihre Sexualität betraf? Anna musste zugeben, dass sie ein paar Fragen an Jess hatte, Fragen, von denen sie das Gefühl hatte, dass sie die Antworten bereits kannte.

»Es waren gute Freunde«, sagte Anna. »Einige der engsten.«

Jess schwieg. Noch immer drehten sich die Räder. »Gut«, sagte sie schließlich. Sie nickte langsam und gab ein zustimmendes Brummen von sich, um zu zeigen, dass sie verstand.

Anna hatte definitiv ihr Interesse geweckt.

»Penny und Elizabeth«, sagte Anna.

»Frauen«, murmelte Jess, wie es schien, ohne nachzudenken. Dann war sie wieder still.

Immer noch diese Räder.

»Drei Jahre. Drei in einem Bett«, sagte Anna.

»Das ist, äh«, Jess spielte an einem ihrer Fingernägel herum, »eine lange Zeit, um sich ein Bett zu teilen.«

»Ja.«

»Viele Nächte.«

»Hmhm.«

»Obwohl ich vermute, dass es schön ist, sich im Winter einzukuscheln …«

Anna ließ die Andeutung einen Moment lang in der Luft hängen. Täuschte sie sich oder war Jess ein wenig zögerlich und schüchtern? Machte die Vorstellung ihr Schwierigkeiten? Anna sah drei Frauen vor sich, die es sich gemütlich machten, sie wettete darauf, dass Jess dasselbe tat.

Sie beschloss, das Schweigen zu brechen, damit Jess sich nicht unbehaglich fühlen musste. »Im Sommer ist es hier aber sehr viel wärmer«, sagte Anna und versuchte, die Bilder mit dem Bett zu vertreiben.

»Wirklich?«, sagte Jess, höflich interessiert.

»Aber sicher. Wenn es Frühling wird, scheint die Sonne bis zum Abend durch diese Fenster. Es ist herrlich.«

»Ja?«

»Im Sommer aber wird ein Dachgeschoss wie dieses, ganz oben im Gebäude, mit der aufsteigenden Hitze des Tages, quasi zu einem Gewächshaus. Ich glaube, wir waren im Juni nackt bis auf die Unterwäsche.«

O je. Jess musste definitiv schlucken. Anna hatte es nicht beabsichtigt, aber jetzt, wo ihre Begleiterin so offensichtlich betroffen war, reizte es sie schon, Jess ein wenig zu provozieren.

»Ich wette, es war heiß«, seufzte Jess.

Anna musste sich den Mund zuhalten, um nicht laut zu lachen. »Auf jeden Fall.« Sie beschloss, die Sache klarzustellen: »Manchmal bin ich daher lieber bei meinem damaligen Freund geblieben.«

»Oh.«

Es war ein leichtes »Oh«, aber es hatte einen Beiklang. Anna konnte es hören und Jess auch ein wenig ansehen. Bildete sie sich das nur ein oder war Jess enttäuscht, dass ihr Ex männlich gewesen war?

»Nach drei Jahren müsst ihr aber sehr gute Freundinnen gewesen sein«, kicherte Jess. »Es ist sehr intim, sich einen solchen Raum zu teilen.«

Jess’ Unterbewusstsein machte sich in der Tat lautstark bemerkbar.

»Sie sind toll«, sagte Anna emotionslos, brodelte aber innerlich vor Vergnügen. »Penny, meine beste Freundin, und Elizabeth haben angefangen, zusammen auszugehen.«

»Ach ja?« Jess sagte es leichthin, als würde es sie nicht weiter interessieren, aber ihre Stimme klang eine Oktave zu hoch.

Es war also klar, dass Anna Lesben kannte.

»Aber«, fügte Anna hinzu. »Ich hatte nie etwas mit einer von beiden.«

Das sagte nun etwas über sie aus. Jess hatte die Stirn auf eine Art und Weise gerunzelt, die deutlich machte, dass ihr Verstand auf Hochtouren lief. Sie verwarf vielleicht die Vorstellung, dass Anna die Geliebte von einer der beiden gewesen war, verwarf aber nicht die Möglichkeit, dass Anna ihr noch so manches verschwieg.

»Hm«, sagte Jess wieder mit unbeholfener Nonchalance und verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken. »Unangenehm.«

Anna lachte. Sie wusste nicht, ob Jess ihre eigene Reaktion meinte oder Anna, die sich die kleine Wohnung mit zwei Freundinnen teilte, die ein Liebespaar waren. Sie stellte sich beides vor. Jess’ nun unverhohlenes Interesse an ihrer Sexualität amüsierte sie. Ob sie sich nun für Anna interessierte oder nicht, Jess’ Gaydar piepte, und das sagte sehr viel über sie selbst aus.

»Also«, stammelte Jess, »lebt sie noch?«

»Welche?«, fragte Anna.

»Wie bitte?«

»Welche von den beiden Liebhaberinnen?«

»Welche Liebhaberinnen?«

»Nicht meine, aber die beiden, mit denen ich ein Bett geteilt habe.« Anna lächelte.

»Oh!« Jess wippte von einem Fuß auf den anderen. »Nein. Nicht die. Nicht deine Nicht-Liebhaberinnen. An die habe ich nicht gedacht. Ehrlich.«

»Ehrlich?«

»Ganz ehrlich.«

Anna wettete, dass sie ehrlich war. In jeglicher Hinsicht.

»Nein, wirklich«, sagte Jess. »Ich meinte deine Tante.« Jess klang erleichtert, dieses Minenfeld endlich hinter sich gelassen zu haben. »Ist sie tot?«, fragte sie vergnügt.

Anna zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

»Oh, ich meine …« Jess blickte zu Boden und ihre Stimme senkte sich feierlich. »Lebt deine Tante noch, die du sicher verehrt hast und die meinen respektlosen Tonfall ganz sicher nicht verdient hat?«

Anna hielt inne, die Lippen geschürzt, nachdenklich. Sie sollte es nicht in die Länge ziehen, aber Jess’ Offenheit und ihre Fähigkeit, ins Fettnäpfchen zu treten und sich zu verstricken, waren bewundernswert. »Ja«, lenkte Anna ein.

»Gut. Was für eine Erleichterung.«

»Eigentlich ist es etwas, worüber sie ziemlich wütend ist.«

»Was?!« Arme Jess. Die Verzweiflung trieb ihre Stimme um zwei Oktaven nach oben und ihre Augenbrauen berührten fast ihren Haaransatz.