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Zehn Jahre ist es her, dass Charlotte Oxford verlassen hat und damit auch ihre beste Freundin aus Collegezeiten, Millie. In London hat sie Karriere gemacht und kehrt nun als Anwältin in eine der angesehensten Kanzleien Oxfords zurück. Doch plötzlich steht sie wieder vor Millie – und mit einem Schlag sind alle Erinnerungen zurück: an unbeschwerte College-Tage, die Nähe, die für Charlotte immer mehr als Freundschaft war, und Sehnsüchte, die nie wirklich verblasst sind. Auch Millie hat sich verändert, einen neuen Beruf gewählt und hätte nie damit gerechnet, Charlotte wiederzusehen. Doch langsam wird ihr bewusst, dass die Nähe zu ihrer alten Freundin jetzt andere Gefühle in ihr weckt, die früher nicht da waren. Werden Charlotte und Millie den Mut finden, ihre Freundschaft wieder aufleben zu lassen und dabei entdecken, dass zwischen ihnen vielleicht doch mehr ist?
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Seitenzahl: 570
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhaltsverzeichnis
Über das Buch
Über Clare Ashton
Von Clare Ashton außerdem lieferbar
Widmung
Kapitel 1: Vor dreizehn Jahren
Kapitel 2: Heute
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5: Erstes Studienjahr, vor dreizehn Jahren
Kapitel 6: Heute
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9: Erstes Universitätsjahr, vor dreizehn Jahren
Kapitel 10: Heute
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13: Zweites Universitätsjahr, vor zwölf Jahren
Kapitel 14: Heute
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20: Zweites Universitätsjahr, vor zwölf Jahren
Kapitel 21: Heute
Kapitel 22: Ende des Studiums, vor elf Jahren
Kapitel 23: Heute
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über das Buch
Manchmal braucht die Liebe einfach Zeit…
Zehn Jahre ist es her, dass Charlotte Oxford verlassen hat und damit auch ihre beste Freundin aus Collegezeiten, Millie. In London hat sie Karriere gemacht und kehrt nun als Anwältin in eine der angesehensten Kanzleien Oxfords zurück.
Doch plötzlich steht sie wieder vor Millie – und mit einem Schlag sind alle Erinnerungen zurück: an unbeschwerte College-Tage, die Nähe, die für Charlotte immer mehr als Freundschaft war, und Sehnsüchte, die nie wirklich verblasst sind.
Auch Millie hat sich verändert, einen neuen Beruf gewählt und hätte nie damit gerechnet, Charlotte wiederzusehen. Doch langsam wird ihr bewusst, dass die Nähe zu ihrer alten Freundin jetzt andere Gefühle in ihr weckt, die früher nicht da waren.
Werden Charlotte und Millie den Mut finden, ihre Freundschaft wieder aufleben zu lassen und dabei entdecken, dass zwischen ihnen vielleicht doch mehr ist?
Über Clare Ashton
Clare Ashton ist in Wales aufgewachsen, lebt aber heute mit ihrer Familie in den Midlands (England). Sie ist jederzeit in der Lage, Trivial Pursuit zu gewinnen, da sie im Lauf der Jahre eine Unmenge an hochinteressantem und ziemlich unnützem Wissen angehäuft hat.
Von Clare Ashton außerdem lieferbar
Wer kennt Jessica Lambert?
Eine Nacht zum Verlieben
Poppy Jenkins liebt das Leben
Rückkehr nach Oxford: Meeting Millie
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage
Taschenbuchausgabe 2025 bei Ylva Verlag, e.Kfr.
ISBN: 978-3-69006-083-7
E-Book-Ausgabe 2025 bei Ylva Verlag, e.Kfr.
ISBN (E-Book): 978-3-69006-084-4
ISBN (PDF): 978-3-69006-085-1
Dieser Titel ist als Taschenbuch und E-Book erschienen.
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Copyright © der Originalausgabe 2023
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 bei Ylva Verlag
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Übersetzerin: Kati Krüger
Übersetzungslektorat: Astrid Ohletz
Korrektorat: Silke Reutler
Satz & Layout: Ylva Verlag e.Kfr.
Bildrechte Umschlagillustration vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock; AdobeStock
Grafiken vermittelt durch Freepik
Coverdesign: Ronja Forleo
Kontakt:
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Inhaberin: Astrid Ohletz
Am Kirschgarten 2
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Fax: 06192/8076010
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Widmung
Für Jayney
Kapitel 1
Vor dreizehn Jahren
»Hallo«, sagte die Frau mit den wippenden Locken und dem breiten Lächeln. »Ich bin deine Nachbarin.« Die Sonne schien durch das Dachfenster der kleinen Küche am Ende des Flurs und ließ ihr Haar golden leuchten.
Charlotte erkannte sie. Na ja, zumindest ihren Arm und ihre Hand: pinker Nagellack, ein gewebtes Freundschaftsarmband aus Baumwolle und sommerlich gebräunte Haut. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Charlotte gesehen, wie dieser Arm aus dem Nachbarzimmer des Studentenwohnheims im St. Hildaʼs in Oxford gestreckt wurde, das Rugby-Trikot eines willigen Erstsemesters gepackt und ihn daran ins Zimmer gezerrt hatte. Ausgelassenes Gelächter hatte in der Luft gelegen. Dann war die Tür zugeschlagen worden.
Dieses Lachen. Charlotte war in ihr eigenes Zimmer zurückgekehrt, hatte die Tür geschlossen und Kopfhörer aufgesetzt, um diskret zu sein. Aber es war unmöglich, bei diesem Lachen ernst zu bleiben.
Nun stand sie der Frau gegenüber. »Hallo. Ich bin Charlotte Albright.« Zur Begrüßung streckte sie die Hand aus, so wie es ihre Mutter immer machte.
Die Frau starrte die Hand an, ihre blauen Augen funkelten und ihre Mundwinkel zuckten, als versuche sie mühsam, ein Lachen zu unterdrücken. »Nun, Ms Charlotte Albright.« Sie tauschte ihren entspannten Londoner Akzent gegen ein absurd geschliffenes Queen’s English, das eher in die Fünfzigerjahre als in die Gegenwart passte. Sie zog fragend die Augenbrauen hoch. »Darf ich Lottie sagen?«
Charlotte starrte sie verwirrt an, bevor sie begriff, dass die Frau sich über sie lustig machte. Ihre Begrüßung klang eher nach der einer Lehrerin als einer Kommilitonin. Charlottes Wangen begannen zu glühen, und sie rollte im Stillen die Augen über sich selbst. Sie war wirklich alles andere als weltgewandt, aber sie war liebenswert und gerade völlig verzaubert von den strahlenden Augen vor ihr. Die Frau, die sich über sie lustig machte, war wirklich hübsch.
»Niemand nennt mich Lottie«, sagte Charlotte.
»Lotte?«
»Nein.«
»Char?« Die Frau sah aus, als ob sie jeden Moment anfangen würde, laut zu lachen.
Charlotte kicherte und tat dann so, als sei sie beleidigt. »Niemals!«
»Na dann, Ms Charlotte Albright.« Die Frau genoss es offensichtlich, den vollen Namen auszusprechen, bevor sie in ihren entspannten Londoner Akzent zurückfiel. »Wie wär‘s mit einem Käsetoast? Ich mache gerade zwei.« Sie deutete mit dem Daumen auf den Sandwichmaker, aus dem zischend Käse floss. Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und räumte Lebensmittel zurück in den Kühlschrank, der für die zehn Studentinnen auf dem Flur viel zu klein und schon mit diversen Milchflaschen vollgestopft war.
Die Frau war kleiner als Charlotte und hatte schöne Kurven. Wenn sie sich bückte, bildete ihr Hintern in den engen Jeans eine üppige Herzform.
Schuldbewusst ließ Charlotte die Schultern hängen, weil sie die Rundungen so fasziniert anstarrte. Sie selbst war schlaksig und einen Meter siebenundsiebzig groß. Im Vergleich zu ihrer älteren Schwester und ihrer Mutter wirkte ihr Körper irgendwie halbfertig. Ihre Schwester war zwar genauso groß, ihre Mutter sogar noch etwas größer, aber beide waren mit Rundungen an den richtigen Stellen und einem Selbstbewusstsein gesegnet, das es ihnen erlaubte, sich nicht kleiner machen zu wollen. Sie hatten volles, glattes, ebenholzbraunes Haar, während Charlottes Haare in Wellen herabfielen, als hätte jemand die Lust verloren, sie zu kämmen. Leider wurde sie oft mit ihrer Schwester und ihrer Mutter verglichen. Dazu gehörte auch, dass sie nicht, wie ihre Schwester und ihre Mutter, am renommierten Magdalen College in Oxford eingeschrieben war.
»Also, Nachbarin«, sagte die Frau. »Möchtest du einen Käsetoast mit mir essen?«
»Sehr gern«, sagte Charlotte und wischte sich über den Mund, da sie fürchtete, dass sie gerade gesabbert hatte. Inzwischen war der Käse am Rand des Toasts goldbraun gebacken, und bei dem Gedanken an den herzhaften Geschmack kribbelte ihr vor Vorfreude die Zunge. Es fiel Charlotte grundsätzlich schwer, Dinge vor anderen zu verbergen. Begeisterung gehörte dazu.
»Ich hoffe, du hast nichts gegen billigen Cheddar«, sagte die Frau, während sie die Toasts auf Teller legte. »Irgendein armes Schwein hat Käse von Waitrose in den Kühlschrank getan.«
»Das ist meiner!« Charlotte lachte, und ihre Wangen wurden wieder ganz heiß.
»Ooooh«, trällerte die Frau. Sie musterte Charlotte von Kopf bis Fuß. »Sieh mal an, du hast schicken Käse aus einem schicken Supermarkt.«
»Den habe nicht ich gekauft«, erklärte Charlotte. »Meine Mutter hat mir für die Woche vor Semesterbeginn einen Korb mit Lebensmitteln mitgegeben.«
»Sehr schön«, säuselte die Frau.
Sie reichte Charlotte einen Teller.
Dann lehnten sich beide an die Fensterbank, und die Frau berührte ganz beiläufig Charlottes Schulter mit ihrer. So selbstverständlich, wie sie alles zu tun schien.
Vor dem Fenster lag das wunderschöne College-Gelände. Die Sonne glitzerte auf dem Fluss, der sich durch die Ebene von Oxford schlängelte, und färbte die Baumkronen rund um die Sportplätze golden. In allen Himmelsrichtungen ragten ikonische und uralte Gebäude empor.
»Meine Mum konnte mich nicht begleiten«, sagte die Frau nach dem ersten Bissen. Ihre Miene verfinsterte sich ein wenig. »Sie ist Krankenschwester. Stationsschwester. Sie konnte die Schicht nicht tauschen, ohne den anderen gegenüber unfair zu sein. Wäre schön gewesen, wenn sie sich das hier alles hätte ansehen können.« Dann war der Moment vorbei, und ihr Blick fiel wieder auf Charlotte. »Warum bist du eigentlich hier?« Sie lachte. »Das hört sich an, als wären wir im Gefängnis. Ich meine, was studierst du? Ich mache Jurisprudenz.« Sie rollte mit den Augen. »So heißt Jura hier in Oxford.«
Schnell schluckte Charlotte ihren Bissen hinunter und sagte: »Ich auch.« Ein Krümel flog den Worten hinterher. O nein! Wäre ihre Mutter hier gewesen, hätte sie sicher ihre Manieren gerügt. Aber sie war nicht da. Da war nur diese Frau, die vor Energie sprühte. Charlotte sprach schnell weiter: »Wir könnten dieselben Veranstaltungen belegen, wenn du willst.«
Die Frau riss die Augen auf. »Ja?« Als könne sie nicht glauben, dass Charlotte ihr das vorschlug. »Du willst meine Lernpartnerin sein?«
Charlotte nickte nur, weil ihr Mund immer noch voll war. Sie wollte sich mit dieser lebhaften, furchtlosen Frau zusammentun, die offensichtlich auch mit ihr befreundet sein wollte – mit der ruhigen, unbeholfenen Charlotte Albright. Sie räusperte sich und richtete sich auf. »Ähm, Verzeihung.«
»Wofür?«
»Du teilst dein Essen mit mir, und wir werden Kurskolleginnen …« Sie hatte keine Ahnung, wie die Frau hieß. »Du hast dich noch gar nicht vorgestellt.«
Die Lippen ihres Gegenübers zuckten amüsiert.
Charlotte hatte es wieder geschafft: Sie hatte viel zu förmlich geklungen.
Doch ihr Gegenüber legte den halbgegessenen Toast schnell beiseite, wischte sich die Krümel von den Händen und nahm die Schultern zurück. »Penelope Partridge Pickstock die Dritte. Entzückt, Sie zu kennenzulernen, Ms Charlotte Albright«, sagte sie, wieder in diesem feinen britischen Tonfall.
»Nein, bist du nicht«, sagte Charlotte und kicherte.
»Ich muss doch sehr bitten.« Die Frau tat empört. »Ich bin aufrichtig erfreut, Sie kennenzulernen.«
»Ich meinte, du heißt doch nicht Penelope … Pick… irgendwas.«
Die Frau warf den Kopf in den Nacken. »Du hast recht.« Dann kehrte sie zu ihrem Londoner Akzent zurück. »Aber es könnte so sein, Ms Charlotte Albright. Dieser Ort hier ist geradezu irrwitzig.« Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ist dir schon die Frau im schwarzen Kostüm am Ende des Flurs aufgefallen?«
»Nein?«
»Du wirst sie noch sehen. Sie gehört zum Sicherheitspersonal der Prinzessin.«
Charlotte runzelte ungläubig die Stirn.
»Doch. Wirklich. Wir wohnen neben einer echten Prinzessin.« Sie wies mit einem Kopfnicken über Charlottes Schulter hinweg den Korridor entlang.
Charlotte kam endlich wieder zu sich: »Meinst du das Mädchen mit den langen, glatten, kastanienbraunen Haaren?«
»Ja! Wunderschöne Haare, braune Augen und unglaubliche Wimpern. Ich habe mich vorhin mit ihr unterhalten, und sie stammt aus einer echten skandinavischen Königsfamilie.«
»Wow«, sagte Charlotte beeindruckt. Und das aus mehreren Gründen. Erstens war da eine echte Prinzessin. Es wurde immer davon geredet, dass es so etwas in Oxford gäbe, aber sie hätte nie gedacht, dass sie das selbst erleben würde. Zweitens, wie schön wäre es, so über eine Frau zu sprechen und ihr Komplimente für ihr Aussehen zu machen, ohne auch nur einen Hauch von Angst zu verspüren. Drittens war Charlotte beeindruckt, wie selbstbewusst die Frau war, die ihr in der kleinen Küche gegenüberstand! So, wie sie gerade mit Charlotte sprach, sprach sie bestimmt mit allen. Auch mit Prinzessinnen. Wahrscheinlich hätte sie ihr auch einen Käsetoast angeboten. Vorgestellt hatte sie sich allerdings immer noch nicht.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, nahm die Frau die Schultern zurück, hob das Kinn, sodass ihre goldenen Locken nur so wippten, und strahlte Charlotte an. »Millie«, sagte sie. »Ich bin Millie Banks.«
Kapitel 2
Heute
»Mist. Wir sind spät dran«, sagte Millie und steckte ihr Handy wieder in die Tasche ihres langen Mantels.
Alec, der nur wenig größer war als sie, hielt mühsam und keuchend mit ihr Schritt.
»Versuchen wir, sie zu erwischen, bevor sie reingehen«, sagte Millie und griff nach seinem Arm, während sie ihre Schritte die Beaumont Street entlang beschleunigten.
Das Geklapper von Millies Schuhen hallte von den hohen Häusern im georgianischen Stil wider, als sie auf das prächtige Worcester College am Ende der Straße zusteuerten. Am schönsten war Oxfords Architektur an den Herbstabenden, wenn die tief stehende Sonne die Steine fast golden leuchten ließ. Noch eindrucksvoller war der Anblick nur, wenn sich im Hintergrund ein dunkler Himmel abzeichnete, weil ein Gewitter aufzog.
Millie fühlte die Versuchung, mit den Fingerspitzen über eine Mauer zu fahren und dann die Finger abzulecken, um zu prüfen, ob die Steine nicht nur wie Kekse aussahen, sondern auch so schmeckten. Diese Jahreszeit, nachdem die meisten Touristen verschwunden waren und die Stadt wieder den Einheimischen überlassen hatten und die nervigen Erstsemester, die jedes Jahr zum Semesterbeginn die Universität überschwemmten, noch nicht da waren, war ihr die liebste.
Sie warf Alec einen Blick zu. »Stopp«, sagte sie und blieb stehen. »Komm her. Wir müssen deine Fliege richten.«
Alec rollte mit den Augen und hob das Kinn wie ein Kind, das von seiner Mutter angezogen wird.
»Keine Sorge, ich bin ein Profi«, sagte Millie. »Du glaubst gar nicht, für wie viele Männer ich das schon gemacht habe.«
»Das glaube ich sehr wohl.«
»Ha.« Millie verzog das Gesicht. »Hör mal, ich tue dir nur einen Gefallen.«
»Entschuldige«, grummelte Alec. »Diese Veranstaltungen machen mich nervös.«
Millie versuchte, die schlecht gebundene Fliege zu retten. »Wie zum Teufel hast du überhaupt etwas erreicht ohne Netzwerk?«
»Hab ich nicht«, sagte Alec. »Deshalb sind wir ja heute Abend hier. Aber …« Er seufzte. »Ich kenne die Gespräche, die dort unter Juristen geführt werden: Welche Schule, welche Universität haben Sie besucht? In welcher Firma arbeiten Sie? Und schon bin ich nicht mehr interessant.«
Millie sah in seine großen, traurigen Augen. Er erinnerte sie an den Hund des Nachbarn, mit dem sie als Kind gespielt hatte. »Ich fühle mit dir und helfe dir, so gut ich kann, aber ich hab auch so meine Probleme mit diesen elitären Gruppen.«
Wieder seufzte er und nahm die Schultern zurück. »Danke, dass du mich heute begleitest.« Das strahlende Lächeln auf seinem Gesicht wirkte fast natürlich.
»Keine Sorge«, sagte Millie. »Ich mache das sowieso nur für deine Frau, der ich wirklich keinen Abend mit Anwälten zumuten möchte. Es ist schlimm genug, dass sie mit einem leben muss.«
»Du warst auch mal Anwältin, Millie«, sagte er mit einem Grinsen. »Das kannst du nicht leugnen.«
»Eben. Ich weiß, wie schrecklich die sind.« Sie grinste zurück.
»Wenigstens ist es kein Abend mit Buchhaltern.«
»In dem Punkt irrst du dich. Buchhalter wissen, dass ihre Arbeit langweilig ist, und bestehen nicht darauf, darüber zu reden. Rechtsanwälte dagegen …« Mit gerunzelter Stirn strich sie noch einmal über seine Fliege. »So. Perfekt.« Sie blickte in Alecs rosig glänzendes Gesicht. »Mein Gott, du schwitzt ja.«
»Das liegt daran, dass mich jemand im Eilschritt von Carfax hierher geschleppt hat.«
»Komm her.« Sie zog ein Taschentuch aus der Manteltasche und tupfte ihm die Stirn ab, wo sich sein dunkles Haar bereits lichtete. »So, jetzt bist du wieder schick.«
Etwas hinter ihrer Schulter zog Alecs Aufmerksamkeit auf sich. Sie wirbelte herum, und aus dem großen Fenster eines Stadthauses starrte sie ihr Spiegelbild an.
Alecs Doppelgänger fiel in sich zusammen. »Ich sehe aus wie ein Pilz.«
Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Irgendwie schon.«
Sein schwarzer Anzug war in der Dunkelheit des Fensters unsichtbar geworden, und sein blasses Gesicht und seine Stirnglatze leuchteten wie ein Knollenblätterpilz in der Erde.
»Ich hasse diese Biester«, sagte Alec.
»Das wird schon«, erwiderte sie und fügte frech hinzu: »Komm schon, du Pilzkopf.«
»Oh. Der war gut.«
»Bin ich nicht entzückend?« Millie lächelte.
»Bist du, aber …« Er stöhnte.
»Glaub mir, da sind heute Abend genau die Menschen, die du treffen musst«, sagte sie. »Du brauchst ihr Fachwissen und ihre Empfehlungen, um deine Wohltätigkeitsorganisation zu finanzieren, und ich gebe es nur ungern zu, aber in der Law Society und bei den Alumni-Dinnern findest du einige der besten Köpfe überhaupt. Gehen wir.« Sie bot ihm ihren Arm an und sie gingen weiter.
»Also«, sagte er, »erzähl mir alles über die Etikette beim Dinner. Nach dem Dessert wird eine Karaffe Portwein serviert?«
»Richtig«, bestätigte Millie.
»Ich fülle mein Glas und reiche die Flasche nach links weiter?«
»Richtig. Und wenn nach dem Essen eine silberne Schale mit Rosenwasser gereicht wird, darfst du sie auf keinen Fall trinken.«
»Was? Warum nicht?«
»Man wäscht sich darin die Hände.«
Alec blieb stehen. »Warum machen die das?«
»Weil wir hier in Oxford sind. Und wann immer sie an einem veralteten Brauch festhalten und ihn Tradition nennen können, dann tun sie es.«
»Ein Wunder, dass es hier Strom gibt.«
»Und das Dinner findet bei Kerzenlicht statt«, sagte Millie mit einem Augenzwinkern.
Alec starrte sie an. »Machen die das alles nur, um jeden auffliegen zu lassen, der nicht hier studiert hat?«
»Deshalb bin ich heute deine Begleitung. Alec Gooch, du bist doppelt so klug und ein viel besserer Mensch als alle, die ich in Oxford kennengelernt habe. Du verdienst das Beste.« Und das stimmte. Er war besser als alle – mit einer Ausnahme. Aber diese quälende Erinnerung schob Millie schnell beiseite.
Sie gingen schnell über die Straße und durch die eisernen Tore und uralten Türen ins Worcester College, wo sie im Arkadengang stehenblieben.
»Mein Gott«, flüsterte Alec.
Vor ihnen lag der Innenhof. Üppiges Gras bildete eine perfekte, rechteckige Rasenfläche. Eine Reihe mittelalterlicher Steinhäuser begrenzte den Hof zur Linken und eine beeindruckende Reihe von Gebäuden im nordeuropäischen Stil auf der rechten Seite. Vor ihnen öffneten sich Tore, die zu einem weitläufigen Gelände mit Bäumen und einem See führten. Die Mischung verschiedener Baustile, die im Lauf der Jahrhunderte zusammengekommen waren, machten den Charme des Colleges aus.
Neben ihr schnappte Alec nach Luft. »Manchmal ist Tradition auch ganz schön beeindruckend.«
Und Millie lächelte. »Ja, da hast du recht.«
Sie konnte es nicht leugnen. Was sie vor sich sah, flößte ihr jedes Mal wieder Ehrfurcht ein und ließ ihr Herz schneller schlagen. »Es ist verdammt schön, oder?« Doch von der Abendgesellschaft war nichts zu sehen. »Komm. Sie sind bestimmt schon drin.«
Sie eilten in Richtung des Saals. Vor ihnen verschwanden gerade einige Dozenten in schwarzen Roben, die Gäste in Anzügen begleiteten, durch eine Tür.
»Schnell«, sagte Millie und zog Alec mit sich. »Suchen wir unsere Namen auf der Liste.«
Sie warf einen Blick in den Saal und auf die drei langen Holztische, die durch den ganzen prunkvollen Raum bis zum High Table reichten, der quer zu den anderen unter einem großen, kunstvoll verzierten Fenster stand. Dann wandte sie sich wieder der Sitzordnung an der Tafel zu.
»Alec Gooch und Gast, Alec Gooch und Gast«, murmelte sie und fuhr mit dem Finger über die Zeichnung des High Table, dann über einen der anderen Tische. »Gooch und …« Auf halbem Weg hielt sie inne, den Finger auf einem verschnörkelten Schriftzug, dessen Buchstaben allerdings nicht Alec ergaben. »Charlotte«, flüsterte sie.
»Hast du uns gefunden?«, fragte Alec geistesabwesend, während er die anderen Tische auf dem Plan absuchte.
Millie schwieg. Sie starrte auf die Buchstaben, die den Namen »Charlotte Albright« bildeten. Da stand er. Schwarz auf weiß. Nach all den Jahren. Millie zuckte zusammen, als hätte ihr jemand einen Schlag gegen die Brust versetzt. »O mein Gott.«
Wie aus weiter Ferne hörte sie Alec fragen: »Hast du … Millie? Geht es dir gut?« Und als sie nicht antwortete, begann er zu stammeln. »Wir stehen nicht auf der Liste, oder? Ist das das Problem? Wie demütigend.«
Langsam kam Millie wieder zu sich. »Nein, nein«, unterbrach sie ihn. »Das ist es nicht.«
Aber ja, das heute könnte demütigend werden. Sie schaute auf die Namen, die zu den anderen Tischen gehörten. »Ich bin sicher, dass wir hier irgendwo stehen.«
»Was ist es dann?«
»Eine Freundin ist hier«, sagte Millie, während ihr Herz heftig von innen gegen die Brust schlug.
Alecs Schatten fiel auf die Liste, als er näher kam und den Namen las. »Charlotte Albright«, wiederholte er. »Kennst du sie vom College?«
»Ja«, murmelte Millie. »Ich kannte sie sehr gut.«
»Dann habt ihr heute Abend einiges aufzufrischen.« Sie sah das Strahlen auf seinem Gesicht, dann verblasste sein Lächeln. »Sie ist doch nett, oder? Du musst doch wenigstens eine Person in Oxford getroffen haben, die du mochtest.«
Ja, das hatte sie. Egal, wie oft sie sich über Oxford als Institution beklagte, Millie hatte dort viele Menschen getroffen, die sie respektierte. Einige waren unglaublich klug gewesen, andere einfach großzügig und wieder andere eine erstaunliche Mischung aus beidem.
»Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen«, sagte sie.
»Ah«, sagte Alec verständnisvoll. »Es ist seltsam, oder? Man teilt jeden Tag mit seinen Kommilitonen, jeden Liebeskummer, jede Krise mit einem Aufsatz, jeden Kater und jede Peinlichkeit. Und dann verstreut man sich über die ganze Welt und sieht sich nie wieder. Ich habe seit Jahren nicht mehr an meine Freunde vom College gedacht.«
»Hm«, sagte Millie. So war es nicht. Nicht einmal ansatzweise. Nicht mit Charlotte. Es gab mehr als genug, was Millie an ihre Freundin erinnerte, vor allem die vielen gemeinsamen Erlebnisse in Oxford.
Oh, Mist. Millies Herz hämmerte wie eine Basstrommel. Wie groß war die Chance, Charlotte heute aus dem Weg zu gehen? Gleichzeitig zerrte die verräterische Sehnsucht, sie zu sehen, an Millie. Vielleicht würden sie sich erkennen und durch den Raum zuwinken. Dann würde Millie Charlotte die Gelegenheit geben, den ersten Schritt zu machen. So, wie sie das seit Jahren ohne Erfolg tat.
Gut, das war ein Plan.
»Hey, du hast Glück«, sagte Alec und deutete auf die Liste. »Wir sitzen ganz in der Nähe deiner Freundin.«
»Was?« Sie blickte wieder auf die Namen. Auf der gegenüberliegenden Seite des langen Tisches stand in derselben verschlungenen Schrift »Alec Gooch« und »Gast« – Charlotte direkt gegenüber und zweifellos in ihrem Blickfeld.
Millies Plan zerfiel zu Staub.
»Ihr werdet euch also unterhalten können«, bemerkte Alec fröhlich.
»Sieht ganz so aus.« Millie seufzte.
Es fühlte sich surreal an, diesen Saal des Oxford College in all seiner Pracht zu betreten, während gleichzeitig die Erwartung in der Luft hing, Charlotte zu begegnen. Millie blickte nach links zu ihren Plätzen. Sie waren noch frei. Ein Teil von ihr hoffte, dass Charlotte gar nicht auftauchen würde, während sie weiter durch den hallenden Raum ging. Die Kronleuchter verbreiteten ein sanftes Licht, im großen offenen Kamin prasselte ein Feuer, und auf den langen Tischen flackerten Kerzen. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Ihre Augen gewöhnten sich an das Licht, dann entdeckte Millie sie.
Charlotte Albright, großgewachsen und aufrecht wie eh und je, stand mit dem Rücken zu Millie. Aber ja, das war sie – Anwältin von Kopf bis Fuß. Tatsächlich ähnelte sie ihrer Mutter, der ehrenwerten Nicola Albright, King’s Counsel, mehr denn je. Im Gegensatz zu früher, strahlte sie jetzt auch das Selbstbewusstsein aus, das ihre Mutter als Kronanwältin besaß. Hatte sich Millies ehemals schlaksige Freundin wirklich in diese Frau verwandelt? Jetzt, wo die Teenagerjahre weit hinter ihr lagen, war auch ihre Figur fülliger geworden. Ihr Haar fiel elegant über den Rücken. Sie hatte es glätten lassen. Die Frisur war makellos. Schwarzes Kleid, aber rote Schuhe – ganz die Anwältin in Feierlaune. Früher hätte Charlotte über diese Beobachtung glucksend gelacht, aber jetzt war das eher unwahrscheinlich. So unwahrscheinlich wie Karaoke am High Table.
Mist. Auf das hier war Millie nicht vorbereitet.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie befürchtet, dass Charlotte sich genau zu dieser Art Frau entwickeln würde. Die Anzeichen dafür waren von Anfang an da gewesen: Charlottes Familie war der Inbegriff der gebildeten oberen Mittelschicht, Teil des Systems und der Institution Großbritannien, ganz anders als Millie, klein und kurvig, die sich in Oxford immer fehl am Platz gefühlt hatte. Millie hatte sich nur beworben, weil die alte und furchterregende Miss Havers, Aushilfslehrerin an ihrer ganz gewöhnlichen Gesamtschule, sie gezwungen hatte, das Formular auszufüllen. Sonst hätten Millie und ihre Mutter, die aus der Arbeiterklasse stammte, nie versucht, in Oxford zu landen.
Wow. Das war wirklich Charlotte.
Sie fragte sich, wie sehr Charlotte sich verändert hatte. War noch etwas von der wunderbar verlegenen und liebenswerten Neunzehnjährigen übrig, die sie in der Küche ihres Studentenwohnheims kennengelernt hatte? Oder von der Zweiundzwanzigjährigen, die sie vor über zehn Jahren zum letzten Mal gesehen hatte? Alles, was Millie jetzt sah, war eine selbstbewusste Frau, die einem Dozenten ernst zunickte. Würde diese Version von Charlotte überhaupt mit Millie sprechen wollen?
Ein Zupfen an ihrem Arm unterbrach ihre Gedanken.
»Was muss ich noch wissen?«, flüsterte Alec. »Über dieses Dinner?«
»Oh.« Millie schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben, und sie gingen zu ihren Plätzen. »Es beginnt mit einem Gebet.«
»Gebet?«
»Ja, auf Latein.«
»Aber ich bin nicht religiös«, sagte Alec mit erstaunlich hoher Stimme. »Und ich verstehe kein Latein.«
»Ich auch nicht.«
»Was machen wir dann?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie immer noch abgelenkt. »Zum Beispiel bewundernd auf das Ölgemälde des Masters da starren.« Millie deutete auf das Porträt eines ernst dreinblickenden Mannes, das hoch oben an der gegenüberliegenden Wand hing. »Ich weiß nicht einmal, ob es ein Gebet ist. Es könnte auch eine Warnung vor Wildschweinplagen sein, aber in all den Jahrhunderten hat niemand daran gedacht, es zu ändern, weil es …«
»Tradition ist«, sagten sie synchron.
Ihr Lachen war eine Mischung aus Belustigung und Nervosität – obwohl Alec wahrscheinlich ganz andere Gründe für seine Nervosität hatte als Millie.
Kapitel 3
Charlotte konzentrierte sich mit durchgedrücktem Rücken auf ihre Haltung und hoffte, dass ihr mühsam geglättetes Haar sich weiterhin benehmen würde, während sie pflichtbewusst zu den Worten des Jurisprudenz-Dozenten nickte. Sie wandelte auf dem schmalen professionellen Grat, seine Ansichten zu bestätigen und Fragen zu stellen, wo sie anderer Meinung war.
Dann erregte ein Lachen Charlottes Aufmerksamkeit, und der Dozent trat in den Hintergrund. Von einem Moment auf den anderen war die Vergangenheit zurück, zog Charlottes Schultern nach unten und verwandelte sie in das unbeholfene Mädchen, das sie damals im Teenageralter gewesen war. Alles zerrte an ihr, damit sie sich umdrehte.
Wieder hallte dieses fast musikalische Lachen durch den Saal. Ein Lachen voller Freude, ungezogen und so unpassend für ein formelles Dinner mit dieser seriösen Gruppe von Anwälten und alten Akademikern, wie es nur sein konnte.
War das gerade wirklich Millie gewesen?
Charlotte drehte den Kopf ein winziges Stück, um über ihre Schulter zu schauen. Dunkle Anzüge und Roben füllten den Raum, doch in der Mitte stand eine Frau mit auffallend blondem Haarschopf und einem breiten, verschmitzten Lächeln. Sie lachte über etwas, das der Mann neben ihr gesagt hatte, dann legte sie ihren marineblauen Mantel ab, unter dem sie ein leuchtend rotes Kleid trug. Scharlachrot. Natürlich war es scharlachrot. Und natürlich schmiegte sich das Kleid an jede einzelne ihrer Kurven.
Großer Gott! Millie. Nach all den Jahren immer noch dieselbe, und doch wieder nicht. Ihre alte Freundin wirkte vornehmer als damals auf dem College. Ihr Haar war kürzer, es reichte gerade noch bis zum Kragen, sie trug es in leichten Wellen hinter die Ohren gekämmt. Ihr Gesicht war schmaler, erwachsener, aber sie hatte immer noch diese Kurven, diese rosigen Wangen und diesen vor Energie sprühenden Blick. Und dieses Lachen.
Ja. Das war eindeutig Millie.
Charlotte stockte der Atem, und sie tastete hinter sich, bis sie Olivias Arm erwischte. »Millie«, brachte sie murmelnd hervor.
»Entschuldigung, nur eine Sekunde.« Olivias glattes schwarzes Haar wippte um ihre hellbraunen Wangen und um ihr Kinn, als sie sich von ihrem Gesprächspartner abwandte und zu Charlotte umdrehte. »Millie?«, knurrte sie. Ihre perfekten, sanft geschwungenen Augenbrauen verzogen sich zu einem missbilligenden V. »Hast du mich gerade Millie genannt?«
»Gott, nein«, sagte Charlotte. Das wäre der schlimmste Fehler, den sie machen könnte.
Olivia presste ärgerlich die Lippen zusammen.
»Sie ist hier«, stieß Charlotte leise hervor. »Millie ist hier. Du hast mir nicht gesagt, dass sie in Oxford ist.«
»Wo?« Olivia reckte den Hals und zog fragend die Augenbrauen hoch. Dann legte sie ärgerlich die Stirn in Falten. »Du meine Güte. Das ist sie wirklich. Ich hab sie noch nie auf einer dieser Veranstaltungen gesehen.« Sie sah Charlotte an. »Hätte ich das gewusst, hätte ich es dir gesagt.«
»Entschuldige, natürlich.« Hier konnte sie Millie nicht aus dem Weg gehen. Worcester verfügte nicht über den größten Saal in Oxford. Es gab einfach nicht viele Möglichkeiten, sich hier zu verstecken. Und war das nicht der Tisch, an dem auch Charlotte saß? Saßen sie sich etwa direkt gegenüber?
»Da sitzt du doch auch, oder?«, fragte Olivia.
Charlotte stöhnte. »Ja, so ist es.« Typisch. Natürlich passierte das an ihrem ersten Abend in Oxford, bevor sie morgen ihre neue Stelle antreten würde. Ganz zu schweigen davon, dass sie geplant hatte, sich ein Haus zu kaufen und endlich all die Ziele zu erreichen, die sie, der Meinung anderer nach, schon längst hätte erreicht haben sollen. Und ausgerechnet jetzt lief sie Millie Banks wieder über den Weg. So viel zum Thema Neuanfang.
»Wir können tauschen«, sagte Olivia. »Ich sitze neben einem Professor für Rechtsphilosophie, es wäre also kein entspannter Abend für dich, aber wenigstens wäre es nicht Millie.«
»Nein!«, platzte Charlotte heraus. Das wäre noch viel schlimmer. Sie würde mitansehen müssen, wie Millie und Olivia sich wie zwei Katzen mit gekrümmten Rücken und gesträubtem Fell belauerten. Na ja, eigentlich wäre Olivia diejenige mit gesträubtem Fell. Millie würde sie herausfordern wie eine freche Maus mit hundert Leben, deren einziger Lebenszweck darin bestand, sie zu ärgern.
»Nein«, sagte Charlotte ruhiger. »Aber danke für das Angebot.« Wenn Millie in Oxford lebte, würde Charlotte ihr früher oder später ohnehin begegnen.
Aber musste es ausgerechnet jetzt sein?
»Ich frage mich, was sie hier macht«, fuhr Olivia fort. »Sie arbeitet nicht in der Stadt. Das Letzte, was ich von ihr gehört habe, war, dass sie zu einer neuen, aufstrebenden Kanzlei nach London gegangen ist. Ihren Begleiter kenne ich auch nicht.«
Natürlich hatte Millie einen männlichen Begleiter. Er war nicht größer als sie und sah sympathisch aus mit seinen weichen Gesichtszügen und seinem freundlichen Lächeln. Sie gingen vertraut miteinander um. Millie legte ihre Hand auf seine Schulter, um ihm etwas Verschwörerisches und Lustiges ins Ohr zu flüstern, und der Mann lächelte. Er wirkte bescheiden und ein wenig nervös, ging aber völlig locker mit Millie um. Vielleicht hatte sie endlich jemanden Nettes gefunden. Und Charlotte würde sich freuen. Für Millie. Wenn ihr bei dem Gedanken nur nicht so übel wäre.
»Der High Table ist da«, sagte Olivia. »Wir sollten uns setzen.«
Der Master des Colleges und die wichtigen Gäste des Abends traten ein, und Charlottes Herz klopfte wie wild.
»Kommst du klar?«, fragte Olivia mit gerunzelter Stirn.
Charlotte atmete tief ein, und ihre Brust drückte gegen das enge Abendkleid. Dann atmete sie wieder aus. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich fühlte. Sie wusste nicht, was ihr mehr Angst machte – Millies Reaktion auf sie oder ihre eigene Reaktion auf Millie. Schließlich sagte sie: »Ja, ich schaffe das schon.«
Während sie zu ihrem Platz ging, beobachtete sie ihre alte Freundin, die hinter der Sitzbank und mit dem Rücken zur Wand stand. Es schien so, als ob sie Charlotte noch nicht bemerkt hatte.
Millie sah gut aus. Gut war eine Untertreibung. Sie war immer noch so strahlend und schön wie früher, dass es fast schon unverschämt war. Charlotte hielt inne, wartete auf den leisen Schmerz, der dieses Eingeständnis begleiten würde. Ja. Da war es, ein leises Stechen. Ihr Herz schlug schneller, und Millies wunderbare Gegenwart schnürte ihr die Kehle zu. Aber es war doch verständlich, dass sie nervös war, oder?
Sie würde es schaffen. Sie war reifer geworden. Sie war nicht mehr der schwärmerische Teenager, den Millie kennengelernt hatte und der von ihrer strahlenden Persönlichkeit geblendet gewesen war. Millies Energie und ihre Respektlosigkeit gegenüber allem Behäbigen in Oxford hatten die wohlerzogene Charlotte angezogen wie die Motte das Licht.
Charlotte erreichte ihren Platz, setzte sich und versuchte, entspannt auszusehen. Auf der anderen Seite des Tisches plauderte Millie mit ihrem Begleiter und schüttelte der Frau neben ihm die Hand, ganz die vollendete Extrovertierte, die sie war. Sie kletterte über die Bank und ihr enges, rotes Kleid spannte sich bis über die Knie. Millie legte den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. Sie sagte etwas zu der Frau – wahrscheinlich verfluchte sie die langen Bänke, aber auf eine unterhaltsame Art, die alle Umstehenden zum Lachen brachte.
Charlottes Herz klopfte wie wild, während sie auf das Unvermeidliche wartete – den Moment, in dem Millie ihr in die Augen sehen würde. Sie konnte Charlotte nicht übersehen. Die langen Tische waren wirklich schmal.
Millie drehte sich um, ihr Blick fiel auf Charlotte, und sie blinzelte. Eine Mischung aus Überraschung und Schmerz spiegelte sich in ihrem Gesicht.
Charlotte schnappte nach Luft, bereit … was zu sagen? Sie würde höflich sein. Nicht, weil sie so erzogen war. Ihre Familie legte Wert auf Regeln, Anstand und das Vermeiden von Aufruhr. Für sie war es wichtiger, ehrlich zu sein und niemanden zu verletzen. Leider wusste sie immer noch nicht, was sie sagen sollte.
Millie schien es auch nicht zu wissen. Sie starrten sich an, zwei Freundinnen, die sich ein Jahrzehnt lang nicht gesehen hatten und jetzt nur einen Meter voneinander entfernt saßen. Millie öffnete den Mund einen winzigen Spaltbreit, als fehlten ihr die Worte. Dann überlegte sie es sich anders, nahm die Schultern zurück und hob das Kinn. Ihre Haltung wurde hochmütig, obwohl der Schalk noch immer aus ihren Augen blitzte. Über den Tisch hinweg streckte sie die Hand aus. »Penelope Partridge Pickstock die Dritte«, sagte Millie klar und deutlich in einem feinen britischen Tonfall. »Entzückt, Sie kennenzulernen.«
Und trotz Charlottes selbsterklärter Reife, trotzdem sie jahrelang die abgeklärte Anwältin gespielt hatte, verwandelte sich die Nervosität in ihrem Bauch in Schmetterlinge, die vor Freude tanzten.
Kapitel 4
Was würde Charlotte sagen? Würde sie überhaupt etwas sagen?
Millie hielt den Arm ausgestreckt und wartete.
Charlotte sah genauso aus, wie man es von ihr erwarten durfte. So wie all die anderen Gäste – die angehenden Wirtschaftsbosse, Politiker und Anwälte, die Millie damals auf dem College kennengelernt hatte. Elegant gekleidet, in ihren Dreißigern bereits erfolgreich und nur auf ihre Karrieren konzentriert. War Charlotte wie sie? Was würde die gestandene Anwältin über Millies kindischen Scherz sagen?
Stirnrunzelnd blickte Charlotte auf die ausgestreckte Hand. Dann beugte sie sich vor und ergriff sie, immer noch ernst dreinblickend. »Sehr erfreut«, sagte sie mit einem Akzent, der gleichzeitig majestätisch und lächerlich klang. »Ms Charlotte Albright.«
Millie wäre am liebsten in ein schallendes Gelächter ausgebrochen. Charlotte hatte sich auf das Spiel eingelassen. Ihre Haltung und der Akzent waren perfekt. Aber in ihren Augen blitzte der Humor. Sie hatte noch nie ein gutes Pokerface gehabt, und da sie nicht lügen konnte, war sie beim Pokern nie erfolgreich gewesen. Jedes Mal, wenn sie ein gutes Blatt auf der Hand gehabt hatte, waren ihre Wangen tiefrot angelaufen. Also gab es Millies alte Freundin immer noch – das Mädchen, das wie die Oxford-Elite aussah, aber daneben ein albernes Lächeln besaß und jeden Tag aufs Neue Millie Banks unterstützt hatte, die von der miesen Gesamtschule gekommen war. Wobei Millie die Einzige gewesen war, die ihre Schule so nennen durfte.
»Es ist mir ein Vergnügen, Penelope«, sagte Charlotte. »Ich darf Sie doch Penelope nennen?«
»Bitte«, sagte Millie immer noch mit diesem absurden Akzent. »Solange Sie nicht Pen oder Penny sagen.«
»Nein, was für ein schrecklicher Gedanke.«
Millie wusste, dass sie beide gerne laut gelacht oder zumindest gelächelt hätten, aber sie zügelte ihre Begeisterung über das, was gerade passierte, und spielte das Spiel weiter. »Manchmal bestehe ich auf meinem vollen Namen«, fuhr sie fort.
»Wann? Vor Gericht?«
»Wenn ich jemanden nicht mag.«
Charlotte versuchte angestrengt, ihr Lachen zu unterdrücken, und Millie wurde ganz warm ums Herz, als sie das sah. Pures Glück.
Schritte lenkten Millies Aufmerksamkeit zurück in den Saal. Der Master des Colleges kam herein, ein gebeugt gehender Mann, der in seiner schwarzen Robe fast unterging, gefolgt von anderen grauhaarigen Männern in grauen Anzügen, die sich an den High Table setzten. Das laute Scharren der Bänke auf den Steinfliesen sorgte dafür, dass es still wurde im Saal.
Das Gebet wurde angekündigt, und alle senkten den Kopf, wie es sich gehörte. Alle, bis auf Millie und Alec und ein paar andere kritische Seelen, die aufrecht sitzen blieben. Charlotte, die nie gern auffiel, hatte den Kopf ebenfalls gesenkt. Ein anderes vertrautes Gesicht war weniger zurückhaltend. Olivia Sachdeva, die auf der anderen Seite des Saals saß, starrte Millie scharf und durchdringend wie ein Falke an.
Interessant.
Olivia und Charlotte standen also immer noch in Kontakt. Millie fragte sich, was für eine Art von Beziehung die beiden wohl hatten, und ignorierte ihr Herzklopfen, während sie in Gedanken alle Möglichkeiten durchging. Olivias finsterer Blick konnte alles bedeuten. Sollte Millie lächeln und winken? Olivia würde kaum aufstehen und zu Millie herüberkommen, da gerade die Vorspeisen serviert wurden. Dafür war sie viel zu gut erzogen. Vielleicht wäre es lustiger, sie zu ignorieren und sich demonstrativ nur mit Charlotte zu unterhalten. Ganz bestimmt viel lustiger.
»Verzeihung«, sagte Millie zu Charlotte, nachdem das Gebet geendet hatte. »Mein Latein ist etwas eingerostet. Könnten Sie mir das Gesagte übersetzen?«
»Oh«, sagte Charlotte und hob den Kopf. Sie brauchte einen Moment, um ihre liebenswürdige Art wieder hinter der hochmütigen Rolle zu verbergen. »Ich glaube, das Tischgebet beginnt mit einer Entschuldigung, denn wir sind alle unwürdig und müssen Gott dankbar sein.«
»In der Tat.« Verdammt typisch.
»Dann kommt das Versprechen, dass wir Gottes Gaben besonnen und in Bescheidenheit annehmen.«
Charlottes Augen funkelten belustigt, als sie Millies Kleid betrachtete, das mit seinem tiefen Ausschnitt natürlich alles andere als bescheiden war. Sie wussten beide, wie unwahrscheinlich es war, dass Millie sich an dieses Versprechen halten würde.
»Und in Dankbarkeit«, schloss Charlotte.
Der letzte Teil war machbar. Millie war unendlich dankbar für die Chance, die das heutige Treffen mit sich gebracht hatte. »Also.« Millie gestattete sich ein Lächeln »Ms Charlotte Albright. Sind Sie berufstätig?«
»Können Sie sich vorstellen, dass ich Anwältin bin?«
»Meine Güte. Auf einem Dinner der Law Society? Wer hätte das gedacht.«
Charlottes Lächeln verdarb für einen Moment ihr Spiel. »Und was ist mit Ihnen? Haben Sie das Pech, arbeiten zu müssen?«
»Ich fürchte, ja«, antwortete Millie und hielt dann inne. Sie senkte den Blick, unsicher, ob sie ihre Rolle aufrechterhalten sollte oder nicht. »Ich …« Es war Zeit für ein wenig Wahrheit. Ein Geständnis. Sie fragte sich, ob Charlotte bereit war, ein ernstes und ehrliches Gespräch mit ihr zu führen. »Eigentlich …«, Millie versuchte, sich zu entspannen, legte den hochgestochenen Akzent ab und sprach mit ihrer natürlichen Stimme weiter, »bin ich Physiotherapeutin.«
»Tatsächlich? Du hast den Beruf gewechselt?«, platzte es aus Charlotte heraus. Auch sie sprach jetzt mit ihrer normalen Stimme weiter, wobei ihr Akzent sich gar nicht so sehr von Millies gespieltem Oberschichtentonfall unterschied. Er erinnerte daran, wie noch vor wenigen Jahren alle BBC-Moderatorinnen geklungen hatten – sehr förmlich, professionell und geschliffen wie ein scharfes Schwert. »Du hast die Juristerei aufgegeben, um Physiotherapeutin zu werden?«
Millie kannte diese Reaktion. Wie hatte sie nur ihre Ausbildung und Erfahrung wegwerfen können? Warum hatte sie ihren gut bezahlten Job in London aufgegeben? »Ja. Vor vier Jahren. Ich habe Durnst verlassen und bin nach Oxford zurückgegangen, um an der Brookes zu studieren. Jetzt habe ich meinen ersten Job als ausgebildete Physiotherapeutin.« Sie zuckte mit den Schultern und wartete auf das Unvermeidliche.
Charlotte sah sie mit großen Augen an, in denen nichts als Begeisterung zu lesen war. Ihr Gesicht war schon immer wie ein offenes Buch gewesen. »Deine Mum freut sich bestimmt sehr.«
Es war, als würde plötzlich die Vergangenheit über Millie hereinbrechen. Bei der Erwähnung ihrer Mutter wurde ihr bewusst, wie eng sie befreundet, wie vertraut sie miteinander gewesen waren. Die Umgebung trat in den Hintergrund, da war nur noch Charlotte, die ihr lächelnd gegenübersaß, das Gesicht weich im Kerzenlicht.
Charlottes Schultern entspannten sich, und sie ließ jegliches gekünstelte Gehabe fallen. Dahinter kam der gute Mensch zum Vorschein, den Millie kannte.
»Belinda muss so stolz sein«, sagte Charlotte und legte die Hand auf den Tisch.
Plötzlich war sie wieder von Kopf bis Fuß das leicht verdrehte Mädchen, das Millie auf dem College kennengelernt hatte. Ihre Freundin beugte sich vor, wie sie es immer getan hatte, weil sie so viel größer war. Millie hatte diese Angewohnheit von Anfang an liebenswert gefunden. Und das Gekünstelte, mit dem sie ihre Begegnung begonnen hatten, verflog, als ihre gemeinsame Vergangenheit den Raum erfüllte.
»Das ist sie.« Auch Millie legte ihre Hand auf den Tisch und spiegelte dabei Charlotte. »Sie ist sehr glücklich.«
»Deine Mum hat immer gesagt, du wärst zu gut, um Jura zu studieren«, sagte Charlotte ohne Ironie, obwohl sie sicher für eine sehr angesehene Anwaltskanzlei arbeitete. »Ich weiß noch, wie ich am Ende des ersten Jahres mit ihr am Fluss saß, während du deine Sachen gepackt hast.«
Die Hochachtung, mit der Charlotte sich an Millies Mutter erinnerte, erfüllte die Luft zwischen ihnen mit so viel Wärme, dass Millies Wangen zu glühen begannen.
»Sie hatte gehofft, du würdest dich nicht immer tiefer in Büchern vergraben«, fuhr Charlotte fort. »Denn deine große Stärke waren immer die Menschen. Und sie hatte recht. Du hast dich mit allen gut verstanden. Du hast mit dem Hauspersonal geplaudert, mit dem Master geflirtet und die Pförtner um den kleinen Finger gewickelt.«
Charlottes Gesicht … Millie betrachtete fasziniert dieses Lächeln, das den Saal erhellte. Sie hatte es so sehr vermisst. »Ich habe nicht alle bezaubert«, sagte Millie schnell, um zu verbergen, wie wunderbar es war, diese Worte zu hören. Aber die Erinnerung an das, was geschehen war, starrte sie in Form von Olivias Gesicht finster durch den Raum an. Erneut war Millie versucht, Olivia freundlich zuzuwinken.
»Du konntest jeden bezaubern, wenn du wolltest.« Charlottes Tonfall wurde ein wenig tadelnd. »Du hast es nur genossen, einige Leute gegen dich aufzubringen, das ist alles.«
»Ha!«
»Das stimmt!«
Es hatte keinen Sinn, es abzustreiten, nicht vor Charlotte, die alles über sie wusste. Die wunderbare Charlotte. Ihr Lächeln war zurückgekehrt, ihre Wangen hatten sich wieder gerötet. Millie konnte nicht widerstehen. Sie beugte sich vor. Charlotte gehörte zu den wenigen Menschen, die Millie und ihre Mum gut genug kannten, um den Karrierewechsel zu würdigen, auch wenn sie nicht wusste, was ihn ausgelöst hatte.
Charlotte wiederzufinden war, als hätte sie einen mit Goldtalern reich gefüllten Topf entdeckt. Und von einem Moment auf den anderen blühte in Millie etwas auf, das brach gelegen hatte, und ließ sie sicherer und … glücklicher werden. Millie schaute auf ihre Hände auf dem Tisch, und es war, als wollten sie sich berühren. Der Abstand zwischen ihnen war klein und so verführerisch.
Das Klappern der Teller und das Klirren des Geschirrs kündigte den Hauptgang an. Millie schürzte entschuldigend die Lippen, zog bedauernd die Hand zurück und setzte sich aufrecht hin.
Charlottes Tischnachbar verwickelte sie in ein Gespräch, und Charlotte unterhielt sich höflich einen ganzen Gang lang mit dem Mann, weil sie eben Charlotte war. Alec war mit der Frau neben sich abgelenkt. Millie hoffte, dass sie ein wichtiger Kontakt für ihn war, und starrte auf die Gemälde an der Wand.
Ihr Blick verschwamm, als sie versuchte, nicht so auszusehen, als würde sie jedes Wort von Charlotte verfolgen. Es fiel ihr schwer, sie nicht anzustarren, nicht zu registrieren, wie ihre Freundin sich verändert hatte. Oder nicht die Dinge wahrzunehmen, die sich nicht verändert hatten. Die Bewegung, mit der Charlotte sich die Haare hinters Ohr strich, war so typisch für sie. Wie sie den Daumen krümmte, um eine Haarsträhne festzuhalten, wie sie sie mit dem kleinen Finger hinter das Ohr strich, alles eine geschmeidige Bewegung, wenn auch eine etwas verlegene und unbeholfene. Es war alles so vertraut, dass eine Welle der Zuneigung in Millie aufstieg. Sie musste schlucken und wandte den Blick ab, um Charlotte nicht noch länger zu beobachten oder sich von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen.
»Gefällt er dir?«
Millie riss sich zusammen und sah Charlotte fragend an, die ihr Gespräch wieder aufgenommen hatte.
»Dein neuer Beruf?«
»Ja«, sagte Millie. »Es ist verdammt hart. Und nach meinem zweiten Studium bin ich ziemlich knapp bei Kasse, aber …« Sie zögerte. Wollte Charlotte die Antwort wirklich hören, oder war sie nur höflich? Ja, sie hatte ihre braunen Augen aufmerksam auf Millie gerichtet und den Kopf geneigt. Ihre typische Haltung, wenn sie interessiert zuhörte.
»Ich liebe es«, sagte Millie. »Die Patienten sind wunderbar, und die Arbeit ist herausfordernd. Es ist unglaublich bereichernd, anderen wieder auf die Beine zu helfen, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Du kannst so gut mit Menschen umgehen, Millie. Ich wette, du bist eine tolle Physiotherapeutin.«
Das Kompliment, ehrlich und großzügig von jemandem, der sie gut kannte, traf sie völlig unvorbereitet. Millie schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter. Vielleicht war es die Herzlichkeit. Vielleicht war es die Rührung, die verlorene Freundin wiederzusehen. Oder die Angst, dass dieser kurze Blick alles sein würde, was sie von Charlotte bekam, bevor sie für weitere zehn Jahre verschwand?
Millie hatte sie so sehr vermisst.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus.
»Willst du …?«, begann Millie schließlich und unterbrach sich gleich wieder. Nein. Es war Charlottes Entscheidung, ob sie sich wiedersehen würden oder nicht.
Charlottes alarmiert hochgezogene Augenbrauen verrieten, dass sie derselben Meinung war. Es schien, als wollte sie Millie anflehen, nicht zu fragen, denn sie würde Nein sagen.
Millie atmete tief aus. »Möchtest du etwas Wasser?«
Charlotte nickte und biss sich auf die Lippe. Vielleicht war sie dankbar, dass Millie ihre eigentliche Frage nicht gestellt hatte.
Ein Kellner schenkte Millie Rotwein zum Hauptgang ein, und Charlotte bedeckte ihr Glas mit der Hand, um abzulehnen. Millie goss Charlotte Wasser aus der Karaffe ein. Ihre Freundin trank sofort einen Schluck und bedankte sich. Auch das war vertraut – Charlotte trank kaum Alkohol.
»Wie geht es deiner Mum?« Die Frage war alles andere als beiläufig gestellt. Wie geht es deiner Mum? Charlotte zeigte echtes Interesse.
»Großartig.« Millie grinste. »Sie lebt jetzt in Nordirland. Hat einen neuen Mann gefunden.«
»Schön für sie.«
»Er ist wirklich toll. Und ich bin froh, dass sie jemanden hat. Die letzten Jahre waren nicht einfach.« Millie hielt einen Moment inne, bevor sie hinzufügte: »Wir videochatten jetzt ständig.«
»Ich bin froh, dass es ihr gut geht. Grüßt du sie bitte von mir?«
»Natürlich.«
Für einen Moment verzog Charlotte das Gesicht. Vielleicht hatten sie eine Grenze überschritten. Wenn Millie grüßte, würde sie damit zugeben, dass sie sich begegnet waren. Und das würde Fragen aufwerfen.
»Nein, also …« Charlotte zögerte. »Doch, bitte mach das. Ich mag deine Mutter sehr.«
Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Von Millies Freundinnen hatte Belinda Charlotte am meisten gemocht.
»Ich habe es geliebt, wenn sie dich im Wohnheim besucht hat«, sagte Charlotte. »Weißt du noch, wie sie das gleiche Oberteil wie du anhatte, obwohl ihr euch ewig nicht gesehen hattet?«
»Du meinst das alberne rosa Sweatshirt mit den süßen Bären und Herzchen?«
»Genau das. Der einzige Unterschied war, dass auf deinem Ich liebe meine Mum und auf ihrem Ich liebe meine Tochter stand.«
Millie lachte – zum Glück –, denn das verbarg, wie wunderbar es war, ihre Freundin und ihr wunderschönes Lächeln wiederzusehen. Das Lächeln, bei dem sich Fältchen in ihren Augenwinkeln bildeten und ihre Augen feucht wurden, bei dem ihre Wimpern irgendwie länger und dunkler wirkten und ihre zart getönten Wangen rot wurden. Millie hatte dieses Lächeln schon immer ansteckend gefunden, und auch jetzt spürte sie, wie sie es voller Zuneigung erwiderte.
Fast platzte sie damit heraus, dass sie sich noch an mehr erinnerte. Dass Belinda Charlotte später dasselbe alberne Sweatshirt mit der Aufschrift Ich liebe meine beste Freundin gekauft hatte.
»Und deine Familie?«, fragte Millie stattdessen, um das Gespräch am Laufen zu halten.
»Die letzten Jahre waren hart, aber es läuft den Umständen entsprechend gut. Es gab einige Veränderungen, aber wir sind alle noch da.«
»Gut. Ich bin wirklich froh, das zu hören.«
Millie hatte keine Augen mehr für das, was um sie herum geschah. Für sie existierte nur noch Charlotte im Schein des Kerzenlichts. Sie war immer noch dieselbe Frau, nur auf eine perfekte Art anders. Mehr Sommersprossen auf der Nase, die helle Haut ein wenig dunkler. Waren ihre Lippen voller oder geschwungener? Millie wusste es nicht. Aber Charlotte stand die Reife gut, als würde sie umso besser zur Geltung kommen, je weiter sie sich von den peinlichen Teenagerjahren entfernte.
»Du siehst toll aus«, murmelte Millie. »Wirklich toll.« Sie hatte Angst, dass die Worte bei Charlotte ein unangenehmes Gefühl auslösen würden.
Aber ihre Freundin lächelte nur. »Danke.«
Millie war erleichtert, und sie schöpfte Hoffnung. Dass Charlotte sich trotz allem, was passiert war, in Millies Gegenwart wohl genug fühlte, um ein Kompliment anzunehmen, war wunderbar.
»Ich hätte damit rechnen sollen, dass du nach Oxford zurückkommst«, sagte Charlotte leise. Plötzlich wurde das Gespräch ernster.
»Alle scheinen zurückzukommen, nicht wahr?«, fragte Millie.
In der Tat kehrten viele ehemalige Studenten nach Oxford zurück. An einen Ort, der sich nie veränderte, auf der Suche nach dem, was sie dort gehabt hatten.
»Ich dachte, du wärst meilenweit weg«, sagte Charlotte. »Du warst immer hin- und hergerissen, wenn es um Oxford ging.«
Millie schüttelte den Kopf. »Ich hätte auch nie gedacht, dass ich zurückkomme.« Es stimmte, sie war immer sehr zwiegespalten gewesen. Hätte sie Charlotte nicht getroffen, wäre sie vielleicht keine Woche an der Universität geblieben. »Aber ich habe auch vieles geliebt.«
»Wirklich?« Charlotte sah sie ungläubig an.
»Natürlich. Man kann Vorbehalte gegenüber einem Ort haben und ihn trotzdem lieben. Dasselbe gilt für Menschen. Sie haben Schwächen und können mich wahnsinnig machen, aber ich will sie trotzdem in meinem Leben haben.«
Charlotte zuckte zusammen.
Mist. Millie hatte etwas Taktloses gesagt, und die Stimmung zwischen ihnen kühlte sich ab. Es war nur eine winzige Veränderung in Charlottes Haltung, zu subtil für die meisten Menschen, aber deutlich sichtbar für Millie.
Zu spät. Die ganze Bedeutung ihrer Worte schoss ihr durch den Kopf. Ihre gemeinsame Vergangenheit klang darin an, es war ein Schritt und eine Anspielung zu viel gewesen. Millie lehnte sich zurück, damit ein Kellner ihren Teller abräumen konnte, und wünschte, sie könnte ihre Worte zurücknehmen. Aber die Situation hatte sich verändert, und die wiederbelebte Verbundenheit schwand mit jeder Sekunde. Millie wollte retten, was zu retten war, wusste aber nicht wie.
Ein Summen auf dem Tisch lenkte beide ab.
Charlotte starrte stirnrunzelnd auf ihr Handy und wischte eine Benachrichtigung weg. »Entschuldige mich kurz«, sagte sie, ohne Millies Blick zu erwidern. Dann stand sie auf, stieg über die Bank und ging zur anderen Seite des Saals.
»Mist, Mist, Mist«, sagte Millie leise.
»Hey.« Alec stupste sie am Arm an. »Wie geht’s so?«
Am liebsten hätte Millie sich selbst in den Hintern getreten. Dabei hatte es so gut begonnen.
»Sah so aus, als ob ihr euch prima unterhalten würdet.«
»Ja, das war gut.« Millie wollte am liebsten im Boden versinken.
»Wer ist ihre Begleitung?« Alec spähte in die Richtung, in die Charlotte verschwunden war. Millie wollte nicht beim Starren erwischt werden und fragte: »Eine Frau?«
»Ja.«
»Groß, rasiermesserscharfer Bob, braune Haut?«
»Mhm.«
»Zusammengekniffene Lippen und ein Gesichtsausdruck, als hätte sie gerade einen Haufen Scheiße gesehen?«
»Na ja, jetzt, wo sie zu dir rübersieht, ja.«
Arsch. »Das ist Olivia. Sie war ein paar Jahre über uns in St. Hildaʼs und Charlottes College-Mutter.«
»Verzeihung, was?« Alec verzog das Gesicht in absurdem Unglauben. Wie Charlotte konnte auch dieser Mann seine Gedanken nicht verbergen. Deshalb war er auch ein schrecklicher und nicht gerade erfolgreicher Anwalt.
Millie seufzte. »Sobald wir Freshers ankamen, wurden uns sogenannte College-Eltern aus dem zweiten und dritten Studienjahr zugeteilt. Du weißt schon, ältere Studierende, die uns Erstsemester am College einführen sollten.«
Alec starrte sie an. »Ist ihnen nichts weniger Verstörendes oder Bevormundendes eingefallen, um euch willkommen zu heißen?«
»Wir sind hier in Oxford. Hier ist alles antiquiert und leicht verstörend.«
»Nun ja.« Er blickte in Richtung Charlotte und Olivia. »Die Mutter ist nicht gerade begeistert.«
Wie gesagt: Arsch.
»Ich glaube nicht, dass die Mutter deine Gegenwart gutheißt.«
Das war nichts Neues, aber Millie konnte den tödlichen Blick gerade nicht gebrauchen und starrte weiter vor sich auf den Tisch.
»Moment mal«, sagte Alec. »Hast du Olivia gesagt? Das ist doch nicht Olivia Sachdeva, oder doch?«
»Äh, warum?«
»Olivia Sachdeva, die Expertin für Familienrecht?«
»Das würde passen«, grummelte Millie. »Ich bin sicher, sie liebt es, Familien auseinanderzureißen.«
»Millie?«
»Tut mir leid, das war gemein.«
»Millie, sag mir, dass ihr keine Feinde seid.«
»Oh. Ist das wichtig?«
»Sag mir, dass du nicht mit ihrem Mann oder Freund geschlafen hast.«
Nein, aber die ein oder andere Freundin von ihr hatte vielleicht für Millie geschwärmt. Sie wusste nicht, ob Olivia sich in der Öffentlichkeit geoutet hatte, also sprach sie es nicht aus. »Hey, du weißt doch, dass ich nie etwas mit Leuten in monogamen Beziehungen anfange.«
Er nickte zustimmend. »Tut mir leid. Du hast recht. Aber bitte sag mir, dass du nicht mit dem einzigen Menschen verfeindet bist, auf den ich all meine Hoffnungen gesetzt habe.«
Das war jetzt sehr unglücklich. »Verfeindet würde ich es jetzt nicht nennen.« Aber ja.
Charlotte kam zum nächsten Gang nicht zurück. Millie saß da und aß ihren Becher Eton Mess, ein Dessert, das aus einem Durcheinander von Erdbeeren, Stückchen von zerbrochenen Baisers und Schlagsahne bestand. Dabei spürte sie die bösen Blicke von der anderen Seite des Saals. Sie fragte sich, ob Charlotte und Olivia ein Paar waren. Ein Blick in Olivias Richtung hätte die Frage beantworten können, aber den wollte Millie nicht riskieren.
Sie hatte immer vermutet, dass Olivia scharf auf Charlotte war. Aber Charlotte? War sie auf diese Weise an Olivia interessiert? Wenn ja, konnte Millie endgültig vergessen, je wieder mit ihr befreundet zu sein. Bei dem Gedanken wurde ihr übel. Sie hatten sich jahrelang nicht gesehen, aber Millie hatte immer die leise Hoffnung gehabt, dass sie ihre Freundschaft wieder aufnehmen könnten.
Der Kaffee war serviert, und immer mehr Gäste brachen auf.
Millie zog ihren Mantel an und stieg über die Bank.
»Hey.« Charlotte stand hinter ihr.
Millie zuckte zusammen und drehte sich um.
Charlottes Gesichtsausdruck war beinah neutral. Das war die großzügigste Beschreibung, die Millie einfiel. Wärme und Vertrautheit waren verschwunden, und unter der höflichen Fassade lag der alte Schmerz.
Das war es dann. Millie hatte einen kurzen Blick auf ihre einst wunderbare Freundschaft werfen dürfen. Mehr nicht. »Ich gehe jetzt«, sagte Charlotte.
»Wir auch.«
Charlotte nickte und öffnete den Mund, als wollte sie noch etwas sagen, schloss ihn dann aber wieder.
»Wir sind also beide wieder in Oxford«, sagte Millie, damit das Gespräch nicht direkt wieder beendet war.
»Ja.« Charlotte nickte. »Bis ein andermal vielleicht.«
»Vielleicht laufen wir uns über den Weg?«
»Vielleicht.«
Dabei blieb es. Es gab keinen Vorschlag, ein Treffen zu vereinbaren. Keinen Austausch von Telefonnummern. Millie wollte ihre Nummer anbieten, nur für den Fall, aber das hatte sie schon einmal getan. Sie seufzte zu laut.
Charlotte biss sich auf die Lippe. Man sah, wie unangenehm ihr die Situation war.
»Okay«, sagte Millie. Mehr als den heutigen Abend würde sie also nicht bekommen.
»Auf Wiedersehen, Millie«, sagte Charlotte leise, bevor sie sich umdrehte und ging.
Ihre alte Freundin gesellte sich zu Olivia und ging zur Tür hinaus, ein seltsamer, unerwarteter Anblick, der Millie so traurig zurückließ, wie sie es vor vielen Jahren schon einmal gewesen war. Der ganze Abend erschien ihr wie eine grausame Erinnerung an das, was sie gehabt hatten.
An das, was sie verloren hatte.
Kapitel 5
Erstes Studienjahr, vor dreizehn Jahren
Ein lautes, sehr anzügliches Stöhnen drang aus dem Flur an Charlottes Ohr. »Ach Millie«, murmelte sie. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Dann trug sie ihren Toast mit dem billigen Käse aus der Küche in ihr Zimmer, schloss die Tür und ließ sich aufs Bett fallen.
Das Stöhnen war immer noch zu hören. Durch zwei Türen hindurch und trotz der Kaugeräusche, die sie mit dem Sandwich in ihrem Mund machte – beeindruckend. Millie hatte in diesem Trimester schon einige Männer bei sich gehabt, aber normalerweise ging sie dabei dezenter vor.
Charlotte seufzte und fragte sich, ob dies schon der Höhepunkt sexueller Abenteuer war, die sie in Oxford erleben würde. Das Vibrieren ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Auf dem Display leuchtete eine SMS auf.
Sie öffnete die Nachricht und las:
Willst du was Interessantes wissen?
Das kam von Millie. Wann hatte sie das denn geschrieben? Charlotte rümpfte die Nase. Sie wollte nicht antworten, während ihre Freundin immer noch das tat, was auch immer sie tat. Aber dann kam die nächste Nachricht:
Der Lärm kommt nicht von mir!
Charlotte ließ ihr Sandwich fallen.
Was?!, tippte sie. Und fügte hinzu: Bist du sicher?
Ich hab nicht kurz vor dem Höhepunkt aufgehört, um eine SMS zu schreiben!
Charlotte ging auf Zehenspitzen zur Tür. Sie öffnete sie einen Spaltbreit, streckte den Kopf heraus und sah Millie, die mit ihren blonden Locken ebenfalls aus dem Nebenzimmer spähte. Beide hielten still und lauschten. Dann riss Millie erstaunt den Mund auf und deutete auf die Tür gegenüber.
»Die Prinzessin?«, flüsterte Charlotte.
»Die Prinzessin!«, hauchte Millie übertrieben schockiert zurück.
Millie rannte auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer, und bevor Charlotte reagieren konnte, hatte Millie sie schon gepackt und zurück in ihr Zimmer gezerrt. Millie presste ein Ohr an die geschlossene Tür.
»Hör auf!«, flüsterte Charlotte. »Wie würde es dir gefallen, wenn …« Sie verstummte. Die Frage war dumm und die Antwort klar. Millie würde es nichts ausmachen.
»Aber ist es denn die Prinzessin?«, fragte Millie. Verwirrt runzelte sie die Stirn. »Das klingt nicht nach ihr.«
»Komm von der Tür weg.« Charlotte zog an ihrer Freundin und versuchte, nicht zu kichern.
»Aaaach, Spielverderberin«, beschwerte sich Millie. »Das macht ihr bestimmt auch bei mir.«
»Nein. Wir kümmern uns um unseren eigenen Kram.«
»Wirklich?«
»Eigentlich«, Charlotte starrte verwirrt in Richtung der Geräusche, »bist du nie so laut.«
Millie drückte sich wieder an die Tür. »Ich frage mich, wie sie ihn an den Sicherheitsleuten vorbeigeschmuggelt hat. Sie können sie doch nicht einfach mit einem Mann allein lassen. Es kann doch nicht sein, dass irgendein Kerl den nächsten Thronfolger zeugt, oder?«
Das Stöhnen verstummte. Die Stille war überwältigend. Das Geräusch einer Tür, die geöffnet wurde, hallte so laut durch den Flur, dass sie zusammenzuckten.
Millie lachte laut.
»Hör auf«, flüsterte Charlotte und legte ihrer Freundin eine Hand auf den Mund.
Doch Millie kicherte nur noch mehr.
Draußen waren jetzt Stimmen zu hören, und eine Tür schlug zu. Charlotte, die Millie immer noch festhielt, hörte, wie die Stimmen leiser wurden, als die Personen den Korridor entlanggingen.
»Lass mich mal sehen«, sagte Millie leise an Charlottes Fingern vorbei.
»Okay. Aber nur ganz kurz.« Bei Millie gab sie immer nach.
Millie öffnete übertrieben vorsichtig die Tür, und beide streckten ihre Köpfe um die Ecke. Zwei Frauen gingen den Flur entlang, die Prinzessin, deren langes, glattes Haar bei jeder Bewegung mitschwang, und eine andere mit einer kürzeren Frisur. Sie hielten sich an den Händen und lächelten sich an.
O Gott!
Charlotte stöhnte bei dem Gedanken an das, was jetzt kommen würde.
Als Millie einen Schritt zurücktrat und sich umdrehte, hatte sie ihre Lippen fest zusammengepresst und ihre Wangen aufgebläht – sie war kurz davor zu platzen.
Das kalte Entsetzen, das sich in Charlottes Bauch breitmachte, konnte keinen größeren Kontrast dazu bilden. Mit wild klopfendem Herzen schlug sie die Tür zu. Sie wartete auf Millies Gefühlsausbruch und versuchte, selbst wenigstens einmal minimal kühler zu bleiben als der Mittelpunkt der Erde.
Dann konnte Millie sich nicht mehr bremsen. Sie atmete tief ein und sagte mit schnurrender Stimme: »Prrrinzesssssin.« Sie legte den Kopf zurück in den Nacken, lachte laut auf und warf sich aufs Bett. »Oh. Mein. Gott. Das ist zum Totlachen.«
»Warum?« Charlotte schluckte. »Was ist daran so lustig?« Ein leichtes Zittern schlich sich in ihre Stimme.
Millie prustete und hielt sich den Bauch, bevor sie sich aufrichtete und mit einer Hand die Lachtränen aus den Augen wischte. »Birgitta hat mir erzählt, dass ihre Familie nicht begeistert davon war, dass sie im Ausland studiert. Sie wollten, dass sie näher an ihrem Zuhause bleibt. Und dann haben sie sie gezwungen, einen Bodyguard ganz in ihrer Nähe zu haben. In ihrem Zimmer.«
»Ach?«
»Mit der Entscheidung für unser reines Frauen-College waren sie zufrieden.«
»Aber das wird sich bald ändern«, sagte Charlotte, obwohl sie wusste, dass es nicht darum ging.
»Zumindest beginnt sie ihr Studium …«, Millie verfiel in ihren gespielt aufgesetzten Akzent, »… in der geheiligten Gesellschaft anderer Damen.«
Charlotte presste die Lippen zusammen, um sich nicht zu verraten, während Millie sie anstarrte.
»Sie haben sie auf ein Frauen-College geschickt, damit sie keinen Sex hat«, sagte Millie zur Erklärung, die nur darauf wartete, dass Charlotte lachte. »Dabei hat sie sich die ganze Zeit für Frauen interessiert.« Sie warf die Hände in die Luft. »Hier muss es vor Lesben nur so wimmeln.«
