Eine Stimme in der Nacht - Andrea Camilleri - E-Book
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Eine Stimme in der Nacht E-Book

Andrea Camilleri

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Beschreibung

Im sizilianischen Vigàta verschwindet eine stattliche Summe aus der Geldkassette eines Supermarkts, der von der Mafia kontrolliert wird. Tags darauf findet man den Geschäftsführer erhängt. Wenig später erhält Commissario Montalbano Besuch von Giovanni Strangio, dem Sohn eines einflussreichen Lokalpolitikers. Strangio hatte nach der Rückkehr von einer Geschäftsreise seine Lebensgefährtin ermordet in der Wohnung aufgefunden.

Während der Polizeipräsident aus Furcht vor einem Skandal manchem Schwur nur allzu gerne Glauben schenkt, bleibt Montalbano unbeirrt von wasserdichten Alibis. Und läuft zur Bestform auf, wenn es darum geht, skrupellose Mörder mit seinen ganz eigenen Methoden in die Falle zu locken ...

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnAnmerkung des Autors

Über das Buch

Im sizilianischen Vigàta verschwindet die Geldkassette eines Supermarkts, der von der Mafia kontrolliert wird. Tags darauf findet man den Geschäftsführer erhängt. In einem Apartment wird die Leiche einer jungen Frau aufgefunden. Ihr Liebhaber hat ein wasserdichtes Alibi und ist der Sohn des regionalen Provinzpräsidenten. Während der Polizeipräsident angesichts brisanter Ermittlungsergebnisse einen politischen Skandal befürchtet, hat Commissario Montalbano keine Bedenken, erbarmungslose Täter mit seinen ganz eigenen Methoden in die Falle zu locken …

Über den Autor

Andrea Camilleri, 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle (Provinz Agrigento) geboren, arbeitete lange Jahre als Essayist, Drehbuchautor und Regisseur sowie als Dozent an der Accademia d’arte drammatica Silvio D’Amico in Rom. Dort lebt er mit seiner Frau Rosetta in dem Stadtteil Trastevere im Obergeschoss eines schmucken Palazzo, wobei er seinen Zweitwohnsitz in Porto Empedocle in Sizilien nie aufgegeben hat. Sein literarisches Werk, in dem er sich vornehmlich mit seiner Heimat Sizilien auseinandersetzt, umfasst mehrere historische Romane, darunter »La stagione della caccia«, 1992, »Il birraio di Preston«, 1995, und »La concessione del telefono«, 1998, sowie Kriminalromane. In seinem Heimatland Italien bricht er seit Jahren alle Verkaufsrekorde und hat auch bei uns ein begeistertes Publikum gefunden. Mit den Romanen um den Commissario Salvo Montalbano eroberte er auch die deutschen Leser im Sturm, und seine Hauptfigur gilt inzwischen weltweit als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Kriminalistik und südländischen Charme und Humor.

Andrea Camilleri

Eine Stimme in der Nacht

Commissario Montalbanohört auf sein Gewissen

Roman

Übersetzung aus dem Italienschenvon Rita Seuß und Walter Kögler

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

 

Titel der italienischen Originalausgabe:

»Una voce di notte«

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2012 by Sellerio Editore, via Siracusa 50, Palermo

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Einband-/Umschlagmotiv: © David De Losssy/getty-images; © SMOXX/Shutterstock

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-5565-9

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Eins

Um halb sieben Uhr morgens erwachte er, frisch und ausgeruht und glasklar im Kopf.

Er stand auf, öffnete die Fensterläden und sah hinaus.

Das Meer war ruhig und glatt wie ein Spiegel, der Himmel strahlend blau mit ein paar kleinen weißen Wölkchen, als hätte ein Sonntagsmaler sie zur Verzierung hingetupft. Ein Tag ohne Eigenschaften, aber gerade dieser Mangel an besonderen Merkmalen gefiel ihm.

Denn andere Tage zwingen einem schon am frühen Morgen ihren Charakter auf, und man hat keine andere Wahl, als sich zu fügen, sich zu unterwerfen und es zu ertragen.

Er legte sich wieder hin. Im Kommissariat gab es nichts zu tun, er konnte es also gemächlich angehen lassen.

Hatte er eigentlich etwas geträumt?

In einer Zeitschrift hatte er gelesen, dass der Mensch jede Nacht träumt, und wenn er glaubt, nichts geträumt zu haben, dann nur, weil er sich nicht mehr daran erinnert, sobald er die Augen öffnet.

Vielleicht hatte der Verlust der Traumerinnerung aber auch etwas mit den Jahren zu tun, die er inzwischen auf dem Buckel hatte. Denn bis zu einem bestimmten Alter hatte er seinen Traum vor Augen gehabt, sobald er aufwachte, und die Bilder liefen vor ihm ab wie in einem Film. Irgendwann jedoch hatte er anfangen müssen zu überlegen, was er geträumt hatte, und jetzt vergaß er es schlicht und einfach.

In letzter Zeit hatte er beim Einschlafen das Gefühl, in einem schwarzen Loch zu versinken, seiner Sinne und seines Verstandes beraubt. Wie ein Toter.

Und was bedeutete das?

Dass jedes Erwachen als eine Auferstehung zu betrachten war?

Eine Auferstehung, die in seinem Fall jedoch nicht vom Schall der Posaunen, sondern zu neunzig Prozent von Catarellas Stimme begleitet war.

Ist es denn überhaupt wahr, dass die Posaunen etwas mit der Auferstehung zu tun haben?

Sind sie nicht eher die Begleitmusik zum Jüngsten Gericht?

Da! Genau in diesem Moment erschollen Posaunen. Oder war es das Schrillen des Telefons?

Er schaute auf die Uhr, unentschlossen, ob er rangehen sollte oder nicht. Sieben.

Er beschloss abzuheben.

Aber genau in dem Moment, als seine rechte Hand nach dem Hörer tastete, griff seine linke Hand – eigenmächtig und ohne dass jemand es ihr befohlen hatte – nach dem Telefonstecker und zog ihn aus der Buchse. Montalbano schaute verdutzt auf seine Hand. Wohl wahr, er hatte keine Lust, der Stimme Catarellas zu lauschen, die ihm den Mord des Tages verkünden würde. Aber gehörte sich so ein Verhalten für eine Hand? Wie ließ sich ein solcher Akt der Eigenmächtigkeit erklären?

Machten sich seine Gliedmaßen jetzt, da er älter wurde, etwa selbstständig?

Wenn sich der eine Fuß in die eine und der andere Fuß in die andere Richtung in Bewegung setzte, würde bald auch das Gehen zum Problem werden.

Er öffnete die Verandatür, trat hinaus und sah, dass Signor Puccio, der allmorgendlich zum Fischen aufs Meer hinausfuhr, schon zurück war und soeben sein Boot an Land gezogen hatte.

Der Commissario lief, so wie er war, in der Unterhose zum Strand hinunter.

»Wie war der Fang?«

»Dottori mio, heutzutage bleiben die Fische immer weiter draußen. Das Wasser an der Küste ist ja die reinste Drecksbrühe. Viel hab ich nicht gefangen.«

Er beugte sich ins Boot hinunter und zog einen etwa siebzig Zentimeter langen Tintenfisch heraus.

»Den schenk ich Ihnen.«

Es war ein riesiges Ding, ausreichend für vier Personen.

»Nein, danke. Was soll ich damit?«

»Was Sie damit sollen? Essen sollen Sie ihn und dabei an mich denken. Sie müssen ihn nur lange genug kochen. Und sagen Sie Ihrer Haushälterin, sie soll ihn mit einem Stock weichklopfen.«

»Wirklich, vielen Dank, aber …«

»Jetzt nehmen Sie ihn schon«, drängte Signor Puccio.

Montalbano nahm den Tintenfisch und kehrte zur Veranda zurück.

Auf halbem Weg spürte er plötzlich einen stechenden Schmerz im linken Fuß. Der Tintenfisch, den er ohnehin schlecht zu fassen bekommen hatte, rutschte ihm aus der Hand und fiel in den Sand. Fluchend hob er den Fuß und begutachtete ihn.

Er war in den verrosteten Deckel einer Tomatendose getreten, den irgendein Depp in den Sand geworfen hatte, und jetzt hatte er eine blutende Schnittwunde an der Fußsohle.

Kein Wunder, dass die Fische das Weite suchten! Die Leute luden ihren Müll an den Stränden ab, und an der gesamten Küste wurden die Abwässer ins Meer geleitet.

Montalbano bückte sich, hob den Tintenfisch auf und humpelte zum Haus, so schnell er konnte. Er war zwar gegen Wundstarrkrampf geimpft, trotzdem schien ihm Vorsicht geboten.

In der Küche legte er den Tintenfisch ins Spülbecken und ließ Wasser darüber laufen, um ihn vom Sand zu reinigen, dann klappte er auch hier die Fensterläden auf, ging ins Bad und desinfizierte die Schnittwunde sorgfältig mit Alkohol. Er fluchte vor Schmerz, denn es brannte höllisch. Schließlich klebte er ein Pflaster auf die Wunde.

Jetzt brauchte er dringend einen Kaffee.

Während er in der Küche die übliche Kanne Espresso aufsetzte, beschlich ihn ein ungutes Gefühl, das er sich nicht erklären konnte.

Er verlangsamte seine Bewegungen im Versuch, die Ursache zu ergründen.

Und plötzlich hatte er die untrügliche Gewissheit, dass zwei Augen auf ihn gerichtet waren.

Jemand starrte ihn durch das Küchenfenster an.

Jemand, der ihn stumm fixierte und deshalb bestimmt nichts Gutes im Sinn hatte.

Was sollte er machen?

Zunächst einmal musste er so tun, als hätte er nichts bemerkt. Er pfiff den Walzer aus der Lustigen Witwe, entzündete die Gasflamme und setzte die Espressokanne auf den Herd. Dabei spürte er die fremden Augen in seinem Nacken wie die Mündungen einer Doppelflinte.

Aus Erfahrung wusste er, dass ein so starrer und bedrohlicher Blick nur tiefem Hass entspringen konnte. Da war jemand, der ihm nach dem Leben trachtete.

Auf seiner Oberlippe bildeten sich Schweißperlen.

Seine rechte Hand langte nach einem großen Küchenmesser und packte den Griff.

Wenn der Kerl vor dem Fenster bewaffnet war, würde er den Commissario in dem Moment erschießen, in dem er sich umdrehte.

Doch Montalbano blieb keine Wahl.

Er schnellte herum und warf sich gleichzeitig bäuchlings auf den Boden.

Der Aufprall schmerzte und ließ die Scheiben des Küchenschranks und die Gläser darin klirren.

Aber es fiel kein Schuss.

Weil vor dem Fenster niemand stand.

Was ja nichts heißen musste. Vielleicht verfügte der andere über gute Reflexe und hatte sich in dem Moment, als der Commissario sich umdrehte, blitzschnell weggeduckt.

Bestimmt kauerte er jetzt unter dem Fenster und wartete auf Montalbanos nächsten Zug.

Der Commissario war mittlerweile klatschnass geschwitzt und klebte förmlich am Boden.

Ohne den Himmelsausschnitt aus den Augen zu lassen, richtete er sich ganz langsam auf, bereit, sich mit einem Sprung aus dem Fenster auf seinen Gegner zu stürzen wie die Polizisten in amerikanischen Filmen.

Als er endlich stand, schreckte ein Geräusch in seinem Rücken ihn derart auf, dass er wie ein scheuendes Pferd einen Satz nach vorn machte. Dann wurde ihm klar, dass es das Blubbern des durchlaufenden Espresso war.

Er trat vorsichtig einen Schritt vor, und das Spülbecken geriet in sein Blickfeld.

Das Blut stockte ihm in den Adern.

Mit den Tentakeln an der Marmorplatte neben dem Spülbecken festgeklammert, starrte ihn der Tintenfisch drohend an.

Das Tier erschien ihm wie ein zwei Meter großes Ungeheuer, das im nächsten Moment angreifen würde.

Aber es kam nicht zum Kampf.

Vielmehr wich Montalbano mit einem gellenden Schrei zurück. Er stieß gegen den Gasherd, die Espressokanne kippte um, und vier, fünf Spritzer siedend heißen Kaffees verbrannten ihm den Rücken. Brüllend rannte er aus der Küche, lief panisch vor Angst den Korridor entlang, riss die Haustür auf und prallte mit Adelina zusammen, die gerade hereinwollte.

Beide stürzten mit einem Schrei zu Boden. Adelina erschrak zu Tode, als sie den Commissario so verstört sah.

»Was ist passiert, Dutturi? Was ist los?«

Doch er konnte nicht antworten, er brachte einfach kein Wort heraus.

Denn noch immer am Boden liegend, bekam er plötzlich einen Lachanfall, der ihm Tränen in die Augen trieb.

Die Haushälterin packte den Tintenfisch mit geübtem Griff und schlug den Kopf des Tiers ein paar Mal auf die Marmorplatte, bis es tot war.

Montalbano nahm eine Dusche, ließ sich von Adelina die verbrannten Stellen verarzten, trank einen frisch gebrühten Espresso und machte sich fertig zum Aufbruch.

»Soll ich das Telefon wieder einstecken?«, fragte Adelina.

»Ja, bitte.«

Es klingelte sofort. Montalbano hob ab. Livia war am Apparat.

»Warum bist du vorhin nicht rangegangen?«

»Wann, vorhin?«

»Vorhin.«

Matre santa, mit dieser Frau brauchte man wirklich eine Engelsgeduld!

»Darf ich erfahren, wann du angerufen hast?«

»Gegen sieben.«

Er erschrak. Was konnte passiert sein, dass sie ihn zu dieser Tageszeit anrief?

»Und warum?«

»Warum was?«

Herrgott noch mal, das war ja das reinste Frage-und-Antwort-Spiel!

»Warum hast du mich so früh angerufen?«

»Weil ich heute Morgen nach dem Aufwachen als Erstes an dich gedacht habe.«

Warum auch immer, Montalbanos Streitlust war sofort entfacht. Das konnte desaströse Folgen haben.

»Mit anderen Worten«, erwiderte er kühl, »es gibt Tage, an denen dein erster Gedanke nicht mir gilt.«

»Ach komm!«

»Nein, im Ernst, es interessiert mich. Was ist dein erster Gedanke, wenn du aufwachst?«

»Entschuldige, Salvo, dieselbe Frage könnte ich auch dir stellen.«

Aber Livia hatte nicht die Absicht, sich zu zanken.

»Sei nicht dumm«, sagte sie. »Alles Gute.«

Panik erfasste ihn.

Jubiläen, Geburtstage, Namenstage, Jahrestage und ähnliche Unannehmlichkeiten hatte er sich noch nie merken können, es war hoffnungslos. Er tappte völlig im Dunkeln.

Doch dann kam ihm eine Erleuchtung. Heute war bestimmt der Jahrestag ihrer langjährigen Verlobung. Seit wann waren sie eigentlich verlobt?

Bald würden sie ihre silberne Verlobung feiern, falls es so etwas gab.

»Dir auch.«

»Warum mir auch?«

Livias Antwort machte ihm klar, dass er völlig danebenlag. Allmählich ging ihm die Sache auf die Nerven.

Dann handelte es sich also um etwas, was ihn ganz persönlich selber betraf. Aber was?

Am besten schloss er das Thema mit einem summarischen Dankeschön ab.

»Danke.«

Livia fing an zu lachen.

»O nein, mein Lieber! Das sagst du nur, weil du deine Ruhe haben willst! Ich wette, du weißt nicht mal, welches Datum wir heute haben.«

Livia hatte recht. Er wusste es wirklich nicht.

Zum Glück lag die Zeitung vom Vortag auf dem Tisch. Er verrenkte den Hals, bis er das Datum lesen konnte: 5. September.

»Livia, jetzt mach mal halblang! Heute ist der sechste …«

Ein Geistesblitz.

»Mein Geburtstag!«, rief er.

»Du brauchst aber lange, um dich zu erinnern, dass du heute achtundfünfzig wirst! Das wolltest du wohl verdrängen?«

»Wieso achtundfünfzig? Was redest du denn da?«

»Salvo, entschuldige, aber bist du nicht 1950 geboren?«

»Eben. Heute vollende ich das siebenundfünfzigste Lebensjahr, und das achtundfünfzigste beginnt. Vor mir liegen zwölf Monate. Abzüglich ein paar Stunden, um ganz genau zu sein.«

»Eine merkwürdige Art zu zählen.«

»Hab ich von dir gelernt, Livia.«

»Von mir?!«

»Ja sicher, als du vierzig geworden bist und ich …«

»Du weißt wirklich nicht, was sich gehört!«, sagte Livia.

Und legte auf.

Matre santa! Noch zwei Jahre, dann war er sechzig!

Von nun an würde er keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen – aus Angst, dass ein junger Mann aufstehen und ihm seinen Sitzplatz anbieten könnte.

Doch dann kam er zu dem Schluss, dass er getrost weiter Bus und Bahn fahren konnte, weil die Sitte, älteren Leuten den eigenen Platz anzubieten, nicht mehr gepflegt wurde.

Es gab keinen Respekt mehr vor dem Alter. Die Alten wurden verspottet und beleidigt, als würden die Spötter und Beleidiger nicht auch selbst einmal alt werden.

Aber warum stellte er eigentlich solche Überlegungen an? Weil er sich bereits der Kategorie der Alten zugehörig fühlte?

Mit einem Schlag war seine Laune im Keller.

Nachdem er mit üblicher Geschwindigkeit ein Weilchen auf der Landstraße dahingezockelt war und gerade den Ortseingang von Vigàta erreicht hatte, begann plötzlich das Auto hinter ihm zu hupen. Es wollte unbedingt vorbei.

Ausgerechnet an der Stelle, wo sich die Fahrbahn aufgrund von Bauarbeiten verengte. Außerdem fuhr Montalbano fünfzig, die Höchstgeschwindigkeit in geschlossenen Ortschaften. Und deshalb wich er keinen Millimeter zur Seite.

Der Wagen hinter ihm hupte wie verrückt, wechselte dann mit aufheulendem Motor auf die Gegenspur und fuhr so dicht an Montalbanos Auto heran, dass er es fast streifte. Was hatte er vor, dieser Idiot? Wollte er ihn von der Straße schieben?

Der Fahrer, ein Mann um die dreißig, beugte sich zum Beifahrerfenster hinüber und brüllte:

»Verzieh dich ins Altersheim, Opa!«

Und weil ihm das offenbar noch nicht reichte, griff er nach einem schweren Schraubenschlüssel, schwenkte ihn in der Luft und rief:

»Damit hau ich dir eins über die Rübe, du Tattergreis!«

Montalbano blieb keine Zeit zu reagieren, er war viel zu sehr damit beschäftigt, die Spur zu halten.

Eine Sekunde später schoss der übermotorisierte BMW des Dreißigjährigen mit einem halsbrecherischen Manöver an der gesamten Kolonne vorbei und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Montalbano schickte ihm ein paar Verwünschungen hinterher. Sollte der Wagen doch in die nächste Schlucht stürzen und in Flammen aufgehen!

Was war eigentlich los mit diesem Land? Es schien, als wären seine Bewohner in ihrer Entwicklung um Jahrtausende zurückgefallen. Vielleicht trugen sie unter ihrer Kleidung das Schaffell der Neandertaler.

Warum diese Unduldsamkeit anderen gegenüber? Warum konnte man den Nachbar im Haus, den Kollegen im Büro und den Mitschüler in der Klasse nicht mehr ertragen?

Gleich hinter den ersten Häusern der Stadt lag eine große Tankstelle. Der BMW stand an der Zapfsäule.

Eigentlich wollte der Commissario nicht anhalten, weil er noch nicht tanken musste. Doch dann besann er sich anders. Sein Groll und der Wunsch, es dem Kerl heimzuzahlen, gewannen die Oberhand.

Er gab Gas, bog in die Tankstellenausfahrt ein und stellte seinen Wagen mit der Motorhaube direkt vor die Schnauze des BMW.

Der Fahrer hatte inzwischen bezahlt und den Motor angelassen, aber Montalbanos Auto versperrte ihm den Weg.

Zurücksetzen konnte er auch nicht, denn hinter ihm wartete bereits der nächste Wagen.

Der BMW-Fahrer drückte auf die Hupe und gestikulierte Montalbano, Platz zu machen.

Der tat, als würde der Motor nicht anspringen.

»Sagen Sie ihm, dass ich rauswill!«, rief der Mann dem Tankwart zu.

Aber der Tankwart hatte den Commissario erkannt, der ein guter Kunde war, und überhörte die Aufforderung. Er griff nach dem Zapfhahn und bediente den Nächsten.

Rasend vor Wut und mit Schaum vor dem Mund stieg der BMW-Fahrer aus und ging auf Montalbano zu, den Schraubenschlüssel in der Hand. Er holte aus und ließ ihn mit voller Wucht niedersausen.

»Ich hab dir gesagt, ich hau dir eins auf die Rübe.«

Doch statt der Rübe ging das Seitenfenster zu Bruch. Der BMW-Fahrer holte erneut aus, dann hielt er wie versteinert inne.

Der Commissario war seelenruhig im Wagen sitzen geblieben. Jetzt richtete er seine Pistole auf den Mann.

Zehn Minuten später traf Gallo ein, den der Tankwart angerufen hatte. Der Polizeibeamte legte dem BMW-Fahrer Handschellen an und führte ihn zu seinem Dienstwagen.

»Bring ihn in die Arrestzelle. Und mach einen Alkoholtest und die anderen Kontrollen.«

Gallo zischte ab wie eine Rakete. Er liebte den Rausch der Geschwindigkeit.

Im Kommissariat stürzte Catarella gerührt und mit ausgestreckter Hand auf Montalbano zu, wie immer an diesem Tag des Jahres.

»Aus ganzem Herzen die allerbestesten Glückwünsche für ein langes, gesundes und glückliches Leben, allerwertester Dottori!«

Montalbano schüttelte ihm erst die Hand, dann, aus einem plötzlichen Impuls heraus, drückte er ihn an sich.

Catarella traten Tränen in die Augen.

Drei Minuten, nachdem Montalbano in seinem Büro war, kam Fazio herein.

»Dottore, ganz herzliche Glückwünsche von mir und dem gesamten Kommissariat«, sagte er.

»Danke. Und jetzt setz dich.«

»Ich kann nicht, Dottore. Ich muss zu Dottor Augello, der mich gebeten hat, Ihnen gleichfalls seine Glückwünsche zu übermitteln. Er ist in Piano Lanterna.«

»Und warum?«

»Heute Nacht gab es einen Einbruchsdiebstahl in einem Supermarkt.«

»Hat man ein paar Waschmittelpackungen gestohlen?«

»Nein, Dottori. Die Tageseinnahmen. Offenbar eine beachtliche Summe.«

»Wird das Geld denn nicht abends zur Bank gebracht?«

»Doch. Aber nicht gestern Abend.«

»Gut, dann fahr los. Wir sehen uns später.«

»Wenn Sie nichts Besseres zu tun haben, bringe ich Ihnen ein paar Aktenvorgänge zum Abzeichnen.«

Nein, alles, bloß keinen Schreibkram! Nicht an seinem Geburtstag!

»Das erledigen wir an einem anderen Tag.«

»Dottore, viele dieser Briefe liegen schon einen ganzen Monat hier!«

»Hat uns jemand gemahnt?«

»Nein.«

»Wozu dann die Eile? Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es doch nicht an.«

»Dottore, wenn der für die Verwaltungsreform zuständige Minister davon erfährt, macht er Ihnen die Hölle heiß.«

»Der Minister will offenkundig die überflüssige und sinnlose Zirkulation von Akten beschleunigen, die zu neunzig Prozent nutzlos sind.«

»Ein Beamter hat nicht darüber zu befinden, ob die Akten zu etwas nütze sind oder nicht. Er muss sie bearbeiten und fertig.«

»Aber ein Beamter ist doch kein Roboter! Hat er sein Hirn denn nicht auch zum Denken? Warum soll er sich überhaupt mit diesen Akten herumschlagen, wenn er doch weiß, dass sie vollkommen nutzlos sind?«

»Und was sollte man Ihrer Ansicht nach tun?«

»Der Sinnlosigkeit ein Ende setzen.«

»Dottore, das ist, glaube ich, ein Ding der Unmöglichkeit.«

»Und warum?«

»Weil die Sinnlosigkeit zum Menschen gehört.«

Montalbano sah ihn sprachlos an. Er hatte eine neue, philosophische Seite an Fazio entdeckt.

Der ließ sich nicht beirren.

»Dottore, wie wäre es, wenn Sie den Stapel nach und nach abarbeiten? Ich bringe Ihnen, sagen wir, zwanzig Vorgänge? Mit denen sind Sie in einer halben Stunde durch, dann sind die schon mal vom Tisch.«

»Na gut, aber sagen wir, zehn.«

Zwei

Kaum hatte er seine Unterschrift unter das letzte Schreiben gesetzt, klingelte das Telefon.

»Dottori, ich hätte da den Avvocato Nullafacenti, der will mit Ihnen persönlich selber sprechen.«

»Stell ihn durch.«

»Das kann ich nicht, weil der vorgenannte Avvocato hier vor Ort befindlich ist, Dottori.«

»Gut, dann bring ihn her. Ach, eins noch – du bist dir sicher, dass er Nullafacenti heißt?«

»Genau so heißt er und nicht anders, Dottori. Nullafacenti. Dafür können Sie Ihre Hand ins Feuer legen, Dottori.«

»Leg deine rein, Catarè.«

Der Mann, der im nächsten Moment eintrat, war etwa in Montalbanos Alter, dazu groß, hager, elegant und mit geschliffenen Manieren. Das einzig Störende war sein süßliches Parfüm, von dem er einen halben Liter über sich ausgegossen haben musste. Das Zeug roch widerlich.

»Gestatten, ich bin Avvocato Nullo Manenti.«

Sie reichten einander die Hand.

Zum Glück war Montalbano noch nicht zu Wort gekommen. Er hätte ihn mit Nullafacenti angesprochen, was so viel heißt wie Herumtreiber oder Tagedieb.

»Nehmen Sie Platz und entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«

Er stand auf und öffnete das Fenster. Andernfalls hätte er die Luft anhalten müssen. Er atmete tief ein und füllte seine Lungen mit den Abgasen des Straßenverkehrs, was immer noch besser war als dieses Parfüm. Dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch.

»Worum geht es?«

»Ich bin wegen meines Mandanten hier.«

Montalbano riss die Augen auf.

»Welcher Mandant?«

»Giovanni Strangio.«

»Und wer ist das?«

»Wie: Wer ist das? Sie selbst haben ihn doch vor einer Stunde festgenommen.«

Jetzt verstand er. Der Mandant war der tollwütige BMW-Fahrer. Aber wer hatte dem Anwalt Bescheid gegeben?

»Verzeihung, aber wie haben Sie erfahren, dass …«

»Strangio hat mich angerufen.«

»Von wo?«

»Von hier natürlich. Aus der Arrestzelle. Mit seinem Handy.«

Gallo hatte also nicht daran gedacht, es ihm abzunehmen. Dafür würde er ihm die Leviten lesen.

»Avvocato, Sie müssen wissen, dass ich Ihren Mandanten noch gar nicht vernommen habe.«

Er griff zum Hörer.

»Catarella, schick Gallo zu mir.«

Als Erstes fragte er den Polizisten:

»Hast du ihn pusten lassen?«

»Negativ, Dottore.«

»Und die anderen Tests?«

»Man hat ihm Blut abgenommen. Die Analyse in Montelusa läuft noch.«

»Führerschein, Fahrzeugpapiere, Kfz-Steuer, alles in Ordnung?«

»Sissignore, alles in Ordnung.«

»Gut, du kannst gehen. Ach ja, noch eine Sache. Hast du ihm das Handy abgenommen?«

Gallo schlug sich an die Stirn.

»Verdammt!«

»Darüber sprechen wir noch. Also dann, du weißt, was du zu tun hast.«

Gallo ging.

»Sie werden sehen, dass die toxikologische Untersuchung ohne Befund sein wird«, bemerkte der Anwalt.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich kenne meinen Mandanten. Er nimmt keine Drogen.«

»Dann ist das also sein Normalzustand?«, fragte der Commissario.

Der Anwalt breitete die Arme aus.

»Tatsache ist, dass mein Mandant so etwas nicht zum ersten Mal macht.«

»Sie meinen, er greift häufiger zum Schraubenschlüssel?«

Der Anwalt breitete erneut die Arme aus.

»Er ist nicht ganz richtig im Kopf.«

Es half nichts: Trotz des geöffneten Fensters hing der Parfümgeruch schwer im Raum. Montalbano wurde allmählich unruhig. Vielleicht rutschte ihm deshalb eine etwas gewagte Bemerkung heraus.

»Ist Ihnen eigentlich klar, dass dieser Strangio ein potenzieller Mörder ist? Ein Verkehrsrowdy? Einer von denen, die nicht mal dann anhalten, wenn sie jemanden überfahren haben.«

»Commissario, mir scheint, Sie gehen zu weit.«

»Sie selbst haben doch gerade gesagt, dass er nicht ganz richtig im Kopf ist!«

»Aber ihn gleich zum Mörder abzustempeln ist doch etwas weit hergeholt! Commissario, ich sage es Ihnen ganz offen. Ich bin nicht gerade glücklich darüber, jemanden wie Giovanni Strangio als Mandanten zu haben.«

»Und warum vertreten Sie ihn dann?«

»Weil ich der Anwalt seines Vaters bin, der mich gebeten hat …«

»Und wer ist der Vater?«

»Dottor Michele Strangio, der Provinzpräsident.«

Jetzt wurde Montalbano einiges klar.

Zuallererst, warum einer, der nicht ganz richtig im Kopf war, noch im Besitz eines Führerscheins war.

»Ich bin gekommen«, fuhr der Anwalt fort, »weil ich Sie bitten möchte, Gras über die Sache wachsen zu lassen.«

»Gras über die Sache wachsen lassen! Ich werde dafür sorgen, dass dieser Signore das Gras von unten sieht. Das schwöre ich Ihnen!«

Was redete er denn da für einen Schwachsinn? Hatte das Parfüm seinen Verstand so vernebelt, dass er jede Hemmung verloren hatte?

»Sie vergessen die Angelegenheit«, fuhr Nullo Manenti unbeirrt fort, »und wir vergessen die Provokation.«

»Welche Provokation?«

»Ihre. An der Tankstelle. Sie haben ihn mit Ihrem Wagen absichtlich an der Weiterfahrt gehindert. Daraufhin hat mein Mandant die Beherrschung verloren und …«

Das stimmte. Was hatte er sich bloß dabei gedacht, sich mit diesem Kerl auf einen Streit einzulassen? Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu seiner Verteidigung einen Berg Lügen aufzutischen. Aber zuerst musste er sich beruhigen. Er stand auf, ging ans Fenster, sog die giftigen Autoabgase ein und setzte sich wieder.

»Mehr hat Ihr Mandant Ihnen nicht erzählt?«

»Es gibt noch mehr?«

»Na, und ob! Zunächst einmal möchte ich klarstellen, dass von meiner Seite überhaupt keine Provokation ausging. Mir ist erst im letzten Moment eingefallen, dass ich tanken muss, deshalb bin ich von der falschen Seite an die Zapfsäule gefahren. Als ich zurückstoßen wollte, ist der Motor nicht angesprungen, mein Auto ist schon alt. Hat Ihr Mandant Ihnen denn auch gesagt, dass er fünf Minuten zuvor versucht hatte, mich von der Fahrbahn abzudrängen?«

Der Anwalt verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln.

»Was die Tankstelle betrifft, gibt es einen Zeugen. Den Tankwart.«

»Der Tankwart wird nur bezeugen können, dass ich mit meinem Wagen dastand. Er wird Ihnen nicht bestätigen, dass ich mich absichtlich dort hingestellt habe. Im Übrigen gibt es auch Zeugen für den Versuch, mich von der Straße abzudrängen. Sogar zwei.«

»Tatsächlich?«

Die Frage des Anwalts hatte einen ironischen Unterton. Da entschloss sich Montalbano zu einem gewagten Bluff. Er sah Nullo Manenti fest in die Augen, öffnete seine Schreibtischschublade, zog wahllos zwei Blatt Papier heraus und fing an vorzulesen.

»Ich, der Unterzeichnete Antonio Passaloca, Sohn von Carmelo Passaloca und Agata Conigliaro, geboren in Vigàta am 12. September 1950, wohnhaft dortselbst in der Via Martiri di Belfiore Nummer 18, erkläre Folgendes: Heute Morgen gegen neun Uhr, als ich auf der Landstraße Richtung Vigàta unterwegs war …«

»Schon gut«, sagte der Anwalt.

Er hatte den Köder geschluckt, der Signor Avvocato. Montalbano legte die Blätter in die Schublade zurück. Das war geschafft!

Nullo Manenti stieß einen Seufzer aus und suchte einen neuen Weg.

»Also gut. Das mit der Provokation nehme ich zurück.«

Er beugte sich vor und stützte die Arme auf den Schreibtisch. Dabei drang eine Parfümwolke in Montalbanos Nase, kroch ihm bis in die Eingeweide und löste einen Würgereiz aus.

»Ich möchte Sie allerdings bitten, Commissario, ein wenig nachsichtig zu sein. Wenn wir, als ältere Menschen, keine Gnade zeigen, wer soll dann …«

Der Avvocato hatte genau das gesagt, was er niemals hätte sagen dürfen. Die Anspielung auf das Alter und dazu noch der Brechreiz – das war zu viel. Montalbano sprang auf, puterrot im Gesicht.

»Ich ein älterer Mensch? Wissen Sie was? Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Mandant die Höchststrafe erhält! Jawohl! Die Höchststrafe!«

Der Anwalt stand auf. Er wirkte ernsthaft besorgt.

»Commissario, geht es Ihnen gut?«

»Mir geht es ausgezeichnet! Sie werden schon sehen!«

Er öffnete die Tür und rief hinaus:

»Gallo!«

Der Polizist eilte herbei.

»Bring den Festgenommenen ins Gefängnis nach Montelusa. Auf der Stelle!«

Und den Anwalt beschied er mit den Worten:

»Für Sie gibt es hier nichts mehr zu tun.«

»Buongiorno«, sagte Nullo Manenti knapp und ging.

Montalbano ließ die Tür offen, wegen des Durchzugs.

Dann nahm er hinter seinem Schreibtisch Platz und schrieb die Anzeige, die er mit zehn potenziellen Straftatbeständen spickte. Er setzte seinen Namen darunter und schickte das Schreiben an den Staatsanwalt.

Giovanni Strangio war bedient.

Gegen Mittag kam ein Anruf.

»Dottori? Ich hätte da einen Signor Porcellino, der will mit Ihnen höchstpersönlich selber sprechen.«

Montalbano wurde misstrauisch.

»Catarè, man muss nicht zwei Mal ins Fettnäpfchen treten, oder?«

»Was war denn das erste Mal?«

»Dass der Anwalt nicht Nullo Manenti hieß, sondern Nullafacenti.«

»Hab ich denn nicht Nullofacenti gesagt?«

Konnte man mit einem solchen Menschen ein vernünftiges Gespräch führen?

»Bist du sicher, dass Porcellino so heißt: Schweinchen?«

»Absolut sicher, Dottori. Dafür leg ich meine Hand ins Feuer.«

»Hat er gesagt, worum es geht?«

»Nein, aber er klang furchtbar wütend. Wie ein brüllender Löwe vom Äquator, Dottori.«

Montalbano hatte große Lust, den Anruf nicht entgegenzunehmen, doch sein Pflichtgefühl siegte.

»Montalbano am Apparat. Worum geht es, Signor Porcellino?«

»Porcellino?! Wollen Sie mich verarschen?«, tönte es aufgebracht aus dem Hörer. »Ich heiße Borsellino! Guido Borsellino!«

Na prima. So lernte er wenigstens, Catarella nicht einmal für einen kurzen Moment zu vertrauen. Der verhunzte wirklich jeden Namen.

»Es tut mir schrecklich leid, entschuldigen Sie bitte, unser Telefonist muss sich verhört haben. Was haben Sie auf dem Herzen?«

»Gegen mich wurden ungeheuerliche Beschuldigungen erhoben! Man behandelt mich wie einen Dieb! Ich verlange von Ihnen als dem Vorgesetzten eine sofortige Entschuldigung!«

Eine Entschuldigung? Montalbano war im Nu von null auf hundert, er ging ab wie eine Rakete.

»Hören Sie, Signor Por… Borsellino, Sie halten jetzt den Kopf unter kaltes Wasser. Und wenn Sie sich beruhigt haben, rufen Sie noch mal an.«

»Ich habe nicht …«

Montalbano legte auf.

Fünf Minuten später klingelte es erneut. Diesmal war Fazio am Apparat.

»Entschuldigen Sie bitte, Dottore, aber …«

Es war unverkennbar, dass dieser Anruf ihm nicht leichtfiel.

»Was gibt’s denn?«

»Könnten Sie hierher in den Supermarkt kommen?«

»Warum?«

»Der Marktleiter macht einen Mordsaufstand, weil Dottor Augello ihm ein paar Fragen gestellt hat, die ihm nicht passen. Er sagt, er äußert sich nur noch im Beisein seines Anwalts.«

»Heißt der Mann Borsellino?«

»Ja.«

»Der hat gerade hier angerufen und ist mir gehörig auf den Senkel gegangen.«

»Also, Dottore, kommen Sie?«

»Ich bin in zehn Minuten da.«

Auf dem Weg in den Ortsteil Piano Lanterna fiel ihm ein, dass gemunkelt wurde, der Supermarkt sei im Besitz eines von Strohmännern geführten Unternehmens. Die Hintermänner und eigentlichen Finanziers seien Leute vom Cuffaro-Clan, die sich die Geschäfte in Vigàta mit den rivalisierenden Sinagra teilten.

Er fuhr soeben durch den Teil von Piano Lanterna, in dem vier überaus hässliche Miniwolkenkratzer hochgezogen worden waren, um eine Bleibe für die Bewohner aus dem Stadtzentrum zu schaffen, die fast alle auf die Anhöhe umgesiedelt waren.

Alten Fotografien und den Erzählungen seines langjährigen Freundes, Schuldirektor Burgio, zufolge hatte es hier einst nur zwei Häuserzeilen an einer Straße gegeben, die zum Friedhof führte. Ringsherum waren riesige Brachen gewesen, auf denen man Boccia und Fußball spielen, picknicken, sich duellieren und epische Kämpfe zwischen verfeindeten Familien austragen konnte.

Jetzt aber war hier eine Betonwüste, eine Art Kasbah aus Hochhaustürmen.

Der Supermarkt war geschlossen. Der Polizist, der am Eingang Wache stand, geleitete den Commissario zum Büro der Direktion.

Auf dem Weg dorthin sah er Fazio, der ein paar Verkäuferinnen befragte.

Im Büro hatte Mimì Augello vor einem Schreibtisch Platz genommen, hinter dem ein spindeldürrer Mann in den Fünfzigern saß. Er hatte kein einziges Haar auf dem Kopf und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Seine Nervosität war unverkennbar.

Als er den Commissario erblickte, sprang er auf.

»Ich will meinen Anwalt sprechen!«

»Hast du den Signor Borsellino irgendeines Vergehens beschuldigt?«, wandte sich der Commissario an seinen Vize.

»Nein, hab ich nicht«, gab Mimì gleichmütig zurück. »Ich habe ihm nur ein paar einfache Fragen gestellt, und das …«

»Von wegen einfache Fragen!«, unterbrach ihn Borsellino.