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Roman eines Monats Februar 2004 Wieder ein Monat im Leben einer Geigerin, aus dem sich mehrere Themen herauskristallisiert haben: - Ein Herr mit Namen Lothar Gaiken versucht sich etwas Geld zu ergaunern. - Herr Schurr, ein feiner alter Herr, bittet allsamstäglich zu Tee, Häppchen und guten Gesprächen. - Ein Mord erschüttert Ostfriesland. - Nach langer, langer Zeit kehren die Eltern Rehlein und Buz aus Österreich zurück. Doch bald darauf wird bei Buz ein Herzleiden diagnostiziert. Und warum heißt dieser Roman wie er heißt? Erstens weil der Titel interessant klingt, und zweitens weil Gitta, die Tochter von Herrn Schurr, sehr unter ihrer öden Ehe leidet, und sich nach ein wenig Glück sehnt. "Das kann es nicht gewesen sein!" sagt sie.
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Roman eines Monats
Für Dich!
Franziska (Kika) im Jahre 2004 mit ihrer geliebten Violine
Aus dem Leben einer Geigerin
Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches
Hier die Familie vorweg:
Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für Violine an der Musikhochschule in Trossingen
Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)
Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)
Julchen, Mings neue Liebe (*1983)
Ein Buch ohne Vorwort.
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Februar 2004
Sonntag, 1. Februar
Montag, 2. Februar
Dienstag, 3. Februar
Mittwoch, 4. Februar
Donnerstag, 5. Februar
Freitag, 6. Februar
Samstag, 7. Februar
Sonntag, 8. Februar
Montag, 9. Februar
Dienstag 10. Februar
Mittwoch, 11. Februar
Donnerstag, 12. Februar
Freitag, 13. Februar
Samstag, 14. Februar
Sonntag, 15. Februar
Montag, 16. Februar
Dienstag, 17. Februar
Mittwoch, 18. Februar
Donnerstag, 19. Februar
Freitag, 20. Februar
Samstag, 21. Februar
Sonntag, 22. Februar
Montag, 23. Februar
Dienstag, 24. Februar
Mittwoch, 25. Februar
Donnerstag, 26. Februar
Freitag, 27. Februar
Samstag, 28. Februar
Sonntag, 29. Februar
Personenverzeichnis
Aurich (allein)
Es regnete dünn.
Still und grau.
Schließlich klarte der Himmel wieder auf
Vorwissen:
Vor wenigen Tagen war ein Herr mit Namen Lothar* Gaiken im Schneepürée vor unserem Haus ausgeglitten, hatte einen blauen Fleck oberhalb der Powurz davongetragen und versuchte nun, etwas Kapital aus diesem tragischen Vorkömmnis zu schlagen *(„Loutaaah“ – plattdeutsch eingefärbt)
Ich entschälte mich dem Bettgehäuse in einen frisch angeknabberten Monat hinein. Draußen regnete es plätschernd und geräuschvoll.
Leider vereinsame ich so allmählich völlig.
Einmal setzte sich jedoch im Treppenhaus ein wunderschöner bunter Schmetterling auf eine Stiege. Ich erschrak, doch alsbald stülpte sich der Schreck um, und ich freute mich, einen Schmetterling kennenzulernen.
„Du süßer Schatz!“ sagte ich warm.
Beim Üben auf der Violine musste ich darüber nachdenken, daß auch die Stephanie, das junge Fräulein von gegenüber, nur noch zum essen und schlafen nachhause kommt, wie einst der junge Ming.
Morgens verlässt sie das Haus zur Arbeit; zur Mittagsstund kehrt sie kurz zurück, schlingt eine Mahlzeit hinab, die Mutti Elfriede liebevoll zubereitet hat, und schon ist sie wieder weg. Der Nachmittag gehört der Liebe. Stellvertretend für ihre Eltern, die langsam ein bißchen alt werden, wehte mich ein leichtes Gefühl der Bitternis an.
Das Telefon schrillte. Gierig und dankbar griff ich - inmitten der Klangwolke von Bruckners Sechster steckend - nach dem Hörer. Herr Berke war´s, ein Freund des Hauses. Ein Herr, der aussieht wie einst Johannes Brahms.
Über Herrn Berke ist Folgendes zu erzählen:
Nach den Sommerferien 1976 brachte er seine zehnjährige Tochter in die Geigenstunde bei der neuen Violinlehrerin (Rehlein), und dann war es um ihn geschehen! Die Liebe seines Lebens stand vor ihm: Seine persönliche Clara Schumann, die sein Leben für immer verändern und fortan sein Denken und Fühlen bestimmen sollte.
Er habe ein paar Fotos in reizvoller Wetterlage von unserem Hause geschossen, und die wolle er mir nun zeigen. Erfreut darüber, daß wirklich jeden Tag jemand an mich denkt, geriet ich bereits am Telefon in Plauderschwung.
Mitfühlend erkundigte sich Herr Berke nach meinem einsamen Dasein.
„Das mit der Fernseherei nach Lust und Laune habe ich mir nun wirklich gänzlich anders vorgestellt!“ berichtete ich. Man sitzt da, schaut fern und kühlt innerlich rasch aus. Lebensenergie bezieht man eher aus den Bruckner-Symphonien, mit denen mein Haus von früh bis spät beschallt wird.
Ich machte mich hübsch und begab mich in die Küche, denn Herr Berke hatte sich zu einem Tässchen Tee weichklopfen lassen.
Ein bißchen muss man als Frau natürlich immer damit rechnen, der vereinsamte, und in der Liebe ausgehungerte Herr Berke könne einem Avancen machen, da Männer es angeblich als Einverständnis auffassen, von einer einsamen Frau in die Wohnung gebeten zu werden. Die Erfahrung lehrt jedoch, daß Herr Berke sich nach dem ersten Tässchen Tee ganz rasch zu verabschieden pflegt, so daß der Besuch dem verdutzten Gastgeber in der Retrospektive viel zu kurz erscheint.
Aber vielleicht pflegt er sich aus jenem Grunde so bald zu empfehlen, weil sich in seinen Sinnen bereits folgende Szene zusammengebraut hat: „Die Kika rückt immer näher, schmachtet ihn unverhohlen an und sagt schließlich: „Ich bin so einsam und hätte gern ein Kind gegen meine Einsamkeit.“
(In den Sinnen von Herrn Berke verwandelte ich mich in die Adele aus der Knopp-Trilogie von Wilhelm Busch: „Nimm auf der Berschere Platz!“)
*****
Zunächst bestaunte Herr Berke die Küche, die er in diesem Ordnungsgrad noch nie erlebt hat. Ich erlaubte mir einen Scherz und erzählte, daß mir deswegen so langweilig sei, weil ich zum Fernsehen immer die Mikrowelle benütze.
Dann saßen wir da und sprachen beispielsweise übers Briefeschreiben, da ja bei mir so viele angeschriebene Briefe herumliegen.
Herr Berke schreibt auch sehr gerne Briefe. Er gibt sich große Mühe, läuft auf- und ab, überlegt, knabbert gedankenversunken an seinem Füllfederhalter und versucht, das Strickgebilde aus weichgeschwungenen Buchstaben mit Musik und Geist zu füllen. Doch auf eine ebenbürtige Antwort kann er lange warten.
„Je länger der Brief, desto unbeantworteter bleibt er!“ sprach ich aus Erfahrung. Der moderne Mensch schickt allenfalls noch ein Kärtle mit einem Leuchtturm drauf. Auf der Vorderseite liest man „Gruß von der Küste!“, und dann bekommt man von den Beglückten vielleicht auch mal einen Kartengruß aus dem Urlaub? Ab- und zu drückte mich Herr Berke herzlich, da er doch ein treuer Freund der Familie ist; aber zudringlich wurde er, der laut seiner Exe ständig die Pflegetöchter und Dienstmädchen vergewaltigt hat, wiederum nicht.
Das Wetter war in den späten Nachmittagsstunden angenehm geworden.
Mein Geburtstagsbrief an die uneheliche Schwiegertochter meiner angeheirateten Großtante Irma war fertig geworden, und ich freute mich, daß bei denen endlich etmal was Gescheites im Briefkasten liegt. Auf Bewünschungen und Behoffnungen hatte ich in diesem Schreiben verzichtet.. (Das sind hohle Worte wie man weiß, und in der Zeit könnte man auch etwas Kluges schreiben!)
Auch der Brief an Rehlein und Buz durfte gefaltet und einkuvertiert werden, und dann legte ich auch noch das so sehnsuchtsvoll erwartete Foto von Rehleins Cousin Martin und seiner Hilda bei. (Ein spätes Glück, das nicht jedermann vergönnt ist, denn Hilda wird morgen 56 Jahre alt).
Ich hatte einen sehr netten Satz über die beiden dazugeschrieben:
„Es sind keine Schönheitskönige!“ (hat die Tante Irma am Telefon einfach gesagt)
„Für mich aber ist es das schönste Paar im ganzen Harz!“ schrieb ich liebevoll, und dies stimmt sogar.
Bei Briefen nach Ofenbach schwingt immer eine leise Verunsicherung mit, auf welchem Fuße stehend dieser Brief wohl gelesen wird? Schreibe ich gar zu schwärmerisch, so könnte es passieren, daß Buz auf der B-Seite „Ach Gottchen!“ denkt.
Ich brachte den Brief zum Briefkasten und sah auf dem Wege schon wieder den sonderbaren Bibliothekar, der seit vielen Jahren das Stadtbild von Aurich prägt. Er trug eine Strickhaube, die ausschaute, als wäre sie ihm, ganz gegen seinen Willen, von den alten verknorzelten Händen seiner Mutter über den Kopf gezogen worden.
Schon wieder dämmerte ein Tag seinem Ende entgegen. Ich lief durch die Dunkelheit nach Hause. Dauernd murmelte ich den Gruß „´n Abend“ vor mich hin. Es war, als hätten sich meine Lippen selbstständig gemacht.
Daheim rief ich den Tagesjubilator Opa Rudi an: Er habe gesundheitliche Molesten, erzählte er, die-weil ihm mit seiner leicht violetten Gesichtsfarbe unlängst ein Herzschrittmacher eingebastelt worden war. Doch der Herzschrittmacher hat sich noch nicht so recht im Körper etabliert.
Abends schaute ich einen Film über Anne-Sophie Mutters Beethoven Interpretationen an, wobei mich verschiedenes verblüffte: Beispielsweise daß die Anne-Sophie und ihr Begleiter Lambert Orkis sofort nach ihrer absolut synchronen Verbeugung wie „ein Mann“ begannen, ohne sich auch nur das geringste Zeichen gegeben zu haben. Und dann spielten sie unglaublich synchron.
Warm, aber zum Teil sepia getönter Himmel. Leicht nieselig. An ein quengelndes Kind erinnernd, das einem auf die Nerven fallen möchte
Lothar Gaiken, der geschädigte Herr mit dem blauen Fleck oberhalb des Gesäßes hatte gesagt: „Bis Mountach!“ Denn am Mountach würde ja Klartext darüber gesprochen, ob ihm sein Arbeitgeber wouhl den Louhn fortzahlt, oder ob wir haften. (Lothar G.: „Das kann teuer werden!“)
„Ein letztes Mal den Opa Rudi sehen!“ dachte ich wehmütig.
Rudi und Inge wollten am Nachmittag ihren Sohn Heiko besuchen, der wiederum heut Geburtstag hatte, und auch wenn man mit Rudi und Inge gemeinsam in Aurich lebt, so glaubt man doch kaum, daß man den alten Mann mit dem neuen Herzschrittmacher noch einmal wiedersehen wird – wenn nicht heut.
Um neun Uhr telefonierte ich mit der Versicherung. Die zuständige Dame stak gerade im Außendienst, rief aber umgehend zurück.
„Sie werden gar nicht von mir betreut!“ sagte sie sodann etwas kühl, und dabei hatte ich den „Tathergang“ (in diesem Falle ein äußerst unpassender Ausdruck) soeben sachlich, unglaublich korrekt und neutral geschildert: Der geschädigte Herr sei hier vor unserem Hause bedauerlicherweise ausgeglitten, habe sich einen dunklen Fleck oberhalb oder unterhalb (?) der Powurz (je nachdem wo man die Powurz ansiedelt) zugezogen, und dies alles nur, weil ich den Schnee nicht ordnungsgemäß hinfortgeschippt hatte. (Natürlich muss man immer damit rechnen, daß die Versicherung sagt: „Schmerzensgelder zahlen wir sowiesou nich! Und für den Geihweg haften Sie - ganz klar!“)
Der Herr am anderen Ende der Leitung, mit dem man mich nun verbunden hatte, war jedoch ganz sachlich und meinte, er bräuche ein ärztliches Attest. Da geht Herrn Gaiken doch wohl der Arsch auf Grundeis, bangte ich nett um das Seelenheil eines gerissenen Hobbygauners.
Dann rief Lothar Gaiken an und erzählte, daß er wegen einer anderen Sache krankgeschrieben war. Wenn aber ruchsam wird, daß er trotz Krankschreibung draußen herumgelaufen sei, so gäbe es Scherereien.
Ich war eigentlich immer sehr nett zu ihm - so wie ich Buzens Spezi Yossi, eine verlorene Seele, die sich von Feinden und Feindesfeinden umzingelt fühlt, zu behandeln pflege. Mütterlich, verständnisvoll, einen Anker auf hoher See verkörpernd, und tatsächlich fühlte sich Lothar Gaiken auch ein wenig an wie ein ostfriesischer Yossi, wenn er sich wie ein kleines Äffchen an die Worte eines Erwachsenen klammert, der vielleicht etwas weiß? Dadurch wuchs er mir auch leicht ans Herz, so daß ich immer weiter über ihn nachdachte, während ich die Versicherungsdienststelle aufsuchte. Durch die Glastüre konnte man sehen, wie der etwas kühle und kadettenartige Bedienstete mit einem lugubren Mann aus dem Osten sprach, der erstens kein deutsch verstand und zweitens nicht das geringste Gespür dafür zeigte, daß eine Dame wegen ihm warten musste. Ich durfte mir jedoch einen Kaffee vom Automaten zapfen und in der Zeitung schmökern:
In den Ostfriesischen Nachrichten konnte man lesen, daß in Grebenstein ein toter Säugling gefunden worden war. Ein Säugling, der einer 17-jährigen Chinesin gehört hat, jetzt aber leider zu Grabe getragen werden muss.
Nach einer Weile kam ich dann doch noch dran. Herr Gaiken, so erfuhr ich, habe bereits bei der Versicherung angerufen und eingeräumt, daß er gar nicht beim Arzt war. Der Herr, der mich nun bediente, war ein alter Klassenkamerad Mings! Er war so weit ganz in Ordnung, wenn er auch mit Geringschätzung über den demütigen Bittsteller Gaiken sprach: „Das ist ein Abzocker. Nichts weiter!“
Mir aber tat Herr Gaiken leid, da er sich doch etwas erhofft hatte. Vielleicht hat er sich bereits die Hände gerieben und eine Einladung in ein Nobelrestaurant ausgesprochen. Und so vermochte sich bei mir kein rechtes Triumphgefühl einzustellen.
Ich fuhr in den Klub, um meine öden Übungen zu absolvieren, aber dadurch, daß ich gedanklich die ganze Zeit mit dem armen Tropf beschäftigt war, verminderte dies mir den verdünnten Schmerz der Langeweile.
Als ich auf dem Heimweg durch den Friedhof lief, wurde eine Beerdigung vorbereitet. Noch befand sich die Trauergesellschaft in der Kapelle, woraus ganz deutlich die wehmütigen Abschiedsgesänge heraustönten. Eigentlich hatte ich mich immer darüber aufgeregt, daß die allermeisten Leute in der Kirche so scheußlich und ausdrucksarm singen; doch heut musste ich zugeben, daß die Gesänge zwar flachbrüstig, aber doch irgendwie kummervoll klangen.
Nachdem ich eine Weile gelauscht hatte, lief ich weiter und stellte mir vor, wie Lothar „Loddar“ Gaiken gestern das kleine Kind von seiner Schwester ausgeliehen hat, um einen seriösen Familienvater zu verkörpern.
„Hä??“ hatte die Schwester mürrisch zu diesem ganz und gar untypischen Vorschlag gesagt, Onkel zu spielen und seinen kleinen Neffen auf dem Fahrrad spazieren zu fahren. „Du hast dich doch noch nie für Dschjastin interessiert!“
Wieder daheim telefonierte ich so nett mit dem süßesten aller Rehleins. Rehlein hatte sich so herzlich und fröhlich gemeldet. Buz sei wieder in Trossingen, und ich freute mich erstens, daß er mir näher gerückt ist, aber auch weil der Aufenthalt im Kreise seiner Jünger vielleicht Balsam für seine abgegriffene Seele ist. Rehlein ist zutiefst besorgt wegen Buzens Lungenleiden und hat die größte Angst, ihm könne es womöglich so ergehen wie dem Onkel Helmut (Opas jüngstem Bruder), der mit nur siebzig Jahren, noch mitten im goldenen Herbst des Lebens stehend, an einem Lungenemphysem verstarb.
Buz hat unlängst beim Dr. Bogath ein Blutbild erstellen lassen. „Das Ergebnis war gar nicht schlecht!“ habe er hernach lose erzählt. Doch Rehlein erinnerten diese Worte an den Chef der Nordseekette, der dies einst wörtlich genau so gesagt hatte, nachdem die Frische seiner Fische geprüft worden war.
„Nein, es war nicht schlecht. Es war vernichtend!“ hatte der gnadenlose Reporter die gefallenen Worte auf unsensible Weise wieder zurechtgerückt.
Lothar Gaiken besuchte mich nochmals.
„Die Versicherung zahlt nicht!“ sagte er wie ein Schulbube, dem eine große Ungerechtigkeit widerfahren ist. „Darüber wollte ich Sie nur in Kenntnis setzen“, fügte er niedergeschlagen hinzu.
„Ja, warum waren Sie denn dann nicht beim Arzt??!“
„Das war woul ein Feihler meinerseits,“ räumte er ein. Dann ging er wieder, aber ich sah ihn heut nochmals: Am „Romantico“, wo er auf eine bekümmerte Art vor sich hinlief. Ihn plagte Langeweile, da er krank geschrieben war, und außerdem marterte ihn das Gefühl, daß ihm durch seine eigene Torheit 250 €uro zwischen den Fingern zerbröselt sind.
Später dachte ich auf dem Radl sogar noch weiter über ihn nach. Ich dachte zweierlei: Nämlich, daß ich ihn besuche und ihm erzähle, daß mir sein Schicksal keine Ruhe lasse, und ich mir somit etwas für ihn ausgedacht habe: Neben mir wohnt eine nervöse ältere Dame, die auch keinen Schnee geschippt hat. Um die paar Meter, wo er ausgerutscht ist, solle man kein großes Brimborium machen. Ich bin sicher, daß, wenn er bei ihr die gleiche Nummer abzieht, sie auf ihre nervöse Art gleich zum Schränkchen mit dem Ersparten eilt, um den Fall so schnell als möglich vom Tisch zu fegen. Im Geiste sah ich, wie mir Lothar Gaiken, auf Art vom Yossi zutraulich geworden, intensiv lauscht. Meine Gedanken wanderten nach Kassel zu Omas Kollegin, dem Evchen, das an meiner Stelle wahrscheinlich gesagt hätte: „Wenn Sie mir ein Kind machen, so würde ich Ihnen tausend €uro geben!“ Das Evchen mit nun bald 45 Jahren zwickt die Sorge um die biologische Uhr. Dann kommt es zu einem sog. „Quicki“ auf geschäftlicher Ebene, und die ausgesprochene Einladung in ein Nobellokal wäre kein Problem mehr. Doch in der Nacht würde Lothar Gaiken plötzlich aufgeschreckt denken: „Da werden jetzt doch woul hoffentlich keine Unkosten auf mich zukommen? Mist, verdammter! Das hätte man woul vertraglich absichern müssen!“
Nach langer Einsamkeit freute ich mich heut sehr auf das Zusammensein mit der Familie Baumgart am Nachmittag.
„Das ist für mich wie Weihnachten!“ benützte ich unlängst gefallene Worte Rehleins.
Ich hatte dem Heiko ein kleines rotes Fotoalbum gekauft, in das ich nun ein paar Bildchen hineinpappte. Doch die Schleife, die vormals so wunderschön ausschaute, ließ sich leider nicht mehr so vollendet zusammenbinden.
So trug ich das kleine Album in den Schreibwarenladen, und die beiden Verkäuferinnen halfen mir selbstlos und nett, bis die Schleife wieder schön war.
Mit diesem persönlichen Geschenk bepackt fuhr ich zum Heiko, wo man sich sehr über mich gefreut hat. Opa Rudi, wegen dem ich ja nicht zuletzt gekommen bin, war noch beim Dr. Paulus, und über dem Gemüt von Omi Inge lag leider eine leichte Unfröhe, dieweil man sich doch Sorgen um den Opa macht, der mit seinen 77 Jahren weiß Gott nicht mehr der Jüngste ist. Allerdings hatte die Oma - in letzter Zeit leider sehr vergesslich geworden - den Grund ihrer Unfröhe vergessen, so daß nur die reine Unfröhe übriggeblieben war, und sich auf ihrer Miene ausgebreitet hielt.
Der kleine Johann-Jakob war krank, und man spürte seine Aura nicht mehr. Sie war ihm abhanden gekommen und keiner weiß, wie und warum. Der Knirps lag auf dem Sofa im Nebenzimmer und sah krankheitsbedingt plonnerhaft, sauertöpfisch und verquollen aus, während seine Schwester Isabelle ein hübsches und nettes Mädchen zu werden verspricht.
Nach einer Weile kam auch noch die Oma Ingrid von der Gegenpartei zu Besuch. Eine Dame, die auf den Tag genau zwanzig Jahre jünger ist als unsere jüngst verstorbene Oma Ella. Und während Oma Ingrid noch ihren Mantel in die Garderobe hängte, erzählte sie, daß sie so gehofft hatte, ich käme sie zu ihrem Geburtstag besuchen. Da wurde mir schwer ums Herz.
„Dann feiern wir jetzt auch ein bißchen Deinen Geburtstag nach!“ versprach ich.
Omi Ingrid ist immer so still. Sie sitzt am Tisch und sagt gar nichts, so daß es manchmal passiert, daß man vergisst, ihr etwas Tee nachzuschenken. Dann sitzt sie im Trockenen und sagt auch nichts. Ich aber konnte mit lustigen Geschichten aufwarten, indem ich nun von dem Herrn erzählte, der sich 250 € Schmerzensgeld erhofft hatte, und bereits mühsam eine Verzichtserklärung niedergeschrieben hatte, worin er sich verpflichtete auf weitere Geldforderungen zu verzichten.
„Oooh, da ist der Herr!“ rief ich plötzlich aus, als der Onkel Ralli, der Sohn von Omi Ingrid, der tatsächlich aus ähnlichem Holze geschnitzt ist wie Louthar Gaiken, über den Rasen auf das Grundstück zuschritt. Die Gesellschaft lachte amüsiert.
Allgemein war der Gesundheitspegel nicht sehr hoch. Der kleine Johann-Jakob hat eventuell die Vogelgrippe und stirbt womöglich bald, aber auch die anderen konnten mit bekümmerlichen Zipperleingeschichten aufwarten.
„In solch einem Fall stirbt man doch lieber!“ dachte ich bei der ein oder anderen Schilderung.
Mutti Moni hatte ein Heft mit leider paradontitischen, sprich, sehr leicht herausfallbaren Seiten angelegt, woselbst hineingeschrieben wird, was die Kinder alles so Lustiges von sich geben. Sogar die Zeugnisse der Kinder wurden herumgereicht, und beide waren ganz gleich: Nämlich leider nur mittelmäßig. Je eine Eins in Kunst bzw. Musik (Isabelle)*, ansonsten einige Zweier und mehrere Dreier.
*Diese Anmerkung gibt dem Text den Anstrich, als handele es sich um den Jahresrückblicksbrief einer Großmutter
Etwas halbherzig hatte eine Diplompädagogenhand unter das Zeugnis vom kleinen Johann-Jakob geschrieben, daß er vielleicht für das Gymnasium empfohlen wird.
„Gibt es auch welche, denen die Koranschule empfohlen wird?“ frug ich angesichts dessen, daß der Omar in Stuttgart ständig damit droht, den kleinen Yussuf in die Koranschule zu schicken. Dies ist als Ohrfeigenersatz gedacht, wenn seine Frau nicht so will wie er, denn in Deutschland ist es gesetzlich untersagt, seine Ehefrau mit Hilfe zischender Watschen zur Vernunft zu bringen.
Schließlich kam der Jubilator Opa Rudi doch. Kaum hatte man losgefeiert und wollte mit einem Lied anheben, da surrte auch schon das Telefon in seiner Hosentasche, und anstelle des Liedes musste er sich nun anhören, daß das Auto seiner Tochter in Berlin wegen kurzem Falschparkens abgeschleppt worden sei.
Der Opa wirkte wegen seiner gesundheitlichen Molesten etwas fahrig und beunruhigt. Ein jeder denkt´s, doch niemand spricht es aus: Der Sensemann steht vor der Tür!
Wie ein kleines Vögelchen sitzt Oma Inge da, und redet nur selten. Doch einmal machte sie den Mund auf und sagte belustigend: „Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich!“ Dies sagte sie an unpassender Stelle ganz ernst, und dann schwieg sie wieder. Ich aber lachte sehr darüber. Die übrigen Erwachsenen unterhielten sich leider über anstrengende Themen - die EWE-Finanzierung beispielsweise.
Nach einer Weile empfahl ich mich, fuhr heim, und kaufte im Supermarkt ein. Dadurch, daß ich mir Lothar Gaiken nicht so besonders gut gemerkt habe, dachte ich bei so manch einem Herrn oftmals, er sei´s.
Bei uns läuft ab heute Bruckners Siebente, obwohl mir die Sechste so sehr ans Herz gewachsen ist, daß ich mich nicht so gerne davon trenne.
Feucht und grau
Traum:
Buz und ich zwängten uns auf die gut gefüllte Empore eines Konzertsaals. Das Konzert hatte bereits begonnen, und mir war es sehr peinlich, daß Buz so laut redete wie im Alltag - und dies mitten in feinste musikalische Farbnuancen hinein: Kunstvoll dargeboten von einem Spitzenorchester unter einem Spitzendirigenten. Paradoxerweise sprach Buz so laut, dieweil er sich über jemanden echauffiert hat, der im Konzert immer so laut sprach. (Der Onkel Otto in Irmas Erzählungen aus dem wahren Leben)
Die herumsitzenden Menschen waren empört und schauten uns böse und tadelnd an.
Der erste Lothar Gaiken freie Tag, denn bis zur Stund hat er sich noch nicht gemeldet, obwohl seinem Eintritt in unseren Alltag etwas Nachwaberndes anhaftete. Wenn ich beispielsweise vom Außendienst zurückkehre, so rechne ich immer ein bißchen damit, einen Brief von ihm vorzufinden, worin er Argumente auflistet, die dafür sprechen, daß ihm doch eigentlich etwas zustünde.
Auf dem Tisch im Wohnzimmer liegt noch immer der Zettel, den er so nett vorbereitet hat.
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250€ dankend erhalten
steht da unter einem Strich, den er mit Hilfe eines Lineals gezogen hat.
Manchmal stelle ich mir zum Spaß vor, ich würde ihn als Ehrengast zum Eröffnungskonzert des Musikalischen Sommers einladen, und wie ein Leuchten über sein Gesicht huscht, weil er noch nie in seinem Leben in einem Konzert war. „Echt jetz? Ein Konzeeeat?“ Aber wahrscheinlich stellt er sich etwas anderes darunter vor: Barbusige Damen, die zum Rhythmus der Musik wilde Zuckungen vollführen.
Um zwölf Uhr wollte Frau Münch kommen, so daß ich extra Kekse im Supermarkt besorgt habe.
Um mir die Wartezeit auf den lieben Gast zu verkürzen, rief ich meine Stiefmutti Hilde an.
Die Hilde erzählte, daß die kleine Ayla mitten in der Nacht, zwischen zwei und vier Uhr ganz laut gelärmt habe, dieweil sie jetzt Zähne bekommt. Zuerst waren es Blähungen, und jetzt sind´s die Zähne. Keine Nacht mehr hat man seine Ruh.
Der Omar flog zum Jubelpreis von 19,99€ zu seinem Bruder nach Pisa. Er hat so viele Brüder, daß quasi - bildlich gesprochen - in jeder Stadt einer auf einem Baum sitzt und Bananen isst.
„Und das Yüsslein ist im Dienst?“ frug ich in verbindendem Scherze über den Kindergarteninsassen, der jetzt sogar bei der Geigenlehrerin Miriam in die Lehre gegeben wurde.
Jetzt kamen wir im Gespräch darauf, warum die Musikliebhaber aussterben. Die Klassik sollte in der Kindheit ins Gehirn installiert werden. Doch heutzutage müssen die Kleinkinder dauernd wegorganisiert werden, und im Kindergarten kommt niemand auf die Idee, klassische Musik laufen zu lassen. „Davon verstehen doch die Kinder nichts. Schwere Kost...“ – wird gedacht.
Und so ist es für viele Kinder wahrscheinlich eine Strafe, im Konzert zu sitzen. Später als Erwachsene gehen sie dann nicht ins Konzert, weil sie sich erinnern, daß sie sich als Kind dort immer so gelangweilt haben.
Im März möchte die Hilde mit ihrer Familie Ferien auf dem Bauernhof machen. Die kleine Ayla babbelte im Hintergrund so süß.
Dann kam Frau Münch, und brachte sogar ihren Hund mit. Der schlanke, goldbraune Lappohrhund schaute mich wach und lebhaft an, und wedelte freudig über diese neue Bekanntschaft mit dem Schweif.
„Sitz!“ bellte Frau Münch ganz streng, so wie man sie gar nicht kennt. Doch der Hund ist nur halb folgsam, denn seine Folgsamkeit scheint bislang nur lose installiert. Er setzt sich ganz kurz mit vor Eifer wedelndem Schwanze und hebt seinen Po augenblicklich von der Sitzfläche wieder empor, weil er ja (noch) nicht weiß, wie lange der Befehl gelten soll, so daß man als Hundemutti schrecklich streng sein muss.
Der Hund durfte einfach in unsere Wohnung hineintrippeln. Neugierig schaute er sich alles an.
Leider war die Gesundheit von Frau Münch wieder sehr angeknackst. Die ganze Zeit fühlt sie sich schon schlapp und appetitlos, so daß sie schon bald wieder - im wahrsten Sinne des Wortes - Leine zog.
Versonnen schaute ich dem Gespann hinterher. Sogar von hinten wirkte der Hund so lebhaft und anteilnehmend.
Ein Herzenswunsch in meinem derzeitigen Leben ist, daß jemand an mich denkt. Doch nur fremde Menschen, die sich für den Musikalischen Sommer empfehlen wollten, riefen an. Ein Herr pries in öliger Freundlichkeit das „David-Oistrach-Ensemble“ an. „Aber David Oistrach liegt seit bald dreißig Jahren auf dem Gottesacker!“ rief ich ganz erschrocken aus. „Wer aber liegt dann seit fast dreißig Jahren auf dem Friedhof?“
Eine Sekretärin hatte Buz die dringliche Bitte um einen Rückruf auf Band gesprochen, aber als ich hilfsbestrebt zurückrief, war immer besetzt. „Wahrscheinlich telefoniert sie mal wieder mit der Frau Kuschmelka!“* dachte ich weit hergeholt, und stellte das Gespräch im Geiste sogar nach, damit ich weiß, wann es fertig ist.
*Telefonierfreundin einer Sekretärin in Gerhard Polts „Kehraus“
„Ich nehm Blumentopferde!“
„Ja“
„Mhm“
Am Nachmittag war es immer noch besetzt. „Ich will mich jetzt mit der Sekretärin befreunden!“ nahm ich mir vor.
Heute hatten zwei individuelle Geburtstagsbriefe an die Zwillinge Hinnerk und Friedel absolute Priorität, und außerdem war das Briefabo für die Simone fällig, zumal von mir selber der Vorschlag gekommen war, für jeden verspäteten Abotag einen Euro in die Aboverspätungskasse zu legen; und es wäre doch wohl ein Unding sondergleichen, ausgerechnet dieses Abo mit dem leicht schwäbisch klingenden Vorschlag verspätet einzuwerfen.
