Ein Mann mit Abitur - Franziska König - E-Book

Ein Mann mit Abitur E-Book

Franziska König

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Beschreibung

Roman eines Monats März 2004 Wieder ein Monat im Leben einer Geigerin, aus dem sich mehrere Themen herauskristallisiert haben. Reisen nach Wittstock, Hof und Schleswig-Holstein bestimmen den Monat März. Begegnungen. Und was hat das Bild auf dem Titelblatt zu bedeuten? Das erfährt der Leser wenn er geduldig weiterliest. Und warum heißt das Buch so wie es heißt? Das erfährt er gar ein wenig eher.

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Seitenzahl: 199

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für meinen lieben Onkel Hartmut als Bettlektüre in Peru gedacht

Franziska (Kika) im Jahre 2004 mit ihrer geliebten Violine

Aus dem Leben einer Geigerin

Die meisten Vorkömmlinge finden sich im Personenverzeichnis am Ende des Buches

Hier die Familie vorweg:

Opa, Dichter, Denker und Rentner in Österreich (*1909)

Oma Mobbl, Pianistin und Ehefrau des

Vorhergehenden (*1910)

(Die Großeltern mütterlicherseits)

Oma Ella, Großmutter väterlicherseits in

Grebenstein (*1913)

Buz (Wolfram), unser Papa (*1938) Professor für

Violine an der Musikhochschule in Trossingen

Rehlein (Erika), unsere Mutter (*1939)

Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)

Lindalein, (*1973) unsere Kusine aus Amerika, die

von 1997 bis Anfang 2000 bei uns in Europa lebte

Ein Buch ohne Vorwort. Du kannst gleich anfangen zu lesen…

Inhaltsverzeichnis

März 2004

Montag, 1. März

Dienstag, 2. März

Mittwoch, 3. März

Donnerstag, 4. März

Freitag, 5. März

Samstag, 6. März

Sonntag, 7. März

Montag, 8. März

Dienstag, 9. März

Mittwoch, 10. März

Donnerstag, 11. März

Freitag, 12. März

Samstag, 13. März

Sonntag, 14. März

Montag, 15. März

Dienstag, 16. März

Mittwoch, 17. März

Donnerstag, 18. März

Freitag, 19. März

Samstag, 20. März

Sonntag, 21. März

Montag, 22. März

Dienstag, 23. März

Mittwoch, 24. März

Donnerstag, 25. März

Freitag, 26. März

Vor vielen Jahren

Samstag, 27. März

Sonntag, 28. März

Montag, 29. März

Dienstag, 30. März

Mittwoch, 31. März

März 2004

Montag, 1. März

Weißgrau bewölkt und unauffällig

Mir träumte, daß ich mir bereits ein klares Unterrichtskonzept für den nächsten Schüler zurechtgelegt hatte: 15 Minuten lang Fingeraufklappübungen, 15 Minuten Vorspielpraxis - und in den letzten 15 Minuten „Spaß & Spiel.“

Mit diesem sorgsam ausgetüftelten Plan betrat ich Rehleins Unterrichtszimmer und wartete auf den ersten Schüler, der alsbald kam. Er grüßte kurzangebunden, packte die Geige aus und begann mit verdrossener Miene loszuspielen. Auch ich hörte mit verdrossener Miene zu und ließ, nachdem der letzte Ton verklungen war, ein beredetes von unerhörbaren Seufzern durchsetztes Schweigen erklingen.

„Immer muß ich nur ernste Musik spielen. Nie loben Sie mich!“ gab sich der Schüler übellaunig.

„Ich lobe dich, sobald du das erstemal grandios gespielt hast, so daß kein Auge trocken bleibt!“ sagte ich, wie ich hoffte, pädagogengerecht, „aber ich fürchte, da muß ich lange warten!“

An dieser Stelle tönte der Wecker, und auf ein Lob von mir wartet der Schüler noch heute.

Alsbald zückte ich meine Violine, da sich ja nun, nach Wochen des Müßiggangs, das Konzert in Wittstock im Sauseschritt auf mich zubewegt.

Auch Buz hatte den Monat März mit frischem Schwung und voll guter Vorsätze begonnen. Der Erste war bereits, und dies im wahrsten Sinne des Wortes, „im Kasten“: Der süße Schatz hatte sein Bett gemacht und nun erbot er sich, Baguett-Brötchen holen zu gehen, da dies seine größte, wenn nicht sogar einzige Stärke im Haushaltlichen sei: für ofenwarme Semmeln am Frühstückstisch zu sorgen.

In der Bäckerei ist Buz wohlgelitten, da er immer ein freundliches Wort oder auch ein Späßlein für die Verkäuferin auf den Lippen bei sich führt. „Bargeldbrötchen!“ scherzte Buz in einfachem hessischen Humore, verschwand, und tauchte bald wieder daheim auf.

Es lief Bruckners Nullte. Die schöne Musik gefiel Buzen außerordentlich, und wie schon so oft fand er die wahren Worte für den verstorbenen Tondichter: „Das kann man so lassen!“

Apropos Dichter: Rehlein erzählte, daß sie gestern von Onkel Dölein gehört habe, sein Sohn David plane, Dichter von Beruf zu werden. Das fanden wir sehr interessant.

„Schriftsteller oder Rohrabdichter?“ warf ich scherzend in die Frühstücksrunde, aber nein – der David ist ein sehr tiefsinniger junger Mann geworden der, ähnelnd dem Opa, immer ein Notizbuch bei sich führt, falls ihm unterwegs ein Reim oder gar ein kleines Gedicht einfällt.

Zur Zeit schaut Buz bleich und hübsch in einem aus.

Nach dem Frühstück wollte er mir eine Pädagogikstunde erteilen, auf daß ich die Kunst des Unterrichtens lerne.

Zu diesem Zwecke imitierte er weing später einen Schüler, der sehr schülerhaft den zweiten Satz von Händels F-Dur Sonate interpretierte. Ich wusste gar nicht, wo man den pädagogischen Hebel ansetzen solle, doch Buz erklärte mir, daß dieser imaginäre Schüler gar keinen Saitenwechsel beherrsche, und wie diesem Übel mit zwei Handgriffen beizukommen sei. Etwas, das ich nicht bedacht hatte, und in meiner pädagogischen Hilflosigkeit und hinzu vor Publikum hätte ich gewiss etwas Weithergeholtes über die Körperbewegung zusammengefaselt, und mich dabei völlig verfranzt, wie ich Buz nun lachend erzählte. Zum Bogen solle ich sagen: „Du drückst auf die Stange, statt mit der Stange auf die Saite! Drum klingt es auch so wüst, daß sich so manch sensible Seele die Ohren zuhalten möchte.“ Einmal gab ich mitten in Buzens pädagogische Ausführungen hinein einen ganz erschrockenen „Huh“ruf von mir: Die Uhr zeigte bereits 11:14 und schon wieder hatten wir die „Lindenstraße“ verpasst.

Kurz vor dem Mittagessen spielten Ming und ich eine kleine Tafelmusik: Eine Sonate von Heinrich Ignaz Franz Biber.

Es gab einen Gemüseeintopf und ich las eine chinesische Geschichte auf chinesisch vor.

Es raschelte im Vorraum. Der Briefträger hatte die Post eingeworfen, und ich war so fassungslos, daß lediglich zwei identisch ausschauende Motorzeitschriften gekommen waren, daß ich vor lauter Kummer und Enttäuschung ganz lange nicht weiterarbeiten konnte.

Eigentlich sollte es in Flensburg auch Punkte für schlechtes Benehmen geben. Zum Beispiel dafür, wenn man seine Briefe nicht beantwortet. Dann bekommt man zu seinem Schrecken einen Brief worin zu lesen steht, daß man bereits zehn Punkte hat, da man fünf Briefe nicht beantwortet habe. Die Sanktionen für zehn Punkte könnten folgendermaßen ausschauen: Entweder eine Auspeitschung, oder 14 Tage verschärfter Kerker.

Wenigstens war von Herrn Nemec aus Lingen eine Mail gekommen, und ich schrieb ihm, der davon sprach, ungeachtet seines hohen Alters von mittlerweile 81 Jahren zum Konzert nach Cloppenburg zu kommen, recht lustig zurück.

„Ich würd ja lachen, wenn Sie der einzige Hörer wären!“ schrieb ich grad so, wie der Opa mal gelacht hätte, wenn Ming aus Schweden eine Schwedin mitgebracht hätte. Dann schwärmte ich Rehlein vor, wie Herr Nemec immer drum bemüht sei, das Alter hinauszusperren und ein gänzlich normales Leben zu führen – so, als sei er vielleicht 47 Jahre alt.

Im gesegneten Alter von 67 Jahren war Herr Nemec nochmals Vater geworden, und durch dieses späte Glück war er gezwungen, jugendlich zu bleiben.

Am Nachmittag schickte ich mich an, den Fitnessklub zu besuchen, und radelte los.

Auf dem Friedhof drohte ich im Morast zu versinken, und bekam demgemäß hochmorastige Schuhe.

Im Klub „raste“ ich 14:20 Minuten lang auf dem Laufband.

Als ich losgefahren war, hatte mir Rehlein noch besorgt nachgerufen, ob das wohl gut sei, wenn ich immer so viel rase?

„Ich rase doch bloß in Anführungszeichen!“ hatte ich meine liebe Mama beruhigt. Im Alltag mag dies stimmen, doch das Rasband kennt da leider keine Gnade.

Traditionell werden die guten und erfahrungsdurchtränkten Ratschläge der Älteren von den Jüngeren gern mit einer Handbewegung zur Seite gewischt, und so hatte ich noch hinzugefügt: „Für mich ist´s rasen – für ander schlicht ein hoppeln, mehr nicht!“

Auf dem Heimweg traf ich in der Zeitungsgasse auf Pastor Rübel, den „Prometheus“, wie er sich nennt, seitdem er uns einmal eine Fuhre mit selbstgehacktem Holz vorbeigebracht hat. Er stak in einer grünen Tankwartslatzhose, die sein Wohlstandswamperl noch zu unterstreichen schien. Seit der guten Tat wirkt er auf mich so, als wolle er sich die ganze Zeit voller Eigenlob auf der Brust herumtrommeln.

Er müsse noch viel Holz hacken, da er sich ständig über seine Frau aufregt, erläuterte er schelmisch.

Herr Rübel war so fröhlich, dieweil er sich auf seinen Geburtstag freut, wo ich als Geigende mit seinem Enkel Lennart in Konkurrenz treten müsse.

Seine ewig kränkelnde Ehefrau, eine äußerst gepflegte Dame mit Pagenkopf, stak derweil in der Rückengymnastik.

Daheim duftete es wie immer köstlich: Rehlein hatte Plätzchen gebacken. Sogar der süße Ming beehrte uns als Gast. Beinahe hätte ich rehleingleich das Positive übersehen, und es nicht einmal erwähnt, daß Ming nämlich a) das Duschhäusl reparierte und b) unsere quietschenden Türen ölte; doch zu meiner Ehrenrettung muss gesagt werden, daß die Gelobten nur selten auf die lobenden Worte einzugehen pflegen, so daß dem Lobenden die Freude am loben mit der Zeit vergeht.

Abends probten Ming und ich den ersten Satz von Brahms´ A-Dur Sonate unter Buzens pädagogischer Fuchtel, und ich gab mir größte Mühe, mir alles zu merken.

Hernach riefen wir Mings ehemalige uneheliche Schwiemu, die Omi Inge an, da ja der Opa Rudi seit heut im Auricher Spital liegt und morgen früh um Punkt sieben Uhr mit dem Krankenwagen ins Herzzentrum in Oldenburg-Kreyenbrück gebracht werden soll. Zwei etwas dilletantisch eingebastelte Herzschrittmacher warem ihm wieder herausgeeitert und es heißt, sein Herz sei alt und porös geworden. Mit nur 77 Jahren rieselt für den armen Opa so allmählich die Uhr aus, zumal es ja schon in der Bibel heißt, das Leben währet 70 Jahr und wenn´s hoch kommt, so sind es 80. Doch niemand will dies wahrhaben, und wie eine ganz liebe Enkeltochter, die sehr an ihrem Opa hängt, sagte ich zur Omi: „Ich hoffe, daß er noch ganz, ganz, ganz lange lebt!!!“

Und dies hoffte ich wirklich. Opa Rudi sieht aus wie Tschaikowski, und zusammen mit Herrn Berke, der seinerseits wiederum aussieht wie einst Johannes Brahms, fühlt sich Aurich für mich an wie eine Musikstadt - ein Kulturzentrum erster Güte. Bei fast allen Leuten, die ich kenne hoffe ich, daß sie noch lange leben - und nur bei einer hoffe ich dies nicht: mir selber.

Als Ming sich am Abend verabschiedete, philosophierte ich im Flur noch herum, daß wir global gesehen unwichtig wie vereinzelte Strumpfbandnattern seien.

Dienstag, 2. März

Weißgrau und unauffällig bewölkt

Ich erhob mich äußerst früh, so daß ich vom Gefühl her den Tag als Frühgeburt betrat - so wie andere vielleicht das Leben. Unser Anbau, worin es stets so wohlig warm ist, verwandelte sich in einen Inkubator, und ich betrat ihn im Bestreben tagestauglich nachgebrütet zu werden.

Vor dem Einschlafen gestern fühlte ich meine verzogene und unangenehm muskelverkaterte Hüftpartie doch sehr, und nun fühlte ich sie auch. Man sitzt auf dem Sitzklos und das Gehirn rechnet aus, wie man wohl welche Bewegung vermeiden könnte.

Schon wieder musste Buz wegen seiner diffusen Herzprobleme nüchtern zum Spital pilgern, und so frühstückte ich mit Rehlein allein und genoss die wohltuende Aura meiner lieben Mama unendlich.

Alles was Rehlein erzählt wirkt so verbindend. Man möchte jeden Satz gleich dreimal unterstreichen, so sehr spricht er einem aus der Seele.

Nach einer Weile war Buz wieder da und beugte sich, auf dem Sofa sitzend, in ein Kreuzworträtsel hinab. Genaueres hat man von Buzen leider nicht erfahren können, bloß, daß er die Oma Inge getroffen habe, dieweil doch heut morgen um sieben der Opa Rudi vom Auricher Großklinikum aus mit dem Krankenwagen nach Oldenburg gefahren wurde. Sogar sein Sohn Heiko sei um diese frühe Morgenstund bereits zugegengewesen, dieweil es doch um das Familienoberhaupt ging.

Bezüglich des unvermeidlichen Endes vom Opa Rudi, bzw. „Opa Wald“, wie er gelegentlich genannt wird, weil er im Walde lebt - wenn nicht jetzt, so doch wohl spätestens in einigen Jahren - begleiteten mich gemischte Gefühle. Ich dachte mich in den armen Opa hinein, wie er – alt und weißhaarig geworden – im Herzzentrum zu sehr ernsthaften Untersuchungen eingeliefert wird.

„Ihr Herz ist alt und porös. Die Zeit läuft ab - wie sieht es mit ihrem Testament aus?“ frägt der Oberarzt mitfühlend und schaut zu diesen Worten ganz bekümmert aus.

Neugierde, aber auch eine gewisse fassungslose Freude, die Ziellinie, an die man zeitlebens „nicht einmal denken durfte“ vor Augen zu haben; aber auch das unglaubliche Frühjahrsputz-Elends-Gefühl beim Gedanken, wie sich das Haus im Wald wohl anfühlt, wenn der Opa nicht mehr da ist? Vor meinem geistigen Auge wurde das Wohnzimmer der Familie bei diesem Gedanken ein bißchen unscharf und wirkte gar nicht mehr richtig real, sondern bloß mehr wie eine Erinnerung.

Mein Arbeitssystem habe ich angesichts der Fülle an Konzerten, die vor mir liegen, ein bißchen modifiziert, so daß beim Auslosen fast nur noch Übeinheiten drankommen, dieweil fast nur noch Übeinheiten auf der Ausloseliste stehen. Einmal kam allerdings doch „Briefeschreiben“ dran, und ganz spontan schrieb ich dem Pfarrer Wulff zu seinem heutigen 54. Geburtstag. Etwas, das gar nicht so einfach war, da der Geistliche - leicht verwachsen und halb zwergenwüchsig - durch viele Schicksalsschläge sehr empfindsam geworden ist, so daß alles, was man ihm schreibt seltsam und doppelbödig klingt. Sogar meine Zeichnungen wirkten in den Sinnen des Geistlichen in mir leicht seltsam. Sie wirkten so, wie wenn die Dame Gerlind mit lahmen Gefühlen irgendetwas Überschwengliches hinschreibt.

„Oh, wie schade, daß wir uns nicht sehen!“ und in Wirklichkeit ist sie doch bloß todfroh, daß sie ihre Ruhe hat.

Meine Zeichnungen: Menschen mit langen, verformten Nasen. „Will sie sich über mich lustig machen?“ denkt da der Geistliche in mir, „oder will sie mich vielleicht trösten, daß es auch noch andere hässliche Menschen gibt, die für das Auge eine Beleidigung sind??“

Dann erlebte ich eine Freude: Veronikas Schwester hatte geschrieben. Die Veronika hatte ihr mein Abo kopiert, worin zu lesen stand, daß ich meinem alten Bekanntenkreis böse bin. Sogar der Schwager Alfonse war dazu angeheuert worden, mir zu schreiben, und hatte sich um einen sehr aussagekräftigen Brief bemüht, worin er sich über die Literatur ausließ, mit der er sich zur Zeit beschäftige; und sogar ein paar Zitate von Goethe und Schiller schrieb er nieder. Ich war gerührt!

Buz witterte einen pädagogischen Braten in mir und spitzte bereits auf eine Violinlektion, die alsbald im Ashram abgehalten wurde. Es ging um technische Finessen, und ich stellte mir vor, wie in Buzens Hirn eine CD-Rom installiert ist, die sich zu seinen Worten dreht, und daß man diese CD theoretisch genauso gut auch in meinen Kopf hineinschrauben könnte. Dann wäre ich so klug wie Buz!

Sogar am Todeslauf in den Zigeunerweisen feilten wir. Es ist, als wolle man den dreifachen Lutz auf dem Eis proben. In langsamem Tempo kann man ihn leider nicht üben.

Rehlein kochte in der Zwischenzeit etwas Köstliches: Chinoa und Gemüse.

Ich glaubte zu wissen, daß der Opa Rudi in Aurich geboren sei. Ob man die Zeitung vom Februar 1927 anfordern solle, um sie nach seiner Geburtsanzeige zu durchforsten?

Hurra! Der Storch hat uns einen kleinen Opa Rudi gebracht!

Wieder dachte ich an Opas Babyalbum in Ofenbach aus dem Jahre 1909, das mit der liebevollst gestalteten Geburtsanzeige beginnt:

Unser liebes Söhnchen!

(Es folgt eine Fotografie, die den ofenfrischen kleinen Opa auf einem Eisbärfell zeigt)

In unendlicher Freude und Dankbarkeit geben die Eheleute Margarethe und Alexander Rothfuss die Geburt eines Knäbleins bekannt!

Mittags warf Rehlein den Ofen an. Helle Flammen loderten auf. Der Raum füllte sich mit Wärme; doch im Angesicht züngelnder Flammen muss ich augenblicklich an den Pfarrer Günther denken - einen Geistlichen aus Falkenstein, einer kleinen Stadt im Vogtlandkreis - dessen Leben als kleines Aschehäuflein endete.

Mitten in meine Gedanken hinein drehte Rehlein den Fernseher an. Es lief „Discovery“, eine Serie für interessierte Menschen wie Ming und Rehlein: Heut über Kälte, Kälteschocks und Erfrierungsvorkömnisse. Zum Beispiel über ein Kleinkind in Amerika namens Erica, das 1901 in den Schnee krabbelte und schockgefrostet wurde. Doch das Kleinkind überlebte.

Schließlich radelte ich zur Ostfriesischen Landschaft. Sorgsam kopierte ich die Noten für meine verschiedenen Organisten und fand sogar eine gewisse Befriedigung in dieser Arbeit. Ich stellte mir vor, ich sei Frau Kettler die, gewissenhaft und umständlich um die Einhaltung ihrer Rituale bemüht, Noten für ihre Studenten kopiert.

Bei jeder lästigen Tätigkeit stelle ich mir vor, ein Anderer zu sein, dem diese Tätigkeit besser liegt als mir.

Aufgeschäumt durch die sinngeschwängerte Tätigkeit hatte ich auch gar keine große Lust mehr, das Zentralcafé aufzusuchen. Ich tat´s aber trotzdem und las zum Beispiel über Deutschlands älteste Drillinge, die ihren 90. Geburtstag feierten (270 gebündelte Schicksalsjahre, wenn man so will). Drei neckische alte Damen: „Was der Heesters schafft, schaffen wir noch lang!“

Auf dem Heimweg kaufte ich mehrere Tafeln feinster Mandelschokolade, die ich auf das Kopfkissen von Rehlein und Buz bettete, weil ich gern verwöhne. Und bei dieser Tätigkeit stellte ich mir wiederum vor, ich sei Insas amerikanischer Ehemann George, ein Herr, der sehr gerne verwöhnt, um den immensen Altersunterschied zu seiner Gattin von sage und schreibe dreißig Jahren, durch Verwöhnereien ein wenig zu kompensieren oder gar zu komprimieren.

Und somit erzählte ich Buz ein paar Geschichten vom George, um dem George-Bildnis in seinem Inneren Kontur zu verleihen: Nicht einmal vor Georgens Exe Gisela machte ich in dieser Erzählung Halt. Sie sei ungeheuer alternativ und habe früher gerne Hasch geraucht. (Typus einer Wasserleiche in JESUS-Latschen).

Ich fand die Geschichte ansprechend, doch ob sie bei Buz so recht ankam?

Ming und ich interpretierten die beiden letzten Sätze von der Brahms Sonate; Buz lauschte dem Geschehen und griff hie und da pädagogisch wertvoll ein. Mich stresste es ein wenig, andauernd unterbrochen zu werden, auch wenn ich Buz so künstlerisch fand. Aber auch mein Spiegelbild stimmte mich äußerst unfroh: „Ein gilbendes, älteres, abgewirtschaftetes Frauenzimmer, das Brahms spielt. Was soll das?“...mag es dem Sinne nach in mir gedacht haben und auch Ming schaute so abgegriffen, müd und fast ein wenig verdrossen aus, auch wenn er zur Zeit sehr nett ist. Nur wenn Rehlein ihn bei den Mahlzeiten gelegentlich mit seinem Julchen neckt, wird Ming leicht mimöschenhaft, wie zu Pubertätszeiten. Sogar ich sagte mal: „Stimmt! Sooo glücklich schaust du eigentlich nicht aus!“ Doch dann wirkt Ming immer ganz erloschen: „Ich bin glücklich!“ sagt er störrisch. Natürlich hätte sich eine normale große Schwester noch viel mehr Schnippischkeiten erlauben dürfen. Doch Ming gegenüber erlaubt man es sich nicht.

Beim Abendessen sprachen Ming und Rehlein darüber, daß ich mal ein Erotik-Seminar besuchen solle, und beim Wörtchen „Erotik“ schaute Buz, der soeben in der „Brigitte“ gelesen hatte, interessiert auf. Auf diese Idee war man aus jenem Grunde gekommen, weil Mings Kinder - sollte er sich tatsächlich eines Tages mit der Julia fortpflanzen - ansonsten gar keine Vettern und Kusinen hätten!

Ming redete sehr ernst und reif über die Julia, die gar nicht weiß, was sie machen soll, dieweil sie jetzt schon ihr zweites Studium schmeißt. Aber auch unser Vetter David in Übersee habe sein Studium geschmissen, wusste Rehlein zu berichten. Sobald die ersten Hürden aufscheinen, schmeißen die jungen Leute ihr Studium!

Wieder gab es Rehleins köstliche Avocado-Krem die man sich aufs Brot schmieren kann. Ein Hochgenuss für den Avocadofreund. Ich stellte mir vor, wie Ming nach seinem Sinologiestudium eine eigene Sendung im chinesischen Fernsehen bekommt. „Ming dsai yi-diän dsong“ „Ming um eins“.

Rehlein spricht ständig davon, daß die Müllers uns mal besuchen kommen sollen, doch Ming legt wohl keinen übermäßigen Wert darauf. Die Müllers seien sehr locker und unkompliziert, und Ming hat Angst, Rehlein als Dame vom alten Schlage könne Dinge sagen wie beispielsweise: „Machen wir es offiziell?!“ (in theatralischem Gebaren).

Mittwoch, 3. März

Leicht dunstig. Ganz gelegentlich verquollener Sonnenschein, der die Laune allerdings nicht sonderlich zu erhellen vermochte

Heut musste ich Buz bereits um acht Uhr zu seinem schon obligat zu werden drohenden Arztgang wecken. Leider weckte ich ihn nur etwas unpersönlich von der Türe aus, weil ich so müde war und mich sofort ins Bett zurückziehen wollte. Dort aber träumte ich verdrießlich: daß Buz Rehlein verließ. Buzens Schwiegerschüler Arno hatte noch eine leerstehende Wohnung in Graz, und dort wollte Buz hinziehen. Erschüttert wachte ich auf, und wie schon so oft, durfte man nun in Erleichterung baden, daß es nur ein Traum gewesen war. Doch das freudige Erleichterungsgefühl währte nicht übermäßig lang, so wie Freuden generell nie übermäßig lange währen, denn theoretisch - wenn es einem gefiele - könnte man ja den Rest des Lebens in einem warmen Wannenbad verbringen. Dies jedoch tut man eben doch nicht, da das Glück bald abzuebben pflegt, um der Verdrießlichkeit, die einen von früh bis spät umgibt, den Part der ersten Violine zu überlassen.

Eine Freude in meinem derzeitigen Leben ist, daß morgen die Gitta zu Besuch kommt, und am meisten packt mich die Vorstellung, die geheimnisvolle Frau wie aus einem Chabrol-Film durch Rehleins Sinne kennenzulernen.

Rehlein befand sich allerdings soeben „auf dem Sprung“, um für ihre Lieben Brot zu kaufen.

Einmal rief die Omi Inge an: Mitfühlend erkundigte sie sich nach Buzens Herzproblemen, doch grad so, wie uns niemand etwas Genaues sagt, so kann auch ich niemandem etwas Genaues erzählen.

Die Omi Inge konnte das Herzzentrum in Oldenburg-Kreyenbrück nur allerwärmstens empfehlen. Opa Rudi hatte seine heutigen Untersuchungen bereits hinter sich: Die Adern sind alle komplett frei und der Arzt habe gesagt: „Damit können Sie hundert Jahre alt werden!“ sagte die Inge freudig. „Sind das nicht tolle Neuigkeiten!“

Buz schickte sich an, Brötchen zu holen.

Seitdem es Rehlein ihm einmal aufgetragen hat, holt Buz nun jeden Tag Brötchen, und wenn sie´s ihm verbäte, würde er nie wieder welche holen, da Buzens Gehirn so und nicht anders funktioniert.

„Wo ist denn dein Ührchen?“ fragte Rehlein Buz, der sich soeben die Schuhe zuschnürte.

„Das liegt in der Küche! - Was hat das denn um Gottes Willen in der Küche zu suchen??!“ fügte Buz gleich eine Parodie hintan und sagte es so lustig, daß ich blökend lachte.

Dann hat mans durchs Fenster noch sehen können, wie sich Buz entfernte.

Eigentlich hatte ich gemeint, um elf käme Frau Linke und hatte aus Vorstress gar nichts Gescheites auf die Beine stellen können. Und als sie um 11.08 noch immer nicht da war, machte ich mir schon Sorgen und mutmaßte aufgeregt daran herum, daß da etwas passiert sein müsse. „Oder lag Herr Linke heut morgen tot im Bett?“

Doch dann fiel´s mir ein: Die Rückengymnastik, von der sie mir erzählt hatte, und die die Bratschenstunde um eine dreiviertel Stunde verzögert. Und meine liebe Frau Linke war pünktlich wie immer.

Meist kann ich´s zu Unterrichtsbeginn gar nicht fassen, wie ich die 60 Minuten bloß herumbekommen soll, doch inzwischen habe ich bei Buzen viel Pädagogisches gelernt, und so verwandelte ich das hilflose Gestocher in der Bach-Suite - sprich, jener Barriolage, wo sich der Bratscher in schwindelerregende Höhen hinaufschrauben muss - in eine lebendig engagierte Stunde über den Lagenwechsel. Als Buz vom Spaziergang zurückgekehrt war, nahm er das pädagogische Geschick eifrig in die Hand, so daß Frau Linke zusätzliche 15 Minuten gratis über den Tisch gereicht wurden, auch wenn ich in ihrer Miene zu lesen glaubte, daß sie „Bahnhof“ verstünd. Und dies obwohl Buz sich so wunderbar klar ausdrückte. Frau Linke bekam so viel kostbares Wissen geschenkt, das im Grunde dazu ausreichen würde, sich die gesamte Kunst des Bratschenspiels ein für alle mal untertan zu machen.

Gertrud Hennecke, eine ältere Dame, die noch immer als Sekretärin eines von ihr angebeteten Kirchenmusikdirektors tätig ist, und mit der ich mich aus unerklärlichen Gründen unbedingt befreunden möchte, rief an, und auch wenn der Start unseres Kennenlernens vielleicht ein bißchen holprig war: „Hallo?“

„Wer spricht da bitte?“

„Hier spricht die Franziska König“ (etwas förmlich klingend, da ich meinen eigenen Namen immer nur ungern und verlegen ausspreche), wurden wir tatsächlich dicke Freunde, und Frau Hennecke bat mich um Zeichnungen für die Programmhefte.

Mittags hatte Rehlein wie stets köstlich gekocht. Es gab Würste, Bohnen und ein Spiegelei. Buz benahm sich, wenn auch auf lustige Weise, etwas bockig wie ein Kleinkind: Rehlein dürfe auf gar keinen Fall etwas auf sein schönes Spiegelei draufschöpfen! „Üblicherweise tut man mir immer etwas auf mein Spiegelei!“ sagte Buz, wiewohl er so gerne Spiegeleier ißt, und sich zuvor darin spiegeln möchte.

Nach dem Essen legte sich Buz mit einem Buch von John Irving auf das Sofa im Anbau, und ich brachte ihm eine Decke, um ihn liebevoll einzumurmeln, da Buz doch praktisch über Nacht ein alter Mann geworden ist. Plötzlich sieht man ihn durch die Stadt huschen: Ein Arztbesuch jagt den nächsten, und keiner der Gelehrten scheint Buz helfen zu können. Es ist der Tod seiner geliebten Mutter, der Buzens Gesundheit zerrüttet hat, und da Buz dies niemals zugeben wird, kann ihm auch nicht geholfen werden. Aber selbst wenn Buz es zugeben würde