Einfach nicht hinfallen - Shino Tenshi - E-Book
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Shino Tenshi

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Beschreibung

"Einfach nicht hinfallen" – Verhasst, Teil 2 Die Geschichte:"Einfach nicht hinfallen" ist der packende zweite Band der Verhasst-Trilogie von Shino Tenshi. Nach den tiefen Wunden der Vergangenheit hat Felix einen Funken Hoffnung gefunden. Doch die Schatten lassen ihn nicht los: Alte Feinde kehren zurück, neue Konflikte entstehen, und Felix muss sich seinen inneren Dämonen stellen. Der Verlust von Freundschaften und unverarbeitete Traumata treiben ihn an seine Grenzen. Wie weit würdest du gehen, um dich selbst zu retten? Dieser Teil der Reihe taucht tiefer in die emotionalen Abgründe der Charaktere ein und zeigt, wie schwer es ist, nach einem tiefen Fall wieder aufzustehen. "Einfach nicht hinfallen" ist eine Geschichte über Vergebung, Hoffnung und den unermüdlichen Kampf, die eigene Identität zu bewahren. Besonderheiten von "Einfach nicht hinfallen": Psychologische Tiefe: Felix’ innerer Konflikt zieht Leser:innen in sein Gefühlschaos. Dunkle Themen und Hoffnung: Trotz Schmerz und Verlust bleibt ein Lichtstrahl der Hoffnung spürbar. Charakterbeziehungen: Die Verbindungen zwischen Felix, Marc, Alex und Robert sorgen für emotionale Höhepunkte. Realistische Darstellung von Trauma: Ehrlich und bewegend zeigt der Roman den Umgang mit Verlust und Verrat. Berührende Geschichte: Themen wie Vergebung, Selbstakzeptanz und der Kampf für das eigene Glück stehen im Mittelpunkt. Vergleichbare Geschichten:Fans von "They Both Die at the End" von Adam Silvera oder "All the Bright Places" von Jennifer Niven werden "Einfach nicht hinfallen" lieben. Die Kombination aus intensiver Charakterentwicklung, LGBTQ+-Repräsentation und emotionalen Konflikten erinnert an Werke wie "Turtles All the Way Down" von John Green. Leser:innen, die psychologische Tiefe und bewegende Geschichten schätzen, kommen hier voll auf ihre Kosten. "Einfach nicht hinfallen" ist der zweite Band der Verhasst-Reihe von Shino Tenshi. Felix’ Kampf gegen die Schatten seiner Vergangenheit und seine Suche nach Vergebung berühren tief. Dieser Coming-of-Age-Roman verbindet LGBTQ+-Themen, psychologische Tiefe und eine bewegende Handlung, die unter die Haut geht. Perfekt für Leser:innen, die Geschichten mit Herz und Seele suchen. Jetzt "Einfach nicht hinfallen" entdecken und Felix auf seinem schwierigen Weg begleiten!

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de/ abrufbar.

Druckerei:

Online-Druck GmbH & Co. KG

Eggertstraße 28

33100 Paderborn

Deutschland

Verlag:

Living Oils

Elisabeth Dunker

Münchener Straße 80

84453 Mühldorf am Inn

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte sind dem Autor vorbehalten, einschließlich der Vervielfältigung, Übersetzung, Mikrovorführung, Verfilmung, sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.

Alle Charaktere und Handlungen sind frei erfunden.

1. Auflage 2024

IBAN: 978-3-949750-16-8

©️ Shino Tenshi (aka A. R. Tost)

All rights reserved

Webseite: https://shinotenshi.de/

E-Mail: [email protected]

Instagram: @shinotenshi87

Facebook: www.facebook.com/autorshinotenshi

Cover-Artwork: NadiTwombly

Chibi-Artwork: Suki's Art

Cover & Buchsatz: BinDer Buchsatz Verena Binder

Shino Tenshi

Kapitel 1

Ich saß auf der Couch meiner Eltern und starrte auf meine im Schoß zusammengefalteten Hände. Der Geruch von Kaffee drang in meine Nasen und meine Hände begannen ein wenig zu zittern, als ich tief Luft holte, um meine Worte von vorhin noch einmal zu wiederholen.

„Ich hab es Ihnen schon einmal gesagt. Robert hat mich auf die Brücke bestellt, um mit mir zu reden. Wir hatten in letzter Zeit regelmäßig Schwierigkeiten und er hat versucht, mich in den Selbstmord zu treiben. Darum gab es durchaus sehr viel, worüber man reden musste. Ich hab den Frieden nicht getraut, den er mir verkaufen wollte, und blieb auf Abstand. Er schüttete mir sein Herz aus. Ich schien sein Verhalten langsam zu verstehen, als er sich plötzlich auf die Reling hievte und sich keine zehn Sekunden später nach hinten fallen ließ. Ich weiß nicht, warum er das getan hatte, und ich habe so schnell, wie es meine Verfassung zugelassen hat, den Notarzt verständigt, aber der Fluss gibt nichts mehr her, was er einmal bekommen hat. Das weiß an sich jeder und sicher war es auch Robert klar gewesen. Vielleicht hatte er ihn sich deswegen ausgesucht.“

Die zwei Polizisten vor mir sahen mich ruhig an, während einer alles notierte, was ich sagte. Das Alles wirkte so surreal, dass ich mich immer wieder leicht zwickte, um sicherzugehen, dass es kein Traum war. Es tat jedes Mal weh. Der Selbstmord von Robert lag nun schon zwei Wochen zurück und sie wollten nicht daran glauben, dass es so passiert war. Es gab keinen Brief und auch sonst keinen Hinweis, dass er so etwas vorgehabt hätte. Darum wurde ich verdächtigt, dass ich nachgeholfen hätte.

„Hat man seine Leiche mittlerweile gefunden?“, versuchte ich das Thema zu wechseln und die Polizisten sah sich nur kurz an, bevor der Rechte von ihnen dann den Kopf schüttelte. Erneut war diese kleine Hoffnung in meinem Herzen zurück, die aber von der Verzweiflung niedergerungen wurde.

„Ich bin ehrlich, dass ich nie verstand, warum er sich mir gegenüber so benahm. Dauernd sprach er davon, dass ich sein Leben zerstört hätte. Wahrscheinlich tat ich das wirklich, indem ich ihn unbewusst dazu zwang, sich gegen mich zu stellen, wenn er nicht selbst ein Opfer werden wollte. In seinen Augen hatte ich ihn zum Täter gemacht, derweil wollte ich einfach nur endlich einen Ort haben, an dem ich mich nicht verstecken musste. Ich war dumm und naiv. Dafür musste ich bezahlen und der Preis war viel zu hoch.“

Ich zupfte an dem Verband an meiner Hand und versuchte so, ruhiger zu werden, doch es wollte mir nicht gelingen. Wie gerne hätte ich jetzt Marc bei mir gehabt, doch das ging nicht. Meine Mutter war ihm gegenüber immer noch feindselig und ich war noch nicht bereit, diesen Kampf aufzunehmen. Immer wieder sah ich in meinem Träumen das grinsende Gesicht von Robert, wie es im Wasser verschwand. Warum hatte er das getan? Wir hätten zusammen bestimmt eine Lösung gefunden.

Erneut tauschten die Polizisten Blicke untereinander aus und der Rechte seufzte schwer, bevor er dann nickte. „Okay, ich glaube, dass dies jetzt genug ist für heute. Du bist wahrscheinlich wirklich unschuldig. Viele Selbstmörder greifen überraschend zum Messer und beenden es. Wir hatten schon öfters solche Fälle, wo niemand damit rechnete, es aber einfach wahr war.“

„Haben Sie schon mit Marc gesprochen? Er war dabei und könnte es bezeugen“, sprach ich einen weiteren Aspekt an, doch der Polizist schüttelte den Kopf. „Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Wir kriegen ihn nicht zu fassen. Bist du dir sicher, dass er überhaupt existiert?“

Ich musste kurz verzweifelt auflachen und spürte sogleich den Schmerz in meinen Inneren. Auch auf mich reagierte Marc im Moment nicht mehr. Er kam nicht online, ging nicht ans Telefon und antwortete auf keine SMS. Ich verstand sein Verhalten nicht und hoffte, dass er sich irgendwann wieder bei mir melden würde, oder hatte meine Mutter vielleicht Recht? Hatte er nun bekommen, was er von mir wollte und ließ mich wie eine heiße Kartoffel fallen?

Bei dem Gedanken schlichen sich Tränen in meine Augen. Niemals wollte ich so über Marc denken. Er war immer liebevoll zu mir gewesen. Das sah ihm nicht ähnlich. Es entsprach nicht seiner Natur, mich jetzt im Stich zu lassen.

Unbewusst verstärkte ich das Zupfen an meinem Verband und ich schluckte trocken, als ich merkte, wie der Gips ein wenig abbröckelte. Die gebrochene Hand und meine Erinnerungen waren das Einzige, was mir von Robert geblieben waren. In zwei Wochen wäre er aber ebenfalls weg und dann hätte ich nichts Greifbares mehr von ihm.

„Haben Sie noch Fragen an mich? Ich hätte nämlich bald eine Verabredung und müsste los.“ Ich sah die Polizisten mit großen Augen an und erneut tauschten sie Blicke aus, bevor der Schreiber dieses Mal den Kopf schüttelte, dennoch wandte sich wieder der Gleiche an mich. Hatten sie so eine strenge Arbeitsteilung?

„Nein, das war es erst einmal. Sei einfach für uns erreichbar, falls sich doch noch eine Frage ergibt.“ Sie standen auf, nachdem ich ihnen das versprochen hatte, und sie reichten mir die Hand, um sich von mir zu verabschieden. Es war ein seltsames Gefühl, wieder alleine im Raum zu sein. Die leeren Kaffeetassen standen noch auf dem Tisch und ich hörte meine Mutter in der Küche.

Alles in mir schrie danach, mich an ihre Brust zu werfen und zu weinen. Doch ich stand auf und ging in den Flur, um mir Schuhe und Jacke anzuziehen. Mit einem kurzen Abschiedswort verschwand ich dann aus der Tür, um mich mit Alex und Leon zu treffen …

„Da bist du ja.“ Alex lächelte mich breit an. Wir trafen uns an dem kleinen Springbrunnen in der Mitte der Innenstadt. Leon lehnte leicht gegen den Beton und sah mich mit vor der Brust verschränkten Armen an. Ich wusste, dass er ein Freund von mir war, dennoch blieb die Angst, dass er sich eines Tages gegen mich stellen würde, präsent. Vor allem wenn er so ablehnend wie jetzt dastand.

„Ja, tut mir leid. Die Polizei war wieder bei mir.“ Ich seufzte schwer und umarmte Alex kurz zur Begrüßung, bevor ich Leon zunickte. Er lächelte kurz und erwiderte die schlichte Geste, bevor Alex wieder meine Aufmerksamkeit forderte. „Echt? Können sie dich nicht bald mal in Ruhe lassen? Sie waren jetzt schon dreimal da. Was hoffen sie denn, zu finden?“

„Einen Beweis für meine Schuld“, beantwortete ich ihm die Frage und er sah mich entsetzt an, bevor er dann schon aufbrauste: „Deine Schuld?! Du bist nicht schuldig! Marc kann das doch bezeugen! Wieso solltest du?! Warum?! Wie kommen die auf den Blödsinn?!“

Ich musste wieder auflachen und Leon legte Alex beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Sie werden nichts finden, wenn Felix unschuldig ist. Da können sie noch so lange bohren, wie sie wollen. Wo kein Öl ist, kann man auch keines finden.“

Wie gerne würde ich die Ansicht von Leon teilen, doch ich hatte Angst, dass doch plötzlich ein Beweis auftauchte. So rein zufällig. Ich schüttelte den Kopf. Nein, so durfte ich nicht denken. Das war totaler Blödsinn. Die Polizei arbeitete fair und es war nun einmal Selbstmord. Da führte kein Weg daran vorbei.

„Haben sie Marc nicht befragt?“, durchbrach die Stimme von Alex wieder die Stille und ich schüttelte kurz den Kopf, bevor ich meine Schultern hängen ließ. „Er ist seit dem Todestag von Robert wie vom Erdboden verschluckt. Ich kann ihn auch nicht erreichen. Derweil könnte ich ihn jetzt wirklich gebrauchen. Hab' ich mich in ihm getäuscht?“

Ich sah meine beiden Freunde flehend an. Leon zuckte nur mit den Schultern und Alex’ Augen füllten sich mit Mitleid, bevor er zu mir trat und mir durchs Haar wuschelte. „Ich hab ihn nur einmal gesehen und er wirkte durchaus in Ordnung. Vielleicht ist er gerade beschäftigt. Bestimmt wird er sich wieder bei dir melden.“

Wie gerne hätte ich diese Worte geglaubt, doch allein die Tatsache, dass nicht einmal die Polizisten ihn fanden, ließ mich an ihnen zweifeln. Es war doch nicht möglich, dass er einfach so verschwand. Was versprach er sich davon? Das machte alles keinen Sinn.

„Marc war dabei gewesen, oder?“, fragte plötzlich Leon und ich sah ihn irritiert an, bevor ich dann zögerlich nickte und das Lächeln auf den Lippen des gutmütigen Riesen wurde eine Spur wärmer. „Dann ist es kein Wunder. Auch er ist Zeuge eines Selbstmords geworden. Wahrscheinlich sucht er nur einen Weg, wie er damit fertig werden kann. Jeder hat seine eigene Methode, mit schwierigen Situationen zurechtzukommen. Der Eine redet darüber mit Leuten, denen er vertraut, so wie du Felix und die Anderen schweigen und versuchen, es mit sich selbst auszumachen. Dabei verkriechen sie sich meist und sperren die Welt aus. Vielleicht zählt Marc zu dieser Sorte Mensch.“

Die Worte von Leon machten durchaus Sinn. Marc sprach nicht gern über seine Probleme. Selbst die Qualen seiner Vergangenheit gab er nur sehr schwer preis, dennoch waren wir ein Paar. Er sollte mir vertrauen, oder nicht?

„Na ja, irgendwann wird er schon wieder auftauchen. Ansonsten gibt es hier draußen noch viele weitere schöne Kerle.“ Alex legte einen Arm um meine Schultern und drehte mich dann zu der vorbeilaufenden Menschenmenge, wobei er auf den einen oder anderen Jungen deutete. „Wie diesen hier oder den da. Du musst dich nicht nur an einen binden. Schließlich bist du noch jung.“

Ich sah Alex irritiert an und legte dann eine Hand auf seine Stirn. Nein, Fieber hatte er definitiv nicht. Also schien er zumindest ansatzweise bei Verstand zu sein, dennoch konnte ich seine Worte nicht glauben. Das entsprach ihm gar nicht.

„Aber ich liebe weder den einen noch den anderen, sondern Marc. Irgendwann wird er sich bestimmt bei mir melden. Bis dahin werde ich auf ihn warten. Vielleicht kann er mir dann auch erzählen, was in seinem Kopf vorging, dass er sich, ohne ein Wort zu sagen, einfach verpisst hat.“

Leon lachte auf und wuschelte mir durch die Haare, bevor er sich dann vom Brunnen abstieß und auf die Geschäfte zusteuerte. „Das kleine Hündchen kann ja durchaus bissig werden. Wie süß. Aber jetzt kommt endlich. Wir wollten ein wenig shoppen gehen. Filme für den Abend besorgen und Knabbersachen. Oder habt ihr schon Wurzeln geschlagen, sodass ich euch gewaltsam aus der Erde reißen muss?“

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen und wandte mich dann zu ihm um. Alex brauchte ein paar Sekunden länger, um uns zu folgen, doch auch er schloss mit einem leichten Lachen zu uns auf. „Dass du so grob wärst, uns einfach unsere wertvollen Wurzeln auszureißen, hätte ich jetzt nicht gedacht.“

„Scheinbar musst du auch noch das ein oder andere über mich lernen, Alex. Alleine einkaufen, macht einfach keinen Spaß und erst Recht kein einsamer Filmabend. Darum müsst ihr mitkommen, ob ihr nun wollt oder nicht. Ich könnte mir zwar neue Teilnehmer suchen, aber euch hab ich schon so gut erzogen. Das wäre einfach zu viel Aufwand.“

„Oh, wie gnädig, dass du uns bei dir wähnst nur der Faulheit wegen. Da können wir uns ja beruhigen. Ich wusste gar nicht, dass du so träge bist. Sieht man dir gar nicht an.“ Alex stupste Leon frech in die Seite und dieser grummelte dann dunkel.

„Erziehung ist lästig. Das hebe ich mir für meine Kinder auf und muss es definitiv nicht öfter als nötig machen. Bei euch zwei hat es mir schon gereicht und deswegen werde ich nun versuchen so viel Nutzen wie möglich daraus zuziehen.“

„Du hast uns erzogen?“ Alex lachte erneut auf und ich musste ebenfalls lächeln. Die zwei waren angenehm zusammen. Man merkte, dass sie einander wirklich schätzten. Das war etwas, was ich mit der Zeit richtig zu würdigen lernte.

„Ja, hab ich.“

„Nein, hast du nicht. Ich habe dich erzogen. Vor mir warst du ein kleines Weichei. Schon vergessen?“

„Ist gar nicht wahr! Ich war nur nicht so stark wie jetzt, aber ich habe mich gebessert. Du dagegen bist immer noch so schwach wie damals. Wer ist hier also das Weichei?“

„Öhm … du?“

„Alex!“ Der Genannte begann darauf lautstark zu lachen. Der Blick von Leon war auch gerade mehr als göttlich. Mit so einem Konter hatte er wohl nicht gerechnet.

Auch wenn er gerade ein wenig perplex dreinsah, legte sich im nächsten Moment ein Lächeln auf seine Lippen und wir begannen schließlich unsere Einkaufstour. Am Abend wollten wir uns dann bei Leon treffen, weil seine Eltern gerade nicht da waren und wir dadurch in Ruhe ein paar Filme schauen konnten.

Die zwei hatten in den letzten zwei Wochen alles getan, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Meistens schafften sie es auch, doch in solchen Momenten, wo sie nur miteinander beschäftigt waren, kam sein Lächeln zurück. Wie es verschwand und mich beschlich das Gefühl, dass eine eiskalte, nasse Hand an meinem Bein empor glitt.

Robert war tot. In einer Woche würde man ihn beerdigen. Einen leeren Sarg. Lächerlich. Aber die Hinterbliebenen brauchten einen Ort, an dem sie sich ihm nahe fühlen konnten. Das Kreuz am Fluss wurde schon in der ersten Woche aufgestellt. Niemand glaubte daran, dass er noch lebte.

Ich schluckte trocken und starrte auf die Rücken der beiden, wie sie vor mir durch die Reihen gingen. Sie sahen einander an und ich fühlte mich alleine. Ich wusste nicht einmal, woher diese Empfindung kam, doch sie wirkten so perfekt. Ihre Leben wurden nicht getrübt und sie konnten lachen. Einfach nur aus tiefsten Herzen lachen.

Ich stoppte, als meine Hände zu zittern begannen und ich sie ineinander krallte. So gut wie es zumindest mit dem Verband ging. Sie waren mittlerweile bei den Filmen angekommen und ich verspürte kurz den Drang zu gehen, als ihre Unterhaltung stoppte und sich Alex zu mir wandte. Er sah mich fragend an, bevor er dann kurz lächelte und mich zu sich winkte. „Felix? Was stehst du da rum? Komm her und schau dich um. Wir haben sogar schon den ein oder anderen gefunden. Lies sie dir mal durch und sag uns, was du davon hältst.“

Ein Stein fiel von meinem Herzen, als auch Leon mir zulächelte, und ich bewegte mich ruhig auf sie zu. Ja, vielleicht schienen sie zu zweit perfekt, doch auch wenn ich es gerne vergaß, hatten sie noch einen Platz für mich in ihrer Mitte, den sie mir bereitwillig zur Verfügung stellten. Ihr Lächeln galt auch mir und ihre Augen sahen mich. Ich war keine Last, sondern ihr Freund …

Meine Hand verschwand in der Schüssel mit Popcorn, um im nächsten Moment mit Beute aufzutauchen und diese nach und nach in meinen Mund zu schieben. Wir saßen zu dritt auf der großen L-förmigen Couch. Leon lag auf dem breiteren Teil, dann kam Alex und schließlich ich. Wir hatten uns einen Horror, einen Action, eine Komödie und einen historischen Film mitgenommen.

Auf dem kleinen Couchtisch vor uns standen verschiedene Schüsseln mit Popcorn, Chips, Erdnussflips und Erdnüssen, sogar zwei Gläser mit Salzstangen. Um den Tisch herum standen einige Softdrinks. Ja, wir wollten heute einfach nur ungesund leben. Das musste hin und wieder auch mal sein. Nur sein Leben genießen und wissen, dass man nicht alleine war.

Ich rückte mich bequemer hin und konnte nicht verhindern, dass ich mir wünschte, dass Marc nun hier war und ich mich an ihn lehnen konnte, doch er war es nicht. Bevor ich zu Leon gefahren war, hatte ich noch einmal versucht, bei ihm anzurufen. Mehr als die Mailbox erreichte ich aber auch dieses Mal nicht und ich sprach wie immer eine Nachricht auf sie.

Meine Hand wanderte unbewusst zu dem Handy in meiner Hosentasche. Wie sehr wünschte ich mir, dass es einfach nur vibrierte und ich am anderen Ende die Stimme von Marc hören könnte, doch es blieb stumm. Schon seit Tagen. Außer Leon oder Alex riefen mich an, doch die beiden saßen hier und plötzlich zuckte Alex neben mir zusammen.

Mein Blick glitt auf den Bildschirm und ich erkannte nur den Mann, der in seinem Arbeitszimmer saß und sich die Aufzeichnungen von verschiedenen Morden ansah. Ich begriff nicht, warum die zwei zusammengezuckt waren, doch plötzlich war dort ein komisches Gesicht, das sich bewegte, obwohl der Film stand und auch ich spürte, wie sich mein Herz kurz vor Schreck zusammenzog.

Instinktiv griff ich noch einmal nach dem Popcorn, um so die Angst wegzuknuspern. Manchmal half es ganz gut, aber die Atmosphäre in diesem Film verschwand einfach nicht. Sie hing bedrohlich über allen Protagonisten und verteilte sich langsam auch bei uns im Wohnzimmer.

Die Spannung verschärfte sich weiter, als der Junge der Familie immer wieder zum Schlafwandeln anfing und Lärm machte, der auf alles hindeuten konnte, bis man erkannte, dass es nur das Kind war. Der Film fesselte mich mit jeder Minute mehr und ich begann Marc für diesen Zeitraum zu vergessen. Er rutschte ganz weit nach hinten und in meiner Welt existierte nur der Schrecken, der durch die Zimmer huschte und in dem Filmmaterial lauerte.

Selbst als der Film zu Ende war, blieb ein beklemmendes Gefühl auf meiner Seele zurück und obwohl der Abspann lief, sagte erst einmal keiner von uns etwas.

Ich spürte deutlich, dass auch Leon und Alex gerade versuchten, das Gesehene zu verarbeiten, als schließlich die dunkle Stimme von Leon erklang: „Ach du Heilige! Das war krass!“

„Ja“, stimmte Alex ihm zu und auch ich nickte nur kurz, bevor ich das letzte Popcorn in meinen Mund schob.

Ich sah auf die Namen, die über den schwarzen Hintergrund glitten, und versuchte, zu verstehen, was dort gerade passiert war. In solchen Momenten fragte ich mich, ob es so etwas wie Dämonen und Engel wirklich gab oder ob sie nur Hirngespinste von den Leuten aus dem Mittelalter waren. Aber wenn so etwas nicht in irgendeiner Art und Weise existierte, wie kamen die Menschen von damals dann auf diese Ideen.

Warum sollten sie sich so etwas ausdenken? Ein Dämon, der die Kinderseelen befiel, die seine Bilder betrachteten. Ich schüttelte kurz den Kopf und seufzte dann, bevor ich mich in die Kissen der Couch sinken ließ und mein Blick zu meinen Freunden glitt.

„Was meint ihr? Wollen wir jetzt die Komödie anschauen? Ich könnte jetzt ein wenig Auflockerung brauchen.“

„Ja, das ist eine gute Idee. Hoffentlich habt ihr euch bei dem Film nicht getäuscht. Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, was an einem Film, der sich um das Finden von möglichst vielen Vogelarten dreht, komisch sein soll. Aber gut, ihr habt mich damals überstimmt. Ich mach mal kurz noch Popcorn. Alex, leg derweil den Film mal ein.“ Leon erhob sich und nahm die leere Popcornschüssel an sich, um dann damit zu verschwinden.

Alex seufzte neben mir und stemmte sich in die Höhe, um die DVDs auszutauschen. Ich spürte, dass er reden wollte. Es hing einfach in der Luft und ich gab mir einen Ruck. „Schon seltsam, auf welche Ideen die Leute kommen, nicht wahr? Ein Dämon, der durch seine Bildnisse die Seelen der Betrachter befällt und sie dann zu schrecklichen Dingen zwingt. So was gibt’s bestimmt nicht.“

„Wenn du es glaubst. Wie heißt es so schön: Jede Geschichte hat einen Funken Wahrheit in sich.“

Die düstere Musik verschwand und kurz danach liefen die ersten Trailer zu anderen Komödien über den Bildschirm, als er schon zu mir zurückkam und sich neben mir niederließ.

„Aber doch nicht so ein Film! Das ist rein fiktiv und darauf ausgelegt uns Angst zu machen!“, begehrte ich auf und sah das traurige Lächeln von Alex.

„Ja, vielleicht ist es so. Es muss ja nicht der Dämon sein, der die Wahrheit in diesem Film ist, sondern es kann einfach der Fakt sein, wie stark uns die Kunst in der Seele berührt. Vielleicht auch die Tatsache, dass Faszination zu Besessenheit und zu Wahnsinn führen kann. Kennst du die Cube-Filme?“

„Öhm … ich glaube nicht. Normalerweise schaue ich solche Filme nicht.“

Ich zuckte mit den Schultern und Alex lächelte nur kurz, bevor er sich bequemer hinsetzte.

„In ihnen geht es darum, dass einige ausgewählte Menschen in einen Würfel gefangen werden, der aus vielen quadratischen Räumen besteht, die sich immer wieder neu formieren. Manche Räume waren sicher, andere mit Fallen ausgestattet. Der ein oder andere Film könnte durchaus so existieren, weil die Fallen realistisch waren, aber es ging nicht darum, sondern um die Grausamkeit der Menschheit. Wie schnell der Mensch alles tat nur, um selbst zu überleben, aber andererseits in der Gruppe dann solch eine Stärke entwickelt, um sein eigenes Leben für die anderen zu geben. Es ging nicht, um ausgeklügelte Fallen und Menschen auf möglichst spektakuläre Weise umzubringen, auch wenn es auf den ersten Moment so wirkt, genauso wie bei den Final Destination Teilen. Sondern einfach, um die menschlichen Zügen und deren Fähigkeiten in einer Gruppe zu existieren. Final Destination zeigt eher die Unausweichlichkeit des Schicksals und wie machtlos der Mensch in Wahrheit ist. Deswegen mag ich diese nicht so sehr.“

„Du siehst dir gerne solche Filme an, kann das sein?“ Ich sah ihn schräg von der Seite an und er lachte kurz auf, bevor er wieder mit den Schultern zuckte. „Nicht unbedingt. Leon mag sie und er schleppt mich meistens mit. Hast ihn ja gehört, dass er Filme nicht gerne alleine anschaut. So ist das auch mit Kino. Ich weiß nicht, er ist wahrscheinlich einfach nicht gerne alleine unterwegs.“

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Leon, der immer stark und unbeugsam wirkte, war in Wirklichkeit schwach und unsicher, was seine Position in der Gesellschaft anging. Das passte nicht zusammen, aber es zeigte auch wieder, dass der Mensch aus vielen Facetten bestand, die man erst nach und nach entdecken konnte, und wahrscheinlich kannte man seinem Gegenüber niemals wirklich ganz.

Schließlich kam Leon zurück und wir starteten den zweiten Film, der mit jedem Lacher die düsteren Gedanken vom Ersten vertrieb. Es tat gut, glücklich zu sein. Ich fühlte mich wohl und auch Leon lachte hin und wieder. Der Abend war schön und die Filme allesamt interessant. Sowohl der Film über Thor, als auch der historische Film über die Pest, in dem es darum ging, warum ein Dorf verschont blieb. Es war ein angenehmer Abend und seit langem fühlte sich meine Seele mal wieder frei an …

Das Rauschen von Wasser drang an mein Ohr und ich spürte den Wind auf meiner Haut. Es fühlte sich alles vertraut an und als ich meine Augen öffnete, erblickte ich die Regenbogen-Brücke. Der Mond stand hoch am Firmament und ein Schatten beugte sich leicht über das Geländer, um in die Tiefen des Flusses zu sehen.

Ich sah den Menschen an, der dort einsam stand, als plötzlich hinter mir das Lachen von Kindern erklang. Kaum hatte ich mich zu ihnen umgedreht, liefen sie auch schon an mir vorbei, sodass ich mich im Endeffekt einmal um die eigene Achse drehte. Die Kinder schlugen mit Stöcken auf sich ein und lachten dabei freudig. Der Schreck traf mich wie ein Blitz, als ich das Gesicht des einen erblickte und zu erkennen glaubte. Sein blondes Haar wehte unter seinen Bewegungen, während seine grünen Augen den Spielgefährten fixierten.

„Du wirst mich nicht besiegen, Felix. Niemals!“ Der andere Junge hob siegessicher seinen Stock, als er weiter auf die Brücke zueilte und jetzt bewegte sich auch der Schatten auf ihr, doch die Kinder schienen ihn genauso wenig zu bemerken wie mich.

„Das glaubst auch nur du, Robert! Dieses Mal werde ich gewinnen!“ Mein jüngeres Ebenbild ging wieder mit einem Lachen in den Angriff über und trieb den jungen Robert weiter auf die Brücke zu.

„Das ist lächerlich, Felix. Ich war schon immer der Stärkere von uns beiden! Daran wird sich niemals etwas ändern.“ Mit einem gezielten Hieb schlug Robert Felix den Stock aus der Hand und sprang dann triumphierend empor, während sich Felix seine schmerzende Hand rieb.

„Gewonnen!“, jubelte Robert und Felix wandte sich von ihm ab. Ich sah die Tränen in seinen Augen und griff instinktiv nach meiner gebrochenen Hand. Der Sieger schien nicht zu sehen, wie stark er den Verlierer verletzt hatte, denn er war immer noch mit Jubeln beschäftigt. Der andere kämpfte derweil mit den Tränen und drückte verzweifelt die verletzte Hand an seine Brust.

Wieder schien sich der Schatten von seiner Position zu entfernen, doch er blieb nach wenigen Schritten stehen und sah ebenfalls auf die zwei Kinder. Das Jubeln stoppte erst, als ein leises Wimmern zu hören war und Felix sich zusammen krümmte.

„Felix? Was? Was ist los?“ Es war Angst in der Stimme von Robert zu hören, als er zu seinem Freund eilte und besorgt über dessen Schulter sah. Ich konnte nicht verhindern, dass ich ebenfalls meine gebrochene Hand an meine Brust zog und mein Blick erneut zu dem Schatten wanderte. Auch wenn ich ihn nicht erkannte, wusste ich, wer dort stand und ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

„Es tut weh! Es tut so weh! Mach das es aufhört!“ Immer wieder wurde er von einem Schluchzen unterbrochen und ich spürte, dass ich selbst diesen Wunsch oft hatte. So oft hatte ich Robert um Hilfe gebeten, wo er nicht helfen konnte. Wie sollte er mir die Schmerzen nehmen? Er war genauso jung wie ich und wusste auch nicht mehr als ich. In dieser Nacht war es das erste Mal, dass ich diese Hilflosigkeit in seinen jungen Augen sah, dennoch schaute er sich panisch um.

„Keine Sorge, Felix. Ich helfe dir. Warte, hier ist bestimmt etwas.“ Er behielt einen klaren Kopf, obwohl der Glanz in seinen Augen etwas anderes sagte. Seine Füße trugen ihn zum Wegesrand und er begann einige Pflanzen zu pflücken. Jetzt erkannte ich, dass es Sauerampfer war, die er meinem jüngeren Ich zum Essen gab.

„Darauf musst du herumkauen und dann geht es dir gleich wieder besser. Los, wir gehen zu unseren Eltern. Die können uns bestimmt helfen.“ Wieso benahm er sich umso vieles reifer als ich? Das war doch nicht möglich. Wir waren gleich alt und dennoch war er umso vieles erwachsener.

Felix nickte und kaute brav auf den Kräutern. Seine Tränen versiegten Stück für Stück und er folgte seinem besten Freund schließlich. Sie gingen an mir vorbei, doch sahen sie mich auch jetzt nicht. Ich blickte ihnen hinterher und spürte diesen Stich in meinem Herzen. Wieso musste diese Zeit enden?

„Du warst schon immer eine Heulsuse.“ Die Stimme von Robert riss mich herum.

Er stand plötzlich neben mir und lächelte mich nur kurz an. Wieso war er auf einmal bei mir? Warum habe ich ihn nicht kommen hören?

Ich ging einen Schritt zurück und spürte das Holz unter meinen Füßen, bevor ich das Geländer hinter Robert erkannte. Wir standen auf der Brücke, aber das war nicht möglich. Ich hatte mich doch keinen Schritt bewegt.

„Aber weißt du was? Es war mir schon immer egal gewesen. Denn auch wenn du leicht zu weinen angefangen hattest, so konnte man dich auch ganz einfach wieder beruhigen. Ich hab dir immer nur Sauerampfer zum Essen gegeben. Das hat dich meistens schon so weit abgelenkt, dass du den Schmerz vergessen hast. Wahrscheinlich hast du wirklich geglaubt, dass es heilende Kräfte hat.“

„Wieso bist du hier, Robert?“, fragte ich dann ruhig und spürte, dass ich keine Angst mehr vor ihm hatte und mit einem Seufzer drehte er sich um. Er sah über das Gelände in das Wasser und ich trat zu ihm. Es war ein komisches Gefühl, neben ihm zu stehen und in den fließenden Fluss zu blicken.

„Das weiß ich nicht. Warum stehst du neben mir, Felix?“ Er sah mich ruhig an und sein Blick erkannte den Gips. Sanft griff er nach meiner Hand und hob sie leicht hoch. Ich konnte Trauer in seinen Augen sehen und tiefes Bereuen.

„Wo soll ich sonst stehen?“, gab ich die Frage zurück und im nächsten Moment veränderte sich das Lächeln auf seinen Lippen zu etwas, was ich dort nie wieder sehen wollte. Ich verstand nicht, was gerade passierte, als er mich plötzlich mit einem Stoß über das Geländer beförderte.

Die Luft rauschte kalt an mir vorbei und ich sah in das Gesicht von Robert, als ich seine letzten Worte hörte: „Wirklich neben mir.“ Das eisige Wasser umschloss mich und ich schreckte hoch.

Die Dunkelheit um mich herum blieb, doch anstatt des Wassers spürte ich die warme Decke um meinen Körper. Ich hörte das leichte Schnarchen von Leon und erkannte den ruhigen Körper von Alex nicht einmal eine Armlänge von mir entfernt lag. Das Display der digitalen Uhr zeigte mir, dass es gerade einmal drei Uhr morgens und alles nur ein Traum gewesen war. Ein einfacher Traum.

Ich ließ mich nach hinten sinken und starrte an die dunkle Decke, während ich dem Atem meiner Freunde lauschte. Sie waren da und sie nahmen mir den Schmerz ohne irgendwelcher Tricks.

Ist es wahr? Hatte mich Robert immer nur getäuscht? Waren wir überhaupt richtige Freunde gewesen? Hatte ich ihm jemals vertrauen können?

Ich seufzte schwer und schloss meine Augen, als ich erneut Tränen in ihnen spürte. Nein, ich wollte nicht heulen. Klar hatte Robert Recht. Ich war eine Heulsuse, aber irgendwann musste es doch aufhören.

Irgendwann …

Doch er fehlte mir.

Er fehlte mir mit jedem Tag, der verging.

Ich rollte mich zur Seite und zog meine Beine enger an meinen Körper. Die Nacht war noch lange und ich wollte schlafen. Nur noch schlafen und auch wenn er mich das letzte Mal in den Tod gestoßen hatte, so hoffte ich dennoch, dass ich ihn noch einmal sah.

Nur noch ein einziges Mal …

Der Geruch von frischen Semmeln und Kaffee drang in meine Nase und führte mich sanft aus der Dunkelheit des Schlafes. Ich musste gähnen und streckte mich, bevor ich mich dann langsam aufrichtete und bemerkte, dass Leon und Alex schon wach waren. Wenn ich mich konzentrierte, dann konnte ich ihre Stimmen sogar aus der Küche hören.

Ich fuhr mir schläfrig durch die Haare und sah kurz aus dem Fenster, das begierig das Licht in den Raum ließ. Es war ein seltsames Gefühl, nicht im eigenen Zimmer aufzuwachen und doch fühlte ich mich hier geborgen. Kurzerhand schlug ich die Decke zur Seite und stand dann auf, um mich schnell anzuziehen und dann zu den anderen beiden in die Küche zu gehen.

„Morgen“, begrüßten sie mich sofort, als sie mich erblickten. Leon stand am Herd und schien Speck und Rührei zu machen. Da hatte jemand vor, uns rundum zu verwöhnen. Alex hingegen deckte gerade den Tisch zu Ende und wandte sich mir dann mit einem Lächeln zu.

„Na? Hat das Dornröschen endlich ausgeschlafen?“, neckte mich Leon und ich wurde leicht rot. So lange waren sie bestimmt noch nicht wach und außerdem wurde das Dornröschen auch einmal in der Nacht im Schlaf gestört.

„Schon, aber vor allem riecht es hier so gut. Das hat mich geweckt.“

Meine Erklärung klang erbärmlich und ich musste kurz trocken schlucken, bevor ich dann zu Alex trat und unsicher an meinem Gipsverband zupfte. „Kann … kann ich dir irgendwie helfen?“

„Nein, wir sind schon so gut wie fertig. Setz dich einfach hin und lass dich bedienen, Prinzesschen.“ Er lächelte mich an und wuschelte mir kurz durch die Haare, als er zurück zu Leon ging und diesem dabei half das Essen auf Teller zu verteilen, um dann gemeinsam mit ihm und diesen zum Tisch zurückzukehren.

„So, lasst es euch schmecken. Ich hoffe, dass ich alles richtig gemacht habe, denn ich stehe nicht so oft in der Küche.“ Leon nahm Platz und machte eine einladende Geste über das Angebot, dennoch zögerte ich und ließ Alex den Vortritt. Es war ein komisches Gefühl, hier mit ihnen zu sitzen. Sie unterhielten sich und ich fühlte mich außen vor. Ja, ich wusste, dass dieses Gefühl falsch war, trotzdem konnte ich es nicht verhindern.

Als Letzter nahm ich mir nun ebenfalls etwas Essen und begann den Hunger zu stillen, während ich den Worten von Leon und Alex lauschte, die sich über die Pläne für den heutigen Tag unterhielten.

„Kino klingt schon nicht schlecht, aber wir haben gerade erst so viele Filme gesehen, deswegen würde ich gerne etwas mit mehr Bewegung machen.“

„Dann lass uns doch auf den Sportplatz gehen. Vielleicht können wir dort sogar ein wenig Fußball spielen oder so was. Du hast ja einen Ball hier oder Leon?“

„Ja, irgendwo hab ich bestimmt einen. Aber na ja. Was ist mit Felix? Bei unserem Glück passiert was und seine Hand bricht noch mal oder so.“

„Er kann ja nur zuschauen oder so. Hast du sonst eine besser Idee? Du wolltest dich bewegen. Ich hab schon was vorgeschlagen, was Felix’ Hand schonen würde.“

„Ja, aber dauernd nur irgendwelche Filme anschauen macht mich aggressiv. Ich weiß, dass du das nicht verstehst, Alex, aber ich brauche ein wenig Bewegung und muss mich hin und wieder an meine Grenzen treiben, sonst schlägt das auf meine Laune. Warum muss er auch noch den beschissenen Verband tragen?“

„Öhm … es macht mir nichts aus euch beim Spielen zuzusehen.“ Ich wusste nicht, ob es gut war, dass ich mich jetzt einmischte, aber schließlich betraf es ja auch mich und ich wollte nicht, dass sie sich wegen mir stritten. Klar war es blöd, dass ich eine gebrochene Hand hatte, aber das würde nicht mehr allzu lange dauern und es beruhigte mich schon, dass sie auf mich Rücksicht nahmen. Da konnte ich dann auch mal ein Opfer bringen.

„Siehste, er hat kein Problem damit. Also gehen wir in den Park und bewegen uns ein wenig. Das ist doch das, was du willst, oder Leon?“

„Ja, schon. Aber …“

Er sah zu mir hinüber und musterte mich kurz besorgt, bevor er dann mit den Schultern zuckte und sich wieder an Alex wandte. „Wenn er es sagt, geht es wohl in Ordnung. Aber Felix, du sagst, wenn es dir zu langweilig wird, okay? Dann finden wir schon was anderes, ja?“

Es war ein seltsames Gefühl, dass sich in diesem Moment Leon mehr um mein Wohlergehen kümmerte als Alex, aber anscheinend schien in dem Riesen wirklich ein Herz aus Gold zu schlagen. „Okay.“ Mehr brachte ich nicht über meine Lippen, denn plötzlich wurde Alex aggressiv.

„Was soll das, Leon!? Erst redest du mit mir, dass du keine Lust mehr darauf hast, und ich schlage etwas anderes vor, aber du stellst mich dann so hin, als wäre mir Felix total egal! Das ist echt scheiße von dir! Boah ey! Ich glaube, ich spinn jetzt! Was soll das?!“

„Ich hab gar nichts gemacht, aber einer muss an Felix denken, oder nicht? Er ist doch der Freund von uns beiden. Da ist es egal, wer wann woran denkt. Hauptsache niemand wird vergessen, oder?“

„Ha! Nein! Nein! So läuft das nicht! Nicht so, Leon!“

Ich verstand nur noch Bahnhof und der Fakt, dass Alex mittlerweile aufgestanden war und sich vor dem sitzenden Leon aufbaute, machte die Situation nicht besser. Wörter steckten in meiner Kehle, doch ich konnte sie nicht in die Freiheit entlassen. Es sperrte sich etwas in mir und so krallte ich mich mit meiner gesunden Hand nur in das Holz des Tisches.

„Was hat dich jetzt gestochen, Alex?“ Leon stand auf und baute sich vor seinem besten Freund auf, doch dieser wich nicht einen Zentimeter zurück, sondern sah ihn entschlossen und zornig in die Augen.

„Es ist meine Aufgabe für Felix zu sorgen. Ich habe ihn damals aus der Einsamkeit geholt und Schläge für ihn kassiert. Du stellst mich vor ihm nicht wie den totalen Arsch da, ist das klar?“

Leon lachte hart auf und schüttelte dann den Kopf. „Jetzt weiß ich, wo der Hase lang läuft. Oh Gott, Alex, wirklich? Wieso bist du eifersüchtig auf mich? Ich dachte, dass wir beide Freunde von Felix sind. Da ist es doch egal, wer an ihn denkt und wer ihn mal vergisst. Das passiert jedem einmal. So ist das Leben nun einmal. Wir können nicht immer an alles denken. Setz dich, beruhige dich und iss auf, Alex. Felix ist bestimmt nicht der Meinung, dass du ein schlechter Freund bist, nur weil du seine Verletzung für einen Moment vergessen hast.“

„Das habe ich nicht“, grummelte Alex und nahm dann aber wieder Platz, jedoch nicht, ohne zu schmollen. Leon selbst musste darauf nur erneut lachen, bevor er den Kopf schüttelte und mir deutete weiter zu essen. Es wäre mir selbst nicht einmal aufgefallen, dass ich damit aufgehört hatte. Dieser kurze Ausraster von Alex war völlig ungewöhnlich für ihn und dennoch menschlich.

„Es ist in Ordnung, Alex. Ich bin dir nicht böse.“ Ich versuchte die Situation noch einmal zusätzlich zu entschärfen und erntete darauf ein sanftes Lächeln von Alex, bevor wir alle weiter aßen und auch wenn es niemand aussprach. Der Plan des heutigen Tages stand fest: Auf den Sportplatz Fußball spielen …

Kapitel 2

Das Zwitschern der Vögel drang an mein Ohr und der Duft von frisch gemähtem Gras stieg in meine Nase. Ich saß im Schatten eines Baumes und beobachtete Alex und Leon auf dem Sportplatz. Sie hatten noch vier weitere Jungs gefunden, sodass sie ein kleines Spiel veranstalten konnten.

Alex und Leon waren in einem Team und während einer der vier Jungs in ihrem Tor stand, traten die anderen drei als andere Mannschaft gegen sie an. Es war ein komisches Gefühl und ich verstand nicht, wie sie diesem Fremden einfach vertrauen konnten, dass er die Bälle seiner Freunde auch hielt und sie nicht von hinten heraus angriff.

Ich musste den Kopf schütteln und mich zu einer anderen Denkweise zwingen. Es war nicht gut, wenn ich in jedem Menschen erst einmal einen Verräter sah. Sie waren nicht alle so und Alex und Leon hatten es mir gezeigt. Genauso wie Marc.

Marc.

Ich holte das Handy aus meiner Tasche und starrte auf das Display. Keine Reaktion. Ich hatte ihm erneut heimlich eine SMS geschickt, weil ich nicht wollte, dass Alex und Leon mitbekamen, wie verzweifelt ich wegen seines Schweigens war. Wieso meldete er sich nicht? Sollte ein Paar nicht jede Krise gemeinsam bewältigen? Glaubte er nicht daran, dass ich ihm auch helfen konnte? Vertraute er mir nicht? War er der Meinung, dass ich ihn zerstören würde, wenn ich eine Waffe gegen ihn in der Hand halten würde? Das war doch lächerlich.

Ich umschloss das Mobiltelefon fester und spürte, wie das Plastik sogar leicht nachgab, doch es war mir egal. Er sollte sich endlich wieder melden. Nur einmal kurz sagen, dass er mich nicht vergessen hatte. Ich dachte, er liebte mich. Hatte ich falsch gedacht?

Meine Hände begannen erneut zu zittern. Wieso entglitt mir mein Leben schon wieder so? Robert war doch weg und auch wenn es einige in meiner Klasse gab, die mir die Schuld an seinem Tod gaben, so hatten die Schikanen zum größten Teil aufgehört. Mein Leben konnte endlich wieder mir gehören. Warum tat es das nicht?

„Felix?“ Die Stimme irritierte mich, denn ich hatte sie schon lange nicht mehr gehört. Mein Blick folgte ihrem Laut und ich war überrascht, als ich in besorgte, braune Augen sah, die mich schon einmal so angesehen hatte. Erneut spielte er nervös mit dem Saum seines Hemdes und strich sich dann eine der kurzen braunen Strähnen aus dem Gesicht. Wieso war er hier? Was wollte er von mir?

Ich schnellte in die Höhe und wich einen Schritt zurück. Aus seiner Reichweite, während sich mein Körper anspannte und ich instinktiv die gebrochene Hand schützend an meinen Körper drückte.

„Chris? Was willst du hier?“ Ich konnte die Angst nicht aus meiner Stimme verdrängen. Auch konnte ich nicht verhindern, dass meine Augen nervös die Gegend absuchten, ob irgendwo wieder Leute waren, die mir wehtun wollten. War es vielleicht doch noch nicht vorbei? Musste ich immer noch kämpfen für das, was ich war?

„Ich … wir … Es tut mir leid.“ Er wich meinem Blick aus und ich nahm nur am Rande wahr, dass der Spiellärm aufhörte, während ich weiter auf meinen Gegenüber starrte. Wie gerne hätte ich ihm diese Worte geglaubt, doch ich konnte es nicht. Wegen ihm hatte ich eine gebrochene Hand und konnte nicht mit meinen Freunden spielen. Er war schuld daran, dass sich Alex und Leon gestritten hatten und auch daran, dass die Schikanen so weit geführt hatten, dass sich Robert das Leben genommen hatte. Ja, er war der Mörder von Robert.

„Ich hab dir damals gesagt, dass du mich nie wieder ansprechen sollst. Warum bist du jetzt hier? Es gibt nichts mehr, was wir uns zu sagen hätten. Dein Schweigen hat erst alles zugelassen. Egal, ob du für oder gegen mich bist. Du machst alles nur schlimmer. Verschwinde einfach, Chris.“ Ich wandte mich von ihm ab und erkannte, dass Alex und Leon zu mir sahen. Sie waren bereit zu kommen und Alex näherte sich auch langsam uns, wobei er schließlich von Leon gestoppt wurde.

„Ich … ich … das weiß ich und es tut mir leid, dass sie dich wegen mir erwischt haben. Das wollte ich nicht. Felix, ich bin auf deiner Seite. Glaub mir bitte. Ich … bitte … glaub mir.“ Die Verzweiflung in seiner Stimme konnte nicht gespielt sein, dennoch verschloss sich mein Herz dafür und erneut zitterten meine Hände, doch dieses Mal aus Zorn.

Chris nahm sich einfach das Recht heraus, hier vor mir zu stehen und mich um Verzeihung zu bitten. Ich wollte ihm nicht verzeihen. Keinem meiner Peiniger wollte ich jemals vergeben. Sie sollten ihre gerechte Strafe bekommen und dann. Ja, vielleicht dann wäre ich bereit, sie zu begnadigen. Aber nicht jetzt und vor allem nicht ihm. Er tat auf Freund und hatte mich verraten. Man konnte ihm nicht trauen.

„Deine Motive sind mir egal. Du hast mich verraten. Wegen dir habe ich eine gebrochene Hand. Dein Schweigen hat Robert in den Selbstmord getrieben, weil er nur den Hass kannte. Er wusste nicht, dass man es auch akzeptieren kann, weil du geschwiegen hast. Du hast nicht den Hauch einer Ahnung, wie viel Leid dein Schweigen verursacht hat, und jetzt stehst du hier und bittest um Vergebung. Das ist lächerlich, Chris. Einfach nur erbärmlich. Ich will dich nicht wiedersehen. Du bist schuld an allem und ich werde es dir nicht verzeihen.“

„Felix … ich … bitte, hör mir nur eine Minute zu.“ Er trat einen Schritt auf mich zu und wollte mich am Arm packen, doch ich entriss ihm ihn und wich vor ihm zurück. „Fass mich nicht an! Als ich das letzte Mal dir zugehört habe, sind Schläger gekommen und haben mir meine Hand gebrochen! Du bist nur dagestanden und dir zu fein gewesen, mir zu helfen! Warum sollte ich dir also glauben, dass du auch nur irgendwo tief in dir den Wunsch hast, dass es mir gut geht? Das glaubst du doch selbst nicht!“

„Bitte … du verstehst das nicht, Felix. Ich …“ Er brach ab, als Alex auf uns zu kam, und wich sogar einen Schritt zurück.

Wie ein geschlagener Hund senkte er seinen Blick und ich sah auf meinen Freund, der mich besorgt musterte. „Alles okay bei dir, Felix? Wer ist das?“ Er deutete auf Chris, der sich immer unwohler in seiner Haut zu fühlen schien, denn das Zupfen an seiner Kleidung wurde mit jeder Sekunde ausgeprägter. Mein Blick glitt über ihn und ich spürte kurz Mitleid in mir aufkeimen, welches ich aber sofort niederrang. Dieser Mensch hatte solche Gefühle nicht verdient.

„Ja, keine Sorge. Chris wollte gerade eben gehen.“ Meine Stimme war hart und grausam. Etwas, was ich von mir gar nicht gewohnt war, aber dieser Hass, der in mir wütete und der danach schrie, dass ich ihn an Chris ausließ, raubte mir sämtlichen Verstand. Dieser Junge vor mir hatte meine Güte nicht verdient.

Alex sah auf ihn und das Misstrauen in seinen Augen wich der Sorge, als er zu Chris trat und kurzerhand dessen Hände am Zupfen hinderte. „Chris? Warum bist du hier? Was quält dich?“

Ich konnte es nicht fassen. Warum half Alex diesem Jungen? Er hatte es nicht verdient und konnte ruhig ein wenig leiden. Schließlich hatte er immer weggesehen. Auch Chris schien damit überfordert zu sein, denn er sah Alex an, als wäre dieser ein übernatürliches Wesen. Bevor sein Blick zu mir glitt und anscheinend nach einer Antwort suchte, ehe er dann den Kopf schüttelte und einen Schritt Abstand zu Alex nahm.

„Nichts. Es geht schon. Ich wollte nur kurz mit Felix reden, aber … Es ist alles in Ordnung. Ich muss auch schon wieder los.“ Das Lächeln, welches er versuchte Alex zu schenken, erinnerte mich an mich selbst, als ich noch versuchte, auf heile Welt zu spielen. So voller Trauer und Schmerz und anscheinend hatte es auch Alex bemerkt, denn er versuchte Chris zu stoppen, doch dieser entzog sich seinem Griff.

Das Lächeln verschwand nicht, als er nur kurz den Kopf schüttelte und sich dann abwandte, um nach einem kurzen Abschiedswort zu gehen.

„Was? Was war los, Felix?“, wandte sich Alex an mich, doch ich zuckte nur mit den Schultern und ließ mich dann wieder aufs Gras sinken. „Nichts. Chris ist ein Mitschüler. Er ist daran schuld, dass man mir die Hand gebrochen hat, weil er mich mal auf den Nachhauseweg angesprochen und somit lang genug aufgehalten hatte, damit mich Robert mit seinen Schlägern erwischen konnte. Seitdem will ich nichts mehr mit ihm zu tun haben.“

„Ich verstehe und warum hat er dich damals angesprochen?“ Alex schien das Thema nicht so leicht fallen lassen zu wollen, doch ich wurde von Leon und den anderen Jugendlichen erlöst. „Alex?! Was ist los? Wir wollen weiterspielen! Komm endlich wieder zurück!“

„Ja, ja! Ist ja gut! Ich bin schon unterwegs!“ Ich sah deutlich, dass Alex nur widerwillig von meiner Seite wich, doch sein Blick zeigte mir auch, dass dieses Thema für ihn noch nicht gegessen war. So sehr ich Alex auch mochte, aber er schien viel zu gerne die Rolle meines Gewissens zu spielen. Wie diese Grille bei dem hölzernen Jungen. Lästiges, kleines Insekt.

Doch ich schob die Gedanken zur Seite und sah den anderen weiter bei ihrem Spiel zu. Das Verhalten von Chris ignorierte ich. Ich wollte mich nicht mit ihm beschäftigen. Er war ein Mensch, den ich nicht in meinem Leben haben wollte. Schließlich war er doch schuld an allem, oder nicht?

Ich raufte mir die Haare, als ich bemerkte, wie Alex’ Zweifel auch mein Herz langsam erreichten. Mir war klar, dass Chris’ Verhalten irgendeinen Grund haben musste, aber ich wollte diesen gar nicht wissen. Es war doch umso vieles einfacher, wenn man ihn nur hasste.

Ich schnaubte und starrte beleidigt auf Alex, der mittlerweile schon wieder gänzlich in seinem Spiel vertieft war. Er und Leon waren ein perfektes Team. Die anderen kamen kaum dazu auf das Tor zu schießen, denn sie wurden immer wieder ausgespielt. Ich wusste, dass Robert und ich genauso hätten sein können. Wir kannten uns auch schon ewig und wussten von den Gedanken des jeweils anderen. Aber die wichtigsten Empfindungen waren uns unbekannt.

Ich seufzte, als mir erneut bewusst wurde, wie sehr mir Robert fehlte. Niemand kannte mich besser als er. Er schien von meiner Neigung schon vor mir gewusst zu haben und hatte sie hingenommen. Auch wenn er schuld an meinem Leid gewesen war, so konnte ich ihn seit dem Gespräch auf der Brücke nicht mehr hassen. Vielleicht hätte ich das Gespräch damals wirklich anders anfangen sollen, doch daran konnte ich nichts mehr ändern. Wie gerne hätte ich noch einmal mit ihm gesprochen. Nur noch ein letztes Mal, um ihm zu sagen, dass unsere Freundschaft noch lebte. Wir könnten wieder Freunde sein.

Mein Blick glitt zu Chris, der einsam unter einem Baum saß und das Spiel anscheinend auch beobachtete, doch immer mal wieder sah er zu mir herüber. Er zupfte immer noch an seinem Oberteil und ich verstand sein Verhalten nicht. Sollte ich ihm vielleicht doch zuhören?

Plötzlich juckte meine Hand unter dem Gips und mir wurde wieder bewusst, was ich ihm zu verdanken hatte. Ich wollte nicht mit ihm reden. Das hatte er gar nicht verdient, oder doch? Sollte nicht jeder eine zweite Chance bekommen?

An diesem Zwiespalt war nur Alex schuld.

Ich schnaubte wütend und wandte mich von Chris ab, um mich krampfhaft auf das Spiel zu konzentrieren, und als ich das nächste Mal auf den Baum sah, war er verschwunden und auch wenn es mich kurz überraschte, so war es mir doch egal …

Es war ein seltsames Gefühl, als das Ergebnis verkündet wurde und meine Freunde den Sieg errungen hatten. Sie kamen auf mich zu und lächelte mich an. Ich stand auf und lief ihnen ein Stück entgegen, um ihnen dann zu gratulieren: „Ihr habt echt klasse gespielt. Seit wann seid ihr so gut darin? Ich hätte nie vermutet, dass ihr das so gut könnt.“

„Danke für das Kompliment, Felix, und na ja, jeder hat sein Geheimnis.“ Alex lachte auf und sah kurz mit einem breiten Grinsen zu Leon, der ihm dann freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Im nächsten Moment sah sich der Kleinere um und ich wusste, warum, doch er würde ihn nicht finden.

„Wo ist Chris? Er hat uns doch auch noch zugesehen, oder nicht?“, fragte Alex dann und ich zuckte als Antwort mit den Schultern. „Ja, hat er, aber irgendwann ist er dann einfach verschwunden. Ist auch besser so. Ich will so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben. Schließlich habe ich ihm den Gipsverband zu verdanken.“

Ich wollte den Groll gegen Chris noch nicht fallen lassen. Selbst der strafende Blick meines Freundes konnte ihn nicht vernichten. Schließlich wollte ich es einfach so. Es war erfrischend jemanden zu hassen, ohne seine Beweggründe zu hinterfragen. Zumal hatte ich in letzter Zeit immer nur nach dem Grund gefragt und das laugte auf Dauer doch aus.

„Wieso ist er dir auf die Hand getreten? Er sah mir jetzt nicht wie ein Schläger aus.“ Leon mischte sich nun auch ein und ich hasste ihn für diese Worte. Konnten sie mich nicht damit in Ruhe lassen? Chris brauchte unsere Hilfe nicht und er sollte wie zuvor auch aus meinem Leben verschwinden. Wir waren nur Klassenkameraden und mehr wollte ich nicht zulassen.

„Nein, ist er nicht, aber er hat mich auf den Nachhauseweg angesprochen und aufgehalten, sodass mich Robert mit seinen Schlägern einholen konnte, und da ist mir jemand auf die Hand gestiegen. Ich weiß mittlerweile nicht einmal mehr, wer es war. Ist ja auch unwichtig.“ Ich winkte ab und wollte gehen, doch meine Freunde bewegten sich nicht.

„Interessant. Derjenige, der dich verletzt hat, ist dir egal, aber Chris verfluchst du für sein Verhalten. Das klingt nicht besonders fair, Felix.“ Alex versuchte erneut, mein schlechtes Gewissen zu wecken, und ich spürte, dass er langsam sein Ziel erreichte. Das war ein ekelhaftes Gefühl.

„Vielleicht hatte er seine Gründe, dass er dich ansprach. Er wirkt auf mich nicht so, als würde er dein Leid wollen. Eher so, als hätte er Angst das nächste Opfer zu werden“, sprach Alex weiter und ich spannte mich an. Ich wollte nicht darüber nachdenken und Chris eine Chance geben. Wenn ich ihm verzieh, dann würde ich doch indirekt zugeben, dass ich ihm Unrecht tat, oder?

„Ich weiß nicht, was er von mir will. Er will dauernd nur reden, aber ich will nicht, okay? Ist das wirklich so schwer zu verstehen?“ Ich wurde lauter als ich beabsichtigte, doch ich konnte es auch nicht unterbinden. Es tat weh, dass mir Alex solch eine Grausamkeit unterstellte und mich deswegen auch noch indirekt verurteilte. Ich wünschte mir, dass ich anders empfand, aber es ging nicht. Dieser Kerl hatte mir nicht geholfen, obwohl er mir gesagt hatte, dass die Schläge nicht in Ordnung waren. Das war nicht okay. Das war nicht gerecht. Er sollte auch leiden.

„Du solltest ihm eine Chance geben, Felix.“ Leons Worte waren warm und sanft. Sie erreichten dadurch einen Bereich in meinem Herzen, den ich für Chris geschlossen halten wollte. Hatten sie vielleicht Recht? Sollte ich ihm die Chance geben, sich zu erklären? Würde ich mir das auch wünschen, wenn ich Chris wäre?

Ich musste zurückdenken, wie er vor mir gestanden hatte und so schüchtern und unsicher gewesen war. Das Zupfen an seinen Ärmel und dieses traurige Lächeln. Desto mehr ich über ihn nachdachte, desto ähnlicher wurde er mir. Nach wenigen Atemzügen sah ich mich selbst in Chris. Damals, als ich kurz davor gewesen war, mich zu outen. Diese Last, die auf den Schultern lag, weil man sich selbst verleugnete. Es konnte nicht wahr sein, oder? War Chris schwul?

„Du siehst aus, als hättest du einen Geistesblitz gehabt. Worüber denkst du gerade nach?“ Alex’ Worte drangen zu mir durch und erst jetzt registrierte ich meine beiden Freunde wieder. Ob sie genauso dachten? Wirkte Chris auf sie wie jemand, der ein tiefes Geheimnis hütete, dass ihn zerstören könnte? Wollte er deshalb mit mir sprechen, weil er genauso ein gesellschaftliches Tabu in sich trug? War er sogar wie ich?

„Über Chris. Ich sollte vielleicht doch mal mit ihm reden.“ Diese Entscheidung fiel mir so leicht, dass ich sogar kurz über meine eigenen Worte erschauderte. Leon sah mich schräg an, während mich Alex sanft anlächelte. Es war ein gutes Gefühl, sie bei mir zu wissen und dennoch wünschte ich mir, dass ich auch Marc zu dieser Lage befragen könnte. Er war wie ich und wusste, wie grausam die Gesellschaft zu Menschen wie uns sein konnte. Sie dagegen sahen es nur vom Rande aus. Niemals könnten sie wirklich verstehen, wie es einen ging.

„Das klingt nach einer guten Idee. Chris schien wirklich dringend jemanden zum Reden zu brauchen und so, wie es aussieht, hat er dich dafür vorgesehen.“ Alex klopfte mir aufmunternd auf die Schultern. Meine Gewissensgrille war also mit dieser Entscheidung zufrieden. Ob meine Nase irgendwann auch länger wurde, wenn ich log?

Ich musste bei diesem Gedanken ein wenig schmunzeln und innerlich den Kopf schütteln. Dieser Film zählte nicht unbedingt zu meinen Lieblingen. Ich mochte nur die Katze darin, aber dennoch musste ich im Moment immer wieder an dieses Beispiel denken. Vielleicht war er auch eher wie Sebastian die Krabbe. Aber dafür verpetzte er zu wenig. Er ließ mich meine Entscheidungen selbst treffen und redete mir lieber ins Gewissen.

„Das freut mich, Jiminy.“ Ein Grinsen zauberte sich auf meine Lippen, welches sogar noch breiter wurden, als ich Alex‘ verwirrten Blick erkannte und selbst Leon musste leise kichern, worauf sich der Schwächere zu ihm umdrehte und ihn noch verwirrter musterte.

„Das ist ein guter Vergleich, Felix.“ Leon hatte Mühe, sich wieder einzukriegen, und langsam wurde aus dem Kichern ein lautstarkes Lachen, was mich ansteckte. Alex selbst verstand noch weniger und langsam verwandelte sich seine Verwirrung in Ärger um. Ich berührte sanft seine Schulter.

„Das ist nicht böse gemeint, Alex, aber manchmal wirkst du auf mich, wie mein Gewissen, das mich von schlechten Entscheidungen abhalten will. Vor allem in der Sache Chris hast du es wirklich stark raushängen lassen.“ Ich hoffte, dass ich ihn so ein wenig besänftigen konnte und tatsächlich entspannten sich seine Züge. Er lächelte nun ebenfalls und langsam fing sich auch Leon wieder.

„Lust auf ein Eis, um euren Sieg zu feiern?“, schlug ich eine nächste Unternehmung vor, die mit Einstimmigkeit angenommen wurde. Der einstige Unmut, den Chris über uns gelegt hatte, war nun verschwunden und ich hatte mir vorgenommen, dass ich am Abend mal bei ihm zuhause vorbeigehen würde. Vielleicht brauchte er ja wirklich meine Hilfe und auch wenn ich ihm seine Zurückhaltung von damals noch nicht gänzlich verziehen hatte. So wollte ich ihm zumindest die Chance geben, sich zu erklären. Jeder hatte es verdient, sich erklären zu dürfen. Auch Chris …

„Tau“, las ich in Gedanken das Namensschild über der Türklingel. Ein kurzer und knapper Familienname, bei dem ich weder an die Mafia noch an eine andere Verbrecherorganisation denken musste und der in mir auch sonst keine negativen Verknüpfungen hervorrief. Dennoch zitterte mein ganzer Körper, als es darum ging, auf die Klingel zu drücken.

Alex und Leon hatten sich bei dem Gartentor von mir verabschiedet aber erst, nachdem ich ihnen mehrmals versichert hatte, dass es für mich okay war, wenn sich unsere Wege für heute hier trennen würden. Ich wollte mit Chris alleine sprechen. Schließlich schien ihn jeder andere nervös zu machen. Er sollte freisprechen können.

Ich atmete tief ein und aus, bevor ich dann all meinen Mut zusammennahm und auf die Klingel drückte. Es dauerte nur wenige Atemzüge und im nächsten Moment blickte ich in das fragende Gesicht von Chris. Zumindest dachte ich das im ersten Augenblick, weil sie sich so ähnlich sahen, doch dann sprangen mir ihre Brüste förmlich ins Gesicht und auch das längere Haar wurde mir bewusst, welches über ihre Schultern fiel.

„Ja?“ Sie wirkte genervt, als sie sich möglichst cool an den Türrahmen lehnte, und dort war wieder das Unbehagen, das sich durch meine Eingeweide wühlte. War es wirklich in Ordnung hier zu sein? Vielleicht war Chris ja auch noch gar nicht zuhause? Sollte ich vielleicht später wiederkommen oder jetzt einfach mit der Tür ins Haus fallen? Mir kam es vorhin gar nicht in den Sinn, dass jemand anderes als Chris die Tür öffnen könnte, doch jetzt sah ich mich genau in der ungeplanten Möglichkeit gefangen. Aber wenn ich genauer darüber nachgedacht hätte, wäre mir bewusst geworden, dass die Chancen dafür eher schlecht gestanden hatten.

„Ähm …“ Ich strich mir nervös über den Nacken und zupfte dann noch einmal an meinem Gips, bevor ich ihr genervtes Stöhnen wahrnahm und mir einen Ruck gab. „Ich möchte kurz Chris sprechen. Mein Name ist Felix und ich bin ein Klassenkamerad von ihm.“

„Muss das jetzt sein? Hättest du ihm das nicht in der Schule sagen können? Ach, meinetwegen. Ich hol ihn dir kurz.“ Sie knallte mir die Tür vor der Nase zu und ich überlegte kurz, ob sie ihre Worte wirklich ernst meinte oder ob sie mich jetzt einfach hier draußen stehen lassen würde. Gerade als ich mich dazu entschlossen hatte, dass sie mich wohl verarscht hatte, öffnete sich die Tür und ich sah in das schüchterne Gesicht von Chris.

Wie hatte ich seine Schwester für ihn halten können? Er hatte ausgeprägtere Wangen und einen schmaleren Mund als sie. Auch waren seine Augen dunkler als ihre und sie entführten einen in eine Unendlichkeit, die einen vielleicht nie wieder hergeben würde.

„Felix?“

Chris schien meine Anwesenheit nicht glauben zu können, denn seine Augen wurden ganz groß, er richtete sich aus seiner zu Anfang kauernden Haltung auf, bevor er sogar leicht lächelte.

Dies erstarb jedoch nur wenige Sekunden später wieder und er wich meinem Blick aus. „Was? Warum bist du hier? Ich dachte, dass du nicht mehr mit mir reden willst.“

„Kann ich kurz reinkommen? Ich hatte ein Gespräch mit meinem Gewissen und na ja, ich sollte dir wohl doch zuhören, sonst würde die lästige Grille wohl niemals Ruhe geben.“ Ich musste bei der Vorstellung von Alex als Grille ein wenig grinsen, was Chris wohl irritierte, doch er trat schließlich zurück, um mich in das Haus zu lassen.

„Mein Zimmer ist gleich hier.“ Er deutete auf eine der vier Türen, die aus dem Flur führten.

Ich nickte ihm kurz zu, bevor ich meine Schuhe auszog und meine Jacke an einen Haken hängte. „Ich hoffe, dass ich dich nicht allzu sehr störe, aber ich wollte das relativ schnell über die Bühne bringen.“

„Nein, wir sind gerade fertig mit dem Essen. Ist also in Ordnung.“ Er lächelte kurz schüchtern, bevor er dann voraus in sein Zimmer ging.

Es wirkte auf mich schon fast vollgestopft. Die Wände standen voller Regale und Möbel. Wo man mal glaubte, eine Tapete zu sehen, hing ein Bild an der Wand. DVDs türmten sich auf dem Boden, genauso wie Bücher. Figuren standen in den verschiedensten Bereichen des Zimmers und ich musste wirklich aufpassen, wo ich hintrat. Es war jetzt nicht so, dass Chris sie nicht aufräumte, aber er hatte einfach keinen Platz mehr in den Regalen dafür.

Chris ging zielstrebig und sicher durch das Chaos, bevor er sich auf dem Bett niederließ und mir den Schreibtischstuhl zeigte. Zumindest glaubte ich das. Ich konnte zu Beginn nämlich nichts erkennen, als ich mich in die gezeigte Richtung bewegte. Mit jedem Schritt hatte ich wirklich Angst, dass ich einen der Türme umwarf oder eine Figur zertrat. Wie konnte man nur so leben?