Nur nicht liegen bleiben - Shino Tenshi - E-Book
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Shino Tenshi

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Beschreibung

"Nur nicht liegen bleiben" – Verhasst, Teil 1 Die Geschichte:"Nur nicht liegen bleiben" ist der bewegende Auftakt der Verhasst-Trilogie von Shino Tenshi. Felix wagt den mutigen Schritt, sich zu outen, doch was als Selbstfindung beginnt, wird schnell zum Albtraum: Verraten von seinem besten Freund Robert und gezeichnet von Hass und Mobbing seiner Mitschüler, muss Felix lernen, sich selbst treu zu bleiben und trotz aller Dunkelheit Hoffnung zu bewahren. Die Geschichte führt Leser:innen tief in die emotionalen und psychologischen Abgründe von Verrat, Selbstzweifeln und Mobbing. Sie zeigt eindringlich den unermüdlichen Willen eines Jungen, der gegen alle Widerstände kämpft, und bleibt mit ihren vielschichtigen Charakteren lange im Gedächtnis. Besonderheiten von "Nur nicht liegen bleiben": Schonungsloser Blick auf Mobbing: Die Geschichte zeigt, wie grausam Kinder und Jugendliche sein können, aber auch, wie viel Mut es braucht, sich zu wehren. Emotionale Tiefe: Realistische, vielschichtige Charaktere machen die Handlung besonders greifbar. Botschaft der Hoffnung: Selbst im größten Chaos bleibt die Kraft für einen Neuanfang spürbar. LGBTQ+-Repräsentation: Felix' Erfahrungen spiegeln die Herausforderungen vieler queerer Jugendlicher wider. Realismus und Intensität: Die Geschehnisse wirken echt und emotional bewegend. Vergleichbare Geschichten:Leser:innen, die "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" von John Green oder "Tote Mädchen lügen nicht" von Jay Asher schätzen, werden auch von "Nur nicht liegen bleiben" begeistert sein. Für Fans von LGBTQ+-Literatur bieten Werke wie "Love, Simon" von Becky Albertalli oder "They Both Die at the End" von Adam Silvera interessante Parallelen. Beide teilen die Kombination aus emotionaler Intensität und schwierigen Themen. "Nur nicht liegen bleiben" ist ein ergreifender Roman aus der Verhasst-Reihe von Shino Tenshi. Die Geschichte begleitet Felix auf seiner emotionalen Reise, nachdem er durch das Vertrauen zu seinem besten Freund alles verliert. Dieser Coming-of-Age-Roman über Mobbing, LGBTQ+-Identität und Selbstfindung zeigt, wie man den Mut findet, weiterzugehen, wenn die Welt dich zu Boden zwingt. Perfekt für Leser:innen, die emotionale und tiefgründige Geschichten lieben. Jetzt "Nur nicht liegen bleiben" entdecken und in eine Welt voller Schmerz, Hoffnung und innerer Stärke eintauchen!

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de/ abrufbar.

Verlag:

Living Oils

Elisabeth Dunker

Münchener Straße 80

84453 Mühldorf am Inn

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte sind dem Autor vorbehalten, einschließlich der Vervielfältigung, Übersetzung, Mikrovorführung, Verfilmung, sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.

Alle Charaktere und Handlungen sind frei erfunden.

1. Auflage 2024

Taschenbuch: 978-3-949750-15-1

E-Book: 978-3-949750-02-1

©️ Shino Tenshi (aka A. R. Tost)

All rights reserved

Webseite: https://shinotenshi.de/

E-Mail: [email protected]

Instagram: @shinotenshi87

Facebook: www.facebook.com/autorshinotenshi

Cover-Artwork: NuCat

Chibi-Artwork: Suki's Art

Cover & Buchsatz: BinDer Buchsatz Verena Binder

Shino Tenshi

Kapitel 1

„Verpiss dich!“

Ich wurde grob nach hinten geschubst, wo mein Rücken hart gegen das Metall der Spindtüren prallte und ich kurz schmerzhaft keuchte.

„Dich will niemand hier haben, du Perverser!“

Man schlug noch einmal zu. Aus Prinzip. Mitten in die Magengrube, wodurch sämtliche Luft aus meinen Lungen gepresst wurde und mich zusammenklappen ließ.

Ihre Schritte entfernten sich, als ich in die Knie sank und immer weiter hinunterrutschte. Tränen stiegen in meine Augen und mein Körper begann zu zittern.

Ich wurde angespuckt, kaum dass man an mir vorbeiging. Schluchzend erhob ich mich und versuchte mein Selbstbewusstsein wieder zusammen zu kratzen.

Der Schmerz grub sich weiter durch meinen Leib und verhinderte, dass ich die Hand vom Bauch nehmen konnte.Zitternd griff ich nach meiner Schultasche und warf sie mir über die Schultern.

Sie waren alle weg. Wie jeden Tag war ich der Letzte, der ging, nachdem jeder mir seinen Hass entgegen geschmissen hatte.

Meine Wange brannte und mein rechtes Auge war geschwollen und blau verfärbt, so wie viele andere Stellen an meinen Körper.

Für die Lehrer würde ich wieder irgendwo dagegen gelaufen sein. Sie glaubten mir schon lange nicht mehr, doch sie waren nicht in der Lage mich zu schützen. Niemand konnte das.

Ich würde es entweder selbst überleben oder unter ihrem Hass sterben. Das war mir damals klar gewesen.

Damals als ich mich geoutet hatte...

„Felix, was ist los? Du sagtest, dass du etwas mit mir besprechen wolltest.“ Seine blauen Augen sahen mich verwirrt an. Ich seufzte kurz und bat ihn dann auf dem Bett Platz zu nehmen. Selbst saß ich schon auf meinem Schreibtischstuhl ihm gegenüber.

„Robert, du bist mein bester Freund und ich bin der Meinung, dass du es wissen solltest.“ Ich hatte ihm so sehr vertraut und musste mit jemanden darüber reden. Ja, ich dachte, dass er die richtige Person sein würde. Wir kannten uns schon so lange und hatten uns immer alles erzählt.

„Jetzt mach es mal nicht so spannend. Wo drückt der Schuh?“ Er sah mich wieder mit diesem gewinnenden Lächeln an, das mir eine trügerische Sicherheit gab. Es musste gut laufen. Sogar perfekt.

„Gleich. Ich will dich nur darum bitten, dass das, was ich jetzt dann sage nichts zwischen uns ändern wird. Wir bleiben Freunde. Egal was passiert, oder?“, verlangte ich dennoch nach Sicherheit.

Er war ein Kerl.

Ich würde verstehen, wenn er mich danach hassen würde, trotzdem wünschte ich mir, dass dies nicht geschah.

„Klar, wie lange kennen wir uns nun schon? Zehn Jahre? Reicht das überhaupt?“ Er hörte gar nicht auf zu lächeln und ich ließ mich davon anstecken, bevor ich ein wenig schüchtern den Blick senkte. „Ja, du hast Recht. Wir kennen uns schon so lange. Da gibt es kaum etwas, was die Beziehung zwischen uns zerstören könnte.“

„Also, rück schon raus, sonst platz ich noch vor Neugier.“ Sein Grinsen wurde breiter und ich fühlte mich dadurch sicher und geborgen, was mich nicken ließ.

Es war okay. Er würde mich verstehen und es würde nichts zwischen uns ändern. So dachte ich damals. Wie naiv ich doch gewesen war.

„Du weißt ja, dass ich noch keine Freundin hatte und es gibt auch einen Grund dafür.“

Ich hätte aufhören sollen, als ich gesehen hatte, wie sich Finsternis in seinen Augen ausbreitete, doch ich war in so einem Höhenflug, dass ich nicht mehr stoppen konnte: „Der ist auch ganz simpel und einfach. Ich mag einfach keine Frauen in meinem Bett. Robert, ich stehe auf Männer.“

Es trat Ekel in seinen Blick und ich schluckte trocken. Sämtliche Wärme und Zuneigung verschwanden aus seinen Augen, sodass ich mein Outing schon bereute. Ich hätte das Thema anders angehen müssen. Viel anders.

„Du bist schwul?“ Seine Art, wie er das letzte Wort ausspuckte, ließ mich erschaudern, doch ich schluckte erneut trocken und nickte leicht: „Ja.“

„Wie bist du da drauf gekommen? Hast du dich etwa in mich verliebt?“ Angst schwang bei der letzten Frage in seiner Stimme mit, sodass ich sofort beschwichtigend die Hände hob: „Nein, nein. Ich liebe dich nicht. Du bist mein bester Freund. Wir sind schon weit darüber hinaus. Aber wie ich es gemerkt habe? Nun ja, weil ich Männer einfach interessanter finde und ich mich auch schon ein paar Mal verliebt habe.“

„In wen?“ Diese Frage wollte ich gar nicht beantworten, wodurch ich nur den Kopf schüttelte und leicht abwinkte: „Nicht so wichtig. Sie haben mich nicht zurück geliebt und es ist schon eine geraume Weile her. Doch ich musste einfach mit irgendwem darüber sprechen und ich dachte, da wir so gute Freunde sind und ich niemanden mehr vertraue als dir, dass du mich vielleicht verstehst und auch unterstützen würdest.“

„Ich wünschte, du hättest es nicht getan. Tut mir Leid, Felix. Ich muss gehen.“ Er erhob sich und verließ das Zimmer. Er umarmte mich nicht, wie sonst immer zum Abschied, sondern schenkte mir nur einen angewiderten Blick.

Kaum dass die Tür ins Schloss fiel, wusste ich, dass ich ihn damit von mir gestoßen hatte. Er konnte mit mir nicht mehr befreundet sein, weil ich Männer liebte.

Mein Körper zitterte. Ich hatte meinen besten Freund verloren. Wie sollte ich jemals mit jemanden darüber reden können, wenn nicht einmal er mich akzeptierte, wie ich war? Dann würden mich doch auch meine Eltern verfluchen, oder? Ich…

Ich hätte einfach schweigen sollen. Es weiter verstecken und in mir herumtragen. Warum verstand er mich nicht? Wieso machte es ihm so viel aus? Ich liebte ihn nicht. Nein, das könnte ich gar nicht. Er war mein bester Freund. Wir hatten alles zusammen unternommen. Ja, wir hatten die Schwelle schon längst überschritten, wo eine Beziehung hätte entstehen können. Er war stattdessen zu meinem engsten Freund geworden.

Ja, er war es gewesen. Denn so, wie er dieses Zimmer verlassen hatte, habe ich mich jetzt für ihn zu einem hassenswerten Wesen verwandelt, das kein Teil seines Lebens mehr sein sollte. Und so liefen die ersten Tränen langsam über meine Wangen. Sie nahmen dabei das Glück mit und gruben schmerzhafte Gräben in mein Herz, die nach und nach alles verschlangen, was für mich wichtig war.

„Verpiss dich, Schwuchtel!“, begrüßte man mich, kaum dass ich am nächsten Tag in meine Klasse trat. Kurz suchte mein Blick Robert und fand ihn. Er saß nicht mehr auf seinen gewohnten Platz, der neben mir war, sondern hatte sich zu einem anderen Jungen gesetzt. Langsam bohrte sich ein Dolch bei diesem Anblick in mein Herz und drehte sich schmerzhaft um seine eigene Achse. Ich hatte solch ein Verhalten von ihm nicht erwartet. Da hatte ich mich wohl geirrt.

Ruhig ging ich zu meinem Platz. Mein Bein stieß grob gegen etwas und brachte mich zum Stolpern, doch ich konnte mich an dem nahe gelegenen Tisch abfangen und so einen Sturz verhindern. Dennoch lachte die ganze Klasse über mich. Zumindest die männliche Partei. Die Mädchen hielten sich aus der Streiterei heraus, weshalb ich froh war, dass ich mich an dem Pult einer Klassenkameradin festgehalten hatte, sonst wäre bestimmt mehr passiert.

Man bewarf mich mit Stiften und Papierkugeln. „Hast du nicht gehört? Du sollst dich verpissen! Niemand will eine Schwuchtel wie dich hier haben!“

Es war mir egal, wer das rief. Ich wünschte mir, dass sie nur damit aufhörten, doch es geschah nicht, denn selbst als ich an meinem Platz angekommen war, attackierte man mich weiter mit den unterschiedlichsten Sachen.

Verzweifelt rollte ich mich schutzsuchend auf meinen Tisch zusammen. Ein Ruck ging durch meinen Körper und ich krallte mich reflexartig an der hölzernen Platte fest. Krachend fiel mein Stuhl zu Boden und ich sah geschockt auf ihn. Wer hat das getan? Warum? Wollten sie mich verletzten? Wieso? Sie waren doch meine Freunde.

Kaum dass ich mich bückte, um ihn aufzuheben, griff man nach meinem Federmäppchen, um es hin und her zu werfen, bis es sein Ziel im Mülleimer gefunden hatte. Nur ein kurzer Aufruf verließ meine Lippen, aber ich erkannte sofort, dass jeglicher Protest sinnlos war.

„Da gehörst du auch hin“, knurrte man mich an, als ich es mir seufzend zurückholte. Ich hatte damit gerechnet, dass es schlimm werden würde, doch nicht mit so viel Hass.

Ich kehrte auf meinen Platz zurück und im nächsten Moment betrat der Lehrer den Raum. Prüfend und mit einem skeptischen Blick sah er in die Klasse, doch dann folgte nur ein kurzes Kopfschütteln und er startete den Unterricht.

Ich hätte es ihm sagen können, aber ich wollte keine Schwäche zeigen. Irgendwie würde ich das Alles schon überleben. Sie würden sich ja hoffentlich irgendwann damit abfinden und selbst einsehen, wie sinnlos ihre ganze Hasstirade war. Diese Hoffnung vergrub ich tief in mein Herz und klammerte mich an ihre Erfüllung.

Doch ich hatte mich geirrt. Erneut…

„Du kannst dich in den Duschen umziehen! Hier will dich keiner haben, perverses Schwein!“ Man nahm mir meinen Sportbeutel weg und schmiss ihn in die besagten Kabinen. Ich suchte den Blick von Robert. Er wich mir aus und tat so, als würde er mich nicht mehr kennen. Und das alles nur, weil ich schwul war. Ich wünschte mir langsam, dass es anders wäre, doch ich hatte es mir nicht ausgesucht. Mädchen waren für mich uninteressant. Es törnte mich nicht an, wenn ich Busen sah oder die wohlgeformte Taille. Nein, ich mochte auch nicht diesen süßlichen Geruch, sondern liebte diesen herben, animalischen Moschusduft. Alles Dinge, die mir in den letzten Jahren aufgefallen waren.

Ich seufzte und begab mich zu den besagten Duschen, wo ich mich dann umzog. Ignorierte dabei das Gelächter aus dem anderen Raum. Ich wollte nur diese schreckliche Zeit hinter mich bringen. Aber es würde noch lange dauern.

Ob ich die Schule wechseln sollte? Von vorne anfangen und dann niemanden das Geheimnis sagen? Ach! Was spielte ich mir vor? Wir waren hier auf dem Land. Jeder kannte sich und somit würde meine Sexualität nicht lange unbekannt bleiben. Egal wohin ich ging, also konnte ich mir den Wechsel sparen.

Ich zog mir gerade mein T-Shirt über den Kopf, als mich plötzlich eine gewaltige Ladung kaltes Wasser traf. Einpaar Sekunden verstrichen, in denen ich nur das spöttische Lachen der anderen wahrnahm, ehe ich begriff, dass jemand die Dusche aufgedreht hatte, unter der ich stand. Sofort drehte ich sie ab, dennoch war es zu spät und ich blieb pudelnass zurück. Mein weißes T-Shirt klebte an meiner Haut und zeigte deutlich die zierliche Brust darunter. Ich war dürr und man erkannte die Rippen, weil sich aufgrund der Kälte alles in mir zurückzog und ich zitternd da stand. Verständnislos starrte ich meine Mitschüler an, wobei diese erneut nur laut auflachten und selbst Robert schmunzelte ein wenig. Wie ich ihn dafür hasste. Er könnte wenigstens einen Moment zu mir stehen. Mich nicht so alleine lassen. Aber nein, das ging nicht. Es wollte nicht gehen.

Ich wrang mein T-Shirt aus und versuchte auch aus der Hose das Wassers zu bekommen. Es klappte nicht so gut, wie ich es mir gewünscht hätte, und so blieben meine Kleider nass und ich frierend alleine in der Umkleide zurück. Tränen drangen in meine Augen und ich schluckte sie hart herunter. Ich durfte jetzt keine Schwäche zeigen, dann würde es noch schlimmer werden.

Der Schulgong erklang und ich wusste, dass ich in der Turnhalle erscheinen musste. Was würde der Lehrer dazu sagen? Und vor allem, was würde ich ihm erzählen? Konnte ich meine Mitschüler verpetzen? Machte ich es dadurch sogar nur schwerer?

Ich seufzte und schritt dann in die besagte Halle, wobei ich hoffte, dass sie mich wenigstens den Sport heil überstehen ließen. Die Hoffnung starb ja bekannterweise zuletzt …

„Wieso bist du so nass?“ Die Stimme des Lehrers drang zu mir durch und ich zuckte nur kurz mit den Schultern. „Ich bin aus Versehen an den Hebel der Dusche gekommen, als ich mich darunter umgezogen habe.“

„Wieso das?“ Die Skepsis in der Stimme des Erwachsenen nahm weiter zu, sodass ich kurz überlegte. Mein Blick huschte dabei immer mal wieder zu meinen Mitschülern, doch ihre Haltung zeigte deutlich, was passieren würde, wenn ich jetzt die Wahrheit sagte. Ihre Körper spannten sich an und manche ließen ihre Faust in die Hand schlagen. Ein tonloser Seufzer glitt über meine Lippen, als ich meine Entscheidung traf.

„Ich weiß nicht. Irgendwie ziehe ich mich lieber fern der anderen um“, log ich und wich dem Blick des Lehrers aus. Ich hörte, wie er schwer seufzte und spürte, dass ich mich getäuscht hatte. Er sah skeptisch auf mich und danach meine Mitschüler an.

„Bist du dir da sicher?“, hakte er nach und bekam ein Nicken von mir. Trauer kroch in seine Augen, doch er akzeptierte meine Antwort. „Okay, dann pass das nächste Mal besser auf. Aber so kannst du nicht mitmachen. Jetzt ist eh eure letzte Stunde. Zieh dich um und geh nach Hause, bevor du mir krank wirst.“ Seine Stimme war sanft und ich nickte. Sah in den Augen meiner Mitschüler, dass sie doch so viel mehr noch mit mir vorhatten. Tja, diese Chance hatten sie sich selbst genommen.

Ich wandte mich ab und ging mit einem siegreichen Lächeln auf die Tür zu, um die Halle hinter mir zu lassen. Schließlich hatte ich diese Schlacht doch gewonnen. Die Erste in einem langen Krieg und ich wusste nicht, wer am Ende der Gewinner sein würde.

Langsam betrat ich wieder die Umkleidekabine und holte meine Kleidung. Es war egal, ob ich mich umzog oder nicht, denn meine Alltagskleidung war auch pitschnass. Ich stopfte sie in meine Sporttasche und verließ den Raum so wie ich war.

Zuhause würde meine Mutter auf mich warten und sie würde sich fragen, warum ich jetzt schon zurückkam. Ich musste mir eine gute Ausrede einfallen lassen.

Erneut seufzte ich. Ich hatte es Robert gesagt, damit diese Welt aus Lügen endlich verschwand, doch jetzt vertuschte ich weiter die Wahrheit. Es wäre nicht unbedingt das Beste, wenn sich die Erwachsenen einmischten. Nein, es würde die Situation nur schlimmer machen. Viel, viel schlimmer.

Ein Seufzer stahl sich erneut über meine Lippen, als ich mein Fahrrad aufschloss und meine Taschen auf dem Gepäckträger befestigte, bevor ich es aus dem Keller schob und aufsaß.

Ich sah auf das Schulgebäude zurück. Gestern war ich noch beliebt gewesen. Ich hatte mit ihnen gelacht und ihre Nähe genossen. Niemand hatte mein Geheimnis geahnt. Geahnt, dass ich schwul war.

Jetzt war alles anders.

Ich hatte mich der falschen Person anvertraut. Der Mensch, dem ich blind überallhin folgte, hatte mich in diese Welt gestoßen. Er hatte meine Gutmütigkeit ausgenutzt und so getan als wäre ich der Feind.

Hat es jeden erzählt, wie ich zu dem männlichen Geschlecht stand und vielleicht sogar noch mehr.

Ich wollte gar nicht wissen, was er gesagt hat oder sich die Jungs dachten. Es würde mich nur verletzten. Morgen würde ich zurückkommen müssen. Es würde weitergehen. Ich wollte das Alles nicht, aber ich konnte auch nicht mehr lügen. Freiheit. Ich wollte nur frei sein und mich nicht mehr verstecken müssen.

Die Sonne schien warm auf mich herab und trocknete langsam meine Kleidung, wodurch ich leicht lächelte und erneut zurücksah. Das Schulgebäude erhob sich wie ein riesiges Monster hinter mir, das mich bedrohte und verschlang, wenn ich es nicht erlegte.

Wer würde diesen Kampf gewinnen?

„Ich bin Zuhause“, rief ich in die kleine Wohnung, wobei meine Mutter sofort zu mir trat und mich irritiert ansah. „Was ist passiert? Hast du kein Sport?“

„Ja, schon. Aber der Lehrer hat mich nach Hause geschickt, weil es mir nicht so gut ging. Ich habe einen Ball gegen den Kopf bekommen. Aber keine Sorge. Ich habe nur Kopfschmerzen und lege mich sofort hin.“ Mit diesen Worten schritt ich an ihr vorbei und missachtete ihren sorgenvollen Blick.

Ich hatte genug eigene Gedanken, um die ich mich kümmern musste, da konnte ich mich nicht auch noch damit befassen. In meinem Zimmer angekommen schloss ich die Tür hinter mir ab und ließ die Taschen irgendwo liegen. Es war mir egal und so schlüpfte ich aus der leicht feuchten Kleidung, die ich dann achtlos auf den Boden schmiss, bevor ich mich auf mein Bett warf.

Jetzt erst erlaubte ich es mir zu weinen. Immer wieder verkrampfte sich mein Körper unter den Tränen und ich rollte mich enger zusammen. Versuchte so die Angriffsfläche zu verkleinern und zu verschwinden. Sie sollten mich in Ruhe lassen. Ich hatte ihnen nichts getan und ich hatte auch nicht laut geschrien, dass ich schwul sein wollte.

Wer konnte schon bestimmen, wen er liebte? Welcher Mensch war in der Lage selbst festzulegen, ob er Männer oder Frauen toll fand? Niemand.

Ich umschlang meinen Oberkörper und versuchte mir so Halt zu geben, weil das Gefühl zu fallen stärker wurde. Immer wieder durchlebte ich in Gedanken die Szenen des heutigen Tages, hörte ihre Beschimpfungen, spürte die Stöße gegen meinen Körper und vernahm ihr Lachen, wenn sie mich bloßstellten.

Was hatte ich ihnen getan? Ich liebte keinen von ihnen. Niemand war attraktiv genug, dass ich nur eine Sekunde daran dachte, mit einem von ihnen ins Bett zu hüpfen. Sie waren alle nicht mein Typ. Warum sprachen sie mit mir nicht darüber? Ich könnte es ihnen erklären. Sie könnten mich vielleicht verstehen. Wieso lachten sie mich lieber aus? Versuchten mich zu vertreiben?

Meine Hände krallten sich in das Laken unter mir, während die Tränen weiter den Stoff durchnässten und immer mal wieder ein Wimmern über meine Lippen kam. Ich wollte nicht mehr lügen und mich verstecken. Vor niemanden mehr. Doch ich konnte keinem von dem Mobbing berichten, weil es dann nur schlimmer werden würde. Warum half mir keine Menschenseele? Sah es denn kein Mensch? Tat ich nicht einem leid?

Ich fühlte mich so verlassen und schutzlos. Wie sollte ich mich dagegen wehren? Was konnte ich tun, damit sie endlich aufhörten? Ich hatte so viele Fragen und keine einzige Antwort. Es tat nur weh, hier zu liegen und zu wissen, dass der morgige Tag genauso weitergehen würde. Doch ich musste in die Schule gehen. Es irgendwie ertragen. Schließlich waren es nur ein paar Jahre. Die konnten ja nicht so schlimm werden, oder?

Ein verzweifeltes Lachen kam über meine Lippen, wobei sich mein Magen erneut verkrampfte und ich mich noch einmal tiefer in das Laken unter mir verkroch. Sie würden mich leiden lassen. Immer mehr und irgendwann würden sie körperlich auf mich losgehen. Das wusste ich. Ich hatte es so oft gehört, gelesen und selbst gesehen gehabt. All das würde mir jetzt passieren. Ich hatte keine Chance. Sollte ich doch mit jemanden darüber reden?

Erneut zog sich alles in mir zusammen und ich schüttelte den Kopf. Nein, das ging nicht.

Es würde nichts bringen. Rein gar nichts.

Wahrscheinlich würde es nur schlimmer werden. Viel schlimmer, als es mir selbst lieb war. Ein Seufzer stahl sich über meine Lippen und ich zwang mich zur Ruhe. Versuchte zu erzwingen, dass das Zittern in meinem Körper nachließ und die Tränen versiegten. Es dauerte eine Weile, in der ich mich bewusst auf das Atmen konzentrierte und mich so immer mehr beruhigte.

Ich musste durchhalten. Vielleicht sollte ich sie ignorieren. Das wäre zumindest eine Idee, die man ausprobieren könnte …

Der nächste Tag kam und ich versuchte, meinen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Erneut beschimpfte und bewarf man mich. Ich ignorierte es, so gut es ging, und reagierte in keiner Weise auf irgendetwas von ihnen. Sah sie nicht einmal an und es hörte auf. Sie stoppten. Ich konnte es gar nicht begreifen und mein Glück kaum fassen, wodurch ich dem Unterricht wieder mit einem kleinen Lächeln folgte. Vielleicht war dieser Terror nun vorbei. So hoffte ich es zumindest. Doch auch dieses Mal sollte ich mich irren. Denn als die Glocke zur Pause schlug, ging ich auf den Schulhof und ließ mich in einer ruhigen Ecke nieder, wo der Schatten mich vor der Sonne schützte und ich nicht sofort jeden ins Auge fiel. Ich wollte nur verschwinden und niemanden mehr zur Last fallen.

Gerade biss ich in mein Sandwich, als sich vier Jungs vor mir aufbauten. Um eine Konfrontation zu vermeiden, unterdrückte ich den Impuls, den Kopf zu heben und sie anzusehen, denn ich wollte nur meine Ruhe haben. Warum ließen sie mich nicht in Frieden? Was erhofften sie sich davon? War meine Anwesenheit eine solche Pein für sie?

„Wie lange willst du uns noch ignorieren, Felix?“ Es war die Stimme von Robert, die diese Frage aussprach, was mich trocken schlucken ließ. Nein, es schien ihm nicht zu genügen, dass er mich verraten hatte. Anscheinend führte er diese ganze Bewegung auch noch an. Warum?

Doch ich reagierte nicht, sondern biss wieder von meinem Sandwich ab und hoffte, dass sie verschwanden, wenn ich weiter schwieg und so tat, als wären sie nicht da. Wieso wurde meine Hoffnung nicht erfüllt?

Man packte mich grob am Kragen und zog mich in die Höhe, wodurch ich in die Augen von Robert blickte. All die Freundlichkeit und Wärme, die ich in den ganzen Jahren unserer Freundschaft dort hatte sehen dürfen, waren verschwunden. Nun spiegelten sich darin nur bodenloser Ekel und Hass.

„Wieso?“ Ich konnte nicht mehr sagen und ich bekam auch keine wirkliche Antwort, sondern man schlug mir stattdessen nur das Sandwich aus der Hand und ich sah, wie es im Dreck landete.

Warum machten sie das?

Weshalb tat Robert das Alles?

Bevor ich erneut etwas sagen konnte, boxte man mir hart in die Magengrube. Ich stöhnte auf, als der Schmerz durch meinen Leib raste, und war kurz davor, dass ich mich übergab, jedoch konnte ich das in letzter Sekunde verhindern.

Immer wieder wurde mein Körper von neuen Leid überrannt, als Robert weiter auf mich einschlug. Dabei konzentrierte er sich vorzugsweise auf meinen Oberkörper, damit man die blauen Flecken nicht sofort sah, weshalb ich mich irgendwann nur schützend zusammen rollte.

Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern bis die Fäuste und Füße verschwanden und der Schmerz langsam abebbte. Nur am Rande nahm ich dabei die Schulglocke war, doch ich blieb liegen und erneut liefen mir Tränen über die Wangen.

Alles tat mir weh und die Hilflosigkeit stürmte meine Gedanken. Warum kam niemand, um mir zu helfen? Wieso ließen sie es geschehen?

Erneut warf sich ein Schatten über mich, wodurch ich mich instinktiv noch mehr zusammenrollte aus Angst, dass man mich aufs Neue schlagen könnte, jedoch drang stattdessen eine sanfte Stimme zu mir durch: „Brauchst du Hilfe?“

Zögernd öffnete ich die Augen und sah in ein Paar Smaragde, die mich besorgt ansahen, was ich nicht verstand.

„Der Unterricht beginnt bald. Wir sollten gehen“, sprach er weiter, „kannst du aufstehen? Was ist denn passiert, dass du hier so liegst?“

Ich begriff nicht, warum dieser Junge vor mir stand. Sein braunes Haar fiel in einem Pferdeschwanz über seine Schultern, als er weiter die Hand nach mir ausgestreckt hielt und ich sie schließlich zögerlich ergriff.

„Nichts Besonderes. Ich bin wohl eingeschlafen“, versuchte ich erneut zu lügen, doch ich sah, dass er es mir nicht glaubte. „Dann schläfst du aber verdammt komisch.“ Er lächelte kurz und begann vorsichtig den Dreck von meiner Kleidung zu klopfen „Wir müssen uns echt beeilen, sonst kommen wir beide noch zu spät. Ich würde gerne mit dir ein wenig reden. Lust, dass wir uns in der nächsten Pause hier an diesem Ort treffen?“

Ich musste warm lächeln und nickte. „Gerne.“ Zwar kannte ich diesen Jungen nicht, doch er war freundlich zu mir und das fühlte sich gut an, sodass ich mich dann vorstellte: „Mein Name ist Felix.“

„Ich heiße Alex“, nannte er mir seinen Namen und reichte mir meine Tasche, „also bis zur nächsten Pause.“ Damit verschwand er schon wieder und ich lief ebenfalls zurück in meinen Klassenraum. Es tat gut, nicht mehr alleine zu sein, und wer wusste, vielleicht würde die Anwesenheit von Alex mir ein wenig Frieden gewähren.

Als ich das Zimmer betrat, war der Lehrer schon da, wodurch ich unbehelligt auf meinen Platz gehen konnte. Jede Bewegung schmerzte, doch ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. Nur kurz ließ ich meinen Blick zu Robert wandern, aber dort sah ich etwas, was ich nicht erkennen wollte. Er hasste mich dafür, dass ich hier auftauchte, und hatte damit wohl nicht gerechnet.

„Gut, dann sind wir ja vollzählig.“ Mit diesen Worten begann der Lehrer den Unterricht, wobei ich erneut die kleinen Schikanen ignorierte und mich weiter auf den Stoff konzentrierte. Die nächste Pause kam bestimmt und dann würde ich Alex wiedersehen.

Alleine bei dem Gedanken legte sich ein Lächeln auf meine Lippen. Es tat gut, wieder gemocht zu werden. Seine Sorge war echt gewesen und obwohl er mich nicht kannte, hatte er mir geholfen. So etwas kam selten vor. Er hätte mich wie der Rest ignorieren können. Doch er hatte es nicht getan.

Hoffentlich blieb er auch, wenn er über meine Sexualität erfuhr, und das würde er wohl sehr schnell, sobald Robert und die anderen mitbekamen, dass wir zusammen abhingen. Vielleicht gingen sie dann auf ihn los. Konnte ich das verantworten?

Zweifel stiegen in mir auf und ich wusste nicht, ob ich zu ihm gehen sollte. Ich konnte nicht in Kauf nehmen, dass jemand wegen mir litt. Er war so nett und er hatte es nicht verdient, dass man ihm Unglück brachte.

Vielleicht sollte ich besser nicht zu ihm gehen und ihn meiden. Er hatte es nicht verdient, dass man ihn so behandelte, wie man momentan mit mir umsprang. Dafür war er zu nett. Nein, ich konnte nicht zu ihm gehen. Ich durfte mich nicht mit ihm treffen. Das würde ihn nur in die Sache verwickeln und das konnte ich nicht zulassen. Es war mein Kampf. Meiner ganz alleine.

Ich seufzte und spürte, wie das Glücksgefühl wieder verschwand. Ich war alleine und würde es auch bleiben. „Verzeih mir, Alex, aber ich kann dich da nicht mit hineinziehen“, entschuldigte ich mich in Gedanken bei dem Jungen und hoffte, dass er es mir nicht allzu übel nahm. Doch das war mein Kampf und ich konnte nicht zulassen, dass Unbeteiligte mit hineingezogen wurden. Vor allem wenn sie nur helfen wollten…

Die nächste Pause kam und ich erkannte, dass Alex am vereinbarten Ort auf mich wartete. Immer wieder sah er sich nach mir um, doch ich blieb im Verborgenen. Warum ging er nicht einfach? Aber er verharrte weiter und dann schritt Robert auf ihn zu. Er wusste, dass dies mein Ort war, an dem ich die Pause verbrachte. Sie unterhielten sich und die Panik stieg in mir auf. Ich wusste nicht, was mein ehemals bester Freund erzählte, aber ich konnte erkennen, dass Alex kurz verwundert war. Doch dann lachte Robert los und Hass stürmte Alex‘ Gesicht, kaum dass er sich auf Robert stürzte. Nein, ich begriff nicht, was dort abging, allerdings konnte ich auch nicht mehr im Verborgenen bleiben. Sofort eilte ich zu den beiden und zog Alex von Robert runter, wobei mich die anderen Jungs überrascht ansahen und sich mein ehemaliger Freund mit einem zornigen Blick aufrichtete.

„Was fällt dir ein? Hältst du etwa zu dieser Schwuchtel?“ Es war purer Hass, der aus der Stimme von Robert triefte und ich spürte erneut die Angst in meinem Körper, die mir Übelkeit bescherte, wodurch ich Alex losließ. Dieser baute sich sogleich vor mir auf und hielt mich somit dem Blick von Robert fern.

„Ja, das tue ich! Seit wann ist es ein Verbrechen, wen man liebt?! Ihr seid erbärmlich, wenn ihr andere deswegen niedermacht!“, schnaubte mein neuer Freund, wobei ich nicht wusste, warum er so handelte. Was versprach er sich davon? Wieso tat er das für mich?

Mein Blick glitt über den Pausenhof, doch die anderen Kinder und Jugendlichen sahen nur zu uns her. Manche verstohlen, einige offen und ehrlich, aber niemand kam zu uns. Sie alle wollten damit nichts zu tun haben.

Feiglinge!

Der Lehrer unterhielt sich mit einem von Roberts Leuten und schien nichts von der kurzen Schlägerei mitbekommen zu haben.

„Es ist einfach nur krank und widerlich! Wie kann man einen anderen Mann lieben?!“, begehrte Robert weiter auf, was mich schlucken ließ, jedoch gab Alex nicht auf: „Indem man es nun einmal tut! Niemand kann sich aussuchen, wen er liebt oder warum! Es ist ein Armutszeugnis, wenn man das nicht begreift und andere deswegen angreift!“

„Halt dich da raus oder stehst du etwa auch auf Männer? Das ist eine Sache zwischen mir und Felix! Geh zur Seite!“ Er wollte Alex grob wegstoßen, doch dieser griff nur nach dem Arm und drehte diesen auf den Rücken. Robert schrie schmerzhaft auf und sank auf die Knie.

„Felix wird in Ruhe gelassen! Haben wir uns da verstanden? Und es ist egal, auf wen oder was ich stehe! Ich sehe es nur nicht ein, dass andere deswegen niedergemacht werden. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?!“ Die Stimme von Alex war hart und unnahbar. Ich wusste nicht, warum er das für mich tat, doch ich ahnte, dass etwas Großes dahinter stand.

Robert gab auf und wurde losgelassen. Unsere Blicke trafen sich und ich spürte, dass es noch lange nicht vorbei war, weshalb ein Zittern durch meinen Körper ging. Er entfernte sich und Alex wandte sich mit einem Lächeln auf seinen Lippen zu mir: „Wo warst du denn die ganze Zeit? Ich dachte schon, dass du wieder irgendwo zusammengeschlagen liegst.“

„Es tut mir Leid. Ich… ich wollte dich da nicht mit hineinziehen“, entschuldigte ich mich und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war mit dieser Situation gänzlich überfordert, als ich dann sein Lachen hörte: „Das ist ja süß. Tja, leider habe ich mich wohl selbst in die Sache hineingezogen. Also brauchst du dich jetzt nicht mehr von mir fernhalten.“

Wie gerne hätte ich diese Worte geglaubt, doch ich kannte Robert. Er gab nicht so schnell auf. Gerade war er alleine gewesen, aber er hatte fast die ganze Klasse hinter sich und gegen die hatte Alex keine Chance, wodurch ich bedrückt meinen Kopf hängen ließ.

„Was ist los?“ Ich hörte erneut die Sorge in seiner Stimme und seufzte kurz. „Ich weiß es nicht. Aber irgendwie glaube ich, dass dies nur der Anfang war.“ Ich wünschte mir, dass es endlich vorbei war, doch das wäre zu einfach gewesen. „Ich habe Angst, dass du nun auch von ihnen angegriffen wirst. Einer gegen einen ist ja noch in Ordnung, aber wenn es dann plötzlich mehr werden, hast du auch keine Chance mehr.“

„Kann schon sein. Aber ich will nicht wegsehen, denn das lässt Menschen sterben.“ Ich hörte die Trauer in seiner Stimme, doch ich traute mich nicht nachzufragen. Schließlich kannten wir uns noch nicht lange und irgendwie wollte ich nur endlich wieder akzeptiert werden, einen Freund haben. Konnte Alex das für mich werden?

„Danke.“ Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen, das von dem Braunschopf erwiderte wurde. Er deutete mir, auf einer Bank Platz zu nehmen, wo wir uns ein wenig unterhielten, bevor der Gong das Ende der Pause bekannt gab und sich unsere Weg erneut trennten…

Es tat gut endlich einmal wieder mit jemanden normal zu reden, wodurch ich mit einem leichten Grinsen zurück ins Klassenzimmer ging. Ich spürte, wie die stechenden Blicke auf mir ruhten und mein Lächeln erlosch. Hier war ich der Feind und alle waren gegen mich. Dennoch taten sie nichts und ließen mich auf meinen Platz gehen. Doch kaum saß ich, kamen Robert und zwei weitere Jungen auf mich zu und sie bauten sich vor mir auf. Ich fühlte mich klein und hilflos und versank automatisch tiefer im Stuhl.

„Du fühlst dich stark. Jetzt da du einen Freund hast. Aber er wird mit dir untergehen. Ich hoffe, dass du das verkraften kannst. All das Leid, was diesem Kerl jetzt widerfährt, ist deine Schuld, Felix. Deine ganz alleine.“ Ich spürte erneut, wie mein Körper leicht unter den Worten zitterte, doch ich krallte mich nur an dem Saum meiner Ärmel fest und versuchte den Blick meines ehemaligen besten Freundes standzuhalten. Aber es ging nicht, weshalb ich bald mein Haupt demütig senkte.

„Ich… ich… er wollte das selbst. Ich habe ihn nicht darum gebeten und er hat keine Angst vor euch“, begehrte ich leicht auf und Robert lachte nur finster. Sein Blick fraß sich in meinen und ich schluckte trocken: „Noch nicht. Aber glaub mir, Felix, er wird sie noch bekommen und dann stehst du wieder ganz alleine auf weiter Flur.“

Er schlug demonstrativ vor mir auf den Tisch, was mich zusammenzucken ließ, bevor er sich mit einem dunklen Lachen von mir entfernte. Seine Freunde folgten ihm und ich spürte erneut die Verzweiflung in meinem Herzen, die mir Tränen in die Augen trieb.

Ich durfte hier nicht weinen. Nein, das wäre fatal.

Es würde sie nur bestätigen und sie würden weiter auf mir herumhacken. Ich musste stark sein und durchhalten.

Nur noch eineinhalb Stunden.

Das war doch möglich, oder?

Ich schluckte hart und atmete tief ein und aus, wodurch die Tränen langsam wieder verschwanden und ich diese Katastrophe abwandte. Aber was tat ich nun? Alex wollte sich nicht raushalten und ich ihn nicht von mir stoßen. Ich brauchte jemanden, der mir durch diese Zeit half. Sonst tat es doch niemand. Allen anderen war ich nur egal.

Ich grinste leicht, als ich an das Lächeln von Alex dachte. Er begegnete mir ohne Vorurteil und verteidigte mich sogar. Ihm war gleichgültig, wen oder was ich liebte. Es tat so gut, wenn man mich mal nicht als Monster bezeichnete. So verdammt gut.

Kaum dass der Lehrer ins Zimmer kam, lauschte ich seinem Unterricht nur mit halbem Ohr und versuchte, immer noch irgendeinen Weg zu finden, Alex zu beschützen. Allein der Gedanke war eigentlich lächerlich. Ich konnte mich ja nicht einmal selbst verteidigen, wie sollte ich dann überhaupt einen Zweiten in Schutz nehmen.

Vielleicht redete ich mit ihm. Nein, das war nicht möglich. Alex würde nicht weichen. Ich hatte seinen Ernst gesehen. Er würde mich nicht im Stich lassen, egal, wie sehr ich ihn darum bitten würde.

Der einzige Weg wäre, ihn von mir zu stoßen. Doch das konnte ich nicht. Das war für mich keine Lösung, denn dafür genoss ich die Gesellschaft von ihm viel zu sehr. Ich wollte nicht mehr alleine sein.

Ein tonloser Seufzer entwich meiner Kehle, als der Schlussgong erklang und ich meine Sachen zusammenpackte. Jeder Kerl, der an meinem Platz vorbeiging, schmiss irgendetwas davon runter, sodass ich mich bücken musste und erst als Letzter das Zimmer verließ. Der Lehrer bekam es jedoch nicht mit, weil er selbst mit Packen beschäftigt war, und ich hatte nicht vor zu petzen.

Schließlich war alles in meiner Tasche verstaut und ich konnte sie schultern, bevor ich dann das Zimmer verließ und nach Hause gehen wollte, doch kaum dass ich den Schulhof überquerte, wurde ich erneut umzingelt.

Robert sah mich wieder eiskalt an und ich konnte sein Verhalten immer noch nicht verstehen. Wie war es für ihn so einfach, mich zu hassen? Schließlich waren wir Sandkastenfreunde gewesen. Wir hatten unseren ersten Schmetterling zusammen gefangen, Sandburgen gebaut und Mädchen geärgert. So oft gelacht und einander immer wieder getröstet. Wie konnte er das alles nur vergessen und mich verachten? Ich begriff es nicht.

„Na, wo ist dein Wachhund jetzt?“ Der Spott in seiner Stimme schmerzte, doch ich zuckte nur mit den Schultern: „Keine Ahnung. Vielleicht schon auf den Heimweg.“

Er stieß mir grob gegen den Brustkorb, was mich nach hinten taumeln ließ. Direkt in die Arme eines anderen Kerls, der mich gnadenlos festhielt. Und bevor ich verstand, was für ein Spiel das jetzt wieder wurde, explodierte ein steinerner Schmerz in meiner Magengrube. Ich versuchte, mich zusammenzukrümmen, doch der Junge hinter mir ließ mich nicht, wodurch Robert weiter zuschlug.

Die anderen feuerten ihn an und ich spürte neben der Pein wieder diese Verzweiflung in mir. Warum taten sie das? Was versprachen sie sich davon? Welches Ziel verfolgten sie?

Dieses Mal beschränkte sich Robert nicht nur auf meinen Oberkörper, sondern schlug mir auch ins Gesicht. Ich wusste nicht mehr, woher der Schmerz genau kam und wo man mich traf, aber irgendwann ließ man mich los. Irgendwie glaubte ich, dass man mich anspuckte, doch das war mir egal, als ich endlich in mich zusammenfallen konnte und sie mit einem schadenfrohen Lachen davongingen.

Ich begriff es nicht und durch diese Hoffnungslosigkeit spürte ich erneut die Tränen auf meiner Wange. Nein, ich durfte nicht weinen. Ich wollte nicht. Warum hörten sie nicht auf zu fließen? Sie sollten verschwinden. Dadurch würde alles nur schlimmer werden.

Plötzlich berührte man mich sanft an der Schulter, wodurch ich zusammenzuckte und mich auf einen weiteren Schlag gefasst machte, doch er kam nicht. Stattdessen hörte ich die besorgte Stimme von Alex: „Felix? Ist alles in Ordnung? Es tut mir Leid, dass ich zu spät komme.“

Ich konnte ihm nicht böse sein. Es ging einfach nicht. Schließlich hatte er ein eigenes Leben und selbst Unterricht, den er besuchen musste. Er konnte nicht immer bei mir sein, wodurch ich ihm antworten wollte, doch aus meiner Kehle drang nur ein leises Schluchzen.

„Komm, lass uns gehen.“ Er half mir aufzustehen, wobei mir fast sofort schlecht wurde und ich mich übergeben musste. Das Blut darin ignorierte ich, denn so wie es schmeckte, kam es aus meinem Mund. Bestimmt fehlte mir irgendein Zahn. Oh ja, da schwamm er.

„Du musst es jemanden sagen“, drang seine Stimme zu mir durch, sodass ich darauf den Kopf schüttelte: „Nein, das würde nichts bringen. Niemand kann mich beschützen. Solange ich hier bin, werden sie es tun und nicht damit aufhören.“

„Dann zeig sie an“, drängte er weiter und ich sah ihn geschockt an. Das konnte ich nicht machen. Sie waren meine Klassenkameraden und meinten es gar nicht so. Sie waren doch nur mit der Situation überfordert. Sie wollten mir nicht wirklich schaden und bestimmt nicht meinen Tod. Irgendwann würde es schon aufhören.

„Nein, das kann ich nicht tun. Sie sind meine Mitschüler.“ Energisch schüttelte ich den Kopf, aber Alex sah mich nur besorgt an: „Sie schlagen dich zusammen, bespucken und hassen dich. Willst du wirklich darauf warten, dass dir einer von ihnen ein Messer in den Leib rammt und du daran verreckst?“

Ich verstand die Ekstase in der Stimme von Alex nicht, doch ein unangenehmer Schauer glitt bei seinen Worten über meinen Rücken. Würden sie so weit gehen? Wäre Robert dazu in der Lage? Ich wusste es nicht, denn es schien für mich, als würde ich ihn nicht mehr kennen.

„Ich kann nicht“, meinte ich leise und wandte mich dann ab, um in Richtung Heimat zu gehen. Ich spürte, wie Alex hinter mir blieb und mich nur ansah. Hoffentlich verstand er es. Aber es ging nicht. Sie waren meine Klassenkameraden. Ich hatte so oft mit ihnen gelacht und Spaß gehabt. So viele schöne Erinnerungen. Sie mussten sich nur an meine Sexualität gewöhnen, lernen damit umzugehen und dann würde alles wieder wie früher. Bestimmt…

„Oh Gott, Felix! Was ist passiert?!“ Meine Mutter war sofort bei mir, kaum dass sie meine Verfassung sah. Sie berührte meine Wange und ich zuckte zurück, weil ein gleißender Schmerz durch meinen Körper raste. „Nichts Schlimmes.“

„Nichts Schlimmes?! Bist du des Wahnsinns? Hast du schon einmal in den Spiegel geschaut? Schatz, du siehst furchtbar aus. Wer hat dir das angetan?“ Ihre Stimme war voller Sorge und ich versuchte zu verstehen, warum sie so mit mir redete, doch ich lächelte nur kurz, bevor ich dann mit den Schultern zuckte. „Irgendwelche Fremden. Ich weiß nicht, was ich ihnen getan habe.“

Ich musste schwindeln. Immer wieder lügen. So lange hatte ich schon mit einer Lüge gelebt. Jetzt sah sie nur anders aus. Früher tat ich so, als interessierten mich Mädchen. Nun verleugnete ich, dass meine Klassenkameraden und mein bester Freund versuchten, mich zu zerstören.

„Das… das kann doch nicht sein. Dir ist doch früher nie etwas passiert. Was hat Robert denn gemacht? Hat es ihn auch erwischt?“ Ein Dolch raste in mein Herz, als sie mich auf meinen ehemals besten Freund ansprach. Ich schluckte trocken und versuchte mich zu beruhigen. Sie wusste nicht, dass diese Beziehung beendet war.

„Nein, er war nicht dabei gewesen.“ Es tat weh, zu lügen und falsch zu lächeln. Doch ich konnte es nicht vermeiden. Es musste sein, um Schlimmeres zu verhindern. Was würde meine Familie tun, wenn sie wusste, wie ich empfand und warum man mir das antat? Sie würden mich bestimmt auch verachten.

„Komm mit in die Küche. Wir kühlen deine Prellungen.“ Sie führte mich in den besagten Raum und ich nahm am Esstisch Platz. Ruhig sah ich ihr dabei zu, wie sie eine Kältekompresse in ein Handtuch wickelte und zu mir kam.

Ich zog scharf die Luft ein, kaum dass sie einen kurzen Schmerz mit der Berührung entfachte, bevor die lindernde Wirkung einsetzte und ich mich langsam wieder entspannte.

„Du siehst furchtbar aus. Gibt es vielleicht irgendwelche Zeugen?“, durchbrach sie die Stille, doch ich schüttelte nur den Kopf. Ich wusste nicht, ob es neben Alex noch jemand beobachtet hatte, aber es war auch egal.

Ich wollte meine Klassenkameraden nicht anzeigen.

„Ich habe zumindest keinen gesehen“, meinte ich schulterzuckend und die Sorge in dem Gesicht meiner Mutter wuchs weiter. Ich versuchte zu lächeln, doch ich spürte, dass es nicht funktionierte, denn langsam traten Tränen in ihre Augen.

„Wir müssen Anzeige erstatten, Felix. Und wenn auch nur gegen Unbekannt. Vielleicht hat ja doch jemand etwas gesehen“, sprach sie wieder das Thema an, das ich nicht wollte und ich den Kopf schüttelte: „Nein, das bringt doch nichts. Du weißt ja, wie die Menschen sind. In solchen Momenten hat niemand etwas gesehen. Das ist reine Zeitverschwendung.“

Ich bemerkte, dass es ihr nicht gefiel, aber sie gab nach: „Wenn du meinst. Pass bitte besser auf dich auf. Du bist mein einziger Sohn und ich will dich nicht verlieren.“

Ihr einziger Sohn… ihr schwuler Sohn…

Ob sie mich weiter so liebevoll behandelte, wenn ich ihr sagte, wie ich mich fühlte und was wirklich geschehen war? Welche Menschen ich liebte und attraktiv fand? Könnte sie mich noch lieben oder hasste sie mich dann auch?

Im nächsten Moment ging die Wohnungstür auf und mein Vater meldete sich zurück: „Hallo, Schatz. Ich bin heute ein wenig früher weg, weil die Arbeit nicht genug war.“

Er trat in die Küche und sah mich überrascht an, bevor er dann zu mir eilte. „Felix?! Was ist passiert? Wer hat dir das angetan?“

„Irgendwelche Fremden. Ich weiß es nicht“, log ich weiter und er sah mich noch einmal an, bevor er dann breit grinste: „Aber du hast hoffentlich auch ein wenig zurückgeschlagen. Bist ja schließlich keine schwächliche Tunte, oder?“

Die Bezeichnung schmerzte und ich zwang mich zu einem Nicken. Ja, vielleicht würde es meine Mutter verstehen, doch für Vater wäre ich gestorben. Er hasste Menschen wie mich und war der Meinung, dass dies keine richtigen Männer seien, sondern alles nur Waschlappen. Ich musste lügen. Weiter verleugnen.

„Oh, du hast einen Zahn verloren. Ich hoffe, dass deinem Gegner auch ein paar fehlen, oder?“ Er wirkte stolz auf mich. So als wäre man nur ein Mann, wenn man sich geprügelt hatte, und ich nickte erneut. Ich konnte nicht sprechen, denn die Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu.

Niemand würde mich akzeptieren, so wie ich war. Nur Alex. Ja, für ihn war ich ein normaler Junge. Aber für alle anderen musste ich entweder lügen oder das Monster sein, das sie hassten und vernichten wollten…

Kapitel 2

Der nächste Tag kam. Die Torturen setzten sich fort. Immer wieder wurde ich gehänselt, geschubst, geschlagen und bespuckt. Ab und an stellte man mir ein Bein, doch ich fing mich schon bald selbst ab und verhinderte so mehrere Stürze. Ich ignorierte es, so gut es ging. Den Schmerz in meinem Körper und auf meiner Seele. Vermied den Kontakt zu Alex, damit er nicht in diese Situation mit hineingezogen wurde. Wich ihm immer wieder aus, wenn er mich sah und auf mich zu gerannt kam. Nein, ich könnte nicht verantworten, dass er ebenfalls Schläge bekam, weil er in meiner Nähe war. Da musste ich alleine durch.

Es ging meistens gut. Langsam entwickelte ich ein Gefühl dafür, wann sie kamen, und konnte ihnen dann ausweichen. Kapselte mich weiter ab. Wurde immer stiller und in mich gekehrt. Die besorgten Blicke meiner Eltern ignorierte ich, genauso wie die Hartnäckigkeit von Alex.

Es vergingen Wochen und ich nahm mittlerweile an Gewicht ab, weil ich keine Ruhe fand, um zu essen, oder mir der Appetit fehlte und die Mienen wurden alarmierter. Doch sie schienen nicht zu wissen, wie sie es ansprechen sollten. Auf die Frage, „wie es mir geht“, bekamen sie nur die Standardantwort „gut“.

Nach einer Weile hörte Alex auf, zu mir kommen zu wollen und ich verkroch mich immer mehr in den dunklen Ecken des Schulgebäudes, um dort meine Ruhe zu haben. Ab und an weinte ich stumm für mich alleine. Ich wusste nicht, wie mein Leben weitergehen sollte und wünschte mir, dass ich irgendwo anders sein könnte. Dass ich den Tag noch einmal erleben und alles besser machen könnte. Ich wollte wieder zurück in die Lüge, dass ich Mädchen liebte. Mein Outing war ein riesiger Fehler gewesen.

„Felix?“ Ich saß am Esstisch und stocherte lustlos in meiner Mahlzeit herum, die vor meiner Sezierung mal ein Schnitzel mit Pommes war, als mich meine Mutter besorgt ansprach.

Nur träge hob ich den Kopf und sah sie an. Die Sorge in ihren Augen war allgegenwärtig, wodurch ich sie schon gar nicht mehr wahrnahm und wartete darauf, dass sie weitersprach.

„Wir haben einen Termin für dich ausgemacht und wir möchten, dass du ihn wahrnimmst“, redete sie weiter und schien auf eine Reaktion von meiner Seite zu hoffen, doch ich blieb regungslos.

Ich fühlte nichts bei diesen Worten, sodass ich meinen Blick wieder auf mein zerlegtes Essen gleiten ließ. „Wann und wo?“

„Diesen Freitagnachmittag gleich nach der Schule und zwar bei dem Psychologen Dr. Kreuz“, erklärte sie weiter und ich zuckte zusammen. Sie schickten mich zu einem Seelenklempner?! Waren sie noch ganz dicht? Was sollte mir dieser Therapeut schon bringen? Er würde nur herumstochern und mehr kaputt machen als heilen! Hatten sie noch alle Tassen im Schrank?

„Warum?“ Meine Stimme war nur ein Krächzen und erneut tauschten sie besorgte Blicke aus, bevor dann mein Vater antwortete: „Weil wir dir nicht mehr glauben, dass mit dir alles in Ordnung ist und wir wollen nicht, dass du an irgendetwas zerbricht, dass du in dich hineinfrisst. Du willst nicht mit uns reden, also hoffen wir, dass du bei einem Psychologen, der zum Schweigen verpflichtet ist, vielleicht offener wirst.“

Ich verstand ihre Sorge und ich wünschte mir, dass ich anders handeln könnte. Doch mit wem sollte ich reden? Alle verachteten mich oder ich wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen.

Die aktuelle Situation hatte mich zum Schweigen verdammt. Ich kam nicht mehr vor und zurück und daran würde auch ein Psychologe nichts ändern, dennoch nickte ich und seufzte resigniert: „Okay, wenn es euch dann besser geht, werde ich ihn besuchen. Versprecht euch aber nicht zu viel davon.“

„Danke, Schatz.“ Meine Mutter wirkte glücklich und es schmerzte.

War sie so leicht zufrieden zu stellen oder gar zu beruhigen? Warum sah sie nicht, dass ich innerlich vor Schmerzen schrie? Könnte sie mich nicht einfach in den Arm nehmen und sagen, dass sie mich liebte?

Ich spürte erneut, wie Tränen in meinen Augen brannten, sodass ich die Gabel niederlegte und mich erhob. „Ich hab keinen Hunger mehr.“

„Aber du hast gar nichts gegessen“, protestierte meine Mutter, doch ich ignorierte es und ging in mein Zimmer zurück, das ich sogleich abschloss.

Dort ließ ich mich auf mein Bett fallen, um erneut zu weinen. Sie sahen es alle nicht. Wagten sich nicht an mich heran und sie nahmen mich nicht in den Arm. Keiner mochte mich mehr. Ich fühlte mich alleine und verloren. Die Tatsache, dass man mich zu einem Psychologen schickte, machte es nicht leichter für mich.

Was sollte ich diesem Kerl denn sagen? Würde er meine Situation überhaupt verstehen? Was tat ich, wenn er mich dann auch hasste? All diese Fragen rasten durch meinen Kopf und ich wünschte mir, dass ich nicht gehen musste. Ich wollte nur stumm leiden und die Schule überleben. Warum verstanden sie das nicht? Es war mein Leben. Mein verfluchtes Leben und nichts würde es wieder kitten können. Auch kein Besuch bei so einem bescheuerten Psychiater.

Warum sahen sie das nicht? Diese Situation war da und sie würde erst verschwinden, wenn ich die Schule beendet hatte. Danach würde ich weit wegziehen. Irgendwohin, wo man mich nicht kannte und dort ein Leben beginnen, in dem man mich wieder lieben könnte. Bis dahin musste ich nur überleben. Nur irgendwie überleben…

„Hallo, Felix. Setz dich doch bitte.“ Ich betrat den Beratungsraum des Psychiaters und sah ihn unsicher an. Er war knapp über dreißig, hatte braunes, kurzes Haar, das neckisch immer mal wieder in sein Gesicht fiel.

Seine blauen Augen sahen mich sanft und verständnisvoll an. Als ich ihm meine Hand zur Begrüßung gereicht hatte, war der Druck achtsam und stark zu gleich gewesen. Er schien ein netter, junger Mann zu sein. Aber er war halt ein Mann und Männer hassten Menschen wie mich.

Unsicher nahm ich auf der Couch Platz und Dr. Kreuz setzte sich auf einen Sessel in meiner Nähe, um so zu verhindern, dass ich allzu laut sprechen musste. Ich fühlte mich nicht wohl. Er würde mir nicht helfen können. Das wusste ich jetzt schon.

„Deine Eltern haben den Termin ausgemacht. Ist er überhaupt in deinem Interesse?“ Der Anfang des Gespräches überraschte mich doch, sodass ich kurz unsicher lächelte: „Nicht unbedingt. Aber wenn ich sie damit beruhigen kann, dann werde ich es wohl tun.“

„Okay, dann bezweifle ich, dass es irgendetwas gibt, worüber du eigentlich sprechen möchtest, oder?“, fragte er ruhig nach. Seine Stimme war sanft und erweckte in einem das Gefühl, geborgen zu sein, sodass ich mich konzentrieren musste, um dieser Illusion nicht zu verfallen.

„Ich weiß es nicht.“ Ich zuckte mit den Schultern und wich seinem Blick aus, der mich glauben ließ, dass er bis tief in meine Seele schauen konnte und das wollte ich nicht. Niemand sollte dorthin sehen können.

Dort unten gab es nichts zu entdecken außer Schund und Müll. Zerbrochene Scherben meines früheren Ichs.

„Felix.“

Seine Stimme blieb sanft und ich schrak hoch, dadurch versank ich wieder in seinen Augen. So ein wunderschöner Mann.

„Etwas bedrückt dich. Das riecht man zehn Meter gegen den Wind. Ich kann verstehen, wenn du darüber noch nicht sprechen kannst, weil du vor irgendetwas Angst hast. Aber ich will auch, dass du verstehst, dass ich nicht hier bin, um dich zu verurteilen oder dir deine Fehler aufzuzeigen. Ich bin hier, damit du jemanden hast mit dem du reden kannst. Und vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung für das Problem, das deine Augen so traurig macht.“

Auf seine Worte hin musste ich trocken schlucken und wünschte mir, dass er es anders gesagt hätte. Meine Hände krallten sich ohne mein Zutun in meine Hose und ich sehnte mich nach einen besseren Weg. Doch ich sah keinen. Nun war ich hier. Für eine Stunde und musste mich mit dem Mann unterhalten, wenn ich nicht wollte, dass meine Eltern ihr Geld umsonst ausgaben.

„Alle hassen mich“, kam es leise über meine Lippen.

Ich wünschte mir, dass er es nicht verstanden hätte, doch er ging nicht in Erfüllung, denn er antwortete sofort: „Alle? Deine Eltern wirkten nicht so.“

„Sie wissen es ja nicht. Darum hassen sie mich noch nicht. Aber sie würden es tun, wenn sie die Wahrheit wüssten.“

Ich spürte, wie ich mich mit jedem Wort, das über meine Lippen kam, freier zu fühlen begann.

„Was ist denn die Wahrheit?“, fragte Dr. Kreuz ruhig nach und ich schluckte trocken. Konnte ich es ihm sagen? Er war ein Mann. Bestimmt würde er mich dann hassen und mich sofort aus dem Zimmer jagen.

„Das ist nicht wichtig. Sie alle verachten mich. Schlagen auf mich ein und werfen mir Steine in den Weg. Ich will nur noch weg. Einfach so weit weg wie möglich. Aber es geht nicht. Noch nicht. Ich muss nur aushalten. Nur solange bis ich mit der Schule fertig bin. Dann kann ich wegziehen“, sprach ich meine Gedanken aus, doch der Arzt sah mich skeptisch an. „Du willst also davonlaufen?“

„Ja, es ist am einfachsten“, stimmte ich ihm zu. Er hob abermals zweifelnd eine Augenbraue, bevor er dann schwer seufzte: „Wie viele Jahre hast du auf dieser Schule noch vor dir?“

„Mit diesem Jahr sind es vier“, antwortete ich auf diese Frage, wobei er erneut stöhnte und den Kopf schüttelte, bevor er etwas auf seinem Blatt Papier notierte und mich dann wieder ansah.

„Vier Jahre sind eine lange Zeit. Viel Zeit, um die Kraft endgültig zu verlieren und sich selbst das Leben zu nehmen.“

„Nein, das habe ich nicht vor“, widersprach ich sofort, doch er lächelte mich nur traurig an: „Einen Keks für jeden Patienten, der mir das gesagt hatte und es dann dennoch tat. Ich bräuchte nichts mehr zum Essen kaufen.“

Ich verstand diese Aussage nicht. Schließlich hatte ich nur einmal solche Gedanken gehabt.

Aber ich würde es niemals tun.

Denn solange ich lebte, konnte es doch besser werden.

„Warum hassen sie dich? Es muss ja wirklich etwas sehr Gravierendes sein, wenn sie dich so herrichten. Kannst du es nicht ändern?“, fragte er weiter nach und ich schluckte erneut trocken, bevor ich dann nur den Kopf schüttelte: „Nein.“

„Wieso nicht?“ Konnte er sich keinen Reim darauf machen oder wollte er die Wahrheit nicht wissen, so wie Robert damals?

„Weil ich es mir nicht aussuchen kann. Es geht einfach nicht. Würde es, hätte ich es schon längst getan.“ Ich wollte mich nicht erneut outen. Die Erinnerungen an das letzte Mal waren allzu präsent. Es schmerzte, wenn ich daran zurückdachte, wie Robert auf mein Geständnis reagiert hatte.

„Hat es etwas mit deiner Sexualität zu tun?“, fragte der Therapeut weiter nach, wodurch ich ihn überrascht ansah, und er wartete gar nicht auf eine Antwort: „Anscheinend hab ich Recht. Du bist also schwul. Und daran ist was schlimm? Ich habe mehr als genug Patienten, denen es genauso ergeht wie dir. Es ist mir egal, wer wen liebt. Sie alle sind wunderbare Menschen und durchlebten denselben Schmerz, der dich im Moment ereilt. Aber ich kann dir helfen. Wenn du mich lässt.“

Mein Herz machte einen Sprung. Ich war nicht mehr alleine. Endlich half mir ein Erwachsener und neben Alex der Zweite, der meine Sexualität nicht als schlimm empfand. Es nahm mir eine ungemeine Last von den Schultern und zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen.

Vielleicht war es doch nicht so schrecklich, dass ich schwul war…

Ich wagte kaum, daran zu denken, aber das Gespräch hatte richtig gut getan. Es war wunderschön zu spüren, dass man doch geachtet wurde, weshalb ich mit einem leichten Gefühl in der Brust nach Hause gehen konnte. Ich freute mich sogar auf die kommende Sitzung. Dr. Kreuz hatte mir überdies versichert, dass es in meinem Fall die Krankenkasse übernahm, worüber ich sehr froh war. So konnte ich mir sicher sein, dass durch meine Besuche bei ihm, meine Eltern nicht finanziell belastet wurden.

„Hallo, Felix.“

Die Stimme ließ einen eisigen Schauer über meinen Rücken gleiten, sodass ich mich sofort umdrehte, um in das Gesicht von Robert zusehen. Er war der Letzte, den ich jetzt treffen wollte und dennoch stand er vor mir. Wenigstens war er alleine.

„Hallo.“ Meine Stimme war leise und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich das Wort wirklich ausgesprochen hatte. Ich wich zurück, kaum dass sich Robert mir näherte, was ihn kehlig auflachen ließ.

„Du hast aber ganz schön Angst vor mir. Was treibst du hier?“ Ich sah den Spott in seinen Augen und wünschte mir, dass er verschwinden würde. Einfach nicht hier vor mir stehen würde. Doch er wollte nicht weggehen, wodurch ich trocken schluckte und dann belanglos mit den Schultern zuckte: „Hatte hier einen Termin.“

Robert sah sich kurz suchend um, aber er schien keinen Anhaltspunkt zu finden, wo man hier so etwas haben könnte, sodass er mich wieder skeptisch musterte: „So? Wo denn?“

„Das geht dich nichts an. Lass mich einfach in Ruhe“, begehrte ich auf und wandte mich ab, um dann davon zustürmen. Es war mir egal, was er tat. Ich wollte nur weg von ihm und so möglichen Schmerzen entkommen.

Aber er verhinderte es, denn im nächsten Moment spürte ich seine starke Hand auf meiner Schulter, die mich verkrampfen ließ.

Sein Atem streifte über mein Ohr. „Wir sind doch Freunde, Felix. Willst du wirklich, dass ich einfach so verschwinde und dich in Ruhe lasse? Dann wärst du ganz alleine.“

Das war besser, als dauernd geschlagen und gedemütigt zu werden, wodurch ich sicher nickte: „Wir sind keine Freunde mehr. Du hast mir die Freundschaft gekündigt und selbst wenn, auf einen Freund wie dich kann ich ganz gut verzichten.“

Woher nahm ich nur die Stärke, um ihm zu widersprechen? War es das Gespräch oder die Tatsache, dass er mir alleine gegenüberstand und ich somit zumindest den Hauch einer Chance gegen ihn hatte.

„Oh ha, da hat aber jemand ganz schön an Mut gewonnen. Egal wo du warst, das hat dir anscheinend sehr gut getan.“ Er musterte mich skeptisch und ich wich wieder einen Schritt zurück. Ich wollte nicht, dass er mir zu nah kam.

Dieses Zurückweichen ließ Robert erneut auflachen, wobei er mir noch einmal an die Schulter fasste und ich mich instinktiv verkrampfte.

Er sollte verschwinden.

Geh weg! Geh endlich weg! Du bist der Grund, warum es mir so schrecklich geht. Verschwinde einfach!

„Ist doch egal. Du hast dein Spiel lange genug gespielt. Lass mich einfach in Ruhe. Ich habe dir nie etwas getan“, protestierte ich sofort und erneut umspielte seine Lippen nur ein ekelhaftes Lächeln: „So? Hast du das wirklich nicht? Denk noch einmal genau darüber nach, Felix. So unschuldig, wie du gerne tust, bist du nämlich nicht.“

Er tätschelte meine Schulter und ging dann davon. Ich konnte es gar nicht glauben, dass ich in Ruhe gelassen wurde.

Das war ja der Wahnsinn. Was war nur in Robert gefahren? Hatte er vielleicht auch eine Therapie gehabt?

Ungläubig sah ich ihm hinterher und wandte meinen Blick erst ab, kaum dass er in der Masse verschwunden war. Warum musste er mich jetzt hassen? Wir hatten so vieles zusammen erlebt. So einiges durchgemacht. War ihm das Alles gar nichts mehr wert? Aber was meinte er damit, dass ich nicht unschuldig war?

Ich verstand das Verhalten von Robert nicht. Er hatte nicht versucht, mich niederzumachen. Hatte mich nicht angespuckt oder etwas anderes. Er war fast beängstigend normal gewesen. Ich möchte nicht freundlich sagen, denn das wäre zu viel gesagt, aber er war nicht brutal. Er war neutral und das machte mir mehr Angst als irgendein aggressives Verhalten. Was war geschehen? Hatte ich etwas nicht mitbekommen? Ich wollte es verstehen, doch ich ahnte, dass ich Robert danach nicht fragen konnte. Wer wusste, wann wir wieder so miteinander reden konnten, ohne dass er mir eine Faust in den Magen rammte?

Ich seufzte und fuhr mir durchs Haar, bevor ich mich dann weiter auf den Weg nach Hause machte. Dieses Rätsel würde sich später vielleicht noch lösen. Doch im Moment hatte ich zu wenig Puzzleteile, um etwas zu erkennen. Ich schob das Gespräch in eine dunkle Ecke meines Gedächtnisses und dachte lieber zurück an die aufbauende Unterhaltung mit dem Therapeuten. Irgendwann würde es sich schon wieder einrenken. Irgendwann…

Ich ließ meine Tür zufallen und war froh, dass meine Eltern irgendwo waren nur nicht zuhause, denn auf die Fragen, wie es war und wie ich mich jetzt fühlte, hatte ich aktuell keine große Lust. Wenn ich ehrlich war, dann wusste ich im Moment nicht einmal die Antworten darauf.

Ging es mir gut? War das Gespräch hilfreich gewesen?

Vorerst fühlte sich das Alles so an, doch ich wusste nicht, ob es auch noch in zwei Stunden so sein würde. Zumal wenn ich an das Treffen mit Robert zurückdachte, dann schien es mir nichtig zu sein.

Ein Seufzer stahl sich über meine Lippen, als ich an seine letzten Worte dachte. Woran sollte ich schuld sein? Ich hatte nichts gemacht. Nur ihm erzählt, wie ich empfand. Was war daran ein Fehler?