Eiskinder III - Alfred J. Schindler - E-Book

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Alfred J. Schindler

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Beschreibung

Der Lebensraum der Eiskinder, der Groschensee, war zerstört. Er war dreihundert Meter in sich zusammengestürzt. Ein grausiges, überdimensionales Loch entstand. Die Menschen dachten, nein, sie waren der festen Meinung, dass die Eiskinder nun endlich für alle Zeiten vernichtet waren. Zu viele Morde hatten sie begangen. Nur Sabines Eltern wussten, dass sie noch existierten. Sie hatten es durch einen Zufall herausgefunden und behielten es für sich. Sie, die Eiskinder, existierten nun in dem angrenzenden Marmorberg, tief unten in den Höhlen, weiter…

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Alfred J. Schindler

Eiskinder III

Mysterythriller

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Eiskinder III

Eiskinder III

 

- DAS ERWACHEN -

 

Mysterythriller

 

von

 

Alfred J. Schindler

 

 

 

Was zuletzt geschah:

 

Der Groschensee, der ehemalige Lebensraum der gefürchteten Eiskinder, ist vernichtet. Der See war der Aufenthaltsort, das Zuhause der unberechenbaren Eiskinder gewesen. Sie hatten es sich selbst zuzuschreiben, weil sie als Krönung ihrer schändlichen Taten Wurzellieses Ara gestohlen und nicht zurückgebracht hatten. Sie, unsere inzwischen leider verstorbene Seherin mit ihren überirdischen Fähigkeiten, hatte den See mit ihrer geistigen Kraft dreihundert Meter tief einstürzen lassen. Als dann auch noch der kleine See, der sich danach tief unten gebildet hatte, mittels einer List zerstört war ...

 

... nahm man an, dass die Eiskinder vernichtet waren.

 

 

Sie hatten zuvor ganz schrecklich in unseren Reihen gewütet. Sie hatten meine Schwiegereltern, eine der Eiskindermütter, auch ein Elternehepaar eines der Eiskinder, die gute Nachbarn von uns waren, und einige andere, völlig unschuldige Menschen mit ihrem schrecklichen Eis getötet. Sogar vor unserem Pastor, sowie dem Bürgermeisterehepaar, hatten sie nicht Halt gemacht. Wer ihnen oder ihrem geliebten Groschensee zu nahe kam, wer sich gegen sie stellte, war des Todes. Dieses „Eis“ (ihre eigentliche Waffe), das sie für ihre Existenz unbedingt benötigten, war absolut tödlich: Es zerquetschte und erstickte die Leute, die gegen die Eiskinder waren. Und es, dieses schreckliche Eis, löste sich nach getaner Tat in Nichts auf. Es war eine furchtbare Zeit, in der die Eiskinder in und bei Waldhütte mordeten. Ihre grauenhafte Schreckensherrschaft schien also beendet zu sein ...

 

Brunhilde und ich fanden eines Tages durch einen Zufall heraus, dass die Eiskinder, deren Anführerin unsere kleine Tochter Sabine ist, und die von dem schrecklichen Dämon zur Eisfürstin ernannt wurde,

 

... immer noch existieren.

 

Man hatte es also nicht geschafft, sie zu vernichten. Ich hielt damals, als ich mit Brunhilde am Marmorberg wieder einmal spazieren ging, mein Ohr an den Fels. Und was hörte ich? Ihr Kinderlied...

 

„Eiskinder ... Eiskinder ... hallt es durch die Nacht ...“

 

Ich hörte ihren Gesang.

Den bösartigen Gesang der Eiskinder.

Zuerst war ich traurig.

Doch dann war ich glücklich.

Genau wie Brunhilde.

Trotz allem.

 

Die verlorenen Kinder existieren nun in dem dunklen Marmorberg, tief unten in dessen unergründlichen Höhlen. Dorthin hatten sie sich wohl nach dem Verlust ihres eigentlichen Lebensraums zurückgezogenY

 

Uns ist es nicht möglich, diese Höhlen zu betreten, denn es führt kein Weg dorthin. Irgendjemand hatte jedoch irgendwann erzählt, dass der Marmorberg von Höhlen durchzogen ist. Der Berg ist nach außen geschlossen. Nur das Wasser, das vom Himmel fällt, bahnt sich seinen natürlichen Weg in das kalte Berginnere.

 

Wie gesagt: Die Einwohner von Waldhütte und die Öffentlichkeit waren der festen Meinung, dass die Eiskinder in der letzten Silvesternacht vernichtet wurden. Brunhilde und ich behielten unser Wissen über das Weiterbestehen der Eiskinder für uns. Wir dachten dabei natürlich auch an Sabine. Zudem hofften wir, dass die Eiskinder nun ein für alle Mal in ihre Schranken gewiesen waren ...

 

Dieses grauenhafte Eis, das die Eiskinder produziert hatten, war wohl nicht vollständig verloren gegangen, und so war es ihnen gelungen, am „Leben“ zu bleiben.

 

Das war unsere Vermutung.

 

Brunhilde und ich waren in diesen zwei Wochen vor Weihnachten, also im letzten Jahr, in denen die Eiskinder tobten, immer und immer wieder in höchster Lebensgefahr gewesen, weil sich unsere ehemals so liebe und süße Sabine, genau wie ihre Freunde, gegen uns gestellt hatten. Sie hatte uns direkt mit unserem Tod gedroht, und so kam es, dass wir uns am Ende des Terrors gegen sie stellen mussten. Ja, wir mussten, denn wir taten es nicht gerne ...

 

 

01 Donnerstag, 15. Dezember

 

 

Ich sitze geistesabwesend auf einer Stufe der schmalen Treppe, die in unsere Kirche führt und rauche eine Zigarette. Es ist recht kühl heute, aber der Boden ist noch nicht gefroren.

 

Genau heute vor einem Jahr verschwand Sabine auf der Eisfläche des Groschensees, direkt vor unseren Augen. Wir ahnten damals noch nicht, dass die EISKÖNIGIN sie zu sich geholt hatte. Wir konnten nicht wissen, dass dies ...

 

... der Auftakt der Eiskinder war ...

 

Nun ist ein neuer Winter hereingebrochen. Ich beobachte das geschäftige Treiben der Leute, aber ich bin in Gedanken bei Sabine.

 

Bei der kleinen Eisfürstin.

Bei unserer kleinen Eisfürstin.

 

Waldhütte hat sich inzwischen von dem furchtbaren Schrecken vollständig erholt. Gut, es blieben einige Lücken, die man nicht mehr auffüllen konnte, aber im Großen und Ganzen herrscht in unserem kleinen Ort wieder Ordnung und Frieden. Die Ortschaft hat sich im Laufe des vergangenen Jahres deutlich vergrößert. All die Familien mit Kindern, die aus nackter Angst vor den Eiskindern geflohen waren, kehrten nach und nach zurück. Neue Häuser entstanden. Ein Skilift wurde gebaut, weil der Ort Waldhütte sehr bekannt wurde - bekannt durch die verfluchten Eiskinder. Und jetzt zählt die Ortschaft nicht mehr dreihundert Einwohner, sondern über eintausend.

 

Ich sehe mir gegenüber Wurzellieses Denkmal, das man für sie errichtet hatte. Letztendlich war sie es gewesen, die Brunhilde und mir das Leben gerettet hatte. Ohne sie, ohne ihre professionelle, hellseherische Hilfe, hätte uns Sabine mit tödlicher Sicherheit `verändertA, wie sie so gerne betonte. Die Eiskinder sprachen nicht von Tod, wenn sie jemanden umbrachten. Sie wollten uns suggerieren, dass sie die unschuldigen Opfer nicht getötet, sondern nur „verändert“ hatten. Wie gesagt. Und sie behaupteten, dass diese Veränderung für die armen Opfer mehr als positiv sei. Nun gut. Soweit zu unseren geliebten, gefürchteten EiskindernY

 

Eltern, die ein Kind verlieren, wissen, was dies bedeutet. Der Schmerz, der sie trifft, ist unerträglich. Er ist viel schlimmer, als ob man von einem Schwert durchbohrt würde. Und er hält an, dieser grauenhafte Schmerz. Er zieht sich nicht zurück, sondern er bohrt, und bohrt, und bohrt. Und irgendwann verzweifelt man. So jedenfalls ergeht es vielen Eltern, die über den Tod eines ihrer Kinder - oder ihres einzigen Kindes - nicht hinwegkommen. Dieses schreckliche Gefühl ist stärker, als das Gefühl, selbst sterben zu müssen. Es liegt im Naturell des Menschen, besser gesagt, von Eltern im Allgemeinen, so zu fühlen ...

 

Brunhilde und ich hatten dieselben Gefühle, als Sabine verschwand. Doch dann, im Laufe der Wochen, die ein einziger Horror waren, veränderten sich diese Gefühle etwas, nein, sehr. Wir mussten erkennen, dass wir Sabine verloren hatten, obwohl sie noch existierte. Sie und ihre Freunde mordeten in unseren Reihen, und es war nicht leicht für uns, dies hinzunehmen. Am schlimmsten war die Ungewissheit. Wir hofften bis zum bitteren Ende, dass wir unsere kleine Sabine zurückbekommen würden.

 

Aber wir hofften umsonst.

 

In unseren Seelen lief damals ein schrecklicher Film ab: Der 15. Dezember war, wie gesagt, der Auslöser des ganzen Dilemmas gewesen. Der Schock, der sich in uns breit machte, war fürchterlich. Aus unerschütterlicher Elternliebe wurde pure Verzweiflung. Aus Verzweiflung wurde Ratlosigkeit. Aus Ratlosigkeit wurde Machtlosigkeit. Aus Machtlosigkeit wurde Unsicherheit. Aus Unsicherheit wurde Wut (die Eiskinder mordeten bereits.) Aus Wut wurde langsam, aber sicher, Hass. Das Weihnachtsfest war nicht nur für uns kein Fest, sondern ein einziger Albtraum. Dann, als Sabine angeblich tot war, drehten sich diese Gefühle: Aus Hass wurde wieder Machtlosigkeit. Aus der erneuten Machtlosigkeit wurde Ratlosigkeit. Aus dieser Ratlosigkeit wurde Verzweiflung. Und aus dieser Verzweiflung wurde wieder ...

 

... Liebe.

 

Man wird es nicht glauben, aber genauso entwickelte sich unser Empfinden. Es war ein fürchterliches Wechselbad der Gefühle. Und wir konnten nichts dagegen tun. Es hatte den Anschein, als ob die Eiskinder unter der absoluten, vernichtenden Herrschaft der EISKÖNIGIN, dem fürchterlichen Dämon, standen. Tausendmal fragten wir uns: Sind die Kinder absichtlich so bösartig, oder werden sie von dem Dämon geführt und beeinflusst? Bleiben sie freiwillig Eiskinder, oder können sie nicht zurück?

 

Dürfen sie nicht?

 

Darum drehte sich alles.

Wir wurden immer verzweifelter.

 

Unsere Eiskinder kannten mit uns kein Pardon. Sie verhöhnten und verspotteten uns. Brunhilde und mir drohte der direkte Tod. Die Eiskinder wollten uns am Neujahrstag töten. Am Ende blieb uns nichts anderes übrig, als zu handeln, um am Leben bleiben zu können. An Silvester gab man den Eiskindern den Rest. Der untere, kleine See brannte lichterloh. Einige Benzintransporter waren hinuntergestürzt.

 

Hinab zu den verdammten Eiskindern.

Es war schrecklich.

 

Tränen stehen in meinen Augen. Ich kann fast nichts mehr erkennen, und ich bin nicht in der Lage, diese Tränen, die der kleinen Eisfürstin gelten, wegzuwischen. Ich bin wie paralysiert.

 

„Günter! Was sitzt du denn auf dem kalten Stein?“

Ich erschrecke zutiefst: „Grüß dich, Hans. Ich denke an Sabine.“

„Das dachte ich mir schon.“

„Ich denke täglich an sie.“

„Komm, junger Freund. Gehen wir in den Weißen Ochsen!“

„Ja. Ein Bier kann nicht schaden.“

„Oder zwei.“, lacht er.

 

Er versucht, mich seelisch aufzurichten. Ja, er meint es gut mit mir, dieser alte, weise Mann. Wir sitzen etwas abseits an einem kleinen Tisch, und die Bedienung bringt unser Bier:

 

„Zum Wohlsein!“

„Danke.“, sagt Hans Siebenknecht.

„Danke.“, antworte ich.

 

Wir stoßen an.

 

„Wie geht es denn eurem Baby, Günter?“

„Danke, es entwickelt sich ganz prächtig.“

„`Das freut mich. Wie alt ist eure Melissa jetzt?“

„Drei Monate.“

„Sie ist vollständig gesund?“

„Ja. Sie ist unser Wonneproppen.“

„Versuche, dich zu entspannen. Du darfst nicht zurückblicken.“

„Der Schmerz vergeht nicht.“

„Ich habe auch einen Sohn verloren.“

„Und? Hast du es überstanden?“

„Nun - eigentlich nicht. Es dauerte viele Jahre, bis ich endlich ein wenig abschalten konnte.“

„Na also.“

„Ich verstehe dich. Ich möchte es einmal ganz brutal ausdrücken: Es ist so furchtbar endgültig.“

 

„Ja, aber bei Sabine nicht.“

 

Überrascht schaut er mich an: „Was hast du gesagt?“

„Ich sagte, bei Sabine nicht.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Kannst du schweigen?“

„Wie ein Grab.“

„Ehrlich?“

„Ja.“

„Wir haben es für uns behalten.“

„Was habt ihr für euch behalten?“

 

„Dass die Eiskinder immer noch existieren!“

 

Erschrocken fährt er hoch: „Nein!“

Einige Gäste schauen zu uns herüber.

„Doch. Sie wurden damals nicht vernichtet.“, sage ich leise.

„Das kann doch nicht sein!“

„Es ist aber so, Hans!“

„Deswegen dein Schmerz.“

„Ja. Deswegen.“

„Die Ungewissheit bringt dich um.“

„Allerdings.“

„Ihr hofft also immer noch!“

„Aber sicher.“

 

Wir stoßen erneut an.

 

Er flüstert: „Seit wann wisst ihr, dass die Eiskinder noch leben - nein, existieren?“

„Ich stand - es war nicht lange nach der Vernichtung des Groschensees - an einem Fels des Marmorberges. Ich legte aus einem inneren Gefühl heraus mein Ohr an diesen Fels und hörte ihr Eiskinderlied: „Eiskinder ... Eiskinder ... hallt es durch die Nacht ...“

„Das ist ja unglaublich!“

„Ja, das ist es.“

„Ihr wart also froh darüber? Du und Brunhilde.“

„Irgendwie schon.“

Er blickt mir tief in die Augen und sagt leise: „Wir müssten diesem Dämon irgendwie beikommen.“

„Das hätte nicht einmal Wurzelliese geschafft.“

„Wie bekämpft man Dämonen, Günter?“

„Ich befürchte, es gibt kein Mittel gegen sie.“

„Wenn wir an Sabine herankommen würden, kämen wir vielleicht auch an die EISKÖNIGIN heran.“

„Sie würde uns töten.“, antworte ich.

„Wer? Sabine?“

„Ja. Oder der Dämon höchstpersönlich.“

„Das befürchte ich auch.“

„Vergiss es also.“

„Ich habe noch nie in meinem Leben resigniert, mein Freund!“

„Was willst du denn machen? An den Marmorberg klopfen und rufen: Komm heraus, EISKÖNIGIN, du verfluchtes Satansweib! Stell dich uns!“

„Nein.“

„Was denn dann?“

„Ich weiß es nicht.“ Er blickt traurig.

„Jetzt sind wir wieder genauso weit, wie zuvor.“

„Ich denke, dass wir die Eiskinder in Frieden lassen sollten.“

„Ja, das denke ich auch. Oder möchtest du, dass sie uns in diesem Winter erneut angreifen?“

„Wir wissen nicht, ob sie noch so stark sind, wie letztes Jahr.“

„Da stimme ich dir zu.“

„Kannst du dir vorstellen, was sie die ganze Zeit über getan haben?“

„Keine Ahnung. Vielleicht spielten sie mit Rufus und dem Ara.“

„Das glaube ich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass sie den Winter herbeigesehnt haben.“

„Was willst du damit sagen?“

„Dass sie ihre Kräfte gesammelt haben.“

„Um wieder zuzuschlagen?“

„Ja. Ich kann mir vorstellen, dass sie auf Rache sinnen.“

„Auf Rache. Daran hatten Brunhilde und ich auch schon gedacht.“

„Vielleicht können sie ja im Winter, wenn es hier oben an der Erdoberfläche auch kalt ist, ihre Höhlen verlassen?“

Erstaunt frage ich ihn: „Du meinst, sie wollen wieder nach oben in die Freiheit?“

„Ich könnte es mir vorstellen.“

„Mir würde es auch nicht in einem kalten, dunklen Berg gefallen.“

Er zieht die Nase hoch: „Mir auch nicht.“

„Alleine die Vorstellung, dass Sabine in einem finsteren Berg haust, bringt mich fast um.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Ich würde Sabine so gerne wieder sehen. Sie ist jetzt ein Jahr älter.“

„Sie ist acht, nicht wahr?“

„Ja.“

„Die Eiskinder müssen eine mörderische Wut auf Waldhütte haben.“

„Wenn ich mich in ihre Lage versetze, muss ich sagen, dass auch ich eine Mordswut hätte, wenn man mir den Lebensraum entzogen hätte.“

„Ja.“

„Den Groschensee.“

„Ja, sicher. Den Groschensee.“

„Und den kleinen See dort unten.“

„Ja.“

„Der Groschensee war ihre Wohnung, ihr Haus, ihr Eigentum.“

„Es war nicht ihr Eigentum, Günter! Sie machten es zu ihrem Eigentum!“

„Ja, das stimmt.“

„Wir hatten keine andere Wahl. Wurzelliese vernichtete den Groschensee, wie wir alle wissen. Sie tat es für uns alle.“

„Ja, so ist es.“

 

Schweigend blicken wir uns an. Unser Gespräch verlief äußerst ruhig, so dass keiner der Gäste mit anhören konnte, worüber wir sprachen.

 

„Wir müssen also darauf gefasst sein, Günter, dass sich die Geschichte fortsetzt.“

„Ich weiß es nicht. Aber ich befürchte es. Brunhilde hat auch Angst davor, gerade jetzt, wo wir unser Baby haben.“

Er starrt mich plötzlich an: „Denkt ihr denn, dass Sabine...“

„Wir wissen es nicht. Wir haben keine Ahnung, ob sie weiß, dass wir Melissa bekommen haben. Aber Sabine ist nicht dumm. Sie wusste, dass Brunhilde schwanger war. Und ihr ist auch bekannt, dass eine Schwangerschaft neun Monate dauert.“

„Wenn die Eiskinder wieder an die Erdoberfläche kommen, werden sie sicherlich erfahren, dass ihr ein Baby habt!“

„Mit Sicherheit.“

„Sie werden in euer Haus kommen und die kleine Melissa sehen.“

„Du machst mir einen Magen!“

„Ihr habt Angst, dass Sabine eifersüchtig ist?“

„Offiziell wollte sie ja nicht zu uns zurück. Wir gehen aber noch heute davon aus, dass der Einfluss des Dämonen auf die Eiskinder stärker ist, als ihre eventuelle Sehnsucht und Liebe zu ihren Eltern.“

„Davon war ja nicht mehr das Geringste zu spüren.“

„Leider nicht.“

„Jedes normale Kind würde alles dafür tun, um zu seinen Eltern zurückkommen zu können.“

„Ja, sicher. Aber die Eiskinder sind keine normalen Kinder! Das weißt du doch! Man kann sie nicht mit den üblichen Maßstäben messen.“

„Die Eiskinder gingen doch alle, außer Sabine, freiwillig in diese andere Welt hinüber?“

Ich überlege: „Ja, es sah zumindest so aus. Sabine wurde von diesem Dämon geholt. Sie hatte keine Chance, sich zu wehren. Denn wenn sie sich hätte wehren können, wäre sie mit Bestimmtheit zu uns zurückgekehrt.“

„Denkst du, dass Sabine die anderen Eiskinder zu sich geholt hat?“

„Entweder war sie es, oder aber der Dämon.“

„Dieser Dämon wird also EISKÖNIGIN genannt.“

„Ja, die Eiskinder redeten davon. Sie sprachen von dieser EISKÖNIGIN. Wurzelliese erfuhr es als erste. Der Dämon dürfte also weiblich sein.“

Er meint: „Letztendlich spielt es ja überhaupt keine Rolle, ob dieser schreckliche Dämon weiblich oder männlich ist.“

„Ja, das stimmt.“

„Und was habt ihr beide jetzt vor?“

„Abwarten und Tee trinken.“

„Es stimmt doch, dass sich die Eiskinder unsichtbar machen konnten, oder?“

„Ja, davon gingen wir aus. Wir hörten ihr schauriges Lied, konnten sie aber nicht sehen.“

„Ja, davon war auch die Rede.“ Er schüttelt den Kopf.

„Ein anderes Mal sahen wir sie, und sie sangen zusammen. Sie versteckten sich also nicht vor uns.“

„Wie es ihnen gefiel.“

„Ja.“

„Mein Gott. Was haben sie für eine schreckliche Macht.“

„Ja, es ist grauenhaft. Aber am schlimmsten ist ihr Eis.“

 

„Ihr tödliches Eis!“, antwortet er.

 

02

 

Tief unten in den Höhlen des Marmorberges sitzen die Eiskinder mit Rufus, dem Eiskater und Plappermaul, dem Eispapagei, zusammen. Sie hatten ein wahnsinniges Glück, sich gerade diesen Berg ausgesucht zu haben. Aber er liegt ja direkt neben dem ehemaligen Groschensee. Der Berg bot sich also an. Hier unten herrschen auch im Hochsommer Temperaturen unter Null Grad Celsius. Und genau das war ihre Rettung. Die Reste ihres gefürchteten Eises, das sie so dringend benötigen, hielten stand. Es, dieses schreckliche Mordeis, schmilzt nicht, wenn die Luft sich erwärmt, aber es benötigt auf längere Sicht trotzdem tiefe Temperaturen. Dieses furchtbare Eis löst sich einfach in Luft auf, wenn die Eiskinder es wollen. Es stellt für die Eiskinder kein Problem dar, sich in diesem Eis zu bewegen. Sie fühlen sich wohl darin. Ja, sie zeigten es bereits, als sie am zweiten Weihnachtsfeiertag letzten Jahres in der schrecklichen Eiswand, die sich auf dem Groschensee aufgetürmt hatte, sangen und tanzten. Sie trugen ihre Schlittschuhe und man sah ganz deutlich, dass es ihnen in ihrem Eis gefiel...

 

Sabine sitzt, die kleine, glitzernde Krone auf ihrem Kopf, inmitten der Runde auf einem polierten Stein. Es ist ihr persönlicher Stein, auf dem nur sie sitzen darf. Sie ist die Jüngste von allen acht Eiskindern, aber sie hat das Sagen in dieser kleinen, gefährlichen Gruppe:

 

„Wisst ihr eigentlich, dass nur ich von der EISKÖ-NIGIN geholt wurde?“, fragt sie ihre treu ergebenen Freunde.

 

Die Stimmung ist sofort etwas gedämpft. Die Eiskinder schweigen. Schon zu oft mussten sie sich diese Geschichte von ihr anhören. Peter antwortet:

 

„Wir wissen es ja, Sabine.“

„Ich habe euch zu mir geholt!“

Die kleine Doris sagt: „Wenn du uns nicht geholt hättest, hätte es die EISKÖNIGIN getan!“

„Die EISKÖNIGIN?“, fragt Sabine.

„EISKÖNIGIN! EISKÖNIGIN!“, plärrt der bunte Ara.

„Sei still, Plappermaul!“, sagt Sabine zu ihm.

„Eisfürstin! Eisfürstin!“, kräht der Ara.

„Sei endlich still, Plappermaul!“

„Ihr habt mich gestohlen!“, kreischt er lautstark und irgendwie vorwurfsvoll.

„Gefällt es dir nicht bei uns?“, fragt ihn die kleine Doris.

„Ich wollte nicht zu euch! Hört ihr? Wurzelliese! Hilf mir!“, kreischt er in den höchsten Tönen.

 

Die Eiskinder schauen sich an. Sie wirken betreten. Normalerweise kennen sie ja keine Skrupel, aber bei dem Papagei zeigen sie doch welche.

 

Rufus, der kleine, schwarze Kater, fühlt sich bei den Kindern auch nicht wohl. Und er zeigt es ihnen auf seine Art: Einmal pinkelt er über Sabines Stein, und ein anderes Mal miaut er so lange, bis die Kinder in den angrenzenden Höhlen genervt verschwinden. Aber sie wollten diese beiden Tiere unbedingt haben. Normale Kinder haben aus dem Grund Haustiere, um mit ihnen zu spielen, sie zu streicheln, sich mit ihnen zu freuen und sie zu respektieren, aber die Eiskinder holten sich die Tiere nur aus dem einen Grund, um sie zu besitzen. Der Ara und der kleine Kater spürten es von Anfang an. Außerdem wollte Sabine mit dem Diebstahl des süßen Rufus ihre Eltern ärgern. Und sie wollte ihnen zeigen, wie stark sie ist. Ja, sie wollte sie quälen, und sie schaffte es. Es war ihnen allen egal, dass Sabines Eltern ihren Kater sehr vermissten.

 

In den letzten Monaten hat sich bei den Eiskindern Frust aufgebaut. Sie wissen beim besten Willen nicht mehr, was sie anstellen sollen. Im letzten Frühjahr mussten sie sich von ihrer fürchterlichen Schlappe erholen. Sie versuchten zwar, als es April wurde, nach oben zu gehen, hinaus aus diesem Marmorberg, um den tristen Höhlen zu entkommen, aber es war ihnen nicht möglich, sich in freier Natur aufzuhalten. Der Grund dafür waren die bereits hohen Temperaturen. Die Kinder haben nicht umsonst den Namen...

 

... Eiskinder...

 

Doch jetzt ist der Winter hereingebrochen. Sie fühlen sich schon etwas stärker, als im letzten Frühjahr, doch noch nicht stark genug. Sie haben nicht vergessen, was ihnen die Einwohner von Waldhütte, besser gesagt, Wurzelliese und die Kriminalpolizei mit ihrer ideenreichen Psychologin angetan hatten.

 

„Wisst ihr noch, wie ich an Silvester den Befehl gab, die vier LKWs abstürzen zu lassen?“, fragt Sabine ihre Freunde. Ärger schwingt in ihrer Stimme.

„Ja, sicher. Du konntest ja nicht ahnen, dass es sich nicht um Kiesfahrzeuge, sondern um Benzintransporter handelte.“, antwortet Richard. Er ist der Älteste im Bund mit seinen sechzehn Jahren.

„Ich hätte meine Eltern am Neujahrstag verändert, aber leider klappte es ja nicht. Sie haben uns ganz fürchterlich hereingelegt! Ich hasse diese Polizeibeamten! Besonders sie, diese Psychologin Irmgard Schulz! Sie hat uns fürchterlich geschadet! Und er, Erwin Müller, dieser elende Kriminalkommissar, leitete die Soko-Eiskinder!“

„Er ist ein spezieller Freund deines Vaters, Sabine!“, wirft Doris ein.

„Freund, Freund. Was heißt das schon?“

„Müller und dein Vater sind Busenfreunde.“, erklärt Richard.

„Er ist aber nicht mein Freund! Verstehst du? Er ist und bleibt mein Feind! Mit ihm habe ich sowieso noch eine Rechnung offen. Er hat drei Kinder, nicht wahr?“

 

Die anderen nicken zustimmend.

 

„Die Sache ist noch nicht aus der Welt. Noch lange nicht!“, schimpft Sabine.

 

Die Eiskinder fürchten sich vor ihr ein wenig. Sie ist befehlsgewohnt (dies brachte ihr die EISKÖNIGIN bei), und ihr Wort ist Gesetz. Nur wenn gelegentlich die EISKÖNIGIN auftaucht, duckt sie sich. Aber nur vor ihr.

 

„Aber jetzt etwas ganz anderes: Ich habe eine unglaubliche Idee! Aber dafür brauchen wir die Hilfe von unserer EISKÖNIGIN!“

„Welche Idee denn?“, will Dieter wissen.

„Hört zu. Ich erzähle euch, was ich beabsichtige...“

 

Die Freunde rücken eng zusammen. Sabine will von den anderen wissen, wozu sie eigentlich noch ihre Schlittschuhe brauchen (sie provoziert sie ein wenig). Diese sind das Statussymbol der Eiskinder. Sie alle tragen Schlittschuhe, und sie haben sie noch nie ausgezogen, seit sie Eiskinder geworden sind. Sabine ist schon seit letztem Jahr ungeheuer verärgert, dass sie nicht mehr Schlittschuhlaufen kann, denn das restliche Eis, das sich im Marmorberg befindet, genügt nicht, um darauf herumzufahren. Außerdem ist es völlig uneben. Die Eiskinder haben keine Ahnung, wie sie es glätten könnten.

 

Und Sabine erzählt ihren Freunden, was sie vorhat...

 

03

 

Als ich nach Hause komme, höre ich schon vor der Haustüre Melissa schreien. Mir geht seit dem aufregenden Gespräch mit Hans vieles durch den Kopf: Werden die Eiskinder zurückkommen und sich an uns rächen? Einesteils würde ich mich wahnsinnig freuen, Sabine endlich wieder sehen zu können, aber andererseits habe ich große Bedenken. Ich kenne die Eiskinder, und ich weiß, wozu sie fähig sind. Die tödliche Angst, die Brunhilde und ich vor ihnen hatten, ist fast vorüber. Die Zeit heilt Wunden, heißt es so schön. Aber ganz hinten in meinem Kopf habe ich eine schreckliche Angst um Melissa. Ich darf gar nicht daran denken.

 

Ich schließe die Haustüre auf und gehe in die Küche. Melissa liegt in ihrem Bettchen, das vier kleine Räder hat, und Brunhilde bügelt.

 

„Warst du im Weißen Ochsen?“

„Ja. Wieso? Riechst du es?“

„Ja.“

„Ich habe mich ein wenig mit Hans Siebenknecht unterhalten.“

„Worüber?“

„Über die Eiskinder.“

„So, so. Über die Eiskinder.“

„Ja, ich erzählte ihm, dass sie noch leben.“

 

Spitz ist ihr Schrei. Das Bügeleisen fällt aus ihrer Hand. Peng. Es knallt auf den Boden. Melissa erschrickt und schreit los. Ich bereue sofort, von meinem Gespräch mit Hans erzählt zu haben. Jetzt wird sie sicherlich mehr wissen wollen...

 

 

„Wie konntest du nur so blöde sein, darüber zu reden?“

„Was heißt blöde? Hans schweigt wie ein Grab.“

„Wir hatten uns damals am Fels, als du die Kinder singen hörtest, geschworen, es für uns zu behalten!“

„Ja, ja...“

„Du hast getrunken, und dann...“

„Nein. Ich war völlig nüchtern. Ich musste endlich mit jemandem darüber sprechen.“

„Du hättest mit mir reden können!“

„Es musste ein neutraler Mensch sein.“

„Oder mit unserem neuen Pastor!“

„Mit dem Pastor?“

„Ich habe es ja auch niemandem erzählt!“

„Es wird so oder so ans Licht kommen.“

„Und wieso?“

„Weil ich mir sicher bin, dass sich die Eiskinder wieder blicken lassen.“

„Du meinst, weil wieder Winter ist?“

„Ja. Sie sind sicher voller Hass.“

Sie schwenkt plötzlich um: „Eigentlich hast du ja Recht. Wir können so oder so nichts daran ändern. Wenn sie es sich in den Kopf setzen, kommen sie nach Waldhütte. Ich wundere mich sowieso, dass sie sich noch immer nicht haben sehen lassen.“

„Es lag an den Temperaturen.“

„Ja, so wird es wohl sein.“

„Hast du auch Angst, dass sie uns Melissa wegnehmen könnten?“

„Ja. Ich habe eine mörderische Angst. Aber eines sage ich dir: Wenn sie wirklich zurückkommen, uns belästigen und drohen oder sogar versuchen, uns das Baby wegzunehmen, lasse ich mir etwas einfallen.“

„Was willst du denn tun?“

„Ich weiß es noch nicht. Aber ich überlege schon andauernd.“

„Ich auch.“

„Aber du weißt ja, dass die Eiskinder am längeren Hebel sitzen.“

„Ich befürchte, Brunhilde, dass es in Waldhütte ein Chaos gibt, wenn die Leute merken, dass die Kinder nicht tot sind.“

„Da kannst du dir aber sicher sein.“

„Wir dürfen niemals zugeben, dass wir wussten, dass sie noch leben. Nein – existieren.“

„Keinesfalls.“, antwortet sie.

„Ich befürchte des Weiteren, dass sich die Regierung etwas einfallen lassen wird, um die Eiskinder endgültig zu vernichten.“

„Vorausgesetzt, mein Schatz, sie wüten wieder so, wie sie es letzten Winter getan haben.“

„Ich denke aber, dass sich die Kinder etwas zurückhalten werden. Ja, ich glaube, dass sie es sich genau überlegen, was sie tun werden, und was nicht.“

„Meinst du?“ Sie scheint verunsichert.

„Ja, ich hoffe es.“

„Sie haben schließlich und endlich mehr als schlechte Erfahrungen machen müssen.“

„Ja. Sie dachten, sie können sich alles erlauben.“

„Aber da haben sie sich geirrt.“

„Wir können nur hoffen, dass sie daraus gelernt haben. Andererseits habe ich Angst, dass sie sich wieder überschätzen.“

 

Sie hält Melissa im Arm: „Ich glaube, der Verlust ihres damaligen Lebensraums genügte ihnen voll und ganz.“

„Ja, das hoffe ich auch.“

„Auf jeden Fall werde ich Sabine, falls sie sich hier bei uns sehen lassen sollte, auffordern, Rufus zurückzubringen.“

Zweifelnd blicke ich sie an: „Dann beginnt der Krieg erneut.“

„Krieg? Rufus gehört uns, und nicht den Eiskindern. Und der Papagei gehört uns auch. Schließlich haben wir ihn von Wurzelliese geerbt.“

 

 

 

Die Eiskinder halten Kriegsrat. Sabine führt das Wort. Wie sollte es auch anders sein:

 

„Ich möchte den Groschensee zurückhaben, Freunde.“

Dieter antwortet: „Und wie stellst du dir das vor?“

Sabine geht gar nicht darauf ein: „Ihr möchtet doch auch wieder Schlittschuhfahren, oder?“

 

Ein einstimmiges „JA“ ertönt.

 

Sabine weiß ganz genau, wie sie ihre Freunde anpacken muss. Sie ist raffiniert, und sie hat ein wenig Ahnung von einfacher Psychologie. Der Dämon hatte sie auch das gelehrt.

 

„Und außerdem können wir mit einem neuen See wesentlich mehr Eis produzieren, als hier unten.“, trumpft Sabine auf.

„Ja, es macht uns stark!“, schreit die kleine Dagmar, die zwei Jahre älter ist, als die Eisfürstin.

„Ein wahres Wort! Es macht uns stark und stärker!“

„Was hast du vor, Eisfürstin?“, fragt Richard misstrauisch. Er traut ihr alles zu.

„Was wohl?“ Ihre Augen sprühen. Und sie freut sich

insgeheim, dass Richard sie Eisfürstin genannt hat.

 

Barbara, die jüngere Schwester von Richard, dem Starken, biegt vorsichtig an ihrer Zahnspange. Sie drückt sie, und sie weiß nicht, was sie dagegen machen soll. Obwohl sie keinen menschlichen Körper mehr hat, ist ihr die Zahnspange unangenehm. Sie empfindet sie als Fremdkörper. Es ist ihr aber nicht möglich, sie selbst zu entfernen. Sie ist sehr still, die kleine Eisdame, und in ihr tobt schon längere Zeit ein Kampf, der sie sehr verunsichert. Bis zu dem damaligen, fürchterlichen Geschehnis an Silvester war sie ein überzeugtes Eiskind gewesen. Aber seit einiger Zeit schaut es ihn ihr ganz anders aus. Sie hat Gewissensbisse. Eine Wesensart, die die Eiskinder normalerweise nicht kennen. Weder Sabine, noch all ihre Freunde und Freundinnen ahnen, was sie beschäftigt...

 

„Du willst wirklich Waldhütte erobern, Sabine?“

„Ja, was denkst du denn, Richard?“

„Du kennst unsere Grenzen!“

„Ja, ich kenne sie. Wir wollten damals Waldhütte vereisen. Wir wollten den gesamten Ort in einen riesigen Eisblock stecken. Und wenn diese Sache mit dem Einsturz unseres Sees nicht passiert wäre, hätten wir es auch geschafft.“

„Dein Ziel ist zu hoch gesteckt!“

„Was ist nur los mit dir? Bist du ein ganzer Kerl oder eine Memme? Schau dir die anderen an! Sie fürchten weder Tod, noch Teufel. Erzähle mir bitte nicht, dass du irgendwelche Bedenken hast!“

„Bedenken? Doch, ich habe welche.“

„Und wie sehen sie aus?“

„Wir haben damals sowohl Wurzelliese als auch diese Irmgard Schulz, die Kriminalpsychologin, unterschätzt. Und was war das Resultat? Wir haben alles verloren, was wir so dringend brauchten.“

„Ja, ja, ich stimme dir ja zu! Aber wir werden stärker, stärker als je zuvor, wenn wir wieder einen richtigen See haben! Du kennst unsere unglaublichen Fähigkeiten! Davon kann ein Normalsterblicher doch nur träumen! Oder etwa nicht? Wir können uns sogar unsichtbar machen!“

„Das ist ja alles schön und recht, Sabine. Aber wie willst du zu einem neuen See kommen? Der nächste See liegt dreißig Kilometer von hier entfernt! Willst du etwa unsere gemeinsame Heimat verlassen?“

„Nein, keinesfalls.“

„Und wie stellst du dir das mit dem See vor?“

„Ich werde die EISKÖNIGIN bitten, einen neuen See entstehen zu lassen.“

„Wo?“

Sie deutet mit dem Finger hoch:

 

„Dort oben!“

 

Die Kinder starren sie an. Wieder einmal wird ihnen bewusst, dass Sabine die richtige Anführerin ihrer Gruppe ist. Sie hat gewisse Einfälle, die sie nicht haben.

 

„Du willst die EISKÖNIGIN fragen?“, will Peter von ihr wissen.

 

Barbara sitzt schweigend zwischen ihren Freunden. Sie ärgerte sich von Anfang an, dass Sabine von der EISKÖNIGIN als erstes Eiskind zu sich geholt wurde. Allzu gerne wäre sie die Eisfürstin mit dieser wunderschönen Krone geworden, aber es blieb ihr leider verwehrt. Damals, als Sabine sie und ihren Bruder zu sich holte, war sie hellauf begeistert gewesen. Ein Eiskind zu sein, war sicherlich das Höchste, was einem normalen Kind passieren konnte, sagte sie sich. Sabine verstand es perfekt, sie für sich zu vereinnahmen, sie zu begeistern. Es bereitete auch Barbara großes Vergnügen, die Leute zappeln zu lassen, sie zu Tode zu ängstigen. Mit den Morden jedoch war sie im Grunde genommen nicht einverstanden. Sie und ihr Bruder taten zwar so, als ob sie es wären, aber ganz tief in ihnen waren sie doch dagegen. Und als Sabine es sogar schaffte, dass sich Barbaras Mutter in der Psychiatrie suizidierte, wollte sie nicht mehr mitspielen. Nur der Einfluss ihres Bruders war es, der sie bei den Eiskindern bleiben ließ. Er weiß, dass sie, seine kleine Schwester, nicht so ist, wie seine Freunde. Aber es ist sein Geheimnis, und das wird es auch bleiben. Er möchte keinesfalls, dass ihr etwas geschieht. Wenn die EISKÖNIGIN (oder auch Sabine) erfahren würden, wie Barbara denkt und fühlt, wäre es um sie wahrscheinlich geschehen. Die EISKÖNIGIN würde sie sicherlich in eine Eissäule verwandeln.

 

Ohne Gnade!

 

Barbara weiß, dass jeder von der Gruppe die Fähigkeit besitzt, sich in einer gewissen Art und Weise in den anderen hineinzudenken. Es ist kein Gedankenlesen, aber die Kinder haben dadurch untereinander fast keine Geheimnisse. Es gelang Barbara aber von Anfang an, sich davor in gewisser Weise abzuschirmen. Der furchtbare, schreckliche Zauber des Dämons griff bei ihr nicht so extrem, wie bei all den anderen Freunden. Auch ihrem Bruder Richard gelingt es perfekt, diese positiven Charaktereigenschaften zu verheimlichen. Er wird sich hüten, sie offen zu zeigen! Barbara hätte sich auch nie getraut, sich gegen Sabine, oder gar gegen den Dämon, aufzulehnen. Letzterer hatte den Eiskindern immer wieder eingebläut:

 

„EINMAL EISKIND,

IMMER EISKIND!“

 

Alle Eiskinder verstanden, was der Dämon damit meinte. Aber andererseits ist es leider so, dass alle Eiskinder - außer Barbara und Richard - gerne Eiskinder sind. Sie existieren ohne Zwänge, müssen nicht zur Schule gehen, (was für sie sehr wichtig ist) oder eine Berufsausbildung beginnen. Sie müssen sich nicht ihren Eltern unterordnen, und sie können den lieben langen Tag (und auch in der Nacht) tun und lassen, was immer ihnen gefällt. Sie vergessen dabei völlig, dass sie dabei in ihrer Entwicklung vollkommen stehen bleiben B nein, dass sie rückwärts gehen. Es ist ihnen egal, was die Leute in Waldhütte über sie denken. Sie, die Eiskinder, sind böse, sehr böse, und sie lachten über die Schmerzen der normalen Menschen, die über ihnen leben oder lebten. Schmerzen, die sie diesen Menschen zugefügt hatten. Sie ergötzten sich an deren Ängsten, und sie verbreiteten Pein und Schrecken. Sie schämen sich nicht, diese Eiskinder, und sie leben völlig sinnlos in den Tag hinein. Und was das Schlimmste ist: Sie haben keine Schuldgefühle. Sie sind verantwortungslos und gemein. Die Kette dieser negativen Eigenschaften setzt sich schier unendlich fort ...

 

Die Leute mögen sie nicht.

Sie verabscheuen sie.

Aber auch das stört sie nicht.

 

Barbara weiß haargenau, was ihr blüht, wenn sie versuchen sollte, sich von der Gruppe heimlich abzusetzen. Die EISKÖNIGIN würde nur ein einziges Machtwort sprechen, und die Eiskinder würden sie verfolgen, bis sie sie gefunden hätten. Vorausgesetzt, sie würden sie nicht sofort vereisen. Hier in der Höhle. Von innen heraus, versteht sich. Genau wie den armen, geschundenen Pastor Gründl, damals im Friedhof von Waldhütte. Barbara kann sich also an ihren zehn kleinen Eisfingern abzählen, was ihr dann blühen würde...

 

Aber trotzdem hofft sie, dass sie irgendwann in ihr früheres, schönes Leben zurückkehren kann. Ihr Vater lebt noch, wie sie weiß, und sie würde so gerne mit ihrem Bruder bei ihm leben.

 

„Ja! Ich werde unsere EISKÖNIGIN fragen!“, schreit Sabine ungehalten.

 

Es wird plötzlich sehr still. Die Eiskinder rücken noch enger zusammen, als sie es bereits vorher taten.

 

„Was habt ihr denn? Was ist denn los?“, plärrt Sabine durch die Höhle, dass es hallt.

 

„Eisfürstin! Wieso schreist du so?“

 

Erschrocken dreht sich Sabine um. Die EISKÖNIGIN steht direkt hinter ihr. Sie fürchtet sich zwar nicht vor ihr, aber sie hat einen (un)heiligen Respekt. Dieser große, grausame Dämon, der alles menschliche Leben verachtet, zeigt sich optisch in einer dunklen, dichten Wolke. Und in dieser Wolke befinden sich zwei Lichter, die wie glühende Kohlen leuchten. Sie tanzen unstet hin und her. Auf und ab. Die Eiskinder nehmen an, dass es sich dabei um die Augen der EISKÖNIGIN handelt. Sie haben ihre wahre Gestalt noch nie gesehen, und sie haben sich damit abgefunden. Natürlich hatten sie ihren Dämon anfangs immer wieder gebeten, sich ihnen in seiner wahren Gestalt zu zeigen, aber er hatte sich zurückgehalten. Jetzt vermuten sie, dass diese dunkle Wolke die echte Gestalt der EISKÖNIGIN ist. Sie kennen ihre gewaltige, Furcht einflößende Stimme, die die umliegenden Berge erzittern lässt. Sie ist sehr dunkel, diese Stimme, und er spricht sehr langsam, dieser grausame Dämon. Damals, als der furchtbare Orkan über dem Groschensee tobte, (er tobte ja nur auf dem See, und nicht an Land) hörten sie ihre wahre, gewaltige Stimme zum ersten Mal. Und als Sabines Eltern an den See kamen, um den Eiskindern Rufus zu zeigen, vernahmen auch sie ihre schreckliche Stimme. Auch im Haus des Bürgermeisters, der Dagmars Vater war, vernahmen sie diese furchtbare Stimme, das Gebrüll der EISKÖNI-GIN. Es ist Furcht erregend, sie zu hören. Den Menschen, die sie brüllen hörten und denen dabei die Haare zu Berge standen, wurde bewusst, dass es sich dabei nur um den schrecklichen Dämon handeln konnte, der ihre Kinder verhext und vereinnahmt hatte.

 

Sabine zeigt sich unbeeindruckt: „EISKÖNIGIN, wir hätten einen Wunsch an dich!“

„Einen Wunsch? Möchtet ihr wieder Leute verändern?“

„Wir möchten unseren Groschensee zurück.“

„Der See ist zugeschüttet!“

„Ja, das wissen wir auch. Aber für dich wäre es doch ein Kinderspiel, den See neu entstehen zu lassen.“

Der Dämon fühlt sich geehrt: „Neu? Wie?“

„Er muss ja nicht mehr so groß sein wie der ehemalige Groschensee! Wir würden nur gerne wieder Schlittschuhlaufen.“

„Schlittschuhlaufen?“

„Ja.“, antwortet Sabine.

 

Die Eiskinder hören gebannt zu. Sie sind immer wieder fasziniert, wie sich ihre kleine Anführerin gegen diesen Dämon durchsetzen, wie sie sich vor ihm behaupten kann. Und genau diese selbstsichere Haltung der kleinen Eisfürstin imponiert auch ihr, der schrecklichen EISKÖNIGIN ungemein. Sie lässt es sich aber nicht anmerken.

 

„Wir möchten wieder Eis produzieren! Wir wollen unsere alte Kraft zurück!“

„Das verstehe ich, Eisfürstin.“

 

„Eiskinder sind ohne Eis ... keine Eiskinder!“

 

Der Dämon schweigt.

 

„Wir haben einen großen Plan, EISKÖNIGIN!“

„Ich weiß. Ihr wollt Waldhütte erobern und die Leute verändern.“

„Ja, das wollen wir. Waldhütte soll uns gehören, und auch der neue See, den du für uns erschaffen wirst. Wenn uns das gelungen ist, werden wir auch all die sonstigen Menschen, die hierher kommen und ihre Neugier nicht in den Griff kriegen, umbringen.“

„Sehr schön. So habe ich es euch gelehrt.“

„Wir werden sie alle vereisen!“

„Du weißt aber, meine kleine Eisfürstin, dass ihr dort oben nicht von töten oder umbringen sprechen dürft!“

„Ja, ja, ich weiß es. Wir erklären den Leuten weiterhin, dass wir sie verändern.“

„Ihr müsst ihnen klar machen, dass diese Veränderung nur Vorteile für sie bringt!“

„Ja. Es ist ein wunderbares Spiel!“

„Rache ist ein schönes Wort!“

„Ja. Ein sehr schönes!“

„Es klingt wie Musik in meinen Ohren!“

„In unseren auch.“

„Nun gut. Ich werde sehen, was ich für euch tun kann.“

 

Die Eiskinder jubeln. Was für eine Freude! Welch wunderbare Aussichten!

 

Waldhütte!

Wir kommen!