Elisabeth Petznek - Michaela Lindinger - E-Book

Elisabeth Petznek E-Book

Michaela Lindinger

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Beschreibung

Einst hätte sie Kaiserin werden können. Später wurde sie lieber Sozialdemokratin: Österreichs letzte, fortschrittlichste und ganz sicher extravaganteste Prinzessin: Elisabeth Marie Petznek. Ihren Traummann musste die einzige Tochter des Kronprinzen Rudolf bei ihrem Großvater, Kaiser Franz Joseph, auf Biegen und Brechen durchboxen. Konkurrentinnen rückte sie auch schon mal mit der Schusswaffe zu Leibe. In Gesellschaft diverser Liebhaber tanzte sie durch die Nachtbars von Pula bis Triest. Die radikalste Aussteigerin, die das Haus Habsburg je hervorgebracht hat, kämpfte für Ehescheidung und sexuelle Selbstbestimmung. Sie war eine enge Freundin des Bundespräsidenten Theodor Körner und des Aussenministers Bruno Kreisky. Zusammen mit der Widerstandskämpferin Rosa Jochmann lauschte sie am 11. März 1938 in ihrem Wohnzimmer der Radio- Abschiedsrede des Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg. Ihre vier Kinder wurden enterbt, stattdessen ging ihr gesamter Besitz an die Republik Österreich. Auf ihremeinfachen Grab in Hütteldorf steht kein Name. Erzherzogin Erzsi starb 1963 als Genossin Elisabeth Petznek.

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Michaela Lindinger

„Erzsi“

Rote Erzherzogin

Spiritistin

Skandalprinzessin

Die Biografie

Die etwa 15-jährige Erzsi in modischer Sportkleidung, 1897

Elisabeth Marie Henriette Stephanie Gisela von Habsburg-Lothringen, Erzherzogin von Österreich

(1883–1902)

Elisabeth Fürstin zu Windisch-Graetz

(1902–1919)

Elisabeth Windisch-Graetz

(1919–1948)

Elisabeth Marie Petznek

(1948–1963)

„Schießen Sie! Schießen Sie!“

Elisabeth Windisch-Graetz, 1945

Erzsi mit etwa 30 Jahren, um 1913

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

1889: Wie alles begann

Ein – längerer – Prolog

I Die Geister, die sie rief

Unheimliche Fälle auf Schloss Schönau

II Das Schweigen

Eine kaiserliche Kindheit

III Der Tod des Märchenprinzen

Otto, Egon und Goldi

IV Upper Class statt Arbeiterklasse?

Erzsi „von der roten Nelke“

V Das Geschenk der alten Dame

„Legat Petznek“

Zwei Jahre mit Erzsi

Ein – kurzer – Epilog

Personenverzeichnis

Verwendete Literatur

Bildnachweis

Dank

Die Autorin

li.: Erzsis Eltern und Großeltern am Ort ihrer Geburt: Franz Joseph und Elisabeth, Rudolf und Stephanie in Laxenburg, 1881

1889: Wie alles begann

Ein – längerer – Prolog

Besucherinnen und Besucher empfing Erzsi eher unwirsch. Die ehemalige Erzherzogin hieß nun Elisabeth Marie Petznek. Sie lebte in einer Art Klein-Schönbrunn, einer schlossähnlichen Villa im 14. Wiener Gemeindebezirk Penzing. Die Straßenbahnlinie 49 bimmelte damals noch durch die gesamte Linzer Straße, als die alte Dame auf der Hausnummer 452 wohnte. Eine Einladung bei ihr war ein unvergessliches Ereignis für jeden, der einmal in die musealen Salons dieser imposanten, beinahe 1,90 Meter großen Frau eintreten durfte. Das Besuchszeremoniell ähnelte einer Audienz bei ihrem Großvater, Kaiser Franz Joseph. Alles lief strikt nach Protokoll ab. Man hatte auf die Minute pünktlich zu sein. War man verspätet, aus welchen Gründen auch immer, wurde man nicht mehr vorgelassen. Also stand man vor dem Tor und schaute auf die Uhr, dann läutete man genau im richtigen Augenblick. Das Tor wurde von Erzsis „Faktotum“ Paul Mesli, einem Donauschwaben, der sich Lesen und Schreiben selbst beigebracht hatte, geöffnet. Wir werden auf Meslis schriftliche Erinnerungen an die letzten Lebenstage seiner Dienstherrin zurückkommen.

Schon nach dem ersten Schritt findet man sich im Garten der Villa wieder, in einem Meer von Blumen – rot, blau, gelb, leuchtendes Grün rankt sich die Mauern empor. Der Park ist riesig und fachmännisch durchkomponiert. An der Haustür wird man vom langjährigen Sekretär der Hausherrin, Herrn Rudolf Feltrini, empfangen, gleichzeitig hört man lautes, furchterregendes Hundegebell. Erzsis Schäferhundezucht genießt in Kynologenkreisen einen hervorragenden Ruf. In der düsteren, kaum beleuchteten Eingangshalle stehen hohe Renaissance-Schränke aus dunklem Holz, überhaupt ist es finster hier im Erdgeschoß. Die Wände sind überfüllt mit Jagdmotiven und Reiseansichten. Beinahe stößt man mit einem riesigen, aufrecht stehenden Bären zusammen – es handelt sich um ein ausgestopftes Tier, eine Jagdtrophäe aus dem Besitz des Vaters der Frau Petznek. Auf zahlreichen Gemälden im Haus wird uns dieser von ihr kultisch verehrte Vater immer wieder begegnen.

Sie kann sich noch an ihn erinnern, doch hat er seine kleine Tochter, die er mit dem ungarischen Kosenamen Erzsi (Kurzform von Erzsébet/ Elisabeth) rief, schon vor langer Zeit für immer verlassen. Es war wenige Monate nach ihrem fünften Geburtstag. An einem kalten Wintertag Ende Jänner 1889 war der Vater in sein Jagdschloss nach Mayerling aufgebrochen und hatte dort seine Geliebte Mary Vetsera und anschließend sich selbst umgebracht. Er wurde 30 Jahre alt.

Am Tag, als Kronprinz Rudolf starb

Maiglöckchen waren in der ganzen Stadt ausverkauft. Die unzähligen Blumen in den Gewächs- und Glashäusern, die eigentlich die Wiener Ballsäle hätten zieren sollen, mussten nun ein Staatsbegräbnis bedienen. Auch schwarze Kleidung war an diesem eisigen 4. Februar 1889 nirgends mehr in Wien zu bekommen. Es schneite heftig. Seit sieben Uhr früh hatte die Hofburgkapelle geöffnet, damit die Untertanen im weiten Reich des Kaisers Franz Joseph Abschied nehmen konnten von seinem einzigen Sohn. Und wie sie Abschied nahmen. Der Kronprinz war bei der Bevölkerung sehr beliebt gewesen, nicht nur, wie es bis heute heißt, bei den Frauen. Man schätzte seine fortschrittlichen Sichtweisen, seine neuen Ideen, man wusste von seinen Touren durch Vorstadtlokale, wo er Volkssängerinnen und Kunstpfeifern lauschte. Seit Tagen warteten die Wienerinnen und Wiener, um endlich die momentan weltweit berühmteste und geheimnisumwittertste Leiche in Augenschein nehmen zu können. Von Ottakring oder Erdberg, von überall her strömten die Leute in Richtung Hofburg. Sie kamen mit der Straßenbahn, in Kutschen, zu Fuß. Sie kamen mit Blumen. Sie kamen in Schwarz.

Wer kein Geld für ein solches Trauerspiel hatte, trug – passend zur Jahreszeit – schwarze Karnevals-Gesichtsmasken, die zu Trauerbändern zerschnitten worden waren, rund um den Oberarm. Der alljährlich sehnsüchtig erwartete Wiener Fasching war kurz vor seiner heißen Phase abgesagt worden – was man nicht sofort bemerkte, denn es ging hoch her in der Stadt. Respektvolles Trauern jedenfalls sah anders aus. Anständiges Benehmen war auf den Straßen Wiens zu einem Fremdwort geworden. Die Menge drängte und presste auf dem zertrampelten Schnee. Menschen stürzten in den halbdunklen, schwarz verhängten Straßen aufeinander. Schwarze Flaggen und Stoffe hingen aus fast allen Fenstern und von den Dächern. Die engen Gassen der Innenstadt wirkten wie sinistre Zelte oder Tunnels. Eingangstüren, Laternen, Geschäftsschilder: Alles war schwarz verhängt. Ganze Familien machten sich auf den Weg durch die verschneite Finsternis, vom Großvater auf Krücken bis zum Baby im Kinderwagen. Man hatte versucht, rund um die Hofburg und entlang der unfertigen Ringstraße Platz für die Massen zu schaffen; doch der reichte bei Weitem nicht aus. Absperrungen wurden genauso zur Seite gedrückt wie das Ordnungspersonal. Als die Hofburgkapelle geöffnet wurde, drängten die Leute schwarmartig hinein. Kinder brüllten, Frauen gingen ohnmächtig zu Boden. Die hölzernen Kirchenbänke zersplitterten unter dem Druck der Drängenden. Polizisten riefen Soldaten zu Hilfe, die rasch einen Abwehrkordon bildeten. Doch erst als berittene Militärs auftauchten, konnte die Ordnung einigermaßen wiederhergestellt werden. Notärzte kümmerten sich um die etwa 20 Frauen, die in der Kapelle wegen des unerwarteten Todes ihres Idols unter Weinkrämpfen zusammengebrochen waren.

Wiener sammeln sich vor den Fenstern des Kaisers in der Hofburg, 30. Jänner 1889

Der tote Kronprinz Rudolf, wie auch Erzsi ihn sah, 31. Jänner 1889

Um 16 Uhr sollte die Hofburgkapelle geschlossen werden. Noch immer warteten nicht nur große Menschenmengen auf Einlass, sondern es gruppierten sich auch unübersehbar weitere Interessenten im Umkreis der Hofburg. Von offizieller Seite wurde verlautbart, man solle nach Hause gehen. Niemand folgte dem Aufruf. Überhaupt rührte sich kein Mensch. Die Menge stand still im Schneefall, der langsam in ein feuchtes Nieseln überging. Die Wartenden standen durchnässt, aber unbeweglich, wie die Statuen auf den Dächern der neuen Ringstraßengebäude. Ein leiser Chor begann sich zu formieren: „Wir wollen unseren Kronprinzen sehen … wir wollen unseren Kronprinzen sehen …“

Der Kaiser intervenierte persönlich. Ein berittener Offizier verlas die Botschaft Franz Josephs: „Die öffentliche Aufbahrung wird für drei weitere Stunden, bis 19 Uhr, verlängert.“

Überhaupt intervenierte Franz Joseph bei allen Details. Seine Frau Elisabeth lag im Bett. Sie hatte veranlasst, dass die „liebe gute Freundin“, die Schauspielerin Katharina Schratt, sich um den Kaiser kümmern solle. Die schockierten Töchter Gisela und Marie Valerie schluchzten zusammen mit den sie umgebenden Hofdamen. Der Kaiser tat seine Pflicht. Der Erzbürokrat, der alles aushielt, der allem widerstand, saß an seinem Schreibtisch. Er bestellte zwei Särge für seinen Sohn, den provisorischen Sarg aus Holz und den endgültigen aus Metall, an dem mehrere Monate gearbeitet werden würde.

In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1889 sah Wiens winterliche Innenstadt aus wie ein Musikfestival im Sommer. Überall kampierten die Leute. Es wurden stündlich mehr, die Besucherzahlen bei der Aufbahrung sollten von denen des bevorstehenden Begräbnisses noch übertroffen werden. Reisen im Winter waren mühsam und dauerten lang, doch mittlerweile waren auch Trauernde und Sensationslüsterne aus Ungarn, Böhmen, Mähren und entlegeneren Teilen des Habsburgerreiches in der Hauptstadt angekommen. Die Armee stellte Feldlatrinen für die Camper auf. Man lebte vom Proviant, den man mitgebracht hatte, oder kaufte ein paar Würste bei den Hausierern, die in diesen Tagen der alles überwältigenden Trauer ein gutes Geschäft machten. Andere Straßenhändler verscherbelten rasch zusammengeschusterte Erinnerungsartikel: Fotos des Kronprinzen in schwarzen Rahmen, noch druckfrische Broschüren seiner kurzen Vita, manche schafften es, ein letztes der in schwarze Papiermanschetten gebundenen Maiglöckchensträußchen zu ergattern – Rudolfs Lieblingsblumen.

Der Hof der Habsburger entfaltete seinen legendären Trauerprunk. Alle Fenster rund um die Begräbnisroute von der Hofburgkapelle zur Kapuzinergruft waren voller Gesichter. Niemand, der so „praktisch“ wohnte, wollte den pompösen Leichenzug verpassen. Plätze an den Fenstern wurden von deren Eigentümern auch an Neugierige vermietet. Besonders Waghalsige balancierten auf den Dachvorsprüngen, von denen die schwarzen Tücher nach unten wallten. Nach Tagen voller Wind, Regen und Schnee hatte es plötzlich aufgeklart. Der Himmel begrüße den Toten mit gutem Wetter, meinten einige.

Um Punkt 16 Uhr begannen die Glocken der Hofburgkapelle langsam zu läuten. Die Trauerkutsche mit der Leiche setzte sich in Bewegung. Der Wagen wurde – ganz entgegen der Tradition – von sechs Lipizzanern, also weißen Pferden, gezogen. Normalerweise übernahmen schwarze Kladruber diese ehrenvolle Aufgabe. In der Kapuzinerkirche ging Franz Joseph zu seiner Bank in der ersten Reihe, neben ihm stand das belgische Königspaar, Leopold II. und seine habsburgische Frau Marie Henriette, die Eltern der Witwe. Der Kardinal betete.

Als der hölzerne Sarg in die Gruft getragen wurde, brach der Kaiser zusammen. Er weinte und flüsterte das Vaterunser. Dann stand der 58-Jährige ohne Hilfe auf, trocknete sein Gesicht mit einem Taschentuch und verließ die Kirche.

Nun war er wieder Kaiser von Österreich, König von Ungarn etc. etc. Die Begräbnisshow ging vorüber und der Moment der Schwäche war vorbei. Franz Joseph sollte noch weitere 27 Jahre regieren.

Die Ehefrau des Kronprinzen Rudolf, Stephanie, hatte nicht am Begräbnis ihres Mannes teilgenommen, auch seine Mutter Elisabeth und die jüngere Schwester Marie Valerie fehlten. Lediglich Rudolfs Lieblingsschwester Gisela saß an der Seite ihres Vaters in der schwarzen Kutsche. Als Kinder waren sie und Rudolf unzertrennlich gewesen. Die staatliche „Wiener Zeitung“ schrieb, der Schock habe die Damen des Kaiserhauses so verstört, dass die Ärzte eine Teilnahme untersagt hätten.

Viele kirchliche Würdenträger waren indessen der Ansicht, der radikale, unchristliche Kronprinz habe ein heidnisches Ende gefunden. In Linz bekundeten während des Begräbnisses nur die protestantischen Geistlichen durch Glockenläuten ihre Trauer. Die katholischen Mesner blieben offenbar zu Hause. In Ischl, der Sommerfrische des Kaisers, war es überhaupt totenstill. In den Stunden nach dem Begräbnis flogen schwarze „Drachen“ durch die kühle Luft. Es waren die Trauerfahnen an den Gebäuden, die vom Wind verweht wurden.

Die Selbstmordzahlen in Wien, ohnehin hoch im europäischen Vergleich, explodierten in den Februarwochen des Jahres 1889: Kopfschuss, Strychninvergiftung, aufgeschnittene Pulsadern, Aufschlitzen der Halsschlagader, ein Sprung aus dem dritten Stock. Ein Suizid durch Pistolenschuss sogar in Laxenburg, Rudolfs Sommerresidenz. In zehn Jahren wird seine Tochter Erzsi dort Reitturniere veranstalten. Und beim Tennismatch mit ihrer ersten Liebe flirten.

Sie war es auch, die laut Rudolfs Testament sein Jagdschloss in Mayerling erben sollte – was Franz Joseph nicht gutheißen konnte. Er kaufte es der Fünfjährigen noch im Februar 1889 in aller Stille ab. Ebenfalls in diesem Winter kam der vom Sterben besessene Komponist Anton Bruckner am Ort von Mord und Selbstmord im Wienerwald vorbei. Er wollte Erkundigungen bei der Bevölkerung in Mayerling einholen, sah jedoch niemanden. Lediglich hinter einem erleuchteten Fenster meinte er verschleierte Gesichter ausmachen zu können. Er täuschte sich nicht. Maria Euphrasia Kaufmann, die Priorin der Unbeschuhten Karmelitinnen in Baumgarten, war bereits mit einigen Mitschwestern in Mayerling eingezogen. In ihrer Begleitung kam der Architekt Josef Schmalzhofer. Der Befehl des Kaisers lautete, das Jagdschloss in ein Nonnenkloster umzubauen. Die Karmelitinnen waren schon da, noch bevor Schmalzhofer die ersten Fotos und Zeichnungen anfertigen konnte. Anton Bruckner wusste somit etwas, das erst am 9. April 1889 öffentlich verlautbart wurde. Nämlich dass in Mayerling ein bis heute bestehendes Kloster einzurichten sei und die Nonnen dort unablässig beten sollten für das Seelenheil des (atheistischen) Kronprinzen. Und, wenn es nach Erzsi ging, auch für das der „armen Kleinen“, wie sie die minderjährig verstorbene Freiin von Vetsera zu nennen pflegte. Einst wurde sie selbst so genannt, nämlich im Abschiedsbrief ihres Vaters an ihre Mutter.

Im Refektorium liegt immer ein Totenschädel auf dem Platz der jeweiligen Priorin. Wie früher in Rudolfs Arbeitszimmer in der Hofburg.

Es hat sich ein Verein gebildet …

Die „Religion“ des Kronprinzen war der Liberalismus gewesen, eine der fortschrittlichen politischen Richtungen seiner Zeit. Mit seinen Verbündeten in der Wiener Presse und Wissenschaft sowie in der ungarischen Reichshälfte und in Frankreich träumte Rudolf den großen Traum des 19. Jahrhunderts von Gleichheit und Prosperität. Aus diesem Grund wurde sein Tod auch von so vielen als Anfang vom Ende Österreich-Ungarns erlebt. Umgeben von der reaktionären Hofkamarilla und auf Befehl seines Vaters Tag und Nacht beschattet, hatte Rudolf längst erkannt, dass die traditionsüberfrachtete Welt des Kaisers der Vergangenheit angehörte. Und da er nicht in der Vergangenheit leben wollte, war er gegangen.

Das liberale Konzept förderte den Wirtschaftsaufschwung mit dem Ziel, mehr Wohlstand für alle durch Industrialisierung der großteils noch agrarischen Gebiete in der österreichisch-ungarischen Monarchie zu erreichen. Eine Steigerung der Güterproduktion sollte mit mehr Freiheit für den Einzelnen durch Demokratisierung einhergehen. Wissenschaft und Forschung sollten neue Technologien entwickeln, und dieses Wissen sollte wiederum zum Wohle aller eingesetzt werden. Ein ganz besonderes Lieblingsprojekt des Kronprinzen war die „Elektrische Ausstellung“, die vom 16. August bis zum 31. Oktober 1883 in der Wiener Rotunde die Massen anlockte. In diesen Wochen wurde im Laxenburger Schloss Rudolfs Tochter Erzsi geboren, am 2. September 1883. Anlässlich der Taufe der kleinen Erzherzogin konnte am 5. September die internationale „Elektrische Ausstellung“ gratis besucht werden.

Ihr Vater hatte seine Begeisterung bei der Eröffnungsrede nicht zurückgehalten: „Die Zukunft ist eine große – und eine weitreichende, kaum zu berechnende Umwälzung (…). Und ein Meer von Licht erstrahle aus dieser Stadt und neuer Fortschritt gehe aus ihr hervor!“ Der Adel habe bei dieser Gelegenheit wieder einmal durch Desinteresse „geglänzt“, konstatierte der Kronprinz enttäuscht in einem Brief an seinen Freund, den einflussreichen Journalisten Moritz Szeps: „Niemand war da. Erzherzog Albrecht verzog das Gesicht auf das entsetzlichste.“ Kein Wunder – der alte Feldmarschall fand Worte wie „Umwälzung“, „Fortschritt“ und dergleichen aus dem Mund des Mannes, den man für den zukünftigen Kaiser hielt, in höchstem Maß abschreckend. Rudolfs Mutter, Kaiserin Elisabeth, die sich in ihren Gedichten „Titania“ nannte, war der Meinung, ihr Sohn lege aufgrund seiner Vorliebe für Naturwissenschaft und Technik ein übersteigertes Selbstwertgefühl an den Tag und fühle sich über seinen altmodischen Vater („Oberon“) erhaben. Sie erfuhr vom Inhalt der Rede und spottete in einem Gedicht:

„Strahlt die Elektricität, Muss das Gas erbleichen, selbst des Ob’rons Majestät Hier muss sie jetzt weichen.“

Demokratie, Industrialisierung und Wissenschaft waren die Säulen, auf denen die Reformpläne des Kronprinzen aufbauten. Sie waren den Machtträgern Adel und Klerus diametral entgegengesetzt.

Rudolf wollte Österreich hinausführen aus der Allianz mit dem deutschen Kaiserreich, hin zu einem Bündnis mit England und Frankreich. Abgesehen von seinen häuslichen Querelen mit dem allmächtigen Vater und der nicht zu ihm passenden Ehefrau wäre er wohl ein besserer Vermittler in politischen Fragen gewesen als die meisten Habsburger, denn er kannte die richtigen Leute, fortschrittlich eingestellte ausländische Politiker, die tonangebenden Journalisten, Universitätsprofessoren. Auch die nationalistischen Spannungen auf dem Balkan, die schließlich 1914 zu den Schüssen von Sarajevo führten, wollte er lösen. Eine Option sah er in der Staatsform der konstitutionellen Monarchie mit einem funktionierenden Parlament und Mandatsverteilungen quer durch die Parteien. Keine Nationalität sollte über der anderen stehen. Die Benachteiligung durch die Sprache in den Ämtern, Gerichten oder beim Militär sollte aufgehoben werden.

Hehre Worte für jemanden, der zwar einen gewissen Glamour beim Denken ausstrahlte, aber völlig unfähig war zu handeln. Ein Vorkämpfer des Individualismus, der es selbst nicht schaffte, als Individualist erfolgreich zu leben. Vergnügen artete bei ihm stets in sinnlosem Exzess aus. Rudolf forderte das Absolute in Gedanken und Gefühlen, doch er wurde in allem enttäuscht. Ein unglückseliger Überprivilegierter.

Der Liberalismus hatte zu grenzenlosem Reichtum für wenige und schrankenlosem Elend für unendlich viele geführt. Das Scheitern ihrer Ideen suchten die meisten Liberalen in äußeren Ursachen. Die dem Liberalismus immanenten Gründe für seinen Niedergang blendeten sie aus. Ein Beispiel:

Was passiert mit einem tschechischen Schneider, dessen Handwerksstube einer Textilfabrik weichen muss? Er wird als Arbeiter in dieser neuen Fabrik eingestellt. Möglich, dass sich seine Arbeitszeit verkürzt. Möglich, dass sich im Verhältnis dazu sein Lohn erhöht. Aber früher kannte er seine Kundschaft, sprach mit den Leuten, ärgerte sich vielleicht über einen Kunden. Nun ist er ein gesichtsloser Sklave einer gesichtslosen Maschine. Er hat keinen Laden mehr, den er seinen Kindern vererben könnte. Daher schickt er seine beiden Söhne nach Wien. Sie sollen in der Hauptstadt auf Arbeitssuche gehen. Der weniger gebildete Sohn findet keine Arbeit, er verzweifelt, schließt sich schließlich den Antisemiten unter dem späteren Wiener Bürgermeister Karl Lueger an. Der lernwillige Sohn bildet sich in Wien weiter und wird ein panslawistischer Fanatiker. Szenarien dieser Art gehörten zum Wiener Alltag.

Die Folgen des Liberalismus waren jedenfalls nicht rosig. Im Gegenteil, das liberale Ideal hatte gesellschaftlich ziemlich abgewirtschaftet. Neue Strömungen fanden ihre Anhänger und die Vorläufer der heute noch existierenden Parteien begannen sich zu formieren. Karl Lueger gehörte nach zahlreichen politischen „Zwischenstationen“ zu den Gründern der christlich-sozialen Partei, der Vorläuferorganisation der ÖVP. Und auch das durch den hemmungslosen Liberalismus überhaupt erst entstandene Industrieproletariat kämpfte im Jahr 1889 verstärkt um seine Rechte.

Vier Wochen vor „Mayerling“, das die Grundfesten der österreichisch-ungarischen Monarchie erschütterte, hatte im niederösterreichischen Hainfeld ein Ereignis stattgefunden, das für Erzsi einmal fast genauso große Bedeutung erlangen sollte wie der frühe Tod ihres Vaters. 110 Delegierte aus fast allen Kronländern waren Ende Dezember 1888 nach Hainfeld gekommen, um Viktor Adlers Vermittlungsversuche zwischen der gemäßigten und der revolutionären Richtung in der Arbeiterbewegung mit einer Neugründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) zu besiegeln. Die Richtungskämpfe wurden jedoch nicht wirklich ausgeräumt und ließen sich auch nie ganz wegdiskutieren. Sie spielten in den 1920er-und 1930er-Jahren, als Erzsi sich in der Partei engagierte, eine große Rolle und brechen in der SPÖ bis heute immer wieder auf. Als die Schauspielerin Erni Mangold anlässlich ihres 92. Geburtstags ein TV-Interview gab, sagte sie, in ihrem Herzen sei sie Sozialdemokratin und werde es immer bleiben. Aber zu Wahlen gehe sie seit über 30 Jahren nicht. „Seit dem Vranitzky schon nicht mehr“, erklärte sie. „So einer passt nicht.“ Sie meinte damit, in ihren Augen könne ein Banker nicht Obmann einer Arbeiterpartei sein.

Am 1. Jänner 1889 war die bedeutsame Einigung jedenfalls vollzogen. Der Hainfelder Parteitag markierte das Ende der heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung, die zu ihrer Spaltung in feindliche Fraktionen geführt hatten. Die geeinte Sozialdemokratie verstand sich als marxistische Partei, wobei die marxistische Theorie den spezifischen Verhältnissen des Landes angepasst werden sollte. Die Einigung bescherte der Partei einen großen Aufschwung. 50.000 Mitglieder zählten die sozialdemokratischen Organisationen bereits im Jahr 1890.

Viktor Adler: Armenarzt, Journalist, Politiker, 1917

Der Arzt und Politiker Viktor Adler konnte deshalb so integrativ für die verschiedenen Flügel der Partei wirken, weil er sich als Undercover-Journalist in Günter-Wallraff-Manier in die berüchtigten Wienerberger Ziegelwerke eingeschlichen hatte, um anschließend das unvorstellbare Elend der dort tätigen Männer, Frauen und Kinder in der Zeitschrift „Gleichheit“ zu beschreiben. Aus der „Gleichheit“ wird noch 1889 die „Arbeiter-Zeitung“ hervorgehen, die ab 1970 – als es offenbar keine Arbeiter mehr gab – „AZ“ heißen wird und bis 1991 als Organ der österreichischen Sozialdemokraten erscheinen sollte.

Gelegentlich sieht man bei Hausabbrüchen in Wien alte Ziegelsteine, die den Stempel „HD“ tragen. Sie stammen aus dem von Adler beschriebenen Ziegelwerk des Ringstraßenmillionärs Heinrich Drasche. Der Lohn der „Wienerberger“-Arbeiter stand im umgekehrten Verhältnis zur Länge ihres Arbeitstages und reichte kaum zum Überleben. Noch dazu wurde er in Wertmarken ausbezahlt. Geld erhielten die Werktätigen kaum. Die Wertmarken mussten in der Werkskantine eingelöst werden, die teurer war als durchschnittliche Gastbetriebe und Essen von minderer Qualität ausgab. Fast alle Ziegelarbeiter, größtenteils Arbeitsmigranten aus dem heutigen Tschechien, man nannte sie daher „Ziegelböhm“, waren unterernährt, krank und lebten in fürchterlichen hygienischen Verhältnissen. Kinder unter zwölf Jahren arbeiteten von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Sogar die von jeglicher Realität abgeschirmte Erzsi in der Hofburg erfuhr später, als Teenager, von den Zuständen am Wienerberg.

Viktor Adler wurde mit der Veröffentlichung seiner Beobachtungen zu einem sozialistischen „Helden“, der sowohl von den linken als auch den eher gemäßigten Sozialdemokraten akzeptiert wurde. Ohne die Wienerberger-Reportagen wäre es wohl nicht zum Einigungsparteitag gekommen. Doch die Ideen zur Verbesserung des Loses der Arbeitenden reichten schon weiter zurück.

„Was wir ersehnen von der Zukunft Fernen, Dass Arbeit und Brot uns gerüstet stehen, Dass unsere Kinder in der Schule lernen Und unsere Alten nicht mehr betteln gehen.“

Dieses Gedicht von Ferdinand Freiligrath, dem langmähnigen deutschen Freigeist der bürgerlichen Revolution von 1848, nahm die Arbeiterbewegung in ihr Kulturgut auf, um ihr Programm der Armutsbekämpfung im 19. Jahrhundert voranzutreiben. Die Botschaft wollte unters Volk gebracht werden, und zu diesem Zweck gründeten sich schon ab 1867 zahlreiche Bildungs- und Kulturvereine, in Wien und in anderen größeren und kleineren Städten. Ihre Proponenten organisierten Bildungsprogramme für Arbeiter und zunehmend auch für Arbeiterinnen, denn ungelernte Frauen ohne Geld und Wohnung strömten in Massen in die Haupt- und Residenzstadt. Vorträge, Kurse, Diskussionen, neu eingerichtete Arbeiterbibliotheken sollten helfen, aus kaum gebildeten Arbeitssklaven klassenbewusste Proletarierinnen und Proletarier zu machen. In Wien und Wiener Neustadt erschienen – oft verboten und daher noch unregelmäßig – die ersten Zeitungen der im Entstehen begriffenen Arbeiterbewegung. Ferdinand Lassalles Ideen, wonach der Staat Produktionsgenossenschaften schaffen sollte, setzten sich, von Deutschland kommend, auch in Österreich durch. Wie für die deutsche Sozialdemokratie hieß der erste Schritt: Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Männer. Viele Frauen in der Bewegung verlangten schon damals das Wahlrecht für alle, doch die Männer, die das Sagen hatten, meinten: Klasse schlage Geschlecht. Im Klartext hieß das, zuerst wählen einmal alle Männer und dann werde man weitersehen.

Bald gewannen jene Kräfte innerhalb der zerstrittenen Arbeiterbewegung an Boden, die sich für eine eigene Partei stark machten. So kam es zu Ostern 1874 im burgenländischen Neudörfl zur Gründung der SDAP. Damals gehörte der kleine Ort übrigens zur ungarischen Reichshälfte.

Der „Schwarze Freitag“ von 1873, als die Börse krachte, beendete schlagartig die Ära des Liberalismus. Rasch herrschte hohe Arbeitslosigkeit, es kam zu polizeilichen Verfolgungen der hungernden Proletarier, die sich organisieren wollten, und im Endeffekt durch Spaltungen zum Beinahe-Ende der jungen Arbeiterbewegung. Schließlich gelang es Viktor Adler, mit seiner Zeitung „Gleichheit“ einen neuen Sammelpunkt zu schaffen, der 1888/89 zur Neugründung der SDAP auf dem Hainfelder Einigungsparteitag führte.

30 Jahre später. Monarchie und Adel sind abgeschafft. Frauen nehmen erstmals an Wahlen teil. In diesem Jahr 1919 wird die Tochter des Kronprinzen Rudolf, Elisabeth Windisch-Graetz, eingeschriebenes Mitglied der nun staatstragenden sozialdemokratischen Partei.

Und noch einmal zurück: Am Karsamstag 1889 spielte Anton Bruckner Mozarts „Te Deum“ in der Hofburgkapelle, wo nur wenige Wochen davor Rudolfs einbalsamierte Leiche zur Schau gestellt worden war. In der oberösterreichischen Heimat des Organisten wurde an diesem Tag, dem 20. April 1889, dem Ehepaar Klara und Alois Hitler ein Baby geboren. Der Bub erhielt den Namen Adolf. Die verschiedenen Ausprägungen des Faschismus und nicht zuletzt seine Folgen werden auch Erzsis Leben und das ihrer Angehörigen aus den Angeln heben.

I Die Geister, die sie rief

Unheimliche Fälle auf Schloss Schönau

Ein Geisterfoto, das eine Ektoplasma-Erscheinung zeigt. Es wurde bei Rotlicht aufgenommen und erscheint durch die Bewegungen des Mediums unscharf. Hier zu sehen: Das Medium Stanislawa P., das auch Albert von Schrenck-Notzing, Erzsis Spiritismus-Sachverständiger, bei „Sitzungen“ beschäftigte. Ob die Erscheinung „echt“ ist – darüber scheiden sich die Geister.

„Als Medium ist er natürlich unersetzlich.“

(Albert von Schrenck-Notzing warnt Erzsi vor einem Betrüger.)

„Es war fabelhaft!“ Sichtlich begeistert berichtete Erzsis ältester Sohn Franz Joseph, genannt Franzi, später seiner Frau Ghislaine von den Séancen, die seine Mutter etwa zehn Jahre lang veranstaltete. Franzi war damals um die 20 Jahre alt und auf Wunsch seiner Mutter musste er bei den Geisterbeschwörungen immer dabei sein, da man das Verhalten der Medien und der von ihnen hervorgerufenen Erscheinungen kaum vorhersehen konnte. Obwohl sich Erzsi von den besten Hypnosefachleuten und Parapsychologen ihrer Zeit ausbilden und schulen ließ, respektierte sie die Manifestationen und wollte ihre beiden bereits erwachsenen Söhne bei den Sitzungen um sich haben. Sie fürchtete nämlich, von gewalttätigen Erscheinungen angegriffen zu werden. Der zweitälteste Ernst Weriand, genannt Erni, weigerte sich aber und so blieb es an Franzi hängen, Zeuge der unterschiedlichen Dinge zu werden, die sich im verdunkelten Boudoir seiner Mutter abspielten. Ghislaine Windisch-Graetz verdanken wir viele Berichte über diese spiritistischen Sitzungen. Erzsi selbst sprach nie darüber. Ihre schriftlichen Aufzeichnungen wären sehr wertvoll und interessant, sind jedoch nicht erhalten geblieben. Sie schrieb ihre Erfahrungen in Briefen an ihren Lehrmeister, den deutschen Arzt Albert von Schrenck-Notzing (1862–1929), nieder. Man könnte ihn als führende Kapazität auf dem Gebiet der Parapsychologie bezeichnen. Er führte einen regen Briefverkehr mit zahlreichen bekannten Persönlichkeiten, war ein enger Freund von Erzsi und wurde wiederholt in ihren damaligen Wohnsitz nach Schönau in Niederösterreich eingeladen, wo er oft viele Wochen am Stück verbrachte.

Die Briefe, die Erzsi für Schrenck-Notzing verfasste, wurden von den Nationalsozialisten verbrannt. Okkultismus war – zumindest offiziell – dem NS-Regime ein Dorn im Auge. Außerdem waren viele Mitglieder in Schrenck-Notzings Zirkel adeliger Abstammung und standen daher im Fokus der neuen Machthaber. Man beabsichtigte, gegen diese Leute vorzugehen. Gleichzeitig konnten Männer aus adeligen Familien im NS-Eliteverband SS große Karrieren machen und auch Okkultisten gab es dort zur Genüge. Dennoch drangen SA-Verbände in Schrenck-Notzings ehemaliges Laboratorium in München ein, verbrannten seinen Briefverkehr, seine Bücher und auch unzählige Fotos der von ihm dokumentierten Erscheinungen. Die Räume seiner einstigen Münchner Wohnung wurden verwüstet. In Erzsis Briefen dürften ihre Versuchsanordnungen und die Ergebnisse, die sie erzielt hatte, genau beschrieben gewesen sein.

Der „Geisterbaron“

Schrenck-Notzing war wissenschaftlich ungeheuer penibel und hielt jede Bewegung, den leisesten Lufthauch, fest – schriftlich und in Form von Fotos. Sein Ziel war es, die Parapsychologie genauso wie die Sexualwissenschaft, mit der er sich medizinisch auseinandersetzte, als exakte Naturwissenschaften zu etablieren. Seine Selbstdefinition lautete „Spezialist für Nervenkrankheiten und Sexual-Pathologie“. Er war gewissermaßen der erste Psychotherapeut im heutigen Verständnis des Begriffes. Sein Interesse galt seelischen Vorgängen und deren Auswirkungen – im körperlichen, aber auch im geistigen Bereich. Konzentration, Meditation, Beherrschung des eigenen und fremden Willens sowie Hypnose konnten seiner Ansicht nach Materialisationen hervorrufen, wenn die „Zielperson“ gewisse dafür notwendige Veranlagungen mitbrachte. Eine solche Person nannte er „Medium“. Schrenck-Notzings Versuche mit den Medien würden heute von den meisten Menschen zumindest als fragwürdig bezeichnet werden.

Einige Briefe von Schrenck-Notzing an Erzsi sind im Besitz ihrer Nachkommen erhalten geblieben. Erkennbar wird, wie genau sich der Arzt mit ihren Berichten befasst und wie sehr er sich um sie und ihr Wohlergehen gesorgt hat. Er warnte sie immer wieder vor betrügerischen Medien oder empfahl ihr „passende“, die er bereits überprüft habe. Oder er riet ihr zu ganz bestimmten Personen, die ihm für ihre Zwecke und Fragen geeignet erschienen.

Erzsis Lehrmeister Albert von Schrenck-Notzing, Arzt und Parapsychologe

Schrenck-Notzing hatte sich mit allen möglichen Aspekten der Medizin befasst, zum Beispiel „heilte“ er Homosexuelle. Die meisten Ärzte hielten Homosexualität damals für eine heilbare „Störung“ und Schrenck-Notzing hatte den Ruf, diese „Störung“ beheben zu können. Überhaupt war er in sexuellen Fragen eher rückschrittlich. So erwähnte er etwa Erzsis Lebensgefährten Leopold Petznek, den sie später heiratete, in seinen Briefen kein einziges Mal. Nach ihren vier Kindern aus erster Ehe und deren Wohlergehen erkundigte er sich aber regelmäßig. Vermutlich hat er Petznek nie getroffen, obwohl er jahrelang bei Erzsi zu Gast gewesen ist. „Wilde Ehen“ lehnte der aus einer vornehmen Familie stammende Doktor ab. Trotz dieser Bedenken gehörte zu seinem „kosmischen“ Freundeskreis nicht nur die wenig moralinsaure Kronprinzentochter, sondern auch die Münchner Skandalgräfin Franziska zu Reventlow. Diese hatte einen Sohn, dessen Vater sie zeitlebens verschwieg, und verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit Sexarbeit, schnorrte Geld gegen kleine „Liebesdienste“ oder spielte Theater. So gesehen war Schrenck-Notzing die neue, emanzipierte Generation höherer Töchter nicht wirklich fremd.

Albert von Schrenck-Notzing war weit über München hinaus als Hypnosearzt bekannt, da er über die Erfolge der Hypnosetherapie promoviert hatte. Dass er selbst fähig war, andere zu hypnotisieren, hatte er bereits während seiner Studienzeit entdeckt. Im Krankenhaus wendete er die Suggestionstherapie an. Seine eigene parapsychologische Zeitschrift, die er sich aufgrund einer finanziell einträglichen Heirat leisten konnte, förderte zusätzlich seinen Bekanntheitsgrad und seinen Ruhm. So hatte etwa der Schriftsteller Thomas Mann die Praxisadresse Schrenck-Notzings seit 1899 in seinem Notizbuch stehen, nahm jedoch erst im Winter 1922/23 an einigen seiner okkultistischen Sitzungen teil. Die miterlebten Taschentuch-Elevationen und sogar eine teleplastische Materialisation begeisterten Thomas Mann und brachten ihn dazu, die Karriere des „Geisterbarons“ weiter zu verfolgen. Auch nach dessen Tod 1929 ging er ihm nicht aus dem Kopf. In der Novelle „Mario und der Zauberer“ (1930) beschwört Mann Erzsis Séancen-Lehrmeister posthum noch einmal herauf. Die Figur des unheimlichen Hypnotiseurs Cipolla, der auf einem Jahrmarkt (!) seine Kunststückchen zum Besten gibt – Schrenck-Notzing hätte dies als „Gaukeleien“ abgetan –, ist von dem berühmten Münchner Arzt inspiriert.

Sophie Charlotte, Schwester der Kaiserin Elisabeth, um 1867

Wie viele seiner Zeitgenossen kam Schrenck-Notzing mit der Hypnose zum ersten Mal in einem Varieté in Berührung. Damals grassierte in Europa das „Hansen-Fieber“, ausgelöst durch den dänischen Scharlatan Carl Hansen, dessen Hypnose-Darbietungen Schrenck-Notzing und sogar Sigmund Freud faszinierten. Freud beschrieb ein Hansen-Spektakel so:

„Noch als Student hatte ich einer öffentlichen Vorstellung des Magnetiseurs Hansen beigewohnt und bemerkt, daß eine der Versuchspersonen totenbleich wurde, als sie in kataleptische Starre geriet und während der ganzen Dauer des Zustandes so verharrte. Damit war meine Überzeugung von der Echtheit der hypnotischen Phänomene fest begründet.“

Seine „hypnotischen“ Demonstrationen führte der Show-Magnetiseur Hansen auch im Wiener Ringtheater vor, das 1881 abbrannte. Zu Beginn ließ Hansen seine „Patienten“ ein Stück Glas fixieren und strich ihnen über die Stirn. Er schloss ihnen Mund und Augen. Meist ließ er dann die „Patienten“ stocksteif zwischen zwei Stühlen liegen und stellte sich auf deren Körper. Viele Wissenschaftler und Ärzte fanden diese Phänomene, die auf Versuche des Magnetiseurs Franz Anton Mesmer im 18. Jahrhundert zurückgehen, durchaus bemerkenswert, wie etwa der Sexualarzt Richard von Krafft-Ebing. Er war mindestens so bekannt wie Schrenck-Notzing und befasste sich mit ähnlichen Dingen. In der Nähe von Graz führte er ein Institut, das auf die Heilung sexueller „Anomalien“ spezialisiert war. Vorwiegend behandelte er „hysterische“ Frauen, die ihren gleichgültigen, gefühlskalten, trinkenden, fremdgehenden oder gewalttätigen Ehemännern mit einem Liebhaber davongelaufen waren. Auch eine Großtante Erzsis, eine der Schwestern von Kaiserin Elisabeth, wurde zu Krafft-Ebing eingeliefert, als sie ihrem Ehegefängnis entfliehen wollte.

Esoterische Netzwerke

Hypnose-Versuche fanden nur in ganz bestimmten Arztpraxen oder Spitälern statt, da sie weder allgemein toleriert wurden geschweige denn weitgehend anerkannt waren. Auch Privathäuser wie Erzsis Schloss in Schönau wurden für solche Zwecke herangezogen. Freuds weltberühmte Theorie des Unbewussten fußt in weiten Teilen auf den erwähnten Denkgebäuden: Auf dem Mesmerismus, dem Hypnotismus und dem Somnambulismus, also der Lehre vom Schlafwandeln, die zur Zeit Mesmers noch Mondsucht („Lunatismus“) geheißen hat. Es ging in den Debatten nicht immer um den Wahrheitsgehalt dieser Theorien, sondern vielmehr standen Machtkämpfe im Vordergrund, Netzwerke von Freunden und Feinden, die für die Durchsetzung einer Idee oft wichtiger waren als deren Realitätsgehalt. Schrenck-Notzing agierte meisterhaft auf diesem heiklen Parkett und obwohl er häufig von Skeptikern angegriffen wurde, gelang es ihm, seinen wissenschaftlichen Ruf zu retten. Bekannte Unterstützer waren unabdingbar, wie etwa der Münchner Malerstar Gabriel von Max. Seine Gemälde zeigen eine intensive Auseinandersetzung mit Forschungsfeldern wie der „Hysterie“, der Hypnose, der Parapsychologie und mit dem Spiritismus. Eine höchstwohlgeborene Habsburgerin konnte in diesem Umfeld nicht schaden.

Das Ehepaar Schrenck-Notzing lebte auf großem Fuß in einem repräsentativen Neubau in einer noblen Münchner Gegend. Man fuhr ein nagelneues Automobil. Überhaupt liebte Herr Dr. Schrenck-Notzing den Autosport und sammelte auch selbst Kunst. Da sich unter seinen Freunden genügend berühmte Maler wie der schon erwähnte Gabriel von Max, aber auch etwa Albert von Keller, der spiritistische Sitzungen in Gemälden festhielt, tummelten, saß er gewissermaßen an der Quelle. Gemeinsam studierten die Herren Ärzte und Künstler die „Nervenrätsel kataleptischer oder ekstatischer“ (Justinus Kerner) Frauen. Diese tauchten später in den Bildern der Maler als Modelle wieder auf. Gerne lud Schrenck-Notzing zu okkulten Abenden und formulierte dort seine Thesen. Bei ausgewählten Terminen waren Presseleute anwesend, die einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Popularisierung des Okkulten leisteten.

Man sah den Hypnotiseur Schrenck-Notzing auch als Bonvivant in Paris, im Frühjahr am Lido in Venedig, im Sommer auf Sizilien und im Winter in Nizza. Kurz, einige Mitglieder der Hautevolee befanden sich zu allen Jahreszeiten genau dort, wo sie von Schrenck-Notzing kuriert werden konnten. Auch Erzsi war im Winter fast immer am Meer und in diversen Kurorten anzutreffen.

Durch seine Beschäftigung mit dem Hypnotismus hatte Schrenck-Notzing mehrere Personen kennengelernt, die einen Ruf als Medium erlangt hatten. Diese meist jungen Mädchen und Burschen wurden zu verschiedenen Zwecken hypnotisiert, entweder von Schrenck-Notzing selbst oder anderen Ärzten. Manche Medien bevorzugten Selbsthypnose. Sobald sie den Zustand der Trance erreicht hatten, konnten ihnen Fragen gestellt oder sie um bestimmte Handlungen gebeten werden. Diese „Arbeit“ mit den Medien streifte die Grenze zum Okkultismus, denn es konnte unter anderem darum gehen, dass das Medium Kontakt mit Toten aufnehmen sollte. Doch auch dem „Geisterbaron“ waren die Geister nicht immer hold, denn dass sich tatsächlich ein Geist zeigte, war äußerst selten. Ein einziges Mal erwähnte Schrenck-Notzing in einem Brief an Erzsi, dass dieses Phänomen aufgetreten sei. Er beschrieb die Manifestation „eines ganzen Phantoms, und zwar einen deutschen Offizier in Grand tenue.“ „Grand tenue“ bedeutet, dass der Militär eine Festtagsuniform trug. Die Erscheinung wurde fotografisch festgehalten. Schrenck-Notzing lehnte an sich den Spiritismus als „Schwarmgeisterei“ ab, doch konzentrierte er seine Forschungen sehr wohl auf den Grenzbereich zwischen Geist und Materie, was dem Okkultismus sehr nahekommt.

Esoterisches zog Erzsi an; es war zu ihrer Zeit aber auch kaum möglich, dem Hype zu entkommen. Man las zwischen 1848 und dem Ende der 1920er-Jahre viel darüber, unzählige Bücher, Broschüren und Zeitungsartikel behandelten das Thema – kurz: Erzsi befasste sich mit einem sehr zeitgeistigen Bereich, der eine Hochblüte in der Publikumsgunst erlebte. Zusätzlich verbrachte sie viel Zeit an Orten, die auch Albert von Schrenck-Notzing frequentierte. Außerdem war ihr erster Ehemann, Otto zu Windisch-Graetz, ebenso wie Schrenck-Notzing ein Autonarr. Genaues über Zeit und Ort eines ersten Treffens Erzsis mit dem Paradeokkultisten seiner Zeit ist derzeit nicht bekannt.

Kranke Kinder

Erzsi konnte „normale Ärzte“, wie sie sagte, nicht leiden. Lediglich die Tiermediziner, die sich ihrer Hundezucht annahmen, schafften es gelegentlich, ihre Auftraggeberin zufriedenzustellen. Allerdings waren sowohl Erzsi als auch ihre Kinder häufig kränklich oder richtig krank und litten unter wiederkehrenden Krankheitssymptomen unerklärlicher Herkunft. Insbesondere die Azetonämie-Anfälle ihrer Kinder zehrten an Erzsis Nerven. Diese Krankheit tritt hauptsächlich bei Heranwachsenden auf. Heute nennt man sie Ketose, es handelt sich um eine Stoffwechselkrankheit mit verschiedenen Symptomen wie beständige Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Kopfschmerzen und vor allem heftiges Erbrechen. Erzsis vier Kinder wuchsen sehr schnell, fast alle erreichten die enorme Körpergröße ihrer Vorfahren auf belgischer Seite, also des Urgroßvaters Leopold II. und der Großmutter Kronprinzessin Stephanie, sowie von Erzsi selbst. Sie wurden fast zwei Meter groß. Dies könnte eine Ursache für die Leiden der Kinder gewesen sein, sicher trugen aber auch der unstete Lebensstil der Mutter, die Abwesenheit des Vaters und überhaupt die in Scheidung lebenden, sich öffentlich bekriegenden Eltern zum Unwohlsein der Kinder bei. Das jüngste Kind von Erzsi und Otto Windisch-Graetz, die Tochter Stephanie, genannt Fee, machte seiner Mutter die meisten Sorgen und jagte ihr sogar regelrecht Angst ein. Oft schien die Heranwachsende halb ohnmächtig, zeigte auf Ansprache keinerlei Reaktionen. Sie schien vollkommen abwesend, nahm kaum wahr, was sich in ihrer Umgebung abspielte. Dass ihr die Tochter immer ähnlicher sah, beunruhigte Erzsi zusätzlich. Da sie viel über „Astralleibe“ und „Doppelgänger“ las, könnte Erzsi sich vor einer Reinkarnation ihrer selbst gefürchtet haben. Fee war ihr zeitweise so unheimlich, dass sie sich von der Tochter angestarrt fühlte, auch wenn diese gar nicht mit ihr im selben Zimmer war.

Erzsi suchte aus diesen Gründen laufend Ärzte, Psychologen und von sich selbst sehr überzeugte Heiler auf, doch die ersehnten Therapieerfolge blieben aus. Kalte Bäder, Stromanwendungen, Homöopathie – alles wurde ausprobiert. Astrologen und Wünschelrutengeher kamen und gingen. Erzsi holte auch sogenannte Wender. Das Wenden wird heute kaum mehr verstanden, es gehört zu den sehr alten Formen der Heilkunde. Man kann es sich als europäische Form des Geistheilens vorstellen. In Niederösterreich, wo Erzsi damals lebte, war es einmal sehr verbreitet, doch schon zu ihrer Zeit gab es kaum noch Wender. Salben, Medikamente oder andere Hilfsmittel werden bei dieser Art des Heilens nicht verabreicht. Der Heiler konzentriert sich auf den Kranken und versucht allein durch die Kraft seiner Gedanken, die Krankheit abzuwenden, das heißt die Krankheit wird „umgewendet“ in Gesundheit. Es gibt auch die Möglichkeit, den Kranken zu besprechen: Der Wender sitzt beim Kranken, verlässt ihn nach einer Weile und nimmt die Krankheit mit sich. Mit einem Spruch wird das Leiden dann aufgelöst. Von manchen Kranken werden solche Menschen „Gesundbeter“ genannt – vor allem, wenn sich Patient und Heiler nicht am selben Ort befinden. Mit Beten haben Wender im Allgemeinen jedoch nichts zu tun. Ihre Methoden stammen durchwegs aus den vorchristlichen Jahrhunderten und Menschen, die es nach dem Mittelalter noch praktizierten, wurden als „Hexen“ und „Zauberer“ verfolgt. Die meisten Wender fielen dem Hexenwahn zum Opfer, ihre Fähigkeiten starben – zum allergrößten Teil – mit ihnen.

Aus der Sammlung Peter Altenbergs: Erzsi mit ihren Kindern, um 1914

Die Söhne Franzi und Erni erzählten später von ihren Brechanfällen und von Erzsis Art, diese zu bekämpfen. Auf Anraten eines „Heilers“ mussten die Kinder Unmengen Spinat essen, was sich günstig auf die Verdauung auswirken sollte.

Flucht vor der Vernunft?

Alles, was Erzsi im Lauf ihrer okkulten Sitzungen sah oder erlebte, suchte sie mithilfe der Vernunft zu erklären. Sie war eine ausgesprochen moderne Frau und in dieser Hinsicht ganz die Tochter ihres Vaters. Parapsychologie interessierte sie, aber sie wollte den Phänomenen, die sich in ihrer Gegenwart abspielten, präzise auf den Grund gehen und deren Ursachen erforschen. Thomas Mann formulierte es so: Es ginge darum, dass die Vernunft anerkennen soll, was die Vernunft ablehnt. So sah es auch Schrenck-Notzing. Was er hasste, waren Amateure, „Laienpublikum“, wie er es nannte. „Laienhafte Nekromanten“ mochte er genauso wenig, „Gesindestuben-Metaphysik“ oder gar „Köchinnensonntagnachmittagausgehvergnügen“ (Thomas Mann) war rundheraus abzulehnen. Man benötige, so der Parapsychologe, eine klare und strenge Methodik. Versuchsanordnungen mussten wiederholbar sein. Überhaupt half einzig und allein das Experiment, genauso wie in der Physik oder der Chemie. Schrenck-Notzing versicherte, das Okkulte könne anhand naturwissenschaftlicher Vorgehensweisen aufgehellt, wissenschaftlich erfasst und publiziert werden. Man müsse es so lange freilegen, bis es ganz ins Offensichtliche, Erklärbare übergegangen sei.

In den von Schrenck-Notzing vermittelten Sitzungszirkeln in Wien lernte Erzsi Dr. Hans Thirring kennen, der mit dem Münchner Arzt gut bekannt war. Jemanden wie Thirring würde man in Okkultismus-Kreisen nicht auf den ersten Blick vermuten, denn er war theoretischer Physiker und Vorstand des Instituts für Theoretische Physik an der Universität Wien bis 1938. Tatsächlich jedoch existierte im ersten Wiener Gemeindebezirk schon in den 1870er-Jahren ein vegetarisches Restaurant, in dem nicht nur Esoteriker verschiedenster Art verkehrten, sondern auch „Sozialisten, die die Weltrevolution planten“, so der Theosoph und Freud-Berater Friedrich Eckstein in seinen Memoiren. Zu Thirrings Umfeld gehörten demnach Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Sigmund Freud, was dazu führte, dass er nach dem „Anschluss“ 1938 „beurlaubt“ wurde. Schon in den 1920er-Jahren, als Thirring mit Erzsi an Sitzungen teilnahm, setzte er sich gegen den rechtsnationalen Terror ein, der sich auf den Universitäten breitmachte. Seine Vorlesungen begannen immer erst, wenn alle jüdischen Studenten, die bei ihm lernen wollten, Platz genommen hatten. Es kam damals nicht selten vor, dass rechte Studenten jüdische Hörer am Betreten der Hörsäle hindern wollten.

Erzsi kannte Thirring als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, und er meinte einmal, als er auf seine „merkwürdigen“ Forschungen im Bereich der Grenzwissenschaften angesprochen wurde: „Wer nicht den Mut hat, sich auslachen zu lassen, ist keine echte Forschernatur!“ Wenn ein paar Professoren von Schwindlern gefoppt würden, sei das kein Unglück, denn es könne ebenso passieren, dass ein bisher unbekanntes Naturphänomen unentdeckt bleibe. Und davor wollte er die Wissenschaft bewahren. Diese Herangehensweise deckte sich mit Erzsis Vorstellungen. Beide begannen in den 1920er-Jahren mit ihren Untersuchungen auf dem Gebiet der Parapsychologie. 1927 wurde Thirring zum (Gründungs-)Präsidenten der „Österreichischen Gesellschaft für Psychische Forschung“ (heute: „Österreichische Gesellschaft für Parapsychologie und Grenzbereiche der Wissenschaften“) gewählt.

Die meisten Experimente, die Schrenck-Notzing, Erzsi, Thirring und ihr Kreis mit verschiedenen Medien durchführten, befassten sich mit die Grenzen des Organismus überschreitenden, teleplastischen Charakteren. Das bedeutet, dass man außerhalb des Körpers des Mediums Formen wie Körperglieder, vor allem Hände, wahrnehmen kann, die biologisch lebendig sind. Die Erscheinung geht im Allgemeinen sehr schnell vorüber. Schrenck-Notzing war der Ansicht, es handle sich um eine „Verstofflichung“ des Geistes, um „fleischgewordene“ Traumbilder, hervorgerufen durch eine zu erforschende psychische Kraft des Mediums. Die sichtbar werdende Materie nennt man „Ektoplasma“: ein dem Körper entbundenes, sich verdichtendes Fluidum.

Wie gesagt ist es aber sehr selten, dass eine ganze Person, also ein „Geist“, sich materialisieren kann. Was Thirring und Erzsi, aber auch Schrenck-Notzing im Lauf des Lebens immer mehr als wissenschaftliches Experiment in einer Art Laborsituation wahrgenommen haben wollten, hatte in den Augen von Skeptikern bestenfalls theatralischen Show-Charakter – es wurde als spektakulärer Spuk bezeichnet, als nichts anderes als die Auftritte des Magnetiseurs Hansen. Schon der Modearzt Franz Anton Mesmer war als Scharlatan verschrien gewesen und zu Freuds Lehrer, dem französischen Nervenarzt Jean-Martin Charcot, waren nicht wenige sensationsgierige Schaulustige gepilgert, um zu sehen, wie er halbnackte „Hysterikerinnen“ in der Salpêtrière in Paris mit Elektroschocks und anderen in den Anfängen der Psychiatrie üblichen „Heilmitteln“ malträtierte.

Doch wie eine überzeugende Erklärung für das Unerklärliche finden? Immer unter der Voraussetzung, dass kein Betrug vorlag und dass es sich um seriöse Forscher handelte, die die Versuche mit den Medien – teilweise im Beisein von halb München, wie im Fall von Schrenck-Notzing – präsentierten? Man konnte sich schon vorkommen wie im Zirkus, mit Szenenapplaus, Anfeuerungsrufen und lähmender Enttäuschung, wenn nichts passierte. Denn es musste damit gerechnet werden, dass die Medien nicht in der entsprechenden Verfassung waren, die Umgebung dem Zweck nicht förderlich war, dass der Versuchsleiter einen Fehler gemacht hatte etc. Parapsychologische Experimente konnten nur von Menschen mit viel Geduld ausgeführt werden. Warten und Langeweile, stundenlanges Starren ins Dunkel, Ermüdung, Versuchsabbruch, Neustart, wieder warten – das gehörte zum Forscheralltag. Schrenck-Notzing war imstande, beinahe unendlich zu repetieren, wenn er grundsätzlich von der „Qualität“ eines Mediums überzeugt war.

Der „Wasservorhang“ im Tempel der Nacht auf Schloss Schönau, um 1800

Blick auf Schloss Schönau, 2019

„Akte X“ auf Schloss Schönau

Im Schloss Schönau hatte Erzsi ein Zimmer, das in einem sonst unbewohnten Trakt des weitläufigen Gebäudes lag. Grundsätzlich war das Schloss auf Gäste ausgerichtet, es verfügte über viele Schlafzimmer, eine große Küche mit den besten Köchen, repräsentative Speiseräume und vor allem über einen wunderbaren Garten, der von Erzsis ausgesuchten Gärtnern nach ihren Wünschen gestaltet worden war. Er gehörte zu den schönsten in Österreich. Erzsi ließ es sich nicht nehmen, Postkarten mit Ansichten ihres üppig blühenden Parks drucken zu lassen. Man kann diese heute im Heimatmuseum in Schönau besichtigen.

Doch in ihr Boudoir, eine Art Privatheiligtum, das mit Dutzenden Erinnerungsstücken aus der Monarchie vollgestellt war, durfte außer ihren Kindern niemand eintreten. Und auch diese nur einzeln und nach Voranmeldung. Gerahmte Fotos ihrer Vorfahren standen sogar an die Stuhlbeine gelehnt, hauptsächlich Fotos von Kaiserin Elisabeth und Kronprinz Rudolf. Sitzbezüge und Überwürfe waren mit Vögeln bedruckt, Tiere, die Erzsi sehr liebte. Ihr Vater Rudolf war ein sogar in Biologenkreisen anerkannter Ornithologe gewesen und er hatte mit Erzsi in den wenigen Jahren, in denen er seine Tochter aufwachsen sah, viel über das Leben der Vögel gesprochen. Noch im hohen Alter konnte Erzsi die Vögel im Park ihrer Penzinger Villa anhand deren Rufe identifizieren. In Schönau besaß sie einen Papagei, der „Erzsi!“ rief, was sie ihm selbst beigebracht hatte. Ansonsten war der Raum erfüllt vom Duft der unzähligen Blumen, die an genau definierten Plätzen stehen mussten: Azaleen, Rhododendron und je nach Blütezeit Flieder, Jasmin, Begonien, Veilchen. Auch einige Aquarelle ihrer Mutter Stephanie hingen hier und Darstellungen des blühenden Schönauer Gartens, die ein von ihr beauftragter Künstler geschaffen hatte. Szenen von ihren Reisen an die Adria und die Nordsee konnte man ebenso sehen wie Kriegsschiffe, die an ihre leidenschaftliche Beziehung zu einem U-Boot-Kapitän erinnerten. Die Liaison hatte mitten im Ersten Weltkrieg in einer Katastrophe geendet und für Erzsi versank – wie für viele andere – die Welt nach 1918 im Chaos. Halt und Hoffnung mussten neu erworben werden und in dieser unsicheren Zeit waren Metaphysik und Magie gefragter denn je. Der schrecklichste Krieg, den die Menschheit bis dahin erlebt hatte, die Krise nach einer erschütterten Weltordnung: All das nahmen viele als etwas Unvorstellbares wahr, etwas, das man davor nicht für möglich gehalten hätte, das die schlimmsten Befürchtungen übertroffen hatte. Kartenleger und Hellseher hatten bei manchen Bevölkerungsgruppen Hochsaison. Der hypnotische Sog des Okkulten eroberte bürgerliche Salons und Hinterzimmer, faszinierte Künstler und Avantgardisten.