Er liebt mich... - Jana Voosen - E-Book

Er liebt mich... E-Book

Jana Voosen

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Beschreibung

Eigentlich ist Mona mit ihrem Leben zufrieden. Obwohl sie gerne ein wenig schlagfertiger, spontaner, und auch ein bisschen schlanker wäre. Doch als sie zum Geburtstag statt des langersehnten Heiratsantrags einen Gratisblick auf Olaf im Bett mit ihrer besten Freundin bekommt, beschließt sie: Höchste Zeit, das Leben ganz neu anzupacken! Mona verlässt ihr Heimatdorf, heuert in Hamburg bei einer Treue-Test-Agentur an und widmet sich fortan ihrer Mission, untreue Männer ans Messer zu liefern, betrogene Ehefrauen zu rächen und sich nie, nie wieder zu verlieben. Oder doch?

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Seitenzahl: 426

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Das Buch

Eigentlich ist Mona mit ihrem gemütlichen Kleinstadtleben zufrieden. Obwohl sie gerne ein wenig schlagfertiger und spontaner wäre. Und vielleicht ein bisschen schlanker. Und der Job in der lokalen Bankfiliale nervt. Doch schließlich hat sie viele gute Freunde – und natürlich Olaf. Doch als der lang ersehnte Heiratsantrag ausbleibt und Mona statt dessen ihren Olaf mit ihrer besten Freundin Viola im Bett erwischt, bricht ihre Welt zusammen wie ein Kartenhaus. Die guten Freunde waren längst eingeweiht, und Mona zerfließt eine Weile vor Selbstmitleid, bis sie einen folgenschweren Entschluss fasst: höchste Zeit, das Leben ganz neu anzupacken! Von Rachegedanken beflügelt, verlässt Mona ihre Heimat und beginnt, in Hamburg in einer Treue-Test-Agentur zu arbeiten. Dort lässt sie reihenweise untreue Ehemänner auffliegen. Doch das neue Großstadtleben birgt so einige Überraschungen für Mona.

Die Autorin

Jana Voosen, Jahrgang 1976, studierte Schauspiel in Hamburg und New York. Es folgten Engagements an Hamburger Theatern, daneben war sie in TV-Produktionen wie Tatort, Stahlnetz oder Alphateam zu sehen. Zurzeit steht sie für die TV-Serie »Marienhof« vor der Kamera. Jana Voosen lebt und arbeitet in Hamburg und München. Nach ihrem viel gespielten Jugendtheaterstück »Hunger« und ihrem ersten Roman »Schöner lügen« ist dies ihr zweites Buch.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinWidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20DanksagungCopyright

Für Gerda und Herbert, Lilo und Heinz. In Liebe

Personen und Handlung sind frei erfunden.

1.

Ein zierlicher Frauenfuß erscheint in meinem Blickfeld, bekleidet mit einem edlen Brautschuh aus cremefarbenem, feinstem Satin. Mein Schuh. Mein Fuß! Merkwürdig! Habe ich nicht normalerweise ziemlich breite Plattfüße? Habe ich mir möglicherweise einige Zehen oder ein Stück von der Ferse abgehackt, um in dieses zarte Schuhwerk zu passen? Ruckedigu, Blut ist im Schuh. Na, und wenn, dann war es das wert! Ich habe jetzt auch gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Stattdessen sehe ich verzückt an mir herunter. Dieses Kleid ist märchenhaft, der weite Rock bauscht sich um meine Oberschenkel, die sich auf magische Weise plötzlich lang und schlank anfühlen, die Korsage schmiegt sich an meinen Körper und drückt meine Brüste zu einem beachtlichen Dekolleté zusammen. Ich bin begeistert. Mit den Augen folge ich der Spur aus weißen Rosenblättern, die sich über den weinroten Teppich schlängelt, der durch die voll besetzten Bankreihen der Kirche hindurch bis zum Altar führt. Gemessenen Schrittes schreite ich über die Blüten hinweg, begleitet von den »Ooohs« und »Aaahs« der Kirchengemeinde. Vereinzelt erkenne ich Gesichter in der Menge: Dort sitzt meine beste Freundin Viola, die langen schwarzen Haare zu einer extravaganten Frisur hochgesteckt, und dort meine Mutter mit bereits verschmierter Wimperntusche. Auch mir treten jetzt die Tränen in die Augen, als ich Olaf vorne am Altar stehen sehe. Er sieht einfach fabelhaft aus in seinem nigelnagelneuen Smoking, wie er augenscheinlich nervös von einem Bein aufs andere tritt und mich erwartet. Mit schimmernden Augen und einem leichten Lächeln auf den Lippen gehe ich auf ihn zu. Ich scheine eine Augenweide zu sein, denn Olaf bleibt im wahrsten Sinne der Mund offen stehen. Dann tritt der bärtige alte Pfarrer in seiner festlichen weißen Robe mit rotgoldener Borte an uns heran, bedeutet der Gemeinde mit einer Handbewegung, wieder Platz zu nehmen und wendet sich mit einem gütigen Ausdruck in den Augen nun uns, dem Brautpaar, zu. Mein Herz beginnt vor lauter Vorfreude und Aufregung ein wenig heftiger zu schlagen, als er den Mund öffnet und sagt:

»Sie haben Post.« Wie bitte?

Und dann verschwimmt alles vor meinen Augen, der Pfarrer, Olaf und die flackernden Kerzen auf dem Altar. Die Zierleiste auf dem Gewand des Priesters wird blasser, verliert ihre Farbe und Leuchtkraft und ist schließlich nur noch eine merkwürdig beige-rosafarbene Fläche. Simone Behrens (das bin ich) erwacht aus ihrem Tagtraum und landet wieder unsanft in Langenweiler (das ist ein 6000-Seelen-Kaff bei Essen). Ich blicke genau auf Balduin Dröses kahlen Schädel. Ein paar mickrige Strähnen hat er von links nach rechts über die speckig glänzende Haut gekämmt. Glaubt er wirklich, dass er dadurch irgendjemandem weismachen kann, er hätte noch Haare auf dem Kopf? Herr Dröse, von mir insgeheim Baldi getauft, ist mein direkter Vorgesetzter und sitzt mir im Großraumbüro der Datenverarbeitungsabteilung der Vereinsbank Langenweiler gegenüber, und das seit nunmehr fast fünf Jahren. Jeden Tag, Montag bis Freitag von neun bis siebzehn Uhr. Jetzt hebt er seinen Kopf und guckt mich misstrauisch an. Immer wieder erwischt er mich dabei, wie ich auf seine Platte starre und meinen Gedanken nachhänge. Er mustert mich mit seinen kleinen grauen Schweinsäuglein und verzieht die schmalen Lippen zu einem Grinsen, das seine nikotinverfärbten Zähne entblößt. O Gott, hoffentlich denkt der nicht, ich würde mich nun doch für ihn interessieren. Auf der letzten Betriebsfeier habe ich seine Hand auf meinem Hintern zwar mit einem halben Liter Bier über seinen kahlen Schädel quittiert, aber solche Kerle können da ja unglaublich ignorant sein. Ich muss echt darauf achten, ihn nicht ständig anzugucken.

»Sie haben Post«, hallt die erstaunlich hohe, ja weibliche Stimme des Pfarrers in meinem Kopf nach. Ach, natürlich. Seufzend wende ich mich meinem Computer zu und checke meinen E-Mail-Briefkasten. Eine Nachricht von Olaf. Wenn man vom Teufel träumt, kriegt man ’ne E-Mail.

»Ach ja, so eine junge Liebe is doch watt Schönes«, ertönt es anzüglich hinter meiner Schulter. Ertappt drehe ich mich um. Da steht Gerda Ulbrich, eine fünfzigjährige rundliche Person mit grauem Haar und gutmütigem Charakter, die hier seit über zwanzig Jahren zum Inventar gehört. Junge Liebe ist gut, Olaf war mein erster und gleichzeitig letzter Freund. Wir sind ein Langenweiler Vorzeige-Pärchen, haben uns quasi mit der Geschlechtsreife in der Tanzschule kennen gelernt. An meinem sechzehnten Geburtstag fragte mich Olaf dann, ob ich mit ihm »gehen« würde, und von da an gingen wir miteinander. Zur Tanzstunde, ins Kino, zum Schüler-Rock-Festival, drei Monate später das erste Mal ins Bett und so ist das jetzt seit zehn langen und manchmal auch – weiligen Jahren. Alle Welt, einschließlich meiner Wenigkeit, fragt sich allmählich, wann Olaf denn nun endlich mit mir zum Traualtar gehen wollen wird. Ja doch, ich habe solche Tagträume nicht ohne Grund!

»Wann wird denn nun endlich geheiratet«, fragt Gerda auch prompt zum etwa hundertfünfzigsten Mal und beginnt interessiert, meine E-Mail zu lesen. Schnell wechsle ich das aktive Fenster auf meinem Bildschirm und mache Gerda grinsend auf das Postgeheimnis aufmerksam. Baldis Kopf schnellt hoch und er schaut mich eifersüchtig an. Gerda hält mir eine Schachtel mit Nougatkonfekt hin.

»Willste?« Eine der zahlreichen Unsitten in unserer Abteilung ist, dass ständig Süßigkeiten gefuttert werden. Ich habe jedes Jahr ein Kilo zugenommen und noch ist kein Ende in Sicht. Ergeben seufzend nehme ich eine Praline und stecke sie in den Mund.

»Danke«, sage ich zu Gerda und greife, bevor sie weitergeht, schnell noch mal zu. Dann wende ich mich wieder meinem Bildschirm zu.

»Hi Moni! Wolltest Du Jever oder Köpi für die Party? Fahre nach der Arbeit zum Getränkemarkt und müsste das wissen. Olaf.«

Ich schmelze ob dieser unromantischen E-Mail nicht gerade dahin, ganz im Gegensatz zu der Nougatpraline auf meiner Zunge. Irgendwie hat unsere Beziehung reichlich an Romantik verloren.

»Hi Olaf! Köpi. Bis heute Abend dann«, haue ich lieblos in die Tasten, will gerade auf Senden klicken, als ich es mir noch mal anders überlege. Wenn das so weitergeht, unterhalten wir uns bald nur noch in Steno-Manier:

»Wie geht’s?«

»Gut.«

»Essen?«

»Ja.«

»Sex?«

»Migräne.«

»Oh.«

Nein, danke. Entschlossen lösche ich die E-Mail und fange noch mal von vorne an. Wie man in den Wald reinruft, so schallt es heraus und die Wetten stehen eins zu sieben, dass Olaf mir morgen, am fünfzehnten Oktober, meinem sechsundzwanzigsten Geburtstag, die entscheidende Frage stellen wird!

»Du Frau, ich Mann?«

»Okay.« Nochmals: Nein danke. Also: »Hallo, mein Süßer! Ich finde Köpi am besten. Lieb, dass Du für mich die Party schmeißt. Ich vermisse Dich …«

Hier halte ich kurz inne. Vor neun Stunden habe ich ihn das letzte Mal gesehen, mit einer Zahnbürste im und Schaum vor dem Mund. Ist also vielleicht etwas zu dick aufgetragen. Also schreibe ich stattdessen:

»Freu mich auf heute Abend. Ich liebe Dich. Küsse von Deiner Moni.«

Senden und ab die Post!

Ich beobachte den Dröse, wie er die heute siebzehnte Rot-Händle (heute war mal wieder nicht viel zu tun, was mir die Zeit zum Zählen gab) mit seinen gelben Wurstfingern in den überquellenden, gläsernen Aschenbecher drückt, der, egal wie voll, höchstens zweimal in der Woche von ihm geleert wird. Und zwar dienstags und freitags, also heute. Unser Büro stinkt dementsprechend.

Ich schaue ein wenig aus dem Fenster, aber draußen ist es fast so grau und nebelig wie hier drinnen. Trostlos. Baldi steckt sich immer abwechselnd Zigarette Nummer achtzehn und ein klebriges Erfrischungsstäbchen in den Mund und schmatzt dabei leise. Ich assoziiere mit den Dingern ja ehrlich gesagt Pflichtbesuche bei der Oma, wo es außerdem noch ebenso ungenießbare Sachertorte und Caro-Kaffee gibt, aber Baldi ist ganz wild drauf. Ich verbringe die restlichen zehn Minuten bis zum Feierabend damit, darauf zu warten, dass er durcheinander kommt und an einem Erfrischungsstäbchen zieht, oder (noch besser) seine Zigarette aufisst. Schließlich gebe ich die Hoffnung auf, dass er mir diesen Gefallen tun wird und fahre meinen Computer herunter. Es ist genau 16.59 Uhr.

Baldi zieht im Schneckentempo seinen ewig gleichen kackbraunen Mantel an, klemmt die Tasche unter den Arm und schleicht zur Stechuhr. Umständlich kramt er nach seiner Karte, pling, das altbekannte Geräusch, und plötzlich hat Baldi einen Zahn drauf, den man ihm gar nicht zutrauen würde, wenn man das Schauspiel nicht schon seit Jahren verfolgen würde. In null Komma nix ist er meinem Blickfeld entschwunden. Kopfschüttelnd blicken Gerda und ich ihm hinterher, während wir unsererseits ausstechen.

»Hast du nicht morgen Geburtstag, Kind«, erkundigt sie sich.

»Ja, wir feiern rein heute Abend«, entgegne ich unvorsichtigerweise und fürchte im gleichen Augenblick, dass sie sich jetzt möglicherweise selber einlädt.

»Ach, wie schade, ich hab heute Theaterkarten«, bedauert sie und ich atme erleichtert auf. »Sag mir Bescheid, ob er dich endlich gefragt hat, ich habe ein Vermögen gewettet.«

Jetzt fühle ich mich doch irgendwie unter Druck gesetzt, aber Gerda guckt mich so hoffnungsvoll an, dass ich ermutigend nicke und geheimnisvoll sage:

»Da hast du dich bestimmt nicht vertippt. Ich hatte heute eine Vision, dass sich etwas in meinem Leben ändern wird.«

Gerda lächelt glücklich.

»Wirklich?«

»Wirklich!«

Natürlich hatte ich keine Vision, ich bin kein besonders medialer Typ. Trotzdem sollten sich meine Worte als wahr herausstellen. Nur irgendwie anders.

2.

Eine junge schlanke Frau wendet mir den Rücken zu, sie macht eine ausholende Bewegung und gleich darauf fliegt ein großer Strauß aus bunten Herbstblumen durch die Luft und mir genau in die Arme …

Nein, kein Tagtraum dieses Mal, sondern Realität. Gleich darauf dreht sich Olafs Schwester Lena, der ich gerade die Haustüre geöffnet habe, wieder um und gibt mir einen dicken Begrüßungsschmatzer auf die Wange.

»Haha«, mache ich grinsend.

»Und wo ist mein missratener Bruder?«, fragt sie aufgekratzt. »Für den war die Show doch bestimmt.«

»Keine Ahnung, der schwirrt hier irgendwo rum. Willst du was trinken?«

Die Party ist in vollem Gange, in Olafs (ausnahmsweise mal aufgeräumter) Wohnung tummeln sich meine Freunde und Bekannten, und ich bin schon ziemlich angeduselt, als ich mir mit Lena einen Weg in die Küche bahne, um ihr ein Glas Rotwein einzuschenken.

»Jedenfalls habe ich ihm letzte Woche den Ring gezeigt, der dir so gefallen hat, den weißgoldenen«, raunt sie mir verschwörerisch zu.

»Gott sei Dank«, kichere ich, »denn Gelbgold steht mir überhaupt nicht!«

»Er wird es schon kapiert haben«, beruhigt sie mich.

»Na ja, wenn nicht, ist es auch nicht so schlimm«, befinde ich großzügig, denn daran soll es nun wirklich nicht scheitern.

»Ey, Moni, Lena, kommt mit, das müsst ihr sehen«, grölt mir irgendein Bekannter von Olaf ins Ohr, »da treiben es zwei im Schlafzimmer.«

»Heute Nacht schlafen wir wohl in meiner Wohnung«, sage ich zu Lena, während wir uns mit den anderen zusammen in Richtung Schlafzimmer bewegen. Tatsächlich, der Berg von Mänteln scheint ein Eigenleben zu besitzen.

»Ist das zu fassen«, flüstere ich gespielt empört, »weißt du was? Denen gebe ich nachher gleich das Bettzeug zum Wasch…« Mir bleibt das Wort im Halse stecken, denn etwas dort auf dem Bett hat meine Aufmerksamkeit erregt. Es ist nicht größer als ein Centstück und fast ebenso kupferrot. Es ist das Muttermal auf der linken Hinterbacke des Mannes. Und es kommt mir verdammt bekannt vor. Inzwischen haben die beiden durch ihre amouröse Aktivität den Jackenberg zur Seite geschoben, so dass ich jetzt auch Olafs Gespielin erkennen kann. Und die muss ausgerechnet meine bis zu diesem Zeitpunkt beste Freundin Viola sein. Bezeichnenderweise ertönt aus der Stereoanlage just in diesem Moment der Song:

It’s my party, and I cry if I want to. – Nummer eins auf dem Soundtrack meines Lebens. Nobody knew, where my Olaf had gone – now I do. Ich habe schon eineinhalb Flaschen Prosecco intus, doch angesichts von Olaf und Viola, die es vor meinen Augen treiben, als hinge ihr Leben davon ab, sinkt der Alkoholpegel in meinem Blut schlagartig. Mir wird sehr schwindelig. Ich sehe nackte Haut, ich sehe Schweiß, Schenkel, die aneinander klatschen, höre keuchenden Atem, unterdrücktes Stöhnen. Violas hüftlange schwarze Locken, die an seinem Körper kleben. Blutrote Fingernägel, die sich in seinen dunkelblonden Haarschopf krallen. Üppige Brüste, in die er sein Gesicht versenkt. Ich bin wie erstarrt. Glatte straßenköterblonde Haare. Mickrige Brüste, die Beine ein bisschen zu kurz, die Nase zu groß und der Hintern zu breit. All das wird mir in diesem Moment schrecklich bewusst. Ich krame in meinem Gedächtnis. Jede Frau hat sich doch schon einmal ausgemalt, wie es wäre, den eigenen Freund in flagranti zu erwischen. Das sieht man schließlich in jedem zweiten Film, und auch wenn man es sich nicht wünscht, so möchte man doch vorbereitet sein. Gewappnet, um einen coolen Spruch auf den Lippen zu haben. Ich kann nur raten: Mädels, spart es euch oder tätowiert euch die besten Reaktionen auf den Oberschenkel, denn ansonsten stehen die Chancen, sich zu erinnern, etwa eins zu dreihunderttausend. Ich jedenfalls bin sprachlos. Mir schießen nur ganz leise die Tränen in die Augen. Hey, you would cry too, if it happened to you. Die beiden sind so mit sich beschäftigt, dass sie nicht mal merken, dass ihnen die halbe Partygesellschaft zuschaut. Ich hole mehrmals tief Luft, um irgendetwas zu sagen, aber es kommt kein Ton heraus. Der süßliche Geruch von Sex steigt mir in die Nase, Olaf gibt grunzende Geräusche von sich, Viola stöhnt, als wolle ihr einer ans Leben, und in diesem Moment zieht Lena plötzlich scharf die Luft ein und greift nach meiner Hand. Jetzt hat sie die beiden erkannt. Mir dreht sich der Magen um und sein Inhalt landet auf dem Laminatfußboden von Olafs Schlafzimmer. Ein guter Liter Prosecco, in dem halb verdaute Lachsschnittchen, Hackbällchen und Kartoffelchips schwimmen. Ich hebe den Kopf und sehe, dass ich nun endlich die Aufmerksamkeit des reizenden Pärchens erregt habe. Erschrocken starren sie mich an. Niemand bewegt sich. Mein Magen rumort noch etwas, im Wohnzimmer erklingen die letzten Takte von It’s my party. Die Tränen laufen mir die Wangen herunter. Olaf löst sich aus seiner Starre und von Viola. Das dabei entstehende schmatzende Geräusch wird sich wohl für die Ewigkeit in mein Gedächtnis einbrennen.

Viola zieht sich die Decke über den Kopf.

»Moni«, sagt Olaf und bedeckt sich mit einem Kissen. Als ob ich ihn noch nie nackt gesehen hätte. Ach ja, natürlich. Ich schon, aber die zehn Personen hinter mir nicht. Ich beginne zu zittern. Am liebsten würde ich schreien, aber was? Einen Mord im Affekt verüben, aber womit? Stattdessen blicke ich verzweifelt in Olafs graue Augen, gebe ein jaulendes Geräusch von mir und verlasse fluchtartig das Schlafzimmer und die Party, während meine Gäste mir betreten hinterher gucken.

Ich schlage die Wohnungstür hinter mir zu und laufe die achtundvierzig Stufen hinunter auf die Straße. Hilflos sehe ich mich um. Wo soll ich denn jetzt bloß hin? Meine Wohnung liegt im zweiten Stockwerk desselben Hauses, direkt unter der von Olaf, das heißt, um dorthin zu flüchten, müsste ich wieder ins Haus. Und noch schlimmer, zurück in seine Wohnung, denn natürlich hängt da meine Jeansjacke, und in deren Brusttasche befindet sich mein Wohnungsschlüssel. Verdammter Mist. Jetzt bemerke ich, dass mir meine rote Chiffonbluse und die schwarze Stoffhose feucht am Körper kleben. In Stresssituationen tritt mir der Schweiß immer sofort aus allen Poren. So hole ich mir hier bestimmt den Tod. Fröstelnd ziehe ich die Schultern hoch und trete unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als noch mal reinzugehen. Ich hole einmal tief Luft, wische mir die Tränen aus dem Gesicht und drücke widerwillig auf den Klingelknopf neben dem Namen Berger. Berger. Simone Berger. Ich habe mir allen Ernstes eingebildet, dass ich bald so heißen würde. Der nächste Heulkrampf bahnt sich an, doch ich dränge ihn tapfer zurück. Behrens, Berger, ist doch sowieso fast das Gleiche. Wer will schon Berger heißen? Ich drücke die Türe auf und gehe die achtundvierzig Stufen wieder hoch. Mit jeder einzelnen scheinen meine Füße schwerer und schwerer zu werden. Oben am Treppenansatz fühlen sie sich wie zentnerschwere Bleiklumpen an. Die Tür steht einen Spalt offen und mir schallt nach wie vor laute Musik entgegen. Ich lege meine Hand auf die Klinke. Plötzlich frage ich mich, warum mir eigentlich keiner meiner Gäste besorgt hinterher stürmt, wenn ich tränenüberströmt und nach frischer Kotze riechend das Weite suche, nachdem ich meinen Freund und meine beste Freundin miteinander im Bett erwischt habe – vor aller Augen. It’s my party, aber niemand kümmert sich um mich. Maja zum Beispiel, die ich seit der Grundschule kenne. Und was ist mit Lena? Sonja, mit der ich meinen ersten Vollrausch hatte, damals, mit fünfzehn. Überhaupt, wer oder was sind die gut zwanzig Personen, die sich hinter dieser Türe auf meine Kosten besaufen, wenn nicht meine Freunde?

Wütend auf jeden Einzelnen, stoße ich die Tür auf. Alle sehen peinlich berührt zu Boden, als ich eintrete. Olaf und Viola sind nirgends zu sehen. Ich schnappe mir meine Jeansjacke, die an der Garderobe hängt, schubse Lena weg, die ihren Arm um mich legen will und renne aus der Wohnung. Sechzehn Treppenstufen abwärts in weniger als zwei Sekunden. Ich stürze in meine Zwei-Zimmer-Wohnung, durch den Flur ins Schlafzimmer, wo ich mich bäuchlings auf mein Bett werfe und zu schluchzen anfange. Mit einem Ohr lausche ich, ob mir jemand gefolgt ist. Noch mehr hoffe ich, dass Olaf gleich reumütig an meiner Tür kratzen und mich auf Knien um Vergebung und meine Hand bitten wird. O komm schon, Moni, wach auf!

Etliche Stunden später kitzelt mich ein Sonnenstrahl, der durch meine Jalousie ins Zimmer fällt, an der Nase. Vorsichtig öffne ich ein Auge und bemerke erfreut, dass das erste Mal nach über zwei Wochen Dauernebel wieder die Sonne scheint. Das Lächeln auf meinem Gesicht gefriert nur den Bruchteil einer Sekunde später, als mich die Erinnerung an den gestrigen Abend wieder einholt. Ich habe keinen Grund mehr zu lachen.

Mit Schrecken fällt mir ein, dass ich gestern auf den Schlafzimmerboden gekotzt habe und frage mich kurz, ob das alles noch schlimmer oder vielleicht doch ein klitzekleines bisschen besser macht. Mir geht es zu schlecht, um nachdenken zu können. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und beschließe, hier und jetzt zu sterben. Ich male mir aus, wie sie mich finden werden, eine junge Frau, gerade sechsundzwanzig Jahre alt, unvermittelt aus dem Leben gerissen, gestorben an gebrochenem Herzen. Mit transparenter Alabasterhaut, einem rosigen Hauch auf den Wangen, einem sanften Lächeln auf den Lippen werde ich daliegen in meinem breiten Bett in der himmelblauen Satinwäsche und aussehen, als würde ich friedlich schlafen. »Seht, wie schön sie selbst im Tod noch ist«, werden die Menschen ergriffen flüstern und eine Gasse bilden, durch die sich weinend Olaf an mein Totenbett schleppt. »Ich bin schuld, ich«, wird er verzweifelt rufen, vor meinem Leichnam auf die Knie sinken und meine kalte weiße Hand in seine nehmen, »wach auf, bitte, komm zurück zu mir. Verzeih mir!«, fleht er unter Tränen. Mehrere Männer ziehen ihn hoch und führen ihn weg: »Verschwinde, du bist hier nicht erwünscht. Du hast sie auf dem Gewissen.« Mit hängendem Kopf und gequältem Schluchzen fügt Olaf sich, dreht sich jedoch noch mal um und ruft: »Ich werde dich immer lieben!«

Ich blicke auf den Wecker. Es ist ein Uhr. Seit zwei Stunden bemühe ich mich nun schon erfolglos darum, zu sterben, als es an der Tür klingelt. Erschrocken fahre ich hoch. Olaf? Beim Aufstehen rolle ich mich um ein Haar über meine Brille, die ich wohl im Schlaf verloren habe. Ich setze sie auf und die trostlose, verschwommene Welt erhält wieder Konturen. Mit einem Hechtsprung bin ich an der Tür und reiße sie auf.

»Happy Birthday to you, Happy Birthday to you, Happy Birthday, liebe Moni, Happy Birthday to you!«

Nein, richtig geraten, es ist nicht Olaf. Angesichts der gestrigen Ereignisse würde er wohl kaum singen. Er ist zwar nicht gerade ein Meister der Feinfühligkeit, aber so weit reicht es dann doch noch.

Stattdessen steht vor mir ein merkwürdiges Pärchen. Eine dunkelhaarige Frau Mitte fünfzig, kaum größer als eine Parkuhr, mit funkelnden braunen Augen, einem knallroten Kostüm und einer Geburtstagstorte mit sechsundzwanzig Kerzen in den Händen, daneben ein blonder Hüne im gleichen Alter, der mit lauter eingepackten Geschenken behängt ist, als sei er ein Christbaum. Meine Eltern. Sie kommen herein, umarmen und küssen mich, wünschen mir alles Gute, dann stöckelt meine Mama schnurstracks in die Küche, um Kaffee aufzusetzen, den Kuchen anzuschneiden und den Tisch zu decken.

»Klaus, bring doch mal die Geschenke her«, ruft sie meinem Vater zu, der gehorsam mit seiner Last in die Küche trottet. Ich stehe im Flur wie bestellt und nicht abgeholt. Ich sehe an mir herunter und stelle fest, dass ich noch das gleiche Outfit trage wie gestern Abend, nur, dass es jetzt reichlich zerknittert ist. Ich möchte mich lieber nicht mit der Frage auseinander setzen, ob es sich bei dem Fleck auf der linken Brust um einen Teil meines Mageninhalts handelt.

»Ich … ich geh mal schnell ins Bad und zieh mich um«, rufe ich in die Küche und verschwinde in meinem klitzekleinen Badezimmer, in dem es Toilette, Dusche, Waschbecken und daneben noch genau so viel Platz gibt, dass man sich einmal vorsichtig um die eigene Achse drehen kann. Ich ziehe mir die Bluse über den Kopf und die Hose aus. Mit dem rechten Fuß bleibe ich stecken, verliere auf dem linken stehend beinahe das Gleichgewicht und wäre um ein Haar rücklings in die Dusche gestürzt. Puh, da kann man sich schnell das Genick brechen, wenn man nicht aufpasst. Klar, mit meinem Lebenswillen ist es im Moment nicht so weit her, trotzdem muss ich nicht unbedingt in Unterwäsche mit einer zerknüllten Hose um die Knöchel in der Dusche aufgefunden werden. Noch schlimmer ist eigentlich nur noch, auf der Toilette von einem Hirnschlag überrascht zu werden. Oder während man masturbiert.

Ich fange mich also glücklicherweise und blicke in den Spiegel über dem Waschbecken. Böser Fehler! Ich sehe fast noch schlimmer aus, als ich mich fühle, auch wenn ich gedacht hätte, dass das gar nicht möglich ist. Meine dunkelblonden kinnlangen Haare, die ich gestern vor der Party liebevoll Strähne für Strähne mit dem Lockenstab in eine glänzende wellige Prachtmähne verwandelt hatte, stehen jetzt fettig in alle Richtungen vom Kopf ab. Anscheinend habe ich mir heute Nacht ob meines Schicksals ausgiebigst die Haare gerauft, und eigentlich kann ich mir das nicht einmal verdenken. Mein Make-up ist noch komplett erhalten, nur seine Position hat sich verändert: Der Lidschatten klebt als krümelige Masse in der Lidfalte, der kussechte Lippenstift blieb ungeküsst und hat sich rund um den Mund verteilt, die Wimperntusche färbt meine Wangen dunkelgrau. Kein Wunder, dass Olaf mich mit Viola betrügt. Mit der perfekten weiblichen Viola, die schon wunderschön war, als ich sie mit dreizehn Jahren kennen lernte, die die Pubertät ohne einen einzigen Pickel durchgestanden hat, die lockige, lange schwarze Haare, große blaue Augen, perfekt geschwungene Wimpern, ein süßes Stupsnäschen, einen vollen Kussmund, gewaltige Brüste, eine Wespentaille und einen kleinen, knackigen Po besitzt. Und dazu auch noch einen guten Charakter, wovon ich zumindest bis gestern vollkommen überzeugt war. Ich habe Viola immer vergöttert. Ich war nicht mal besonders neidisch auf sie, denn sie gab mir nie das Gefühl, unzulänglich zu sein. Auch nicht, wenn ich in der Disco neben ihr stand, zehn Zentimeter kleiner, farbloser, hässlicher. Wie konnte sie nur? Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass die beiden es schon eine Weile hinter meinem Rücken getrieben haben könnten, bevor sie es vor meinen Augen taten. Und wie lange schon? Heulend setze ich mich auf den Klodeckel. Von außen klopft es an die Tür.

»Monilein, der Kaffee ist gleich fertig, kommst du dann auch?«

»Ja, ich komme«, versichere ich schluchzend und mache mich daran, schnell mein Gesicht zu waschen, die Haare zu kämmen und die Zähne zu putzen. Dann schlüpfe ich in den weißen Frotteebademantel mit der blauen Borte, der am Haken an der Tür hängt und den Olaf mir mal geschenkt hat.

In der Küche riecht es nach frischem Kaffee. Auf dem winzigen Küchentisch steht die riesige Geburtstagstorte – Himbeer-Sahne. Ich kann mich zwar nicht so richtig freuen, aber ein bisschen schon. Außerdem gehöre ich bedauerlicherweise nicht zu den Frauen, die bei Kummer keinen Bissen mehr runterkriegen, in drei Wochen zehn Kilo abnehmen, dann mit Modelmaßen durch die Gegend spazieren und jedem erzählen, dass Kummer auch »unheimlich die Persönlichkeit stärkt«. Nein, ich multipliziere meine Kalorienaufnahme mit einem dem Kummer angemessenen Faktor und werde durch meinen stetig wachsenden Körperfettanteil noch unglücklicher. Seufzend lasse ich mich auf einen der vier klapprigen Holzstühle rund um den Tisch fallen, während meine Mutter mir eine Tasse Kaffee einschenkt. Viel Milch, noch mehr Zucker.

»Wo ist denn Papa«, frage ich und nehme einen Schluck, wobei ich mir mächtig die Zunge verbrenne. Ist es Einbildung, oder kocht meine Mutter den Kaffee heißer als ich?

»Der ist oben und holt Olaf.«

Was? Ich verschlucke mich fürchterlich und huste und keuche und rudere mit den Armen, um meiner Mutter verständlich zu machen, dass sie ihn auf der Stelle zurückpfeifen muss. Sie versteht mich leider nicht, sondern klopft mir nur beruhigend auf den Rücken.

»Das kommt davon, wenn man so gierig ist«, sagt sie kopfschüttelnd. Ich ringe mit knallrotem Kopf nach Luft, als ich die Wohnungstür aufgehen höre. Bitte, bete ich inständig, lass ihn nicht zu Hause gewesen sein. Schritte nähern sich. Bitte, ich habe doch Geburtstag. Mein Vater tritt in die Küche. Immer noch leise hüstelnd sehe ich ihn an. Mir schwant Böses, doch ich muss feststellen, dass meine Fantasie nicht ausreicht für die Grausamkeiten, die sich das wahre Leben ausdenken kann: Vor mir stehen Olaf und Viola. Mein Vater steht stolz grinsend daneben:

»Na, ist das kein glücklicher Zufall, dass Viola gerade oben beim Aufräumen geholfen hat? Da können wir jetzt alle zusammen feiern.« Aufräumen nennt man das also heutzutage. Entsetzt gucke ich von einem zum anderen, während meine Mutter Olaf und Viola jeweils einen Stuhl zuweist und für sich selbst den Korbsessel aus meinem Schlafzimmer holt. Wieso eigentlich? Die beiden könnten sich doch ruhig einen Stuhl teilen. Sie passen großartig aufeinander. Sogar ineinander.

So sitzen wir also dicht gedrängt um den Tisch herum. Noch immer bringe ich kein Wort heraus. Meine Mutter guckt etwas verwundert von einem zum anderen, versucht aber, die eisige Atmosphäre ein wenig aufzulockern:

»So, Moni, jetzt musst du die Kerzen auspusten und dir was wünschen, bevor sie ganz runtergebrannt sind.«

»Ja, ich hätte mein Stück Kuchen wenn möglich gern ohne Wachsüberzug«, versucht mein Vater einen Scherz.

Auch das noch. Jetzt muss ich also wie eine Fünfjährige Geburtstagskerzen auspusten. Erwartungsvoll gucken meine Eltern mich an. Na schön, denke ich grimmig, hefte meinen Blick auf Olaf und Viola, hole tief Luft, puste alle Kerzen auf einmal aus und wünsche den beiden dabei aus ganzem Herzen die Pest an den Hals.

»Und wie war die Party?«, fragt mein Vater betont munter, während wir alle an unserer Torte mümmeln. Olaf und Viola gucken mich betreten an. Ich gucke feindselig zurück. Stille. Ich werde den Teufel tun und darauf etwas sagen.

»Es war ganz lustig«, sagt Olaf, »aber Moni hat wohl ein bisschen viel Prosecco getrunken. Ihr ist schlecht geworden und darum hat sie leider den Großteil der Party gar nicht mitbekommen.« Sprachlos starre ich ihn an.

»Schlecht war dir? Gott, Kind, dass du aber auch so viel trinkst. Musstest du erbrechen?«, fragt meine Mutter.

»Und wie. Auf meinen Schlafzimmerboden. Aber ist schon gut«, sagt Olaf und nickt mir großzügig verzeihend zu, »glücklicherweise habe ich ja keinen Teppichboden.« Bin ich hier im falschen Film? Meine Mutter schüttelt missbilligend den Kopf, und mein Vater versichert, dass mögliche Schäden ein Fall für die Haftpflichtversicherung seien. Ich schäume vor Wut.

Diese Schweine! Dieser Mistkerl und diese widerliche Hexe! Ich hasse sie! Sitzen da, essen Kuchen und reden mit meinen Eltern. Olaf hat nicht mal versucht, mich irgendwie ins Nebenzimmer zu locken (ich wäre natürlich nicht dazu zu bewegen gewesen), um mich anzuflehen, ihm zu vergeben (was ich selbstverständlich ebenfalls nicht getan hätte). Ich weiß nicht, wie ich diesen Nachmittag hinter mich gebracht habe, anscheinend bin ich in eine todesähnliche Starre gefallen, die mich das Ganze hat ertragen lassen. Leider hat diese Tatsache mir auch jede Spontaneität und Schlagfertigkeit genommen. Nicht dass ich ansonsten reichlich mit diesen Eigenschaften bestückt wäre. Mittlerweile sitze ich wieder allein in meiner Wohnung, auf meiner großen roten Couch im Wohnzimmer, in meinen ältesten, ausgebeultesten Jogginghosen, einem weißen Männerunterhemd (nein, nicht von Olaf, sondern von Papa) und mit der übrig gebliebenen Hälfte der Geburtstagstorte auf dem Schoß. Die erste Flasche Weißwein, der dazu ganz vorzüglich schmeckt, neigt sich bereits ihrem Ende zu und ich bin froh, dass ich eine ganze Kiste von meinen Eltern geschenkt bekommen habe. Wahrscheinlich ist das so ein ganz edles Tröpfchen, denn mein Vater hat einiges Aufhebens um dieses Geschenk gemacht. So einer, den man höchstens zu einem ganz besonders guten Essen an einem feierlichen Anlass aufmacht, wie am Valentinstag (schluchz), Jahrestag (schluchz) oder zur Verlobung (oberschluchz). Aber ich habe erstens keinen blassen Schimmer von Wein, zweitens keinen anderen im Haus und drittens Geburtstag. Wenn das kein Grund zum Feiern ist … Prost!

Drei Stunden später bin ich sternhagelvoll und umringt von zwei leeren und einer halb vollen Flasche … Da soll noch einer sagen, ich hätte keine Freunde. Ich gucke »Doktor Schiwago« und bilde mir ein, über die Tatsache zu weinen, dass der arme Mann tot zusammenbricht, als er seiner geliebten Lara nach Jahren der Trennung plötzlich durch einen Zufall wieder begegnet und zum Greifen nahe ist. Das nenne ich traurig. Das nenne ich ein hartes Schicksal. Das nenne ich eine tragische Liebe. Worüber beschwere ich mich eigentlich?

Rrrring! Mühsam öffne ich erst mein linkes und dann mein rechtes Auge. Mein Blick fällt auf den Fernseher. Die Kamera fährt durch irgendeine öde Landschaft. Nachtprogramm: die schönsten Zugstrecken Deutschlands. Doktor Schiwago ist tot. Ich muss eingeschlafen sein. Rrrrrring. Wie? Ach so, die Tür. Wer kann das sein, mitten in der Nacht? Frag doch nicht so blöd, Moni, du hoffst doch sowieso, dass es Olaf ist. Mühsam krabbele ich von der Couch und gehe zur Tür.

»Wer ist da?«, frage ich. Weiß man’s? Vielleicht steht draußen ein frauenmordender Psychopath? Na, das wäre doch die Lösung. Ohne eine Antwort abzuwarten, reiße ich die Tür auf. Kein Mackie Messer, stattdessen Olaf Berger. Na endlich. Ich setze ein abweisendes Gesicht auf.

»Was willst du denn hier?«, frage ich ihn kalt. Sein Gesicht ist tränenüberströmt, ja, er sieht richtig fertig aus. Er stürzt förmlich auf mich zu und umklammert mich wie ein Ertrinkender den Rettungsring.

»Moni … ich …, es tut mir so Leid, ich …, bitte, Moni, verzeih mir«, schluchzt er.

»Niemals werde ich dir das verzeihen«, sage ich feierlich, stemme meine Hände gegen seinen Brustkorb und versuche, mich seiner Umarmung zu entwinden. Er rutscht an mir herunter und kniet nun zu meinen Füßen.

»Aber du musst, bitte!«, fleht er verzweifelt.

»Du bist so ein Mistkerl«, herrsche ich ihn an.

»Ich weiß«, wimmert er, »ich bin der letzte Dreck.«

Jawoll!

»Ich bin deiner überhaupt nicht würdig. Ich bin so ein mieses Schwein. Ein Lügner und Betrüger, ein solches Arschloch, ich bin Abschaum.« Also, ich will ihm wahrhaftig nicht widersprechen, aber ich finde, er trägt da jetzt ein bisschen zu dick auf. Ich gucke auf Olaf hinunter, der zu meinen Füßen kauert und sich selbst all die Dinge an den Kopf wirft, die ich ihm sonst gesagt hätte. Ich kann nicht behaupten, das nicht ein kleines bisschen zu genießen.

»Bitte, ich liebe dich. Ich kann nicht leben ohne dich.«

»Und was ist mit Viola?«, frage ich.

»Viola? Sie bedeutet mir gar nichts, ich weiß nicht, was mit mir los war. Sie ist eine Schlampe. Eine widerliche Hexe, eine Heuchlerin, eine Verräterin, eine Lügnerin, eine …« Finde ich auch. Trotzdem, irgendwie bin ich leicht irritiert. Was ist denn hier eigentlich los?

»… Drecksnutte, ein Biest, eine falsche Schlange, eine …«, lamentiert Olaf weiter, während ich auf ihn heruntersehe und herauszufinden versuche, was hier nicht stimmt.

»… Hure, ein billiges Flittchen, eine …« Nun greift Olaf in die Innentasche seines Jacketts und holt eine kleine, mit dunkelrotem Samt bezogene Schatulle hervor. Er lässt sie aufschnappen und drinnen liegt ein …

Rrrrrring! Mühsam öffne ich erst mein linkes und dann mein rechtes Auge. Mein Blick fällt auf den Fernseher. Irgendeine blöde Cartoonfigur hetzt einer noch viel blöderen Cartoonfigur hinterher. Kinderfernsehen am Sonntagmorgen. Es war nur ein Traum. Verdammt. Rrrrrring. Wie? Die Tür? Pah, da fall ich nicht noch mal drauf rein. Rrring, rrring! Ach, jetzt wirklich? Ich bleibe misstrauisch. Möglicherweise träume ich mir jetzt gleich Viola vor meine Tür, die dann mir zu Ehren eine Hasstirade auf Olaf loslässt. Rrring. Ich richte mich halb auf. Ein Schmerz lodert über meiner linken Augenbraue auf und zieht sich bis in den Hinterkopf. Gleichzeitig überschwappt mich eine Welle von Übelkeit. Kein Zweifel, ich bin wach, so einen Kater kann selbst ich mir nicht zurechtträumen. Rrrring! Is ja gut. Bedeutend mühsamer als eben in meinem Traum krabbele ich von der Couch und schwanke zur Tür.

»Wer ist da?«, frage ich.

»Olaf«, kommt es durch die geschlossene Tür zurück. Das gibt es doch nicht. Wie Schuppen fällt es mir von den Augen: Ich hatte einen hellseherischen Traum. Ich habe doch eine große mediale Begabung. Ich schmeiße meinen verdammten Job hin und werde Wahrsagerin. Ich öffne die Tür und setze mein abweisendes Gesicht auf.

»Was willst du denn hier?«, frage ich kalt. Das Drehbuch meines Lebens. Ich komme mir wahnsinnig cool und überlegen vor. Olaf greift in die Innentasche seines Jacketts. Ich werde wohl ein Wörtchen mit dem Regisseur sprechen müssen. Olaf hat ganz offensichtlich seinen Text nicht gelernt. Er zieht einen Schlüssel hervor. Häh?

»Ich wollte meinen Schlüssel abholen und dir deinen zurückgeben.« Was? Er drückt mir den Schlüssel in die Hand und greift dann am Schlüsselbord, das genau neben der Tür hängt, nach seinem. »Ähm, ja, bisschen blöd gelaufen.« Was? Er wendet sich zum Gehen, stockt kurz und dreht sich dann noch mal zu mir um: »Ach ja, für die vier Kästen Köpi krieg ich noch siebenundvierzig Euro zwanzig von dir. Hast du die zufällig da?« Was? »Na, macht nichts, du kannst sie mir überweisen. Meine Kontonummer hast du ja. Tschüss!« WAS?

3.

Die nächsten Wochen erlebe ich wie in Trance. Ich stehe um sieben Uhr auf, fahre zur Arbeit, sitze acht Stunden ziemlich nutzlos herum, ohne dass es jemandem auffällt, ich spreche nur, wenn unbedingt nötig, auf dem Heimweg hole ich mir einen Film in der Videothek und dann verschanze ich mich in meiner Wohnung. Ich bestelle im Wechsel Pizza Hawaii, Pizza Funghi und Lasagne, dazu einen großen Becher Häägen-Dasz-Eis und eine Flasche Rotwein. Damit haue ich mich vor die Glotze, sehe schnulzige Liebesfilme, heule und schlafe schließlich gegen halb zwei auf der Couch ein. Tagsüber trinke ich viel Wasser, da ich sonst durch die viele Heulerei innerhalb weniger Stunden dehydrieren würde.

Genau vierzehn Tage nach meinem Geburtstag steht plötzlich statt des Pizzaboten Viola vor der Tür.

»Es tut mir echt Leid, Moni, aber ich bin auch froh, dass es jetzt endlich raus ist. Ich wollte es dir schon vor Monaten sagen, ich wusste nur nicht, wie.« Vor Monaten. Aha. Das erklärt den routinierten Beischlaf, den ich miterleben durfte. »Ich weiß, die Situation ist furchtbar, aber meinst du nicht, wir könnten vielleicht irgendwann wieder Freunde …« Ich weiß nicht, was sie meiner Türe dann noch so alles erzählt hat, nachdem ich ihr diese vor der Nase zugeschlagen habe. Seither höre ich, außer dem völlig übertriebenen Gestöhne in der Wohnung über mir, nichts mehr von ihr.

Ich traue mich kaum noch auf die Straße. Wie gesagt, Langenweiler ist ein Kaff. In null Komma nix hat sich rumgesprochen, dass Olaf auf meiner Geburtstagsparty statt für meine gesicherte Zukunft für einen handfesten Skandal gesorgt hat. Die Leute lieben so etwas. Das ist spannender als jeder Promi-Klatsch aus der »Gala«. Wo ich auch hinkomme, ernte ich mitleidige Blicke, ob im Supermarkt oder beim Bäcker. Und kaum bin ich vorbei, stecken sie die Köpfe zusammen: »Hast du gehört?« – »Ja, sicher.« – »Armes Kind.« – »Na, irgendwie kann man ihn aber auch verstehen, die Viola ist schon ein tolles Weib.« – »Die Moni ist aber auch ganz schön dick geworden.« – »Ob sie schwanger ist?«

Ob ich schwanger bin? Nein, ganz eindeutig nicht. Dieses Gerücht schwemmt jedoch gerade wie eine Riesenwelle über Langenweiler hinweg. Ich habe zuerst von meiner Mutter davon erfahren, die mich eines Tages völlig aufgelöst anrief. Die Frau Ferolle vom Blumenladen hätte ihr gesagt, man sieht es sogar schon. Frechheit. Kann ich nicht ein bisschen mehr Verständnis erwarten? Schließlich bin ich todunglücklich. Ich habe im Leben einfach keine anderen Freuden als Pizza, Wein und Eiscreme. Ja, ich gebe zu, ich bin etwas aus dem Leim geraten, aber wen interessiert’s? Mich sieht ja eh keiner mehr nackt. Ich werde als alte Jungfer sterben und die Jungs vom Notarztteam werden ihre liebe Not haben, meinen leblosen unförmigen Körper auf die Bahre und diese dann durchs Treppenhaus zu verfrachten. Ist mir scheißegal.

Mit dem Film »Abgeschminkt« bewaffnet (ich habe mich einmal von A bis Z durch das gesamte Sortiment »Romantische Komödie« der Videothek geguckt und fange nun wieder von vorne an), haste ich mal wieder die zweiunddreißig Stufen bis zu meiner Wohnung hinauf. Wir haben den sechzehnten Dezember. Bald ist Weihnachten. O du Fröhliche. Während es gestern noch milde sieben Grad warm war, gab es heute einen Kälteeinbruch und mindestens zwanzig Zentimeter Schnee. Aus heiterem Himmel. In meiner für dieses Wetter zu dünnen Herbstjacke habe ich mir beinahe den Tod geholt. Meine Halbschuhe sind klatschnass. Ich höre Schritte. Bitte nicht!

»Hallo Moni.« Olaf. War ja klar. Da muss ich läppische zweiunddreißig Stufen feindlichen Gebietes überwinden, um in den Schutz meiner sicheren Höhle zu gelangen, und dennoch treffe ich Olaf ständig. Oder Viola. Oder beide. Sie grüßen mich immer ganz freundlich und ziehen dann ihrer Wege.

»Hallo«, knirsche ich zwischen den Zähnen hindurch und will mich schnell an Olaf vorbeidrücken, doch er hält mich am Arm fest.

»Warte mal, Moni«, beginnt er. Erstaunt gucke ich ihn an, aber ich hoffe nicht mehr, dass er plötzlich reuig um Vergebung bittet. Ja, ich habe lange darauf gehofft, doch das ist nun vorbei. Ich mag naiv sein, aber nicht völlig bescheuert. Aber was will er?

»Du bist nicht wirklich schwanger, oder?«, fragt er mich. O Gott, wie ich diesen Dorfklatsch hasse.

»Nein«, sage ich und mache mich von ihm los.

»Das hab ich mir gedacht. Ziemlich plump von dir, so ein Gerücht in die Welt zu setzen.« Mit diesen Worten dreht er sich um und geht die Treppe runter. Sprachlos starre ich ihm hinterher. Und langsam, ganz langsam dämmert es mir, was das gerade für eine einmalige Rachechance war, die ich so einfach habe vorbeiziehen lassen. Innerlich vor Wut kochend, schließe ich meine Tür auf, betrete die Wohnung, schleudere meine tropfnassen Schuhe von mir und fluche vor mich hin. So ein verdammter Mist. Ich hätte »Doch« sagen und dann hocherhobenen Hauptes an ihm vorbeigehen sollen:

»Aber mach dir keine Gedanken. Ich werde das ganz alleine schaffen. Von dir wollen wir nichts haben.« Dann morgen in der Videothek ein oder zwei kleine Bemerkungen fallen lassen und Olaf und Viola hätten sich in ganz Langenweiler nirgendwo mehr blicken lassen können. »Seht euch die an.« – »Dieser Schurke, erst macht er Moni ein Kind und dann lässt er sie eiskalt sitzen.« – »Wegen dieser Viola, diesem Flittchen.« – »Aber ist Moni nicht einfach sagenhaft tapfer?« – »Eine tolle Frau!« Zwei Monate später hätte ich dann eine Fehlgeburt erlitten. »Kein Wunder, bei dem, was sie erleiden musste.« – »Seht, da kommt er, der Kindermörder!«

Jaja, wenn und hätte. Ich könnte mich ohrfeigen. Egal. Vorbei. Chance vertan. Außerdem, zugegeben, es wäre eine plumpe Rache. Plump – aber gut.

Heute ist Silvester. Auf der einen Seite freue ich mich, endlich dieses fürchterliche Jahr zu Grabe tragen zu können, andererseits bin ich heute unglücklicher denn je. Okay, blicken wir mal den Tatsachen ins Auge:

Ich habe keine Freunde. Mein Leben war zehn Jahre lang mehr oder weniger ausschließlich auf Olaf und Viola ausgerichtet. Und all die anderen Leute, mit denen wir Kontakt hatten, mit denen wir Partys gefeiert, Video- und Spieleabende gemacht hatten, Maja, Sonja, Ben und wie sie nicht alle heißen, das waren alles unsere gemeinsamen Freunde. Und die machen immer noch Partys, Video- und Spieleabende, allerdings mit dem sauberen Pärchen im dritten Stock. Ich höre sie oft abends die Treppen rauf- und nachts wieder runterkommen. Aber nie klopft mal einer bei mir an die Tür, um zu fragen, wie es mir geht. Wenn ich zufällig jemandem aus der alten Clique begegne, ernte ich nicht viel mehr als ein betretenes »Hey Moni, alles klar?« Eine Antwort erwarten sie darauf ohnehin nicht. Ich bin einsam.

Jedenfalls ist heute Silvester, und angesichts der Situation ist wohl klar, dass ich ziemlich allein dastehe, um auf das neue Jahr anzustoßen. Was für ein Albtraum. Das muss ich auf jeden Fall verhindern und greife deshalb zum allerletzten Mittel: Ich rufe meine Mutter an. Na klar, Silvester mit den Eltern ist nicht unbedingt das Höchste der Gefühle, schon gar nicht, wenn Weihnachten gerade erst hinter einem liegt, aber wenn man keine Wahl hat …

»Behrens?«

»Hallo Mama, ich bin’s.«

»Ach, hallo Moni! Na, wie geht’s?«

»Es geht so. Und, was macht ihr heute?«

»Oh, wir haben einen ganz tollen Abend vor uns. Wir gehen mit Bernd und Christel und Hajo und Babs in diese grandiose Kabarettshow. Cageman oder so ähnlich.« Sie meint natürlich Caveman. Da wollte ich immer schon mal hin.

»Tatsächlich?«

»Ja, wir haben noch die letzten sechs Karten gekriegt. So ein Glück! Und danach haben wir einen Tisch im »Zenturio« bestellt, da gibt es ein Silvester-Menü. Und Wolfgang und Martina machen wohl ’ne richtige Fete bei sich, da gehen wir dann vielleicht später noch hin, falls wir ein bisschen das Tanzbein schwingen wollen.«

»Das ist ja schön.« Schöne Scheiße.

»Und was hast du vor?«

»Ach, ich hab da so ein paar Optionen und kann mich noch nicht entschieden. Du kennst mich ja.«

»O ja. Also, ich könnte das nicht. Ich würde immer denken, wenn es dann nicht klappt, stehe ich plötzlich alleine da.« Alleine? Ich? Absurder Gedanke.

»Na ja, ich bin eben so.«

»Ja, so bist du. Dann rutsch gut rein.«

»Ja, ihr auch. Tschüss!« Langsam lasse ich den Hörer wieder auf die Gabel sinken. Na bravo. Das ist ja wirklich grandios. Meine Eltern gehen stramm auf die sechzig zu und haben einen ganzen Sack voll Freunde, jede Menge Spaß am Leben und einen großartigen Silvesterabend vor sich. Ich sollte mich vielleicht ein bisschen für sie freuen, aber das ist gerade eindeutig zu viel verlangt. Meine letzte Option auf Gesellschaft am Silvesterabend ist soeben den Bach runtergegangen. Was mache ich denn jetzt bloß? Ich brauche einen Plan B.

Nachdem ich noch mal sämtliche positiven Energien in mir motiviert habe, sieht Plan B nun folgendermaßen aus:

Scheiß auf die anderen Leute. Kann ich mir nicht selbst genug sein? Bin ich etwa nicht fähig, mit mir alleine einen schönen Silvesterabend zu verbringen? Eine leise Stimme aus meinem Inneren sagt: »Nein, bist du nicht«, aber ich dränge sie schnell dahin zurück, wo sie hergekommen ist. Und ob ich kann! Ich werde ein großartiges Neujahrserlebnis haben. Mit mir selbst. Jetzt aber schnell, es gibt noch eine Menge vorzubereiten und zu besorgen für einen tollen Abend.

Im Supermarkt lege ich eine Flasche Champagner, tiefgefrorene Shrimps in Kräutersoße, eine Schokoladentorte, eingelegte Antipasti und Ciabattabrot zum Aufbacken in meinen Einkaufswagen und rollere (einigermaßen) gut gelaunt zur Kasse. Ich komme an einem Aufsteller mit Kerzen vorbei und nehme gleich noch zwei Achter-Pakete in rot mit. Schließlich soll es heute festlich aussehen in meiner Wohnung. Ich stelle mich ans Ende der ewig langen Menschenschlange. Dass die Leute aber auch immer auf den letzten Drücker einkaufen müssen. Ich finde so was ja unmöglich. Ich selbst wäre auch nicht hier, wenn Plan B nicht so ausgesprochen kurzfristig entstanden wäre. Vor mir stehen Evelyn Kreutzer, eine ehemalige Schulfreundin und ihre Mutter. Die guckt gerade zu mir herüber, woraufhin ich ihr freundlich zunicke. Sie lächelt zurück und stupst Evelyn an. Die dreht sich kurz zu mir um und guckt dann gleich wieder nach vorne. Ich krame in meinem Gedächtnis. Habe ich ihr mal was getan, woran ich mich nicht mehr erinnern kann? Sie nicht abschreiben lassen? Etwas hilflos gucke ich Frau Kreutzer an, die beginnt, auf ihre Tochter einzureden. Ich spitze die Ohren.

»Was hast du gegen das arme Mädchen? Hast du nicht gehört? Sie ist schwanger und ihr Freund hat sie gerade verlassen.« Ich mache ein unglaublich bedauernswertes Gesicht. Evelyn dreht sich wieder um und mustert mich verächtlich von oben bis unten.

»Die ist überhaupt nicht schwanger. Das erzählt sie bloß überall rum, um sich an Olaf zu rächen«, sagt sie mir direkt ins Gesicht. Empört öffne ich den Mund, um mich zu verteidigen, da trifft mich Frau Kreutzers vernichtender Blick:

»Wirklich? Das ist ja unmöglich. Sie sollten sich was schämen.«

»Aber ich …«

»Mit so was bringen Sie uns Frauen alle in Verruf.« Damit wenden sich die beiden brüsk von mir ab. Ich klappe meinen Mund wieder zu und merke, wie meine Achselhöhlen feucht werden. Pah, sollen die doch glauben, was sie wollen, ich habe es gar nicht nötig, mich zu verteidigen. Um mich abzulenken, hefte ich den Blick auf die Köstlichkeiten in meinem Einkaufswagen. Vielleicht sollte ich noch eine zweite Flasche Champagner kaufen? Wenn schon, denn schon. Aber ich möchte ungern meinen Platz in der Warteschlange aufgeben und die lieben Kreutzers bitten, meinen Wagen mitzuschieben, das geht auf keinen Fall. Also entscheide ich mich gegen den Champagner, entdecke aber in diesem Moment das Fach mit den Spirituosen-Miniaturfläschchen. Das sieht doch gut aus. Und was es da alles gibt: Wodka, Amaretto, Saurer, Korn. Ich nehme von jeder Sorte zwei Fläschchen und lege sie in meinen Einkaufswagen. Aus dem Augenwinkel beobachtet Frau Kreutzer mich missbilligend. Trotzig greife ich noch einmal zu.

Zuhause bringe ich meine ganze Wohnung auf Hochglanz, was mich fast vier Stunden in Anspruch nimmt. Ja, ich gebe es zu, ich habe mich in letzter Zeit ein wenig gehen lassen, weder meinen Körper noch meine Wohnung gepflegt. Aber in fünf Stunden ist dieses schreckliche Jahr mit all seinen schlimmen Ereignissen vorbei und ich werde das neue würdig empfangen. In einer blitzblank geputzten Wohnung und in meinem schwarzen Samtkleid mit richtigem Make-up. Ich werde Kerzen anzünden, klassische Musik hören, Champagner trinken, um zwölf von meinem Fenster aus das Feuerwerk bewundern und dem Mond zuprosten: »Auf ein glückliches neues Jahr!«

Um fünf vor zwölf hänge ich ziemlich betrunken in den Seilen. Habe eine Flasche Champagner, acht Fläschchen Hochprozentiges und eine ganze 600-Gramm-Schokoladentorte gekillt, während ich zugehört habe, wie meine ehemaligen Freunde durchs Treppenhaus polternd auf die Neujahrsparty von Olaf und Viola gezogen sind. Habe meine Klassik-CD inzwischen ausgemacht, da Wolfgang Petri von oben laut durch die Decke schallt. Seit einer halben Stunde wird nun anscheinend auch fleißig das Tanzbein geschwungen, und ich starre besorgt zur schwankenden Deckenlampe hinauf. Jawoll, ich bin eine Gallierin. Ich bin stark und mutig, ich bin unerschrocken und knurrig. Und ich habe nur Angst davor, dass mir der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Von wegen. Ich bin ein mickriges Häufchen Elend, das bin ich. Im Moment bedaure ich sogar, dass ich Violas Freundschaftsangebot ausgeschlagen habe. Mir wäre alles lieber, als hier alleine in meiner Bude zu hocken. Dies ist der absolute Tiefpunkt des Jahres. Ich stolpere in meinen Flur und betrachte mich im Garderobenspiegel. Das schwarze Samtkleid spannt an meinen breit gewordenen Hüften.

»Schaaaiiiße«, lalle ich meinem Spiegelbild entgegen, »duuu bisss sooo erbärmlich.« Mein Konterfei guckt betroffen erst zurück und dann an sich runter. Ich wette eins zu einer Million, dass es mir Recht geben muss. »Bissst fett gewordn. Und ne richtige Saufnase.« Langsam komme ich so richtig in Fahrt. »Keiner liebt dich. Bisss ganz allein auf der Welt, und wennde stirbst, dann weint dia kein Hund nach.« Mein Gegenüber sieht mich durch seine Brille mit großen traurigen Kinderaugen an, aber ich bin noch nicht fertig: »Du verschwendest dein Leben, du hass keinn Mann, du hass keine Freunde, du hass gar nix.« Das genügt. Das hat gesessen. Die Frau im Spiegel schluchzt auf, sinkt auf dem Boden in sich zusammen und weint herzzerreißend. Und vor lauter Mitgefühl heule ich mit.

»Zehn, neun, acht, …«, erklingt es vielstimmig durch die Decke aus Olafs Wohnung. Ich halte mir die Ohren zu, ich will nichts sehen und nichts hören. »… sieben, sechs, fünf, …« Hört doch auf! Warum quält ihr mich so? »…drei, zwei, eins. Frohes neues, frohes neues Jahr!« Es scheint allen gut zu gehen. Allen außer mir. Ich hebe den Kopf und sehe die Frau im Spiegel an. Sie guckt zurück. Setzt eine Mitleid erregende Miene auf.

»Okay, allen außer uns«, verbessere ich mich düster. Sie nickt bekümmert, aber dann versucht sie ein zartes Lächeln. Es wird zwar eher ein klägliches Grinsen daraus, aber immerhin.

»Vergiss nicht«, sagt sie, »ab jetzt kann es nur besser werden.«

Das stimmt nicht ganz. Tatsächlich ist es am nächsten Morgen erst mal noch schlimmer. Eigentlich schon während der Nacht. Kaum hatte ich mich ins Bett gelegt, fing das ganze Haus an, sich zu drehen. Verfluchter Kasten! Als würde es nicht genügen, dass die Wände dünn wie Papier sind. Ich weiß nicht, wie viele Male mir schlecht geworden ist, aber das lässt sich ganz einfach nachprüfen: Auf dem Weg vom Bett zum Badezimmer habe ich fünf Pfützen hinterlassen. Na großartig. Bei diesem Anblick dreht sich mir erneut der Magen um. Diesmal schaffe ich es bis zum Klo, aber da ich mich ja des Nachts bereits ausgiebigst entleert habe, kommt nur noch etwas Galle hoch. Mit grünem Gesicht beginne ich, die Sauerei wegzuwischen. Es gelingt leidlich, aber ganz werden die Flecken wohl nie rausgehen. Wer ist auch so blöd, sich in der gesamten Wohnung einen beigen Teppich verlegen zu lassen? Als ich vor fünf Jahren bei meinen Eltern aus- und hier eingezogen bin, fand ich das oberschick. Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja auch noch nicht, dass mir eine Karriere als Alkoholikerin bevorstehen würde. Alkoholikerin? Das ist ein hartes Wort. Aber was sonst? Gelegenheitstrinkerin? Nein, ich bin eine waschechte