Schöner lügen - Jana Voosen - E-Book

Schöner lügen E-Book

Jana Voosen

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Beschreibung

Schöner lügen ist Jennys Berufung, denn sie ist schließlich Schauspielerin. Der große Erfolg allerdings lässt noch auf sich warten, und als die Mitbewohnerin auszieht, ist Jenny pleite. Da hilft auch die Rolle als gackerndes Huhn im Kindertheater nicht. Von ihrer furchterregenden Kontobetreuerin in die Bank zitiert, fällt Jenny auf die Frage nach dem Minus auf ihrem Konto vor Schreck noch nicht einmal eine gute Lüge ein.

Dann wendet sich das Blatt und das Glück steht vor der Tür: die Traumrolle, der Traummann, alles traumhaft – bis Jenny eine schicksalhafte Neuigkeit erfährt.

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Seitenzahl: 345

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Inhaltsverzeichnis

WidmungDanksagungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Copyright

Für die Blutsverwandten, denen ich jeweils fünfzig Prozent meiner Gene und viel mehr verdanke!

Personen und Handlung sind frei erfunden!

Tausend Dank an

Wiebke Lorenz, Natalie O’Hara, Petra Hermanns, Teymur Mokhtari und Julia Cameron

1

Man gewöhnt sich einfach nie daran. Auch beim einundfünfzigsten Mal tut es noch weh.

»Töten Sie mich auch! Töten Sie mich, Sie Unmensch – der Sie ein unschuldiges Tier schlachten können, ohne dass Ihre Hand zittert! Oh, ich hasse und verabscheue Sie; zwischen uns ist Blut! Ich verfluche die Stunde, da ich Ihnen begegnete, ich verfluche …«

»Ja, vielen Dank, Frau … ähm … Vorbau, wir melden uns dann bei Ihnen«, ertönt die Stimme von Herrn Gerber, Dramaturg des Glockenwall-Theaters Hamburg. Gerade noch bin ich als August Strindbergs »Fräulein Julie« vor den sterblichen Überresten meines geliebten Zeisigs auf die Knie gesunken. Doch nach dieser unsanften Unterbrechung verwandele ich mich wieder in mich selbst zurück: Jennifer Vorbau. Jaja, ich weiß, rasend komisch! Es ist schrecklich, Vorbau zu heißen! Aber noch schrecklicher ist es, Vorbau zu heißen und Körbchengröße 75A zu haben. Manchmal B! Vor den Tagen!

Ich blinzele in den mit roten Polstersesseln bestückten Zuschauerraum. Die Scheinwerfer blenden, sodass ich nur Umrisse erkennen kann.

»Ich könnte auch noch die Doris aus ›Das kunstseidene Mädchen‹ vorspielen«, biete ich zaghaft an.

»Nein, nein, danke«, wehrt Herr Gerber ab.

»Oder ein Chanson vorsingen?«, schlage ich mit dem Mut der Verzweifelten vor.

»Wir haben gesehen, was wir sehen wollten. Danke.«

Mit diesen schon leicht ungehaltenen Worten wendet er sich dem Regisseur zu, der ebenfalls im Zuschauerraum sitzt. Ich bin abgemeldet. Frustriert fange ich an, meine Requisiten in die mitgebrachte Sporttasche zu stopfen: den Vogelkäfig, den mit Ketchup präparierten Stoffwellensittich, den Seidenschal und die Lackhandtasche für die Doris, wenn ich sie denn hätte spielen dürfen.

Das Theater sucht eine Besetzung für die Liza in Bernard Shaws »Pygmalion«. Ich wäre ideal für diese Rolle: klein, zierlich, mit grünen Augen und ewig zerzaustem blonden Kurzhaarschnitt. Also, ich habe mir die Liza zumindest immer genau so vorgestellt! Wenn das doch bloß jemand anderes außer mir auch so sehen würde. Die beiden reizenden Herren im Zuschauerraum tun es jedenfalls nicht. Man braucht kein Hellseher zu sein, um das zu wissen. Nach dem fünfzigsten Vorsprechen hat man das so langsam raus. Wenn sie nur zwei, dieses Mal eigentlich nur eineinhalb Rollen von dir sehen wollen, dann mögen sie dich nicht. Immerhin konnte ich Prinzessin Eboli aus Schillers »Don Carlos« zeigen. Dummerweise war ich aber so aufgeregt, dass die komplett danebenging. Ich beschließe, die Reihenfolge meiner Rollen beim nächsten Vorsprechen zu ändern.

So, ich bin fertig, habe meine Sachen gepackt und stehe etwas unschlüssig und noch immer in dem altmodischen, dunkelblauen Reisekostüm mit dem steifen, weißen Rüschenkragen auf der Bühne herum. Ungeschickt nestle ich an dem Hakenverschluss an meinem Hals herum. Das Ding erwürgt mich fast, dabei bekomme ich vor lauter Nervosität sowieso schon kaum Luft. Ich komme mir vor wie bestellt und nicht abgeholt. Ob ich sagen soll, dass, falls sie meine kurzen Haare stören, es ja auch noch Perücken gibt? Lieber nicht!

»Ich …«, sage ich zaghaft.

»Können wir noch was für Sie tun?« Ich gehe denen ganz eindeutig auf den Wecker. Das ist nicht gut.

»Nein, danke, ich wollte nur sagen, dass ich dann jetzt gehe!« Obwohl ich die Gesichter der beiden noch immer nicht sehen kann, spüre ich förmlich, wie sich ihre Augen gen Himmel richten.

»Äh, dann auf Wiedersehen«, sage ich schnell und verlasse fluchtartig die Bühne, ohne auf einen Abschiedsgruß als Antwort zu warten. Da hätte ich auch lange warten können.

Endlich aus dem Ungetüm von Kleid befreit und wieder angezogen wie ein normaler Mensch, trete ich aus dem Theater auf die Hans-Albers-Straße hinaus. Wie immer um diese Tageszeit sind viele Menschen unterwegs. Sie erledigen ihre Einkäufe, machen ihren Mittagsspaziergang oder gehen zurück ins Büro. Als ob nichts wäre. Als ob ich nicht gerade eben mal wieder eine Riesenchance verpasst hätte. Ich bin frustriert. Ich stelle mich mitsamt meiner monströsen Reisetasche mitten auf den Gehweg und zünde mir erstmal eine Zigarette an.

Ja, richtig geraten: Ich bin Schauspielerin. Nun, keine sehr erfolgreiche (bis jetzt!), aber auch der Weg zur erfolglosen Schauspielerin ist ein steiniger, da darf man sich nicht vertun!

Ich habe allein schon darum kämpfen müssen, meinen Traumberuf überhaupt erlernen zu dürfen. Erst gegen mich selbst, gegen meine Zweifel, »ach, ich schaffe es ja doch nicht, bin nicht gut genug, nicht talentiert genug, so viel Konkurrenz«, dann gegen meine Eltern:

»Was, Hungerkünstler willst du werden? Das ist nicht dein Ernst, so viel Konkurrenz, warum studierst du nicht lieber Jura, BWL, Medizin, Psychologie …?«

Dann die Reise durch ganz Deutschland, Aufnahmeprüfung über Aufnahmeprüfung, von Berlin über Essen und Stuttgart bis nach München. Absage, Absage, zweite Runde, wieder Absage, dann endlich ein Studienplatz, vier Jahre Studium, Abschlussprüfung. Mit dem Diplom in der Tasche denkst du dann, die Welt gehört dir und Hollywood wartet. Da kann ich nur dreimal trocken lachen. Denn jetzt geht’s erst richtig los. Von Theater zu Theater und von Casting-Agentur zu Casting-Agentur: »Danke, wir melden uns«, »Tut uns Leid, Sie sind leider nicht der Typ, den wir suchen, vielen Dank!«, »Don’t call us, we call you!«.

Seit fast zwei Jahren geht das jetzt so. Immerhin habe ich mittlerweile einen Agenten gefunden, der mir ab und zu mal eine (winzig-)kleine Rolle in einer Fernsehserie vermittelt. Ansonsten hier mal ein Stückvertrag und da mal ein Stückvertrag und meistens noch der Nebenjob im Callcenter für Auslands-Telefonkarten, weil man von der Schauspielerei alleine nicht leben kann. Vor sechs Monaten habe ich den Druck auf mich selbst erhöht und diesen Job, den ich schon seit meiner Studienzeit mache, geschmissen. Ich dachte, dass ich durch diese Maßnahme meine Karriere irgendwie ankurbeln würde. Das Einzige, was sich verändert hat, ist, dass ich jetzt nie weiß, ob ich die nächste Miete bezahlen kann.

Dazu ist unsere Spezies so von ihrem Beruf besessen, dass wir fast alles tun, nur um uns »Schauspieler« nennen zu können. Ich bin letztes Jahr am Kindertheater Hamburg in dem Stück »Penny und ihre Freunde« an dreißig aufeinander folgenden Tagen als gackerndes Huhn über die Bühne gehüpft. In dem Kostüm, das ungefähr hundert Kilo wog, obwohl es ja aus Federn bestand, habe ich jedes Mal geschwitzt wie ein Tier und von dem gigantischen Hühnerkopf hatte ich ständig einen steifen Hals. Der Höhepunkt meiner »Performance« war, dass ich im zweiten Akt ein Ei legen durfte. Kein Witz! Im Moment probe ich an einem kleinen Privattheater mit gerade mal achtzig Zuschauerplätzen für ein modernes Theaterstück. Es hat den denkwürdigen Titel »O kranke Leidenschaft«, und ich habe nur eine klitzekleine Rolle, stehe meistens im Hintergrund rum und darf in einer Szene mal was sagen. Naja, ich will mich mal nicht beschweren, denn trotz allem habe ich den tollsten Beruf der Welt.

Doch, gerade jetzt will ich mich eigentlich doch beschweren, und zwar lauthals, und deshalb rufe ich meine beste Freundin Nora an. Die ist schon daran gewöhnt. Manchmal habe ich den Verdacht, dass sie bei diesen Anrufen den Hörer erstmal eine Viertelstunde beiseite legt und seelenruhig weiter an ihren Entwürfen zeichnet (sie ist Innenarchitektin, ziemlich erfolgreich). Wie gesagt, es ist nur ein Verdacht. Und ich würde es ihr nicht mal so wahnsinnig übel nehmen, weil ich ja sowieso immer das Gleiche erzähle.

»Sander?«

»Hi, Nora, hier ist Jenny!«

»Ach, hallo! Na, wie war’s?«

»Es war schrecklich«, beginne ich wie (fast) immer.

»Schon wieder?«

»Sie haben mich mitten im emotionalsten Moment von Fräulein Julie unterbrochen und die Doris konnte ich gar nicht erst machen und … und auf Wiedersehen haben sie auch nicht gesagt«, beschwere ich mich empört. Eine alte Frau, die gerade an mir vorbeigegangen ist, bleibt stehen und sieht mich verwundert an.

»Auf Wiedersehen«, sagt sie entschuldigend. Ich mache eine abwinkende Handbewegung. Sie meine ich doch gar nicht! Die arme Omi geht kopfschüttelnd von dannen.

»Das tut mir Leid für dich, aber vielleicht wird ja dein Termin mit diesem Caster besser«, versucht Nora mich zu trösten.

Caster? Was für ein Caster?

»Ach du Scheiße«, sage ich erschrocken, »den hätte ich ja fast vergessen!« Wenn ich Nora nicht hätte! »Nora, ich schwöre dir, wenn ich eines Tages reich und berühmt bin, dann kriegst du mal ein gutes Gehalt dafür, dass du meine Termine im Kopf hast!«

»Ich warte drauf«, lacht sie.

»Ich auch«, brumme ich etwas weniger gut gelaunt zurück. Schnell gucke ich an mir herunter, um mein Outfit zu checken. Bin ich auch nur annähernd so gut gekleidet, dass ich einem Caster unter die Augen treten kann? Taillierte Jeansjacke, enger olivgrüner Pullover, braune weite Hose im Safari-Stil mit Taschen an den Seiten der Oberschenkel und schwarze Turnschuhe. Naja, es könnte schlimmer sein. Dann verkaufe ich heute eben den Typ »Sporty Spice«. Passt eh viel besser zu mir als »Posh«!

»Dann muss ich jetzt auch los! Sprechen wir heute Abend?«

»Nein, ich treff mich mit Christian!« Ihr Freund! Ein schrecklicher Typ! Was sie an dem bloß findet? Christian ist ein Oberspießer, der sagt, dass er Nora über alles liebt. Eigentlich will er sie aber von Grund auf umkrempeln. Sie ist ein echt exotischer Vogel mit roter Lockenmähne, lebhaft funkelnden braunen Augen und Hippieklamotten. Und ich habe stark den Eindruck, dass Christian statt des Paradiesvogels viel lieber so eine Art Spatz hätte:

Collegeschuhe statt Plateaustiefel, Kostümchen statt Hippieoutfit, Pferdeschwanz statt Lockenmähne, Standardtanz statt Tango Argentino, Oper statt Disco und so fort. Dazu ist der Typ total zwanghaft. Letztens haben die beiden zusammen ferngesehen, und da hat er sie gebeten, doch bitte die Knöpfe seiner Fernbedienung nicht so stark zu quetschen. Er erwarte von ihr, dass sie mit seinen Sachen pfleglich umgehe. Ich habe gedacht, Nora will mich veräppeln, als sie mir das erzählt hat. Aber er liebt sie ja angeblich so schrecklich. Was mir wirklich Sorgen macht ist allerdings, dass sie ihn liebt.

»Naja, dann viel Vergnügen! Was macht ihr denn? Museum?« Ich kann mir diese Bemerkung nicht verkneifen.

»Sehr witzig! Nein, wir machen einen Videoabend!«

»O Gott, dann lass bloß deine brutalen Finger von der Fernbedienung!«

»Sehr komisch.«

»Und immer schön den Teller drunterhalten, wenn du Chips isst, hörst du?«

»Selten so gelacht!«

»Was guckt ihr denn?«, frage ich sie.

»Er sagt, der Film wird ’ne Überraschung!« Nora klingt alles andere als begeistert. Das Szenario gab es schon öfter.

»Das glaub ich auch«, sage ich sarkastisch, »wenn das mal nicht wieder so ein schöner tschechischer Film über einen Einsiedler im Schweigegelübde wird!«

»Ich habe wenigstens einen Freund, der mit mir auch mal einen Film anguckt und nicht nur ins Bett will!«, schlägt Nora zurück.

»Hey, erstens ist Frank nicht mein Freund und zweitens gucke ich mir mit ihm keinen Film an und nicht umgekehrt!«

»Hmm«, grummelt Nora am anderen Ende der Leitung.

»Hey, lass uns nicht streiten, okay?« Ich weiß ja, ich hab angefangen.

»Okay«, willigt sie ein. Wir streiten uns eigentlich ständig, aber wir lieben uns auch heiß und innig.

»Ich wünsch dir viel Spaß heute Abend. Und danke nochmal wegen des Termins!«

»Keine Ursache! Viel Glück!«

»Kann ich brauchen!« Und wie!

Wie sehr tatsächlich, merke ich erst, als ich dem Chef der Casting-Agentur »Act 2000« gegenübersitze.

Wer als Schauspieler zum Fernsehen will, der muss zunächst einmal die Caster kennen lernen, die die Besetzung für all die Serien und Filme machen. Dann versucht man, den Caster (oder die Casterin) innerhalb von zehn Minuten davon zu überzeugen, dass man Starqualitäten besitzt. Das ist natürlich völlig unmöglich, aber man versucht es trotzdem. Manchmal ist es ausgesprochen nett, und manchmal ist es so lala, aber heute ist es schlimmer als ein Besuch beim Zahnarzt!

Ich sitze also diesem Herrn Berger, einem Mittvierziger mit lichtem Haar und fliehendem Kinn, in seinem Büro gegenüber, das sich übrigens, nun ja, am Ende der Welt befindet. Ich habe fast eine Stunde Autofahrt in meinem klapprigen Ford Fiesta, den ich liebevoll die lahme grüne Gurke nenne, hinter mich gebracht. Dann musste ich noch eine gute halbe Stunde nach der Straße suchen, da der Ast einer Birke direkt über dem Straßenschild hing. Ob mich der Himmel damit warnen wollte? Aber ich bin noch rechtzeitig gekommen. Und glücklicherweise habe ich auch immer meine Bewerbungsunterlagen (Fotos, Lebenslauf und Demoband) im Auto liegen. Dann hat man wenigstens was in der Hand, wenn man beim Caster hereinspaziert. Und jetzt werde ich versuchen, einen positiven Eindruck zu hinterlassen. Das missglückte Vorsprechen vom Vormittag muss ich emotional hinter mir lassen. Schließlich kann ja Herr Berger nichts dafür, dass ich einen schlechten Tag hatte. Nun, anscheinend hatte er ebenfalls einen schlechten Tag und ist sehr wohl der Meinung, dass ich was dafür kann. Er wirft einen Blick auf meine Vita und sagt:

»Soso, naja, ein paar kleine Sachen haben Sie ja gemacht. Wie alt sind Sie jetzt?«

»Fünfundzwanzig!«

»Fünfundzwanzig? Na wissen Sie, wenn Sie es bis jetzt nicht geschafft haben, dann schaffen Sie es sowieso nicht mehr!«

Ich bin sprachlos.

»Naja, sehen Sie sich doch zum Beispiel mal Stefanie Glöckner an! Die ist so alt wie Sie und dreht gerade ihren zweiten Kinofilm!«

Also, es ist nicht so, dass ich mir das ausgesucht hätte. Ich würde auch gern gerade meinen zweiten Kinofilm drehen. Ich bin dermaßen verblüfft, dass ich nicht mal wütend werde. Ich sitze brav und aufrecht auf meinem unbequemen Stuhl, während der Berger sich selbstgefällig in seinem gepolsterten Bürosessel räkelt und mir die Erfolgsstorys anderer junger Schauspielerinnen unter die Nase reibt. Ganz im Ernst, so was ist mir noch nie passiert. Irgendwann merke ich, dass ich immer noch mein »Ich-habe-einen-Termin-beieinem-Caster-Zahnpasta-Lächeln« auf dem Gesicht habe. Ich schalte es ab, als sich Herr Berger darüber auslässt, dass sowieso nur die Schauspieler von den drei Elite-Schauspielschulen (ich war natürlich nicht auf einer solchen) etwas taugen. Und dann endlich kommt die Empörung in mir hoch. Und zwar mit solcher Wucht, dass ich jetzt sofort etwas tun muss, wenn ich nicht platzen will. Also erhebe ich mich mitten in »unserem Gespräch«, will sagen »seinem Monolog« und nehme meine Vita wieder an mich.

»Herr Berger, ich möchte Ihre Zeit nicht verschwenden, und noch weniger möchte ich meine Zeit verschwenden. Auf Wiedersehen!«

Damit rausche ich aus dem Büro.

Das Triumphgefühl, das sich bei dem verdatterten Gesichtsausdruck Herrn Bergers eingestellt hat, hält leider nicht sehr lange vor. Schon als ich wieder in meiner grünen Gurke sitze und mich durch den Nachmittagsverkehr in Richtung Heimat kämpfe, ist nichts mehr davon übrig. Schließlich sitzt der am längeren Hebel. Und garantiert wird er mich nie, nie, nie, niemals zu einem Casting einladen. Aber schließlich sah es ja auch vorher nicht gerade danach aus. Außerdem muss man sich doch wohl nicht alles gefallen lassen. Auch für mich gibt es eine Grenze. Ja, ich gebe zu, sie liegt nicht sehr hoch. Eierlegen auf der Bühne ist okay. Mich von Herrn Berger ohne erkennbaren Grund demütigen zu lassen ist nicht mehr okay. Aber meinem Agenten erzähle ich lieber nichts von diesem Reinfall. Der würde ja die Hände über dem Kopf zusammenschlagen:

»Starqualitäten sollst du präsentieren, Jennifer! Nicht Starallüren!«

Nach diesem durch und durch misslungenen Tag komme ich schließlich wieder in meine Wohnung, die bis vor drei Tagen noch eine Wohngemeinschaft war. Meine entzückende Mitbewohnerin Sandy, wie sie sich von allen nennen lässt (sie heißt Sandra und hat nicht einen einzigen Tropfen amerikanisches Blut in ihren Adern) ist glücklicherweise gerade ausgezogen. Kurz nach unserem Einzug hatte sie sich der Grufti-Szene zugewandt. Ich will gar nichts gegen Gruftis sagen, sie hatte sogar mal ein paar ganz nette Kumpels zu Besuch in der Wohnung, aber Sandy war einfach unerträglich. Ihre drei Farbratten, die mich ständig in der Badewanne überraschten, waren noch die harmlosesten Begleiterscheinungen ihrer neuen Passion. Gott sei Dank ist sie weg, gerade rechtzeitig bevor wir uns gegenseitig umbringen konnten. Oder besser, bevor sie mich umbringen und Satan opfern konnte! Sie hat natürlich einen ganzen Haufen von meinem Zeug mitgehen lassen, aber ich bin so froh, dass sie weg ist, dass mir das fast nichts mehr ausmacht. Viel problematischer ist, dass ich bisher noch keinen neuen Mitbewohner gefunden habe. Ich muss zugeben, dass ich die Suche auch ein bisschen vor mir hergeschoben habe. Ich wollte einfach niemandem Sandys Zimmer zeigen, solange sie noch darin wohnte. Es stank dort bestialisch nach den Ratten, weil sie nie gelüftet hat. Und dazu noch die schwarzen Wände und Vorhänge. Unsere Wohnung ist ohnehin schon ziemlich dunkel und hässlich. Sie liegt im Erdgeschoss eines noch hässlicheren Hauses in der … naaaa? Genau, hässlichsten Gegend der Stadt. Zwei Zimmer, eine Küche, in die gerade mal so eben ein Tisch und zwei Stühle passen, und ein uraltes Badezimmer. Mit Rattenpool! Will sagen mit einer furchtbar alten Badewanne. Ich hätte ja lieber eine Dusche, aber ich hätte so vieles gern anders. Mein Zimmer ist eigentlich ganz niedlich. Als ich eingezogen bin, war ich allerdings auf so einem merkwürdigen Lindgrün-Trip: lindgrüne Wände, lindgrüner Teppich, lindgrün gestrichene Holzmöbel und lindgrüne Vorhänge. Okay, ich gebe zu, manchmal frage ich mich selber, was denn bloß mit mir los war, aber es ist immer noch zehnmal schöner als das stickige Loch gleich nebenan! Die Renovierung hat Sandy natürlich bis zum letzten Tag herausgezögert, und dann hat sie das so schlampig gemacht, dass ich vorgestern selber noch mehrere Male drüberstreichen musste. Bis man dieses Schwarz übertüncht hat, muss man echt zentimeterdick Weiß drübermalen. Naja, und gestern, als der erste Besichtigungstermin war, haben sich lauter Verrückte bei mir vorgestellt. So verrückt, dass ich mir fast schon Sandy zurückgewünscht habe, und das will was heißen. Dabei ist es ganz wichtig, dass ich schnell jemanden finde, denn länger als höchstens zwei Monate kann ich die Miete von 500 Euro kalt auf keinen Fall alleine bewältigen. Auf meinem Konto ist ständig Ebbe.

Heute allerdings war mein Tag dermaßen mies, dass ich mir nicht auch noch darüber Sorgen machen will. Stattdessen werde ich es genießen, die Wohnung für mich alleine zu haben. Frank (nicht mein Freund, eher eine Art Kumpel) kommt heute Abend noch vorbei, wir trinken eine Flasche Wein, haben Sex (okay, ein Kumpel, mit dem ich Sex habe; er hat einen tollen Körper), und dann geht er wieder. Ungezwungen, locker, keine Komplikationen, für meinen Geschmack die ideale Beziehung. Wenigstens kann einem keiner wehtun!

Auf dem Weg in die Küche, wo ich mir schon mal das erste Glas Wein holen will, bemerke ich, dass der Anrufbeantworter, der auf dem kleinen Tisch in der Diele steht und den sich Sandy netterweise nicht unter den Nagel gerissen hat, blinkt. Drei Nachrichten.

»Hoffentlich hat der ideale Mitbewohner angerufen«, schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel.

»Batterie leer, bitte wechseln!« Das sagt mir das Ding bei jedem Abhören, aber ich komme einfach nicht dazu, mal so eine Batterie zu kaufen. Ich glaube, die braucht man, wenn mal Stromausfall ist. Na, egal.

»Drei neue Nachrichten, Nachricht eins: Guten Tag, Frau Vorbau, hier spricht Gerber vom Theater Glockenwall.« Wow, die sind aber von der ganz schnellen Sorte.

»Sie waren heute bei uns zum Vorsprechen. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass die Rolle anderweitig vergeben wurde.« Okay, kurz und schmerzhaft.

»Viel Erfolg weiterhin. Auf Wiederhören!« Weiterhin ist gut!

»Nachricht zwei: Jenny, hier ist Frank. Sorry, ich schaffs heute Abend nicht. Ich meld mich. Tschüs!« Hab ich kein Handy? So ein Blödmann.

»Nachricht drei: Ja, Frau Vorbau, hier spricht Hartmann von der Sparkasse Hamburg.« Auweia! Die Hartmann. Eine bebrillte Giftspritze Mitte fünfzig, der es immer ein sadistisches Vergnügen bereitet, mich zu maßregeln. Vor der hab ich Angst!

»Ich bitte Sie dringendst um einen Rückruf. Oder noch besser: Kommen Sie bitte schnellstmöglich bei uns in der Filiale vorbei. Auf Wiederhören!« Das klingt aber gar nicht gut. Ich weiß schon, was die will. Wahrscheinlich sieht mein Kontostand noch schlimmer aus als befürchtet. Heute ist der Dritte, klar, da wird die Miete abgebucht. Aber Sandys Anteil landet nicht mehr auf meinem Konto. So ein Mist! Das ist vielleicht ein Tag. Ich beschließe, mich sinnlos mit Rotwein zu betrinken. Das macht bestimmt einen tollen Eindruck, wenn ich morgen in der Bank mit einer Fahne auftauche, aber das ist mir auch schon egal.

22.00 Uhr:

Versinke in Selbstmitleid! Ich bin ja soooo unglücklich.

Erfolglos und uralt! Ich bin fünfundzwanzig. Ich werde es nie schaffen! Warum hat mich keine der Elite-Schulen aufgenommen? Weil ich so schlecht bin. Mir fehlt jedes Talent.

Pleite! Mittellos! Wie soll ich bloß meine Rechnungen zahlen? Woher kommt der nächste Rotwein?

Einsam! Sogar mein Sex-Kumpel lässt mich sitzen. Das hab ich von meiner »Beziehung ohne Verpflichtungen«. Ich bin so allein. In der ganzen Stadt sitzen jetzt Pärchen bei Kerzenschein kuschelnd auf der Couch, sehen einen schnulzigen Liebesfilm, danach fangen sie an sich zu küssen, lieben sich und schlafen selig in der Löffelchenposition in den nächsten Morgen hinein. Ich habe schon vor Monaten aufgehört, mir schnulzige Liebesfilme anzusehen. Alleine sind sie nichts als frustrierend. Aber was macht man an so einem einsamen Abend, wenn man diese Form der Unterhaltung gestrichen hat? Also, ich sitze mit meinem vierten Glas Rotwein in meinem Zimmer auf dem Schaukelstuhl, höre seit 19.34 Uhr das Lied »Woman in Love« (von wegen!) von Barbara Streisand auf Repeat und starre aus dem Fenster. Mit Ausblick auf die Mülleimer im Hinterhof. Das ist mindestens so frustrierend wie ein Liebesfilm, ist mir auch klar. Ich bin ja so einsam. Ich will Nora anrufen, aber die guckt Video mit ihrem blöden Spießerfreund. Vielleicht lieber so einen als gar keinen? Ich weiß nicht. Aber so kann es nicht weitergehen.

Okay, Bestandsaufnahme:

Pro:

Ich bin eine unabhängige Frau!

Ich habe eine Affäre ohne jede Verpflichtung!

Ich habe guten Sex und viel Spaß mit Frank!

Hmmmm … Na gut.

Kontra:

Ich habe niemanden, an dessen Schulter ich mich nach einem Vorsprechen ausweinen kann (zumindest keinen Mann).

Ich habe niemanden, der sich mit mir schnulzige Liebesfilme ansieht.

Ich habe niemanden, der sich für meine Probleme interessiert.

Ich habe niemanden, der mir Rotwein mitbringt, wenn ich mir keinen mehr leisten kann.

Ich habe niemanden, der mich liebt.

Ich bin ja so unglücklich.

Was führe ich bloß für ein Leben?

O mein Gott!

Verheult und betrunken krieche ich nach Mitternacht in mein Bett. Ich habe entdeckt, dass ich ein Herz habe, und Gefühle, und Bedürfnisse. Ich weiß noch nicht, was ich mit dieser Erkenntnis anfangen soll.

2

Ich erwache mit einem ziemlichen Brummschädel. Außerdem ist mir schlecht. Als mir einfällt, dass ich heute der streng blickenden Frau Hartmann von der Bank unter die Augen treten muss, wird mir noch ein bisschen schlechter. Von allen Bankberatern auf der ganzen weiten Welt muss ich ausgerechnet die erwischen. Aber ich kann es nun mal nicht ändern. Also, je eher daran, desto eher davon. Das hätte ich mir bei der Mitbewohner-Suche mal sagen sollen, aber egal. Also los jetzt, keine Müdigkeit vorgetäuscht (vortäuschen ist in diesem Fall auch gar nicht notwendig). Wenn ich mich jetzt in die Badewanne lege, schlafe ich bestimmt wieder ein und ertrinke. Auch wenn mich das vor Frau Hartmann retten würde, entscheide ich mich, doch lieber zu duschen. Natürlich haben wir (nein, ich, denn ich wohne jetzt alleine und kann keine Verantwortung mehr abschieben) keinen Duschvorhang. Das heißt, es liegt einer in meinem Schrank, doch ich weiß nicht, wie man den befestigt. Also setze ich das gesamte Badezimmer unter Wasser, aber immerhin bin ich nach der halbstündigen Dusche wieder halbwegs unter den Lebenden. Ich stelle das Radio an und koche mir eine große Kanne Kaffee. Dann gehe ich zurück in mein Zimmer, um meinen Kleiderschrank zu inspizieren. Natürlich will ich heute einigermaßen seriös aussehen, was bei den zur Verfügung stehenden Klamotten keine ganz leichte Aufgabe ist. Schwarze Hose ist schon mal gut. Eine Bluse wäre ideal dazu, aber die sind leider alle mehr oder weniger schrill oder aber durchsichtig. Ich entscheide mich für eine grau-gemusterte transparente Bluse, unter der ich ein schwarzes Top trage. Dagegen kann doch keiner was haben, oder? Dazu den schwarzen Lederblazer, halbhohe Schuhe und auf in den Kampf!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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