Erdoğanistan - Hasan Cobanli - E-Book

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Hasan Cobanli

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Beschreibung

Erdogan ist der neue Sultan. Er treibt sein Land in den Abgrund und zieht Deutschland hinein in die türkische Innenpolitik. In seinem sehr persönlichen Buch erklärt Hasan Cobanli den Absturz der Türkei und fragt nach den Folgen für Deutschland.
Die Türkei – das war bis vor Kurzem ein Land, dessen Beitritt zur EU möglich schien: ein verlässlicher NATO-Partner, Ziel zahlloser Touristen, der „Tiger am Bosporus“, dessen Wirtschaftswachstum auf eine helle Zukunft hoffen ließ. Heute hat sich das alles ins Gegenteil verkehrt. Die Türkei ist ein Land auf dem Weg in die Diktatur, in dem alle, die sich dem Präsidenten entgegenstellen, um ihre Freiheit fürchten müssen. Hasan Cobanli, ein deutsch-türkischer Grenzgänger, hat zahlreiche Wendepunkte der jüngeren türkischen Geschichte selbst miterlebt und kennt viele Protagonisten persönlich. In diesem Buch erzählt er, wie es so weit kommen konnte, führt den Leser in das Herz von Erdoganistan und zeigt, was der neue Sultan in Deutschland anrichtet.

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Hasan Cobanli

Erdoğanistan

Der Absturz der Türkei und die Folgen für Deutschland

C.H.Beck

Zum Buch

Erdoğan will der neue Sultan sein. Getrieben von Angst- und Rachegefühlen lässt er Kritiker entlassen und verhaften. Seine Gefolgschaft skandiert: «Wir töten für dich«. Doch es gibt sie noch: die andere Hälfte, die mutige, europäisch orientierte Türkei. Hasan Cobanli, ein deutsch-türkischer Grenzgänger, hat ein aufrüttelndes Buch geschrieben. Es führt ein in die Geschichte der modernen Türkei, zeigt, wie sie zu Erdoğanistan werden konnte, und erinnert an den Kampf der anderen Hälfte für Demokratie, Offenheit und Toleranz. Sie zu unterstützen liegt in unserem eigenen Interesse, denn der Absturz der Türkei hat nirgendwo sonst so unmittelbare Folgen wie in Deutschland.

Über den Autor

Hasan Cobanli hat eine aufregende türkisch-deutsche Familiengeschichte, zu der mütterlicherseits Bismarcks Feldmarschall Albrecht Graf v. Roon zählt und väterlicherseits Atatürks Weggefährte Cevat Cobanli Paşa, ein berühmter Kommandant des Ersten Weltkriegs.

Cobanli hat als Pilot, Journalist und Buchautor gearbeitet und ist seit dem Erscheinen seiner Familiengeschichte («Der Halbe Mond») ein gefragter Interviewpartner zu den Entwicklungen in der Türkei.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Gezi-Park

Der neue Sultan

Nach Diktat abgestürzt

Land der Putsche

Im Kopf der Erdoğanisten

Almanya

Epilog

Prolog

Kürzlich, in einem Interview, sollte ich die Frage «Woher kommen Sie?» pantomimisch beantworten. Da habe ich salutiert, zwei Stechschritte gemacht wie ein Soldat, mit den Händen ein Herz geformt, sie ineinander verhakt und geschüttelt wie Politiker «Freundschaft» ausdrücken, dann habe ich sie vors Gesicht gehalten, wie wenn man traurig ist und weinen muss, und mich zu Boden fallen lassen. In Worten: Ich bin das Produkt deutscher und türkischer Vorfahren, die seit 150 Jahren arbeiten und leiden an einer fatal attraction: dem, was wohlmeinende Vertreter beider Länder als «traditionelle deutsch-türkische Waffenbrüderschaft» später «Freundschaft» oder sogar»Völkerfreundschaft» preisen und hier und da sogar daran glauben – bei jedem Besuch, jeder Tischrede, in Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport, in guten wie in schlechten Zeiten.

Auf der Hochzeit meiner Eltern im Juli 1951 erinnerte der türkische Gesandte in Deutschland daran – mit Tränen der Rührung in den Augen. Er war noch nicht Botschafter, weil es zwischen den beiden «befreundeten» Ländern seit 1945 noch immer keinen Friedensvertrag gab. Passenderweise hatte die Türkei soeben wenigstens den Kriegszustand mit Deutschland für beendet erklärt. Dieser Hochzeit wurde deshalb hoher symbolischer Charakter beigemessen, die Lokalzeitungen brachten sie auf Seite Eins.

Die deutsche Braut: Urenkelin des Grafen Albrecht Roon, Weggefährte Bismarcks und Moltkes, des berühmtesten deutschen Militärberaters in der Türkei. Der türkische Bräutigam: 25 Jahre älter, Diplomat, Enkel von Arapgirli Şakir Paşa, der mit den Gesandten zweier deutscher Kaiser frühe deutsch-türkische Freundschaftsverträge und gegenseitige Schenkungen sowie den Ausbau der «Bagdad-Bahn» ausgehandelt hatte. Noch «wichtiger» aber: Sohn von Cevat Paşa, ein in Deutschland und der Türkei angesehener General, der 35 Jahre zuvor die Türkei gegen die Alliierten verteidigt hatte – unter dem Oberkommando der kaiserlich deutschen «Waffenbrüder».

Freunde, Waffenbrüder, Tradition – heute würde bei ähnlicher Gelegenheit kein Redner mehr solche hehren Worte in den Mund nehmen. Denn seit einiger Zeit sieht es düster aus mit der vielgelobten, «deutsch-türkischen Freundschaft». Es wird einander nichts mehr geschenkt. Allenfalls von «Beziehungen» ist hier und da noch die Rede. Und auch die sind weder gut noch schlecht – sie sind kaputt. Da gibt es nichts mehr zu beschönigen, nicht mal aus Sicht der Diplomaten, Politiker und Geschäftsleute. Aus «Partnern» sind «Gegner» geworden. Für diejenigen, die in beiden Welten zu Hause sind oder sein könnten, ist das schmerzlich – ob durch Familie, Politik und Geschichte bedingt, wie ich, oder durch Migration aus der Türkei nach Deutschland gekommen, wie gegenwärtig jeder 25ste Einwohner des Landes.

Wechselhaft und dramatisch nimmt sich die Geschichte der «deutsch-türkischen Beziehungen» aus, deren Wert eigentlich unermesslich hätte sein können für die Menschen beider Nationen. Manche lobten sie von Herzen, andere eher verkniffen, und fast immer war sie verbunden mit politischem und wirtschaftlichem Kalkül.

Wechselhaft, stürmisch und voller Qualen ist auch die Geschichte jeder der beiden Nationen und ihrer Völker. Ihre Führer haben erobert, besiedelt, zerstört, erneuert und immer wieder von neuem zerstört, sie haben unterschiedliche Völker vereint, kultiviert, zu ihrem Glück gezwungen, unterdrückt, gemordet, und die Geschichte hat sie dafür gestraft. Das haben die Deutschen und die Türken gemein, jeweils auf ihre Weise. Die einen unter Kaisern, Königen, Führer, Partei, die anderen unter Sultanen des Empire Ottoman, des Osmanisches Reichs, und seit knapp hundert Jahren als Türkiye Cumhuriyeti, Türkische Republik.

Für diese hat nun ein neuer Abschnitt begonnen – ich nenne ihn Erdoğanistan. Die eine Hälfte der Nation hat es herbeigejubelt und – bedingt – sogar herbeigewählt, die andere aber leidet und wird handlungsunfähig gemacht – «gesäubert», das alles mit derzeit ungewissem Ausgang.

Der einflussreichste Vorfahr, in dessen Biografie sich die imperiale Geschichte dieser merk- und aktuell unwürdigen «deutsch-türkischen Beziehungen» spiegelt, ist mein Großvater (dessen Name sich türkisch korrekt Cevat Paşa schreibt). Nach Studienzeit auf der Kriegsakademie in Berlin hatte er Karriere bis zum General gemacht, bevor er 1915 die Deutschen in ihrer unangenehmsten Rolle kennen lernte – als «Waffenbrüder». Unter deren Oberkommando führte er die schrecklich verlustreiche Schlacht bei den Dardanellen gegen die Alliierten. Anschließend hat er sich dem Putschisten Mustafa Kemal angeschlossen, dem späteren Republikgründer Atatürk, als dessen engster Weggefährte er in unterschiedlichen Positionen, mal als ranghöchster Militär, mal als Verhandlungsführer, die moderne Türkei mit aufbaute.

Ihren Vorgesetzten, Kriegsminister Enver, der als einer der zwei Organisatoren des Völkermords an den Armeniern in die Geschichte eingehen sollte und sich später auf einem deutschen Schlachtschiff ins Ausland verdrückte, verachteten beide – Kemal ebenso wie mein eigentlich deutschfreundlicher Großvater – wegen dessen «Hörigkeit gegenüber dem deutschen Kaiser und seinen arroganten Militärs». Die «maßlosen Deutschen», so beider Überzeugung zu Beginn des Ersten Weltkriegs und der «deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft», würden das Osmanische Reich «entweder mit sich ins Verderben reißen oder aber zu einem tributpflichtigen Vasallenstaat herabwürdigen.»

Mit dieser deutsch-türkischen Geschichte bin ich aufgewachsen – und immer bekam ich den Satz «Du bist ja ein Sohn der deutsch-türkischen Freundschaft!» zu hören. Bis heute habe ich ihn nicht ganz verarbeitet und frage mich: Wie wirst du dieser Rolle gerecht? Was würde Atatürk empfehlen oder Großvater oder Graf Moltke, dessen handsignierte Briefesammlung aus seiner Zeit als Türkei-Berater «Unter dem Halbmond» ich geerbt habe, oder der Türkei-Emigrant Ernst Reuter, dessen Sohn Edzard 20 Jahre vor mir seine Kindheit in der Türkei verlebte, oder meine alte Freundin, die Orientalistin und Türkei-Kennerin Annemarie Schimmel, oder der Armenier-Türke Hrant Dink oder mein ebenfalls armenisch-türkischer Lieblingsmusiker und Volksdichter Ruhi Su? «Ach», würden sie wohl unisono antworten, «war diese denn jemals eine Wertegemeinschaft? Oder nicht doch nur eine von Interessen geleitete Verbindung, entstanden aus historischen Zwängen und Krisen, mehr oder weniger zynisch stilisiert zu ‹Waffenbrüderschaft› oder ‹Völkerfreundschaft›, wie es gerade passte – und jetzt eben wieder von Krisen zu Tode geschüttelt?» Gab es sie denn, als Deutschland sich so chauvinistisch gebärdete wie heute Erdoğanistan, also vor 120, 100, beziehungsweise 80 Jahren? Haben das dann vor 50 Jahren die Migranten geändert, oder seit 30 Jahren die Touristen, oder die Investoren? «Und», würden diese Zeugen der alman-türk arkadaşlık fragen, «wo sollte denn jetzt Freundschaft herkommen, wenn sie doch immer nur ein Mythos war?»

Dabei würde sie heute mehr denn je gebraucht. Und ganz anders als bisher. Meinen Vater, geboren 1899, hat das Schicksal zu einem unmittelbaren Zeugen der Agonie des «kranken Mannes am Bosporus» gemacht – der Begriff beschrieb den Zustand der Türkei damals und trifft ihn auch heute wieder – und zugleich der Agonie des verbündeten deutschen Kaiserreichs. Als Kadett in Berlin und als junger türkischer Offizier in deutschen Diensten erlebte er den Zusammenbruch der einst ruhmreichen Osmanischen Sultansherrschaft, den die «deutsch-türkische Waffenbrüderschaft» nicht abwenden konnte. Ebenso wenig wie den Armenier-Genozid mitten im Krieg – an ihm war sie im Gegenteil aufs Unrühmlichste beteiligt. Nach dem türkischen kurtuluş, dem Befreiungskrieg Mustafa Kemals, des späteren Atatürk, war mein Vater von Mitte der 1920er Jahre bis 1951 als Diplomat Zeuge der stürmischen, für Augenblicke sogar glanzvollen Aufbauzeit der jungen Türkischen Republik. Diese war geprägt vom Revolutionär Atatürk, der das Land einer harten Verjüngungskur unterzog, die Nation aber bald damit alleine ließ – wie wir heute ahnen, wohl zu früh. Was das auslöste, auch davon handelt dieses Buch.

Allenfalls in dieser Zeit, in den 1930er und 1940er Jahren, in denen es in Deutschland dunkel wurde und schließlich der Zweite Weltkrieg tobte, fällt ein Licht auf diese «deutsch-türkischen Beziehungen» – als Atatürks Türkei zahlreichen deutschen Intellektuellen, Architekten, Künstlern, die in der Diktatur ihrer Heimat nicht mehr arbeiten durften oder konnten, deren Leben dort bedroht war, die sprichwörtliche «Zuflucht am Bosporus» gewährte. Später, seit den 1960er Jahren, verschlug es dann eine große Zahl Türken als Gastarbeiter nach Almanya. Auch die empfanden ihre Zuflucht in Deutschlands Fabriken als Glück – sie flohen nicht vor politischer Verfolgung und Bedrohung, sondern vor Arbeitslosigkeit und Verelendung, und in der Bevölkerung des Gastlandes wurden sie eher muffig aufgenommen.

Als Sohn einer deutschen Protestantin und eines türkischen Laizisten wurde ich am Bosporus in beiden Sprachen und Kulturen gleichermaßen erzogen. Als mein Vater starb und meine Mutter zurück wollte, verschlug es auch mich als Teenager nach Deutschland.

Dass meine Übersiedlung aus der alten in eine neue Heimat zeitlich mit den ersten Gastarbeiterschüben zusammenfiel, ein neuer Akt in den deutsch-türkischen Beziehungen, ist Zufall. So lernte ich erst in Deutschland die «anderen» Türken kennen – Landsleute zwar, aber aus dem fernen Anatolien. Andere Sitten und Bräuche brachten diese Menschen direkt aus den hintersten Winkeln der Türkei mit, und die waren mir ebenso fremd wie den muffigen Deutschen, wenn ich auch ihre Sprache verstand – nach Almanya waren sie ja an Istanbul vorbei emigriert. Almanya brauchte sie als Arbeitskräfte, das war ihr Glück, denn Anatolien hatte ihnen nichts zu bieten und die türkischen Großstädte wollten sie nicht haben. In den 1950er Jahren hatte das Regime von Adnan Menderes, ein korrupter Muslimbruder im Geiste, mit welchem den heutigen Präsidenten viel verbindet, die Landbevölkerung vernachlässigt. In den Großstädten nannte man sie die «schwarzen Türken» – sie sprachen anders und waren anders, und viele von ihnen konnten nicht lesen und schreiben. Man empfand sie als lästig.

Dem heutigen Machthaber in Erdoğanistan sind dagegen die anderen lästig: Menschen aus den gebildeten, säkularen, westlich orientierten Kreisen, in denen ich aufgewachsen bin, aus denen mein türkischer Anteil stammt – Europa am Bosporus. Viele von ihnen sind jetzt im Gefängnis oder schon auf der Flucht, ja, auch nach Almanya, oder hier bereits im Exil, weil sie sich der neuen Diktatur widersetzten oder im Verdacht stehen, nicht loyal zu sein – so wie jene Deutschen in den 1930er Jahren, die in die Türkei emigrierten. In diesen «Eliten», unter denen, die Nein sagen zur Diktatur – und das ist heute einer von zwei Türken, die «andere Hälfte» des Volkes –, hat Erdoğan seine Feindbilder gesucht und gefunden, wie sie Diktatoren eben brauchen zur Rechtfertigung von Herrschsucht und Machtrausch. Damals schallten die «Führer-Befiehl-Wir-Folgen»-Rufe durch Deutschlands Straßen. Heute skandiert das türkische Jubelvolk «Wir sterben für dich, wir töten für dich» – auch in Almanya. Die andere Türkei, deren Menschen Erdoğan «törrörüst» zu nennen pflegt, ist geschwächt durch Enteignung, Unterdrückung, Haft. Ohne Hilfe aus dem Westen wird sie noch weiter geschwächt werden.

Deutschland aber ist zögerlich mit der Unterstützung der «anderen Hälfte», und erst allmählich zeigt die Regierung in Berlin dem Regime in Ankara die Zähne. Immerhin rang sie sich im Juli 2017 zum «Nein» zu einem öffentlichen Propaganda-Auftritt des Wutbürger-Präsidenten am Rand des G-20-Gipfels in Hamburg durch.

«Gehört die Türkei (denn nicht endlich) in die EU?», werde ich oft gefragt. Früher habe ich gesagt: Ja! Es wäre doch für die dort lebenden Menschen ein Segen, und für Europa eine Bereicherung! Aber ich hatte dabei «die andere» Hälfte der Türken im Kopf. Die war auch in Istanbul oder Izmir längst in Europa angekommen. Wogegen viele der Türkischstämmigen, die längst in Europa leben, sich hier nicht zu Hause fühlen – so wenig wie sie sich am Bosporus oder in Izmir, oder sonst wo in einer säkularen europäischen Türkei zu Hause fühlen würden. Und wenn ich in den letzten Jahren das Land meiner Kindheit besuchte, fand ich die Erklärung: Denn ich geriet dabei an manchen Orten mitten hinein in die Gegenwart einer sich zunehmend chauvinistisch gebärdenden Hälfte der Nation.

Ich fühle mich der anderen Hälfte zugehörig, der Generation Gezi-Park und den Mutigen, die sich im Sommer 2017 getraut haben, mit dem CHP-Politiker Kemal Kılıçdaroğlu unter dem Motto adalet – (Gerechtigkeit) von Ankara nach Istanbul zu marschieren. Das ist Europa am Bosporus. Das ist die Türkei, wie sie versunken schien und doch noch am Leben ist. Daran will ich erinnern. In beiden Nationen verwurzelt, scheint mir das die beste aller Möglichkeiten, weiterzuführen, was die Vorfahren als Berater, Militärs oder Diplomaten auf ihre Weise, in ihrer Zeit und mit ihren Überzeugungen versucht haben.

Und so waren meine wichtigsten von den ungezählten Tagen auf Besuch in der alten Heimat die bei den Demonstranten im Gezi-Park. Ja, ich habe in einem halben Jahrhundert viel erlebt mit diesem Land, als Kind am Bosporus, als Zeuge dreier Militärputsche, Reisender mit Wohnsitz in Europa und immer auch als Grenzgänger zwischen beiden Kulturen. Wirklich identifiziert und gebraucht gefühlt aber habe ich mich in den Tagen des Mai und Juni 2013 und seither. Als sich die Lage nach dem misslungenen Putsch vom Juli 2016 zuspitzte und immer mehr meiner Freunde und Bekannten die Wut des Regimes zu spüren bekamen, wuchs mein Bedürfnis weiter, öffentlich Stellung zu beziehen.

In der Türkei erleben die Menschen gerade die Frühphase einer veritablen Diktatur. Die Agonie des Pflänzchens Demokratie haben sie schon hinter sich. Heute schaut die Welt auf das Making of Erdoğanistans. An die Menschen des Gezi-Park zu erinnern, an die andere Hälfte der Türken und ihren Widerstand gegen den neuen Sultan Erdoğan, gab den Anstoß für dieses Buch.

Und auch dieser Taxifahrer, der mich im Sommer 2016 nach einem Interview vom Sender zum Bahnhof fuhr. Ein Sohn der Auswanderer von damals, der Verstoßenen, oder der Einwanderer oder Gastarbeiter, je nachdem, wie herum man die Migrationsgeschichte Türkiye-Almanya betrachtet. Vom Rücksitz aus sah ich nur seine Augen im Rückspiegel – unverkennbar türkisch: ein bisschen mandelförmig, freundlich, irgendwie vertraut. Vielleicht war ja seine Großmutter tscherkessisch, wie meine. Mein Vater hatte solche Augen. In die verliebte sich vor über 60 Jahren eine junge deutsche Frau und wurde später meine Mutter. Man findet diese Augen in ebenmäßigen Gesichtern wie in rohen Macho-Visagen, sie schauen einen an aus den weltberühmten Schwarzweiß-Fotos des armenisch-türkischen Magnum-Reporters Ara Güler und den idealisierenden Gemälden der «Orientalisten», europäische Maler des 19. Jahrhunderts, die dem Mythos des türkischen Reichs, Konstantinopels und des Orients als Ort der Sinnlichkeit und der Dekadenz huldigten.

«Kan kanı çeker», war also meine erste Regung – eine türkische Regung, eine vor allem in der Diaspora häufig verwendete Redewendung, die ich oft zu hören bekomme, wenn ich mich oder mein Gegenüber frage, woran wir einander auch ohne Sprechen eigentlich gleich als vatandaş, als Landsleute, erkannt hätten. «Kan kanı çeker» – ins Deutsche übersetzt klingt es irgendwie seltsam, wie so viele türkische Redewendungen und Lebensweisheiten. Unsere Sprachen sind, jede für sich, reich, nur eben bisweilen wenig kompatibel. Aus Gebirgstälern und abgelegenen Küstenstädtchen im fernen Anatolien oder dem versunkenen multiethnischen Osmanischen Riesenreich haben diese Redewendungen in den Herzen der Menschen, ihren Liedern und der türkischen Literatur überlebt und irgendwie ihren Weg gemacht. Bis nach Almanya: «Gleiches Blut zieht sich doch immer an.» Irgendwie: «Kan kanı çeker» – das hatte auch eben noch die junge türkischstämmige Redaktionsassistentin zum Abschied gelächelt, als sie mich im Sendegebäude zum Ausgang begleitete.

Die Frau im Sender und der Taxifahrer – so sehr sich ihre türkischen Augen und ihre türkische Sprachfärbung, ihre Situation als Migranten in Deutschland in der dritten Generation auch ähneln mochten, konnten sie doch unterschiedlicher nicht sein. Sie denken und fühlen so gegensätzlich wie Türken in Deutschland derzeit fühlen und denken. Und so haben sie sich einander in letzter Zeit entfremdet.

«Kan kanı çeker» – also sah ich in die Augen im Rückspiegel und fragte sie, wie das Hirn dahinter denn über das, was sich gerade in der Türkei und unter den Türken in Deutschland abspielt, denke. «Ich lebe hier, aber ich fühle keine Freundschaft mit Deutschland», antwortete da der Mund in reinstem Schwäbisch, «mein Präsident, das ist Tayyip Erdoğan, weil: der setzt sich hier für meine Interessen ein! Er soll kommen und uns erlösen! Wir wählen ihn und wir folgen ihm in Deutschland! Türken in Deutschland müssen wachsam sein und nach seinen Gegnern Ausschau halten! Seine türkischen Gegner sind für mich Verräter oder Terroristenhelfer und seine deutschen Kritiker sind Nazis!» Und was der Mund noch Unversöhnliches vor allem gegen andersdenkende Türken in Deutschland absonderte, wollte nicht passen zu den freundlichen Augen im Rückspiegel: Das klang nach vergifteter Importware aus Erdoğanistan, völliges Unwissen gepaart mit Untertanengeist, Mitläufermentalität und Hass. Auch von solchen Unterhaltungen erzählt dieses Buch.

Vieles ist faul im Staate Erdoğanistan, und das vergiftet die vielgelobte «deutsch-türkische Freundschaft» dort und bei seinen Untertanen hierzulande. Dort herrschen neue Töne vor, gerichtet gleichermaßen gegen die «andere» Türkei wie gegen «die Deutschen» – und die haben übergegriffen auf die Türken in Deutschland. Um hilfreich zu sein, bedarf die «Freundschaft» also erst mal einer Renaissance in Deutschland. Sie wird gebraucht in meinen beiden Ländern. Aber, wenn es sie denn je gab, dann anders als bisher: auf die Menschen bezogen. «Wir werden den Verrätern den Kopf abreißen», rief der Präsident meines schwäbelnden Taxifahrers mit Doppelstaatsangehörigkeit am 22. Juli 2017 seinen Fans in Istanbul zu. Kein türkischstämmiger Deutscher – aber auch kein deutscher Politiker – kann also später behaupten, er habe nicht ahnen können, was sich da gerade in Erdoğanistan anbahnt.

Gezi-Park

Mein Erlebnis Gezi-Park ist heute erst vier Jahre her und doch fühlt es sich an wie eine Erinnerung aus einer fernen Zeit, von der man nicht mehr genau weiß: War es nur ein Traum? Oder hat es das wirklich gegeben? War so etwas überhaupt möglich in der Türkei – gelebte Vielfalt, gemeinschaftlicher Widerstand über alle sozialen Grenzen hinweg? Der Erdoğan-Staat hatte getestet, wie weit er gegenüber den Bürgern gehen kann, bevor sie aufbegehren. Es kamen dort Menschen zusammen, die zuvor aneinander vorbei gelebt hatten, ja einander sogar gleichgültig, abschätzig bis feindselig gegenübergestanden waren – Klassenbarrieren, Bildungsschranken, wie sie eben traditionell unüberbrückbar sind in diesem Land und in dieser Mega-City Istanbul – und überwanden die Barrieren um einzugreifen: Gemeinsam nahmen sie den kleinen Park ein als kollektives Eigentum auf Zeit und veränderten für ein paar Tage die Welt: Wie der Staat in ihr Leben eingriff, die Gesellschaft erdrückte, hatte das Maß überschritten.

Doch in einer beispiellosen Orgie der Gewalt von oben wurden sie auseinandergetrieben, verleumdet, verletzt, festgenommen, verurteilt, eingelocht – und sind bis heute eingeschüchtert. Ihre Lieder und Rufe sind verhallt und seitdem nicht mehr zu hören. Sind die Menschen des Gezi-Parks verschollen? Werden sie je wieder zusammenkommen? Immerhin von einigen, die ich damals im Frühsommer 2013 dort antraf, mit denen ich ein paar Stunden und einmal eine Nacht bis zum Morgengrauen verbrachte, weiß ich, dass sie gerne wieder zusammenkommen würden – wenn da nicht… Ja was? Die Angst wäre? Die war schon damals da. Aber sie saß noch nicht so tief wie heute.

Jetzt hat sich um diese Menschen, die für kurze Zeit unzertrennlich gewesen waren, Erdoğanistan etabliert, der Staat, der sich anmaßt, den Bürgern ihre Bedürfnisse zu diktieren. Der Schurkenstaat, der damals noch mit einem schrägen Festival abwendbar schien – mit Singen, Trommeln, Tanzen, mit Spaß, mit frechen Sprüchen auf Transparenten, mit friedlicher Rebellion – hat sich gefestigt. Unvergessen, aber versunken, ausgeträumt und fern klingt die Melodie vom Gezi-Park nach, wenn ich, wie zuletzt 2015, dort vorbeikomme, leuchten seine jungen und alten Gesichter auf meinen Handyfotos und Videos. Was seither mit ihrem Land passiert ist, hätten die Beteiligten damals als Schreckensvision – Allah korusun, Gott behüte – als GAU abgetan, ob sie nun Aktivisten, Sponsoren, Gäste, Sympathisanten oder Berichterstatter waren oder von allem etwas, betroffen und beteiligt wie ich auch.

Gleichsam über Nacht war dieser kleine Park neben dem zentralen Taksim-Platz im Herzen Istanbuls Ende Mai 2013 zu einem Schauplatz friedlichen Widerstands geworden, zur machtvollsten und sympathischsten Revolte der türkischen Geschichte; dabei in ihrer Friedfertigkeit und Leichtigkeit eher europäisch, vielleicht auch amerikanisch, und gar nicht typisch türkisch. So wenig wie eben Istanbul türkisch ist, Manhattan amerikanisch oder Paris französisch. Getragen war diese Auseinandersetzung zwischen citoyens und autokratisch auftretendem L’Etat c’est moi nicht von Vertretern bestimmter Interessen, Gewerkschaften, Parteien, Organisationen, sondern von allen zugleich: ein kleiner Freistaat auf Zeit. Ohne Führung, basisdemokratisch, von keiner der etablierten Parteien organisiert, trugen linksliberale Aktivisten, Anarchisten und wohlerzogene Großbürger Hand in Hand spontan ihren Protest in diesen Park, motivierten Künstler und Schauspieler, die damit ihre Karrieren riskierten. Fußballfans strömten herbei und blieben Seite an Seite mit Frauen in Kopftuch, Mädchen in engen Jeans, Anhängern alevitischer, kurdischer, nationalistischer und kemalistischer Bewegungen, garniert selbst von bis dahin völlig unpolitischen Partypeople – und alle wussten sie, was ihnen blüht.

Die Menschen brachten Regenbogenfahnen und Transparente mit dem Porträt des Republikgründers Atatürk mit, kurdische Fahnen und Insignien der unterschiedlichsten politischen Strömungen. Kinder und Jugendliche bemalten auf dem Rasen Plakate und bauten kleine Zelte auf, in denen sie Gäste empfingen, diskutierten, sangen und zwischendurch – keyfine bakmak – ausruhten. Sie kamen aus dem Künstlerviertel Cihangir ein paar Straßen weiter unten Richtung Bosporus, aus dem großbürgerlichen Nişantaşı und Yeniköy, aus dem religiös-konservativen Fatih, aus Kadiköy gegenüber auf der asiatischen Seite. Und alle hatten ihr Privatleben – lachen, essen, Hausaufgaben machen, schlafen, diskutieren, musizieren, sich an den Händen fassen und tanzen – aus der Enge und dem Schutz ihrer sehr unterschiedlichen Privatbereiche mitgenommen in die Öffentlichkeit des Gezi-Parks, wo sie es teilten, ohne den eigenen Stil zu verleugnen oder sich am Stil der anderen zu stören. Und stellten damit später den Machthaber, seinen Staat und seine Schergen vor aller Welt bloß, der sie bei diesen privaten Verrichtungen – dem, was man in der Türkei keyf nennt – mit Schlagstock, Pfefferspray und Tränengas angreifen zu müssen glaubte.

Privates Leben und leben lassen vereint gegen Willkür und schonungslosen Autoritarismus – das hatte es in diesem Land nie zuvor gegeben. Ziviler, friedfertiger und sympathischer als auf dem Tahrir-Platz in Kairo, wo der Kampf der islamistischen Bewegung gegen eine nationalistisch-säkular orientierte Militär-Elite auch vonseiten der Demonstranten gewalttätig ausgetragen wurde, manifestierte sich der Widerstand am Gezi-Park und wurde von westlichen Reportern und Kommentatoren mit dem Geist von Dresden 1989 verglichen, dessen legendäres «Wir sind das Volk» – mittlerweile in Deutschland von den Falschen vereinnahmt – damals weltweit Solidarität und Respekt erzeugt hatte. Die «New York Times» verglich Gezi gar mit dem Freistaat Christiania in Kopenhagen und mit Woodstock «nur ohne Drogen, und ohne Jimi, Joe und Joan». Auch von deren Geist und Musik war etwas zu spüren, als sich die Erhebung Tag für Tag zunehmend als Festival der Künstler, der Rebellischen und Musikalischen präsentierte.

An dem Abend, als ich den Gezi-Park zum ersten Mal zusammen mit türkischen Freunden betrat, um den Hals die kleine weiße Atemschutzmaske, die wir auf dem Weg dorthin entlang der Cumhuriyet Caddesi bei einem Straßenhändler erstanden hatten, über der Schulter eine Wolldecke zum Schlafen und auch zum Schutz gegen Knüppelschläge und die Fontänen der Wasserwerfer, die stündlich zu erwarten waren, sah ich schon von weitem zwischen den Bäumen Wandzeitungen mit Anti-Erdoğan-Witzen und Rap-Texten im Wind wehen, an denen sich alle ergötzten. Vor kleinen Bühnen lauschten sie Reden, und ständig wurde irgendwo eine neue Aktion vorbereitet. Stündlich erschienen neue Menschen, einzeln, paarweise, in Familien mit Klappstühlen für Großmutter und Großvater und schlugen ihre Zelte auf, wo noch Platz war. «Ich bin heute hergekommen, um auf meine Enkelinnen ein bisschen aufzupassen», sagte eine alte Dame mit Kopftuch. «Ich bin sehr stolz auf die Kleinen, wissen sie, zu Hause habe ich versucht, sie zur Vorsicht zu mahnen – aber keine Chance! Also habe ich gesagt, dann komme ich eben mit! Schließlich müssen wir Alten, die wir schon viel erlebt haben, den Jungen dabei helfen, zu verhindern, dass es wieder mal dunkel wird im Land. Wofür habe ich Lesen und Schreiben gelernt, Kinder und Enkel großgezogen, wenn ich jetzt nicht auf die Straße gehe? Dann haben wir eben drüben in Harbiye diese Atemschutzmasken gekauft, vier Lira das Stück. Und das hier ist meine Motorradbrille, zehn Lira. Damit uns die Polizisten mit ihrem Pfefferspray und Gas nicht die Augen verätzen, wenn sie kommen…»

Wenig später sollten sie kommen. Aber vorher nutzte die Gezi-Park-Society noch ihre kostbare Zeit und verlor keine Stunde. Noch lange danach summte mir Gezi in den Ohren – und selbst wenn ich blind gewesen wäre, wüsste ich noch alles. Dem Temperament und dem Sound dieser friedlichen Rebellion nur zu lauschen, war ein Erlebnis. Den ganzen Tag über und durch die lauwarme Sommernacht traten auf den Bühnen immer wieder neue Gruppen auf, nie zu laut, um einander nicht zu stören, und sangen Lieder, die alle mitsangen, deklamierten Verse des Poeten und Satirikers Ahmet Tanpınar und von Nazim Hikmet, der Türken berühmtester und wortgewaltigster Dichter, die erstaunlich viele mitsprechen konnten. Auch bekannte Stars aus dem Showbusiness traten auf, als Künstler und als Sponsoren. Mein Freund A., ein Bandleader, Bongo- und Congameister, damals berühmt durch eine eigene Fernsehsendung, in die ich selber einige Male gebeten war, um über die Dardanellenschlacht und meinen Großvater zu erzählen, brachte zu seinem fulminanten Bühnenauftritt eine Lastwagenladung voller Köstlichkeiten und Nervennahrung mit in den Gezi-Park, dazu fünfhundert Helme und fünfhundert der kleinen weißen Atemschutzmasken, die sich später bei der Wucht der chemischen Polizeikeulen als überlebenswichtig herausstellten. Nur wenige Wochen später sollte seine Fernsehshow per Dekret des Ministerpräsidenten aus dem Programm verschwinden, und der privat finanzierte Radiosender meines Freundes «Memo» G., der drei Wochen lang live vom Gezi-Park berichtete, wurde ganz geschlossen, einige seiner jungen freien Mitarbeiterinnen, zumeist Studentinnen und Schauspielerinnen, verhaftet.

Da es infolge der Gezi-Proteste zahlreiche solcher Verbote, Verhaftungen und Schließungen von Privatsendern gab, möchte ich sie hier zwar erwähnen, nicht aber ihre Namen preisgeben – wie so viele im Folgenden. Nur einen darf ich nennen – er stand plötzlich vor mir und ich erkannte ihn sofort: Kahler Schädel, eisgrauer, zauseliger Bart – Ara Güler, damals 85, der große alte Istanbuler Armenier, preisgekrönter «Magnum»-Fotograf und Chronist der Stadt, spazierte durch den Zeltpark, die Leica-Kleinbildkamera in den knorrigen Händen, und schoss dann und wann eine Aufnahme, unerkannt von den meisten, und wenn er erkannt wurde, mit großer Ehrfurcht begrüßt. Ich begleitete ihn ein Stück, lauschte ihm, wie er auf «diese mit Blödheit vergiftete Regierung aus anatolischen Dumpfbacken» schimpfte. Dann wollte er eine Suppe essen. An improvisiert aufgestellten Tapeziertischen wurden Tag und Nacht Wasser, Çay, Kaffee und Suppen ausgeschenkt, köstliche selbstgekochte Suppen, und als er nach dem Preis fragte, bekam er ein Lächeln: «Kostet nichts, amca (Onkel), alles gespendet. Schau, auch die am Boden auf den bunten Decken ausgelegten Bücher sind gespendet. Die Leute nehmen sich eins, lesen einander daraus vor und legen sie wieder zurück…» «Lesen», murmelte Ara Güler, «wenn diese Betonköpfe aus Ankara nur mehr lesen würden…» Dann schlürfte er sein Schälchen aus, stellte es zurück, verabschiedete sich und mischte sich unter die Zuschauer einer Bühnenshow. Auch als schräges Marathon-Kunsthappening sind diese Tage in dem Gezi-Park in die Geschichte eingegangen: Installationen und Kollagen aus von der Polizei auf die Menschen abgeschossenen Gas-Kartuschen und freche Graffitis («Ey Tayyip, wenn du aufhörst mit dem Gas, gebe ich das Rauchen auf, wenn du abtrittst, gibt sogar mein Vater das Rauchen auf!») wurden zu Skulpturen dieses Aufstands der freiheitsliebenden Zivilgesellschaft gegen den Muff von Gewalt und Kapital.

Mit den Tagen immer wütender versuchte die Staatsmacht die Menschen daran zu hindern, sich auch nebenan auf dem Taksim zu versammeln. Schon am 1. Mai war der gesamte Platz abgeriegelt worden, und auch das Protestieren auf der Istiklâl, der großen Einkaufsstraße, die von der anderen Seite zum Taksim hinführt, wurde verboten. Überhaupt die Istiklâl. Der allmähliche Verfall dieser malerischen Meile aus großer Zeit, die Ara Güler seit den frühen 1950er Jahren immer wieder für «Magnum» fotografiert hat, zu einer Aneinanderreihung scheußlicher Einkaufszentren hatte spätestens seit 2010 eingesetzt. Die Anweisung, nun auch den Gezi-Park in eine gigantische Shoppingmall im Stil einer osmanischen Kaserne zu verwandeln, war also nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Der Taksim, ein zentraler öffentlicher Platz, von Osten her gesäumt vom modernistischen Opernhaus, war seit den 1950er Jahren immer wieder ein Ort mit Protesttradition für alle politischen Gruppen der Türkei. Auch um diesen Platz und seine Tradition kämpften die Menschen in diesen Tagen im Mai 2013. Diesen Platz einfach dem Regime überlassen wollten die Menschen nicht. Mit ihrem unerbittlichen Durchgreifen hatte die Regierung indes genau das erreicht, was sie unbedingt verhindern wollte: dass junge und alte Menschen unterschiedlichster Herkunft und politischer Ausrichtung plötzlich zusammenfanden, zusammenhielten und ein Anliegen teilten. Alle Dekrete, die der Ministerpräsident während der Monate zuvor verabschiedet hatte, trugen für diese Menschen die Handschrift eines Diktators, den Keim einer islamisch-reaktionären Autokratie. Fassungslos hatte die neu entstandene gemischte Großstadt-Intelligenzija in Istanbul, Ankara und Izmir das Tempo zur Kenntnis genommen, mit dem Erdoğans AKP-Regime binnen weniger Jahre eine politische Agenda formulierte, die aus der Türkei ein anderes Land machen sollte. Seit Ende Mai waren Hunderttausende auf den Barrikaden, übertrug sich der Protestvirus aus Istanbul in andere Städte: gutgelaunt und immer wieder doch voller Angst vor der eigenen Courage, beherzt und manchmal doch voller Ahnungen, dass es böse enden könnte. Zunächst jeden Samstagabend und schließlich jeden Abend strömten die Bürger Istanbuls zum Taksim-Platz – nicht wie sonst zum Partymachen, sondern zum Demonstrieren, wobei sich das Demonstrieren für einige Tage und Nächte zur rauschenden Party auswuchs, zum größten Politfestival, das diese Gesellschaft jemals in der ungeschützten Öffentlichkeit gefeiert hatte. In Istanbul verzeichneten die angesagtesten Nightclubs und Diskotheken in diesen Nächten spürbare Umsatzeinbrüche – zu dieser Party fühlten sich offenbar alle eingeladen, der Protest schien alle Berührungsängste wegschmelzen zu lassen, welche die türkische Großstadtgesellschaft traditionell trennen.

Unter den Demonstranten in der ersten Reihe skandierten die Fußballfans von Beşiktaş vereint mit den traditionellen Lieblingsfeinden, den Fans von Galatasaray, Arm in Arm, hüpfend, als gelte es ihre Mannschaften anzufeuern, hinüber zu den weißen Wasserwerfern, die bedrohlich am Taksim-Platz auf ihren Einsatzbefehl warteten, der jederzeit kommen konnte, und dann auch kam: «Sprüht doch, sprüht doch! Sprüht doch euer Giftwasser, euer Pfefferspray und Gas…» Wer ihr melodiöses Skandieren und Rufen nur hörte und die Worte nicht verstand, wähnte sich in einem Fußballstadion und nicht auf einer Demonstration, die in ständiger Erwartung der Räumung immer gefährlicher wurde.

Hier gab es eine Gemeinsamkeit mit den Protesten am Tahrir in Kairo: die Ultras der drei großen Istanbuler Fußballclubs Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe und ihre Rolle als Beschützer der im Straßenkampf unerfahrenen, verletzlichen Gezi-Park-Besetzer. Diese Ultras repräsentierten dem Volkssport futbol, rohe Männlichkeit, laut, loyal und furchtlos, geübt im Kampf gegen die Fans der jeweils anderen Clubs und gegen den gemeinsamen Gegner, Polis. In ihrem Wappen trugen sie ihr Motto Sevaliye ruhlu sempt çocukları («Die Jungs aus dem Viertel mit dem Herzen von Rittern»). Von Anfang an waren sie aktiv im Gezi-Park, aber anders als unter normalen Umständen traten diese Fußballfans, traditionell die rohe Stimme der Arbeiterklasse, nicht als unangenehm-prollige Krawallmacher auf, und wurden deshalb auch von den Intellektuellen und Studenten unter den Besetzern als Beschützer und Mutmacher respektiert und gefeiert. Als es dann schließlich zu immer gewaltsameren Ausschreitungen durch die Polizei kam, als die Wasserwerfer anrückten und das Tränengas kam, liefen die Çarşı-Boys zu Hochform auf und demonstrierten ihre askerlik, ihre soldatischen Qualitäten: Gut aufgestellt, unerschrocken und vergnügt schützten sie verletzte, überforderte, verängstigte Demonstranten, führten Großmütter und Enkelinnen in Sicherheit. Als aslanlar (Löwen) gingen sie in die Sportgeschichte der Stadt ein. Und nicht nur in diese: Niemand, der dabei war, hat seitdem je wieder über die «futbol-Proleten» die Nase gerümpft.

Dass ausgerechnet der kleine Gezi-Park zum Symbol des Widerstands, der Auflösung aller Rivalitäten und Barrieren werden konnte, resultierte anfangs aus dem angestauten Zorn engagierter Umweltschützer gegen den autoritären Staat, übertrug sich in der Folge als große Induktion der Solidarität auf die ganze Gesellschaft und rüttelte sie auf. Plötzlich war da ein Virus, der alle befiel – es war schick, es war Pflicht, es war in, zum Gezi-Park zu ziehen und dort ein paar Stunden, einen Tag oder eine ganze Nacht mit den Aktivisten vor und in ihren Zelten zu verbringen. Spätnachts oder im Morgengrauen ging man nach Hause, legte die kleine weiße Maske und die Schutzbrille ab, duschte und machte sich auf zur Arbeit – ob als Ärztin, Kellner, Hotelmanager, Anwältin, Busfahrer, Caféhausbetreiber oder Automechaniker.