Erkläre mir das Leben - Katie Volckx - E-Book

Erkläre mir das Leben E-Book

Katie Volckx

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Beschreibung

Nach dem Umzug in ein Kaff an der Nordsee ist der achtzehnjährige Cedric ganz und gar nicht davon überzeugt, dass er eines Tages Frieden mit seinem neuen Zuhause schließen wird. Bis er an seine neue Schule kommt und ihm ein Mädchen vor die Füße fällt. Es scheint sie ein Geheimnis zu umgeben – irgendwie sogar mehrere –, was sein Interesse an ihr weckt. Er möchte sie kennenlernen, aus ihr schlau werden und vergisst dann ziemlich schnell, dass er eigentlich gar nicht hier in der niedersächsischen Kleinstadt sein möchte, sondern in Hamburg bei seiner gewohnten Clique. Auch wenn sie ihm hin und wieder zu viel wird, dazu ein Desaster dem anderen folgt, verliert er nicht den Mut und versucht, bei Kräften zu bleiben, für diejenigen, die ihn am meisten brauchen.

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Sigmund Freud

In dem Augenblick,

in dem ein Mensch den Sinn

und den Wert des Lebens bezweifelt,

1

Meine Eltern und ich waren gerade erst hierhergezogen.

Wo Hierher war? Eine kleine Ortschaft, dessen Name auf keiner Landkarte verzeichnet war, befürchtete ich, aber Gerüchten zufolge irgendwo im tiefsten Norden Deutschlands lag. Bis zur Nordsee war es nur ein Katzensprung. Das war auch schon alles, was die Gegend für mich attraktiv machte. Ich mochte das Wasser. Aber ein Leben hier war für mich unvorstellbar. Ich war ein Stadtmensch.

Dafür war das Haus, das meine Eltern sich vor einigen Wochen angeeignet hatten, eine richtige Perle. Es war ein altes Bauernhaus. Aber es war nicht so alt, dass es aufwendig saniert werden musste. Es waren nur einige Handgriffe erforderlich gewesen, um es bezugsfertig zu machen. Und natürlich war ich rundherum eingespannt worden. Zuerst war ich in den Ausstand getreten, schließlich war ich gegen den Kauf des Hauses gewesen, da das bedeutete, Hamburg hinter mir lassen zu müssen. Aber irgendwann musste ich ja nachgeben. Was hatte ich denn schon für eine Wahl?

Letzten Endes kam mir der Einzug in das Haus ja auch zugute, denn es war gigantisch. Es hatte eine Wohnfläche von zweihundertzehn Quadratmetern und stand auf etwa zweitausend Quadratmetern Land. Allein mein Zimmer maß knapp vierzig Quadratmeter. Es lag im Obergeschoss und war verbunden mit einer Dachterrasse, die man durch ein Panoramafenster erreichte. Sogar ein eigenes Badezimmer besaß ich. Einziges Manko: ich musste alles eigenhändig sauber halten. Da ich jeden Tag einen Handschlag tat, artete es jedoch gar nicht so sehr in Arbeit aus.

Anfänglich hatte mir die Größe des Anwesens ein echtes Rätsel aufgegeben, denn mir wollte nicht in den Kopf, was meine Eltern mit so viel Platz anfangen wollten. Später erklärten sie, es hätte sich angeboten und wäre gar nicht so viel teurer als andere, wesentlich kleinere Häuser gewesen. Außerdem hätten sie in weiser Voraussicht gehandelt und sich vorgenommen, das Obergeschoss nach meinem Auszug zu einer Ferienwohnung umzufunktionieren. Es wäre rentabel, hätte der Immobilienmakler bei der ersten Besichtigung beteuert. Na ja, das Haus lag in einem Feriengebiet, da könnte er recht haben.

Am Ende zählte jedoch, dass meine Eltern glücklich waren. Und das waren sie. Vor allem Mama. Sie war stolz wie Oskar, insbesondere auf die große, chic eingerichtete Küche. Hier konnte sie wild und munter wüten und ihrer größten Leidenschaft – das Kochen und Backen – frönen. Endlich hatte sie auch genug Stauraum für ihr ganzes Küchenequipment, das sie über Jahrzehnte angehäuft hatte. Ihr größter Tick waren Tassen. Und besonders stolz war sie auf jene, die sie von unseren Auslandsreisen mitgebracht hatte. Früher einmal, da hatte ich versehentlich eine Tasse aus Schottland kaputt geschmissen. Doch statt mich anzuschreien und dramatisch nach Luft zu ringen, hatte sie sich an die Planung unserer nächsten Schottlandreise gemacht, um sich exakt dieselbe Tasse noch einmal besorgen zu können. Mama war eine verrückte, aber großartige Frau – ein großartiger Mensch. Papa biss sich nur an verrückt fest. Der hatte mir geraten, künftig die Finger ganz von den ihr so heiligen Tassen zu lassen, denn Schottland gehörte nicht gerade zu seinen bevorzugten Reisezielen. Er war mehr der Karibiktyp. Ein drittes Mal überlebe ich das nicht, Junge. Der klägliche Tonfall hing mir noch heute in den Ohren. Darum war ich seinem Rat gefolgt und sehr gut damit gefahren.

Bei dieser Gelegenheit fiel mir gerade, als ich den letzten Rest des hausgemachten Schokoladenpuddings aus meinem Keramikschälchen kratzte, wieder ein, dass auch Schalen jeder Art zu ihrem Steckenpferd gehörten und jenes in meiner Hand aus Tschechien stammte. Und auch Tschechien war Papa ein Graus. Aber ich wollte mich nicht beirren lassen und legte meine Konzentration noch ein letztes Mal auf den Pudding. Der war immer wieder ein besonderer Genuss und linderte meinen seelischen Schmerz wenigstens für einen kurzen Augenblick.

Dennoch lag in dem Scharren mit dem Löffel jede Menge Frust, den Mama vernahm und für extrem nervtötend hielt, wie sie mit einem ausgedehnten Stöhnen kundgab.

»Ich bin ja schon fertig, Mama.« Ich stellte das Schälchen auf dem von Holzwürmern modisch zerfressenen, pinienfarbenen Buffetschrank, an dem ich lehnte, ab und ließ den Löffel geräuschvoll reinfallen.

»Ich auch gleich, und zwar mit den Nerven.« Sie sah nicht von den Möhren auf, die sie gerade für den Eintopf zum Abendbrot auf einem dicken Holzbrett in Würfel schnitt.

»Ich bin eben deprimiert.«

»Dieses eine Jahr noch, Schatz. Dann hast du dein Abi in der Tasche und das gröbste Elend hinter dir. Ich meine, dir stehen danach alle Türen offen. Wirklich alle! Sei dir dessen bewusst.«

»Bin ich, aber mir fehlt Hamburg und seine Lebendigkeit jetzt.«

»Mit dem Zug sind es gerade einmal anderthalb Stunden bis dorthin. Was spricht dagegen, dein Bedarf nach Leben einmal die Woche zu decken?« Sie grübelte allem Anschein nach. »Tante Effi hat sicher keine Einwände, wenn du dich die ein oder andere Nacht bei ihr einquartierst. Und in den Ferien bleibst du einfach länger.«

»Ja, schon ...«

Sie unterbrach mich schroff: »Dein Kumpel Niko bringt das ja auch fertig.«

War ja klar, dass sie mir wieder damit kommen würde. Aber nicht mit mir! »Niko ist Niko und ich bin ich.«

»Ja, schon gut, es ist nicht korrekt, Menschen aneinander zu messen, insbesondere dann nicht, wenn man Cedric Claußen heißt.«

Es war nicht ihre Absicht, mich zu beleidigen. Sie spielte lediglich auf meine Eigentümlichkeit an. Ich entsprach nicht dem herkömmlichen Rollenbild eines Jungen. Ich war eher ein Softie. Lächerlich romantisch und immer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Doch entgegen aller Sensibilität war ich ziemlich straight und für mein Alter relativ selbstsicher. Zum Beispiel scheute ich mich nicht davor, die Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn das bedeutete, dass ich gelegentlich aneckte oder es jemandem die Schamesröte ins Gesicht trieb. Auch mein trockener Humor wurde nicht immer positiv aufgenommen. Denn nicht jeder verstand sich darauf. Da wurde aus Spaß schon einmal Ernst.

»Es ist ja nur, dass alles hier so übersichtlich ist. Alles steht still und löst Langeweile in mir aus.«

»Morgen geht ja endlich wieder die Schule los.« Es freute vor allem sie, denn das bedeutete eine sturmfreie Bude für sie. Sie kostete die Zeit, die sie für sich allein hatte, in vollen Zügen aus. Weiß der Himmel, was sie trieb.

Ich verschränkte meine Arme vor der Brust. »Wow, klar, nur darauf und auf nichts anderes habe ich die gesamten Sommerferien gewartet!«

Sie schob sich ein Stück Möhre genüsslich in den Mund. Sie kaute, während sie sprach: »Sieh es doch einmal positiv: im Dorf nebendran ist noch weniger los.«

Jetzt warf ich meine Arme in die Luft. »Yeahiii, es zerfetzt mich vor Freude, Mama.«

»Deinen Sarkasmus kannst du dir in deinen Piep stecken, Freundchen.«

»Und du hol mal den Stock aus deinem Piep, Mama! Sag doch einfach Arsch. Jeder sagt heutzutage Arsch. Total legitim. Po? Sagt niemand mehr. So, wie niemand mehr Penis sagt, sondern Schwanz. Punkt!«

Mit schockierter Miene sah sie mich an. »Also bitte, Sohn! Wie redest du?« Es amüsierte mich, dass sie mit dem Schneiden der Möhren nicht aufgehört hatte, was mir wieder eindrucksvoll vor Augen führte, dass sie eine begnadete Köchin war und ihre Arbeit nach Jahrzehnten ihres Hausfrauendaseins blind beherrschte.

»Ich bin keine sechs mehr, Mama. Ich bin erwachsen.«

»Na ja ...«

»Mama! Unterlass das. Laut Gesetz bin ich das.«

»Das einzige Gesetz, das dich zu interessieren hat, heißt Mama und Papa. Merk dir das.«

»Ich bin volljährig, Mama, bin sogar schon sexuell aktiv.«

»Oha, erinnere mich bloß nicht daran.«

Sie wies zu jeder sich bietenden Gelegenheit kummervoll, aber gern darauf hin, dass sie nur knapp einer Herzschrittmacher-Implantation entkommen war, als die Periode meiner Exfreundin für zwei oder drei Wochen ausgeblieben war. (Nur so nebenbei: es hatte sich um eine banale Zyklusstörung gehandelt – aufgrund einer raschen Gewichtsreduktion. Mit anderen Worten: Sie war auf einer Crash-Diät gewesen, die sie nicht einmal nötig gehabt hatte. Aber was wusste ich Volltrottel denn schon? Du hast keine Ahnung von so was, hatte sie behauptet. Ich weiß zumindest so viel, dass ich nicht auf Hungerhaken stehe, hatte ich daraufhin deutlich gemacht. Meine unerhörte Einstellung zu den Themen Diät und Frauen hatte dann auch das Ende unserer Beziehung eingeläutet.)

»Mensch Mama, wir haben immer verhütet. Doppelt und dreifach. Oder meinst du, Luisa und ich hätten mit fünfzehn nichts Besseres zu tun gehabt, als Kinder zu hüten? Wir sind doch praktisch selbst noch Kinder gewesen.«

Luisa. Der Klang ihres Namens war so unfassbar feminin und von Optimismus erfüllt, dass er mir jeden verflixten Tag ein glückliches Gesicht beschert hatte. Ich hatte mir nicht einmal einen Kosenamen für sie ausgedacht, denn ich hatte viel zu viel Gefallen daran, ihren richtigen Namen auszusprechen. 

»Nun, der Jugend von heute ist einfach nicht zu trauen.«

»Folglich zweifelst du an deinen eigenen Erziehungsmaßnahmen?«, zog ich sie auf und lachte.

Sie grinste nur.

Ich wusste genau, was das hieß. Sie ärgerte sich darüber, dass es inzwischen schwieriger geworden war, gegen mich anzukommen. Ich war redegewandt und alles andere als geistig beschränkt. Aber ich wusste auch, dass sie genau das an mir mochte, hauptsächlich, weil ich ganz nach ihr geraten war.

Ich ging zu ihr an die moderne Kochinsel, legte meinen Arm locker um ihre Schulter und guckte ihr beim Schneiden der Möhren zu. Ich überragte sie um Kopflänge, so war es ein Leichtes, ihr einen Kuss auf ihr dünnes angegrautes Oberhaar zu drücken. »Du hast deine Sache gut gemacht, so oder so, Mama.«

Mit hochgezogener Augenbraue sah sie zu mir auf. »Sag mal, könntest du bitte aufhören, ständig Mama zu sagen? Da bekommt man ja Ohrensausen.«

Ich lachte: »Dein Wille geschehe, Annegret«, zuckte ich mit den Achseln, stibitzte ein Stück Möhre, das ich fix verdrückte, bevor sie es mir aus der Hand schlagen konnte, und verließ die Küche.

»Du weißt ganz genau, wie ich das gemeint habe«, rief sie mir hinterher.

So verliefen Unterhaltungen zwischen meinen Eltern und mir in der Regel immer. Ein wenig von allem – Witz, Charme, Spaß, Ernst, Ärger, Strenge. Die gute Mischung sorgte dafür, dass uns nie langweilig wurde und es zu keinen großen Dramen kam, sogar dann nicht, wenn es angebracht wäre. Daher ließ es sich auch hervorragend mit ihnen aushalten. Auch jetzt noch, wo ich eben volljährig war. Aber was nützte mir meine Volljährigkeit, wenn ich noch die Schulbank drückte?

Natürlich ging der Umzug in das Kuhkaff auch mit einem Schulwechsel einher. Und das für ein einziges Jahr. Leuchtete somit ein, dass meine Stimmung im Keller war. Ich hasste es, aus meinen Gewohnheiten herausgerissen zu werden. Ich hatte nichts gegen Veränderungen. Aber ich wollte dafür bereit sein und nicht so arglistig überrumpelt werden, wie mit dem Umzug. Plötzlich hatte es geheißen: »Junge, wir haben ein Haus gekauft.«

Schon klar, in einem fortgeschrittenen Alter, in dem sich auch meine Eltern mittlerweile befanden, träumte man von einem Haus im stillen Grünen, fern von allem Rummel. Aber hätten sie mit dem Kauf des Hauses nicht wenigstens warten können, bis ich finanziell auf eigenen Beinen stand und allein überlebensfähig war? Stattdessen bekam ich auf den letzten Metern noch einmal zu spüren, wie viel mich die Abhängigkeit kostete – wie viel ich von mir selbst aufgeben musste.

Mein einziger Lichtblick war mein langjähriger Kumpel Niko. Er war ebenfalls achtzehn. Allerdings hatte er diese Prozedur schon einige Jahre vor mir über sich ergehen lassen müssen. Seine Eltern und meine Eltern waren best buddies. Es war also nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich meine Eltern von ihnen überzeugen ließen, sich ausgerechnet hier niederzulassen. Aber Niko versicherte mir auf Ehre und Gewissen, dass es sich hier gar nicht so übel lebte. Angeblich gewöhne man sich daran und würde es über kurz oder lang gar nicht mehr anders haben wollen.

Tja, da konnte ich nichts mehr tun, als mich überraschen zu lassen.

Am nächsten Morgen kostete mich der Gang zur Schule große Überwindung. Niko an meiner Seite sorgte dafür, dass ich nicht kniff und wieder nach Hause ging, um mich unter meine Bettdecke zu verkriechen. Natürlich musste ich nicht beruhigt werden – ich war ja nicht nervös. Ich war nur frustriert und demotiviert, hatte auf diese Art Veränderung einfach keine Lust.

Wenigstens war das Wetter auf meiner Seite. Die Morgensonne legte sich über die Bereiche meiner Haut, die nicht von meinen Klamotten bedeckt waren. Immer wieder hob ich mein Gesicht an und hielt es dem wärmenden Schein entgegen. Dabei schloss ich genussvoll die Augen, nur so lange, wie ich meiner Vorausschau auf den vor mir liegenden Weg blind vertrauen konnte, und inhalierte die Luft tief.

Ich liebte den Duft des Morgens, besonders im Sommer, wenn die Sonnenstrahlen den Boden unseres Planeten berührte und den Asphalt erwärmten. Aber eines fiel mir auf: Hier auf dem Dorf, umgeben von reichlich Natur und in der Nähe von Wasser, war die Luft klarer und gesünder. Nichtsdestotrotz lag etwas darin, was mich in meine Kindheit zurückversetzte. In Mamas Arme. Es erinnerte mich schmerzlich an ein Zuhause, das ich wohl nie wieder so erleben würde, wie ich es als Kind erlebt hatte. Es war nicht deshalb schmerzlich, weil sich an meinem Leben so drastisch viel verändert hatte (bis auf den jetzigen Umzug), sondern weil mir die Fähigkeit, die Welt durch Kinderaugen zu sehen, abhanden gekommen war.

Ich war nicht wie viele Kinder gewesen, wollte eigentlich nie erwachsen werden – jedenfalls nicht unbedingt –, weil ich eine schöne Kindheit gehabt hatte. Ich habe nicht so sehr an Unabhängigkeit gedacht wie heute, weil es keine Rolle gespielt hatte. Ich war nur ein Kind. Mein Tag bestand in erster Linie aus Spaß und Abenteuern. Lästigen Pflichten wie Hausaufgaben für die Schule oder ein paar Hilfsarbeiten im Haushalt brachte ich einfach schleunigst hinter mich. Erst als mir im Alter von dreizehn oder vierzehn bewusst geworden war, welche Möglichkeiten mir offen standen, sobald ich auf mich selbst gestellt wäre, ließ den Wunsch in mir entstehen, dem Jungendalter endlich zu entwachsen.

Niko, der mir die zwanzigminütige Strecke zur Schule von seinem zweiwöchigen Ägypten-Urlaub mit seinen Eltern berichtete, riss mich lautstark aus meinen Gedanken: »Na, du bist mir ja ein toller Kollege!«

»Was, wie, wo?«

»Ich habe dir eine Frage gestellt. Aber wie ich sehe, bist du völlig geistesabwesend. Hast du überhaupt irgendetwas von dem, was ich gerade erzählt habe, mitgekriegt?«

»Na, du warst in Ägypten.«

»Super, dann bist du ja vollumfänglich aufgeklärt!«

»Ich stehe einfach neben mir.« Das war eine lahme Ausrede, das wusste ich selbst. Niko war einer meiner besten Kumpels, also sollte mich interessieren, was er von sich gab, und wäre es auch der größte Stuss.

»Alter, komm mal klar«, stauchte er mich zusammen, »es ist ja nicht so, als wärt ihr nach Australien ausgewandert.«

»Ist ja gut, hast ja recht.« Ich fügte mich meinem Schicksal. Musste ich, denn wir hatten soeben die Schule erreicht.

»Sieht kleinbürgerlich aus«, kommentierte ich oberschlau. Der Schulhof war gut zu überblicken. Das Schulgebäude bestand hauptsächlich aus roten Ziegelsteinen und war insgesamt gar nicht so klein, wie ich es erwartet hatte.

»Nun, so, wie der Rest des Dorfes.« Niko hob die Hand zum Gruß, als ihm drei seiner wichtigsten Freunde entgegenkamen. »Das ist Cedric. Ich habe euch ja von ihm erzählt.«

Jeder von ihnen hieß mich mit einem offenen Lächeln und einem »Na!« willkommen.

Dominic war ein lustiger Typ. Das sah man ihm schon auf den ersten Blick an. Er war ein abgebrochener Meter, aber das hielt ihn nicht davon ab, selbstsicher aufzutreten. Er sah sportlich aus. Das Fitnessstudio verhalf ihm ganz offenbar zu dieser Selbstsicherheit.

Steve war auf meiner Höhe und wirkte eher ruhig und ausgeglichen. Er kaute Kaugummi und starrte die meiste Zeit gebannt auf sein Handy. Trotzdem war er aufmerksam. Seine Art erinnerte irgendwie an ein Erdmännchen.

Yun war ein quirliger Koreaner, der in Deutschland geboren worden war. Es schien, als käme er bei den Mädchen gut an, denn jedes zweite, das an uns vorbeilief, warf ihm einen verlegenen Blick zu. Und sobald sie ihn grüßten, folgte ein scheues Kichern, die Hand dabei auf den Mund gepresst.

»Ich will Cedric eben herumführen«, erklärte Niko. »Wir sehen uns.«

»Das wichtigste kennst du schon«, richtete sich Dominic an mich.

»Den Schulhof«, ging Yun auf Nummer sicher, dass ich Dominics Wortspiel auch schnallte. Er verlieh seiner Botschaft mit dem Zeigefinger Nachdruck, der auf der Höhe seiner Schläfe schnelle Kreise zog.

Ich lachte, da sie eine derartige Antwort von mir erwarteten. Alles andere hätten sie nicht gelten lassen. Und warum sollte ich mir schon zu Beginn ihre Ungnade zuziehen?

Mit den Händen stieß Niko mich kräftig in die Richtung des Schulgebäudes, um mich zum Gehen zu bewegen. Er hatte seine Kraft ein wenig unterschätzt, denn die Wucht drohte mich zu Fall zu bringen. Allerdings konnte ich mich ausgezeichnet auf mein Gleichgewichtsorgan verlassen und blieb gerade so auf den Beinen.

Andererseits hatte ich das Mädchen auf dem Fahrrad hinter mir nicht kommen sehen, das wegen meines plötzlichen Seitenschritts ausweichen musste, den Halt verlor und hell schreiend auf den harten Boden klatschte. Ihr Fahrrad hatte bei dem Aufprall laut gescheppert und das Hinterrad drehte sich noch bemerkenswert lange.

Eine gefühlte Ewigkeit war es totenstill um uns, bis auf ein paar Vögel, die wild und aufgeregt zwitscherten. Wenn mich nicht alles täuschte, lachten sie sich gerade krumm und schief auf ihren Ästen. In sicherer Entfernung hätte ich das wohl auch getan. Aber momentan war ich nur zur Salzsäule erstarrt.

Die meisten, die sich nach dem bedauerlichen Unfall noch auf dem Schulhof befanden, drehten sich ab, um ihr Lachen zu verstecken. Auch Niko standen Tränen der Belustigung in den Augen.

»Ver-fluch-te Scheiße«, kreischte das Mädchen den Boden an, meinte aber mich. Ich hatte nur das vorübergehende Glück, dass ihr Gesicht gewissermaßen auf dem Pflaster klebte. Ihre Frisur war auch hinüber. Zwar hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie ihre langen Haare davor gelegen hatten, aber zurzeit waren sie vollkommen chaotisch aufgewirbelt und hingen zu einem Teil auf dem verdreckten Boden. Höchstwahrscheinlich war das nicht die Ursprungsfrisur! »Hast du denn keine Augen im Kopf?«

»Äh, hinten nicht, nein«, machte ich klar. »Und anatomisch gesehen wäre das auch nicht besonders ästhetisch.«

Mithilfe ihrer Arme stemmte sie sich nur schwerfällig hoch, kam jedoch nicht weit. Denn der untere Teil ihres Körpers war vom Fahrrad begraben worden. Damit nicht genug: ihre Beine hatten sich irgendwie darin verknotet und sie hing somit fest.

»Kann mir vielleicht mal jemand helfen?« 

Ich trat einen Schritt an sie heran. »Sehr ungern, wenn du so rumzickst.« Ich beugte mich vor und umfasste einen Griff vom Lenkgrad.

»Nicht du, du Blödmann«, motzte sie.

Umgehend ließ ich das Fahrrad wieder los, erhob die Hände und ging zwei Schritte zurück. »Mit Vergnügen.«

»Niko? Würdest du bitte ...«, ermahnte sie meinen Kumpel mit zitternder Stimme und den Tränen nah.

Der hatte seine Konzentration so sehr darauf gelegt, nicht in lautes, rücksichtsloses Lachen auszubrechen, dass er seine Manieren komplett vergessen hatte und ihr erst nach ihrer Aufforderung zu Hilfe eilte. Wenn er allerdings das Grinsen nicht aus seinem Gesicht bekäme, bevor das Mädchen wieder den Überblick über die Gesamtlage hatte, müsste er sich wohl warm anziehen.

Als sie endlich wieder senkrecht stand, atmete ich erleichtert auf. Das bedeutete nämlich, dass sie sich keine größeren Verletzungen zugezogen hatte und ich noch einmal glimpflich davonkommen würde. Obwohl ich ja der festen Überzeugung war, dass mich keine Schuld traf. Jedenfalls nicht direkt.

Schier endlos richtete sie ihr kupferblondes Haar und klopfte sich einige Schmutzpartikel von der Kleidung. Am linken Knie sickerte Blut durch ihre elastische graue Yoga-Leggings. Das schien sie gar nicht zu jucken. Oder sie registrierte es schlichtweg nicht. Könnte sein, dass der Schock tief saß und ihr erhöhter Adrenalinspiegel die Schmerzwahrnehmung auch jetzt noch, wo sie sich wieder aufgerappelt hatte, einschränkte.

»Wer bist du Penner überhaupt?«, richtete sie ihr Augenmerk nun auf mich. Ihr strafender Blick bohrte sich tief in meine Augen.

»Ich bin Cedric Claußen. Und wer bist du, dass du so mit mir redest?« Beschimpfungen kränkten mich nicht. Nie! Es waren nur Worte, dessen Nutzen darin bestand, Personen gezielt zu diskriminieren. Aber zuletzt waren es Worte ohne anspruchsvollen Hintergrund, sagten nichts über mich aus, nur über die Person, die sich an ihnen bediente.

»Ich bin Winter«, näselte sie und streckte ihr Kinn weit nach oben. Das bedeutete, dass sie nicht nur kackfrech war, sondern noch dazu hochgradig eingebildet.

»Oh, Eure Majestät, entschuldigt! – Was ist das denn für ein bekloppter Name?«, holte ich sie von ihrem hohen Ross runter, denn ich erkannte sofort, dass sie Gegenwind nicht gewohnt war.

»Warte nur, wenn du ihren Familiennamen erfährst«, flüsterte mir Niko hinter vorgehaltener Hand ins Ohr. »Du wirst dich bepissen vor Lachen.«

»Lass hören«, forderte ich.

»Sommer«, antwortete sie höchstpersönlich, denn sie hatte keinen Grund, sich zu schämen. »Winter Sommer lautet mein vollständiger Name.«

Ich bepisste mich nicht vor Lachen, dafür verzog ich irritiert das Gesicht. »Wie schräg ist das denn? Was stimmt nicht mit deinen Eltern?«

Schmollend schürzte sie die Lippen. Es war nicht verwunderlich, denn auf meine Eltern würde ich auch nichts kommen lassen. »Sie sind lediglich originell. Immer noch besser als Cedric Claußen. – Gääähn!«

»Na ja, ist halt ein Name. Ist nichts Falsches dran.« Gelangweilt von ihrem einfallslosen Gegenschlag hob ich die Schultern.

»So, wie an meinem Name nichts Falsches dran ist!« Die Art, wie sie das klarstellte, ließ vermuten, dass sie gleich darauf mit einem Bein wütend auf den Boden aufstampfen würde, aber diese Blamage ersparte sie sich dann doch.

»Hallo?« Auf die Gefahr hin, dass sie mir eine scheuern würde, klopfte ich an ihre Stirn. »Du heißt wie Jahreszeiten.«

»Na und?«

»Winter: Lass ich gelten! Sommer: Lass ich auch noch gelten! Aber Winter Sommer? Das ist hirnverbrannt und gehört verboten.«

»Totaler Quatsch! Aus dir spricht ja bloß der Neid!«, zeterte sie nun, meiner Meinung nach ziemlich fade und unreif.

»Ja klar, natürlich, ich wollte schon immer wie Jahreszeiten heißen. Herbst Frühling wäre ja noch zu vergeben.«

Und ich führte mich nicht unreif auf? War ich nicht derjenige gewesen, der diesen irrsinnigen Disput erst angestimmt hatte? Und nun ließ ich mich auch noch weiter und weiter darauf ein und versäumte glatt, rechtzeitig aus dem Club der Vollpfosten auszusteigen. Außerdem hielt ich es nicht gerade für das Schlauste, mir schon am ersten Tag in den ersten Minuten in der neuen Schule Feinde zu machen. Ob ich auf Menschen wie Winter Sommer angewiesen war, wagte ich zu bezweifeln, Fakt war aber, dass ich nicht den Obercoolen heraushängen lassen sollte. Denn ich war nicht obercool. Und ich plante auch nicht, es demnächst zu werden.

»Übrigens heißt mein Opa August Freitag«, warf Niko ein.

Unverwandt starrte ich ihn mit tellergroßen Augen an. Ich wusste, dass Nikos Familienname Freitag war, hielt es trotzdem für einen Scherz.

»Ernsthaft!«, schwor er Stein und Bein.

»Na gut, dann sind wir mittlerweile bei Monaten und Wochentagen angekommen.« Erschüttert klatschte ich mir an die Stirn. Nicht, weil es absurd war, den Namen eines Monats oder eines Wochentags oder sogar einer Jahreszeit zu tragen, sondern weil die gesamte Unterhaltung unnötig ausgeufert war.

Ohne weitere Worte flüchtete ich mich ins Schulgebäude, wohin mir Niko folgte. Schließlich hatte er mir ja versprochen, mich noch etwas herumzuführen, bevor der Unterricht beginnen würde. Das war auch erforderlich gewesen, wie sich später herausstellte. Von meinem schlechten Orientierungssinn einmal abgesehen, war es ziemlich groß und verwinkelt. Mir war, als hätte man mich wie einen grenzdebilen Hamster für Versuchszwecke in einem Irrgarten ausgesetzt. Am Ende konnte ich froh sein, dass ich das Jungenklo wiedergefunden hatte.

2

Inzwischen fand ich mich in der Schule nicht nur gut zurecht, sondern hatte mich dort (nicht im Kaff) gut eingelebt. Zweites war auch nicht schwierig. Von der Sohle bis zum Scheitel waren alle miteinander Spießbürger. Lehrer, Schüler, ja sogar der Hausmeister trieften vor höfliches, gesittetes Benehmen. Höflichkeit wurde hier nämlich großgeschrieben. Meistens jedenfalls. Da hatte ich grundsätzlich nichts gegen. Aber der Großteil wirkte eher wie abgerichtete Äffchen und überhaupt nicht echt. Gemessen an meiner alten Schule in Hamburg war diese Pipifax. Der Unterschied war wirklich enorm.

Meine Freizeit verbrachte ich hauptsächlich mit Niko und den anderen Jungs am Strand der Nordsee. Dort faulenzten wir, ließen uns von der Sonne allseitig rösten, suchten Abkühlung im Wasser und flirteten mit den hübschen, knackigen Mädchen. Niko und ich taten Letztes nicht so sehr wie Yun, Steve (wenn er sich dann einmal von seinem Handy loseisen konnte) und Dominic. Niko war in festen Händen. Ihr Name war Jule, und sie hätte auf alle Fälle etwas dagegen. Ihre Eifersucht auf die gut gebauten Mädchen, die oft bewusst mit ihren Reizen nicht geizten und auch spielten, war der Grund, aus dem er in der Sommerzeit stets ohne sie an den Strand ging. Und was mich anging, so hatte ich ganz einfach kein Interesse an oberflächliche Bekanntschaften, erst recht dann nicht, wenn diese sich entblößt vor mir räkelten, schon bevor ich sie überhaupt kennengelernt hatte. Den ein oder anderen verstohlenen Blick riskierte ich natürlich schon einmal. Aber viel mehr stimulierte mich der anhaltende Duft des Meeres in der Nase, der warme Sand unter meinen nackten Füßen und der Blick auf die zahlreichen bunten Strandkörbe. An dieser Stelle geriet mein Heimweh für eine Weile in Vergessenheit, denn an dieser Stelle kam ich mir vor wie im Urlaub. Es war noch nicht hundertprozentig zu mir durchgedrungen, dass ich diesen Ort nun mein Zuhause nennen konnte.

Außerdem gab es im Zentrum ein nettes Café. Es war ein modernes Cafè, beeindruckte besonders durch seinen Lounge-Charakter. Vermutlich wollten die Betreiber damit gezielt uns, die jüngere Generation des Dorfes, ansprechen. Es gab sogar ein Hinterzimmer, in dem Billardtische standen und die Musikcharts rauf und runter gespielt wurden, was die Teenager auch zu Abenden und Wochenenden herlocken sollte. Mich persönlich führte es jedoch nur nach der Schule regelmäßig dorthin, nicht zuletzt, weil es auf meinem Weg nach Hause lag. Und ich musste gestehen, dass ich mich dort auch sehr wohlfühlte, speziell wegen des Großstadtflairs. Es war nur eine Idee von einem echten Großstadtcafè entfernt.

Nachdem ich nahezu die gesamten Sommerferien mit Renovieren, Putzen und Einrichten unseres Hauses verbracht hatte und mir keinerlei Zeit für derartige Aktivitäten geblieben war, ich nicht einmal die Gegend hatte genauer erkunden können, war mir das nun neidlos gegönnt, fand ich.

Nebenbei bemerkt war ich Winter Sommer seit dem Zwischenfall nicht mehr begegnet. Genau genommen war sie wie vom Erdboden verschluckt. Seit dem zweiten Schultag schon. Zwar war sie mir egal, könnte man sagen, aber sie glänzte und fiel schon auf. Eben nicht nur, wenn sie anwesend war, auch wenn sie es nicht war.

Heute nach Schulschluss war ich mit einer Raumpflegerin namens Ann auf dem Jungenklo ins Gespräch gekommen. Sie war ganz okay. Eigentlich sogar ein Pfundsweib, wie mir zunehmend klar wurde. Ich glaube, sie war nicht sehr viel älter als ich. Sieben Jahre vielleicht. Sie klärte mich ein wenig über die allgemeinen Verhältnisse auf.

»Niemand ist hier sonderlich furchteinflößend. Keine großen Skandale. Nur vor diesem Harro musst du dich etwas vorsehen. Er ist sehr manipulativ. Droht jeder Nase, die ihm nicht passt, mit seinem Papi. Der ist nämlich Anwalt. Wenn du Harro also nur eine Spur zu nahe trittst, bist du geliefert.« Ann führte mit ihrem Mopp ein paar kampfsportähnliche Bewegungen vor meinem Gesicht aus – etwa wie beim Bo Jutsu –, um auf spöttische Weise einen erbitterten Kampf gegen die Familie Woltering (Harros Familienname) zu illustrieren, und schüttete sich aus vor Lachen.

»Wie sieht dieser Harro aus?« Ich wollte vorbereitet sein.

»So ein langer Lulatsch. Blondes mittellanges Haar in so einem modernen Wuschellook. Recht bubenhaftes Gesicht, aber verboten gut aussehend. Hat ein Faible für College-Jacken. Er muss Hunderte davon besitzen.«

Aus der Ferne hatte ich ihn schon gesehen, umringt von lauter Arschkriechern, die er zu Leibeigenen befördert hatte. Steile Karriere!

»Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.«

»Da hast du auch nichts verpasst. – Hast du Winter schon kennengelernt?«

Dieser Name rüttelte mich wie ein elektrischer Schlag. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Person in dieser Verbindung Erwähnung finden könnte. »Jupp«, hatte ich mich jedoch relaxed gestellt, »flüchtig.«

»Kleines süßes Prinzesschen. Nach außen. Traurige, verlorene Seele. Im Innern.« Was war das für eine kryptische Andeutung? War sie etwa so ein Emo, der sich jeden Tag kummervoll nach dem Sinn des Lebens fragte? Andererseits sah sie gar nicht aus wie eine von dieser Sorte. »Auf jeden Fall ist sie die feste Freundin von Harro. Seit gut vier Jahren. Ganz beliebtes Paar.«

»Wie kommt man zu einem solchen Titel?« Mich überraschte diese Konstellation nicht, nur, dass so unausstehlichen Persönlichkeiten so viel Bedeutung beigemessen wurde. Es waren immer die falschen Leute, die Ansehen genossen und am Machthebel saßen. »Ich meine, Harro ist ein arroganter Fatzke und Winter eine Oberzicke. Wer will freiwillig mit solchen Leuten verkehren?«

Ann sah nachdenklich aus. »Bei Harro stimme ich dir zu. Aber nicht bei Winter. Ich hoffe, du lernst sie richtig kennen. Sie ist ein gutes Mädchen. Es ist nur nicht immer sofort für jeden ersichtlich.«

Ich nickte nur. Dann verabschiedete ich mich von Ann und wünschte ihr ein entspanntes Wochenende.

Mama quetschte mich regelmäßig aus. Zumindest versuchte sie es jeden Tag aufs Neue. Direkt nach der Schule zum Mittagessen. Es war die einzige Gelegenheit, in der sie mich zu fassen bekam. Sie verübelte es mir nicht. Was sollte ich daheim auch groß anstellen? Draußen spielte sich das Leben ab. Leise, aber nicht so leise wie daheim.

Doch zu meinem Glück würde Papa heute für ein paar Tage nach Hause kommen. Das wirkte sich natürlich prompt positiv auf Mamas Laune aus. Darum war sie nun auch nicht so penetrant und löcherte mich mit ihren Fragen nur halb so lang wie normalerweise.

»Du weißt, ich habe keine Geheimnisse vor dir, aber wenn es nichts Aufregendes zu erzählen gibt, will ich dich nicht mit Belanglosigkeiten zusülzen.« Zugegeben, alles tischte ich ihr trotzdem nicht auf. Ein bisschen Privatsphäre behielt ich mir vor, erst recht dann, wenn ich schon im Voraus wusste, dass etwas sie verstören oder ihr Unbehagen bereiten könnte.

Mama kniff die Augen fest zusammen. Sie schwankte leicht. Es war offensichtlich, dass Schwindel sie befallen hatte. Kurz legte sie das Besteck aus den Händen, um die Innenflächen auf die Tischplatte zu pressen. Sie gab ihr Halt, wie es schien. 

»Hui«, sang sie wie jemand, der Spaß am Karussellfahren hatte. Scheinbar kam es ihr selbst vor wie eine Achterbahnfahrt.

»Alles klar bei dir?«, erkundigte ich mich mit besorgter Stimme nach ihrem Befinden.

»Und ob! Ich habe nur einen Drehwurm.« 

»Im Sitzen?«, stellte ich in Frage, dass dieser so unbedenklich war wie sie klang.

»Schatz, es gibt überhaupt keinen Grund zur Sorge. Du weißt doch, mein Blutdruck schießt ab und zu in die Höhe.« Sie öffnete die Augen wieder und schaute mich ätzend an. Mit aller Gewalt wollte sie mich davon überzeugen. »Bei den tropischen Temperaturen ist das nun wirklich nicht ungewöhnlich.«

Tatsächlich verlangte uns der diesjährige Sommer einiges ab. Auffällig war die Trockenheit. Es gab keinen Regen, keine typischen Sommergewitter, rein gar nichts, das für Abkühlung sorgte. Die beständige Hitze laugte uns buchstäblich aus.

Da auch ich in den letzten Wochen schon so einige Schwindelattacken erlitten hatte, gab ich Mamas Begründung mit einem leichten Kopfnicken meinen Segen, schnitt ein mundgerechtes Stück von dem Schnitzel auf meinem Teller ab und schob es mir in den Mund. Es war köstlich, so wie alles, was Mama kochte, ob gesund oder ungesund.

Als ich mit dem Essen fertig war, lehnte ich mich zufrieden in den Stuhl zurück. »Mama, wie kommt es, dass du Hamburg nicht vermisst, hier einfach neu anfangen und leben kannst, als wäre es nie anders gewesen?«

Auch sie hatte gerade den letzten Bissen zu sich genommen und begann zu sprechen, noch bevor sie die zerkaute Masse heruntergeschluckt hatte. »Ich schätze, es liegt daran, dass meine Vorstellung vom Leben eine andere ist als die deine. Ich fühle mich hier pudelwohl. Alles ist, wie ich es mir schon in jungen Jahren erträumt habe. Aber natürlich vermisse ich Hamburg auch ein bisschen. Die Gewohnheit macht es. Immerhin habe ich zweidrittel meines Lebens dort verbracht, du sogar dein gesamtes Leben. Nur fällt es mir deshalb leichter, den Weggang wegzustecken, weil Hamburg auf der Karte eben nicht unendlich weit weg von hier liegt. Ganz im Gegenteil, Hamburg ist in greifbarer Nähe.«

Anscheinend musste ich das erst einmal realisieren. Bisher war mir das nicht möglich. Ich fühlte mich von der Außenwelt komplett abgeschnitten. Wahrscheinlich war das normal. Jeder brauchte seine Zeit, Dinge zu verinnerlichen. Ich befürchtete nur, dass mir das mit diesem Ort niemals gelingen würde.

»Ich verstehe deinen Kummer. Deine besten Freunde können nicht mehr auf diese Weise Teil deines Lebens sein, wie du es gern hättest. Aber gefällt es dir hier nicht wenigstens ein klitzekleines bisschen?«

»Es ist ein Kaff, Mama!« Das sagte doch alles, oder?

Bedrückt senkte sie den Blick. »Nur dieses eine Jahr! Dann kannst du wieder nach Hamburg zurückgehen.«

Einen kurzen Moment ging ich in mich. Ich fragte mich, ob es meinen Eltern gegenüber fair war, nur an mich zu denken. Immerhin hatten sie mich mein ganzes Leben lang unterstützt, und zwar in allem, was mir lieb und teuer war. Dass mir der Umzug so sehr zusetzte, hatten sie sicherlich nicht erwartet und schon gar nicht gewollt. Vielmehr hatten sie geglaubt, mir eine Freude damit zu machen. Daher wäre es vielleicht an der Zeit, auch Mama und Papa ihr Glück zu gönnen und ihnen nicht permanent den Eindruck zu vermitteln, dass sie irgendetwas falsch gemacht hatten. Verflixt noch mal, es war Mamas Traum! Warum konnte ich denn nicht wenigstens im Stillen leiden? Das war ich ihr schuldig.

»Zuallererst ist es wichtig, dass du und Papa glücklich seid. Und es ist ja nicht so, dass ich kreuzunglücklich bin. Im Grunde ist das Leben hier ja eine Art Langzeiturlaub.«

Mama grinste und stimmte dem zu: »Das ist ein gutes Argument, mit dem man sich durchaus über die Zeit trösten kann.«

Ich warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war später als gedacht und ich stieß ein schreckhaftes »Oh!« aus.

»Was ist los?«, fragte sie wie vom Donner gerührt.

Ich raffte mich hoch. »Ich muss gehen. Ich treffe mich nämlich mit Niko und Jule.«

Wir planten einen Kinobesuch. Zuerst hatte ich mich geweigert, die beiden zu begleiten, denn es lag mir fern, ein Pärchen bei ihrem romantischen Date zu stören, geschweige denn ein hübsches fünftes Rad am Wagen abzugeben. Aber beide schworen tausend Eide, dass dies kein romantisches Date sei und es auch keinen romantischen Film geben würde. Irgendetwas Amüsantes stand auf dem Plan.

»Na dann, viel Vergnügen«, rief sie mir völlig verdattert hinterher. Für den Wirbel, den ich mit einem Mal veranstaltete, hatte sie kein Verständnis übrig.

3

Nach zwei Wochen war Winter Sommer wieder in die Schule zurückgekehrt. Ich kannte den Grund ihres Fehlens nach wie vor nicht. Womöglich hatte ihr eine hartnäckige Grippe zugesetzt. Zwar waren im Augenblick keine ansteckenden Krankheiten im Umlauf, aber mit einer Person musste eine Epidemie ja beginnen. Aktuell sah sie topfit aus. Aber nicht glücklich. Ihre hängenden Mundwinkel und eine tiefe Zornesfalte zwischen den Augen ließen darauf schließen.

Heute trug sie ihre Haare geschlossen. Als Knoten auf dem Kopf. Entweder diente es der Vorsorge, falls ein dusseliger Junge namens Cedric Claußen wieder ihren Weg kreuzen würde, oder sie gedachte, sich dem wohl hässlichsten Trend, den es je rund ums Haar gegeben hatte, anzunehmen. Dessen ungeachtet, an ihr sah der zerfranste Dutt gar nicht mal so verkehrt aus. Woran das lag, konnte ich mir nicht erklären. Eventuell lag es an ihrem insgesamt sehr attraktiven Erscheinungsbild, das nichts entstellen konnte, nicht einmal ein Kartoffelsack, wie man so schön zu sagen pflegte.

Offensichtlich übte ihr Wesen eine hypnotische Faszination auf mich aus, oder weswegen verspürte ich den Drang, sie so gründlich unter die Lupe zu nehmen? Es könnte jedoch genauso gut sein, dass ich mir lediglich Anns Worte zu Herzen nahm und herausfinden wollte, ob Winter Sommer diesen auch wirklich gerecht wurde.

Sie hatte das Schulgelände ohne Fahrrad betreten. Wahrscheinlich war es immer noch im Eimer. Aber Gewissensbisse hatte ich keine. Weil ich an dem verflixten Unfall schlicht und ergreifend nicht schuld war.

Ihre Freundin Inka begrüßte sie überschwänglich, nahm sie fest in die Arme und wog sie dabei hin und her. Daraufhin nahm sie Winters Gesicht liebevoll in die Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Das riss Winter zumindest zu einem flüchtigen Lächeln hin.

Ich überlegte, ob ich zu ihr hinübergehen und mich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen sollte. Das gebot ja schon allein der Anstand, fand ich. So meldete ich mich bei Niko und meiner neuen Clique kurz ab und tat, was ich tun musste.

Winter sah mich auf sich zukommen, aber das kümmerte sie kaum. Sie warf mir nur einen kurzen, interesselosen Blick zu und sah keinen Grund darin, die Unterhaltung mit Inka zu unterbrechen. Erst als ich sie erreicht hatte, stellte sie das Sprechen ein und funkelte mich verärgert an. Ihr Blick fragte nicht nach einer rationalen Begründung für die Störung, er forderte die rationale Begründung geradezu ein.

»Geht es dir gut?«

Verwundert erwiderte sie: »Seh ich denn so scheiße aus, oder weshalb fragst du?« Ihre Freundin lachte hell auf.

»Ich dachte nur, du hättest dir bei deinem Fahrradunfall vielleicht mehr zugezogen als zunächst angenommen. Du warst ganz schön lange krank.«

»Und wenn? Warum sollte dich das groß interessieren?«

»Nun, ich war daran ja nicht ganz unbeteiligt.«

»Ach, plötzlich siehst du ein, dass du schuld hast?«

»Nein, nein, ich sagte nur, dass ich daran nicht ganz unbeteiligt war. Augen habe ich am Hinterkopf nämlich nach wie vor keine.« Ich wandte meinen Kopf um und fuhr mir durch mein braunes Haar, um es unter Beweis zu stellen.

»Es geht mir gut, danke der Nachfrage.« Sie zupfte ihr weites blaues Top am unteren Saum zurecht. »Aber mein Ausfall hat nichts mit dem Unfall zu tun.« Sie zog das linke Hosenbein ihrer verwaschenen Dreiviertel-Sweathose hoch und legte eine fast verheilte Schürfwunde am Knie frei. »Auch wenn ich noch heute etwas davon habe, wie du sehen kannst.«

Ich erinnerte mich an das viele Blut, das damals durch ihre Leggings gesickert war. »Sieht ja übel aus.«

»Nicht mehr so sehr, wie am Tag des Unfalls.«

Mit den Worten: »Ich warte im Klassenzimmer auf dich« zog sich Inka jetzt zurück. Sie ahnte wohl, dass das Gespräch zwischen Winter und mir länger dauern würde.

»Okay«, erklärte Winter sich einverstanden. Dann wandte sie sich wieder an mich. »Lass uns doch schon mal dieselbe Richtung einschlagen. Wir können uns auch im Gehen unterhalten.« Sie zog ihre dicke geblümte Umhängetasche über den Kopf ab und drückte sie mir in die Hand. Durch die Dehnübungen mit den Armen, die ihre Schultern lockern sollten, teilte sie mir unmissverständlich mit, dass ich sie bis in das Klassenzimmer für sie tragen sollte. Obwohl ich mir vorkam wie einer ihrer Lakaien, tat ich ihr den Gefallen. So wären wir zumindest quitt.

»Lass das nicht zur Gewohnheit werden.«

»Dass du für mich die Tasche trägst?« Ich nickte bestätigend. Sie lachte gehässig auf. »Um den Fahrradunfall wiedergutzumachen, müsstest du noch weitaus öfter meine Tasche für mich tragen. Aber ich will mal nicht so sein.«

»Sehr gnädig von dir. – Du bist ganz schön überheblich.«

»In Wahrheit bist du der Überhebliche von uns beiden. Denn du meinst, mich zu kennen. Dabei weißt du gerade drei Fakten über mich.«

Ich zählte nach. Und sie hatte recht. War das nur ein Zufall? »Dass du einen irren Namen trägst. Dass Harro dein fester Freund ist. Und dass du fälschlicherweise glaubst, die Königin von Deutschland zu sein.«

»Hast du ein eidetisches Gedächtnis oder warum merkst du dir all die absolut unbestrittenen Informationen über mich?«

Sie hatte Sinn für sarkastischen Humor. Das gefiel mir. Was mir dagegen nicht gefiel, war, dass ich mir ein amüsiertes Grinsen kaum verdrücken konnte. Aber ich wollte auch nicht schon wieder den Coolen raushängen lassen, wenn die Sympathie für sie, die anscheinend in mir zu wachsen begann, einem so penetrant ins Auge sprang. So blieb mir nichts anderes übrig, als ehrlich zu antworten: »Du bist witzig.«

»Hab ich von meinem Vater«, erklärte sie stolz, »und das ist mal eine Info aus erster Hand. Kannst du mir glauben.« Nun folgte auch noch ein neckisches Augenzwinkern.

Mein Herz machte einen Sprung. Ich mochte ihre abgeklärte, problemlose Art. Zu blöd nur, dass ich gedacht hatte, sie wäre eine Oberzicke, denn damit hatte ich mich bei ihr längst unbeliebt gemacht.

»Es muss dich riesige Überwindung gekostet haben, das Kompliment laut auszusprechen.« Winter sollte über eine Ausbildung als Kommissarin bei der Kriminalpolizei nachdenken, und dann sollte man sie hauptsächlich mit Verhören betrauen, denn darin wäre sie Spezialistin. Sie achtete nicht nur auf Mimik und Gestik, sondern war noch dazu gut darin, sie zu entschlüsseln.

»Ging eigentlich. Denn ich war nicht ganz überzeugt von meiner bisherigen Meinung über dich. Die stand nur vorerst.« Jetzt zwinkerte ich ihr vielsagend mit einem Auge zu.

»Die meisten Leute, die ich kenne, tragen bedeutend mehr Stolz und Würde im Leib als du«, gab sie zu verstehen, dass ich mein Fähnlein anscheinend nach dem Winde drehte und mich widerstandslos unterordnete.

»Hab ich schon mit fünfzehn verloren, als ich im tief betrunkenen Zustand halbnackt und völlig orientierungslos die Straßen meiner Nachbarschaft vollgekotzt habe.«

Ich erinnerte mich, als wäre es erst gestern gewesen. Es war die erste und einzige Erfahrung, die ich mit Alkohol durchlitten hatte. Katastrophe! Dabei war das noch nie mein Ding gewesen. Ich hatte nur nicht als elender Versager dastehen wollen, hatte vor allem Luisa, die auf harte Jungs stand, damit imponieren wollen.

»Igitt!«

»Mir ist schon klar, dass ich damit keine Bewunderung bei dir hervorrufe.«

»Also ist es dir wichtig, dass ich dich mag?«

Inzwischen hatten wir das Klassenzimmer von Winter fast erreicht. »Nee, eigentlich nicht.«

»Ach nein?«

»Ich will ja keinen Ärger mit Harro bekommen.«

Bevor sie näher darauf eingehen konnte und als hätte Harro nur auf seinen Einsatz gewartet, kam er auch schon um die Ecke geschlendert. Zielstrebig ging er auf Winter zu und drückte ihr zur Begrüßung einen festen Kuss auf den Mund. Dann legte er einen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich heran, um, wie es schien, seinen Anspruch auf sie zu erheben. Ich konnte erkennen, dass er ihr mit seinem festen Griff wehtat. Doch sie wehrte sich nicht und rang sich ein Lächeln ab, das sie überglücklich zeigen sollte.

»Wer bist du?«, fragte er mit provokanter Stimme. Er mochte es wohl nicht, wenn sich seine Freundin mit anderen Jungs unterhielt.

»Inzwischen weiß das jeder.« Mit ziemlicher Sicherheit war ich schon bekannt gewesen wie ein bunter Hund, noch bevor ich zwei Schritte in dieses Geisterdorf gesetzt hatte. Klatsch und Tratsch erfuhr man hier doch an jeder Ecke.

»Du hast dich mir aber noch nicht vorgestellt.«

In diesem Augenblick stand schlagartig außer Zweifel: Da hatten sich zwei Hoheiten gesucht und gefunden! Und da Hoheiten besser unter sich blieben, erwiderte ich fix: »Müsste ich mich jedem einzelnen an dieser Schule persönlich mit Handschlag und allem Pipapo vorstellen, wäre ich frühstens Heiligabend damit fertig. Oder sollte ich wissen, dass du hier irgendeine wichtige Persönlichkeit bist?«

Auf einmal kam Niko um dieselbe Ecke gebogen wie zuvor Harro, der in Begriff war, in das Klassenzimmer nebenan zu gehen, jenes, in das auch ich musste. Als er an uns vorbeiging, lag Spannung in der Luft. Sie lag zwischen Harro und ihm. Das wurde mir in dieser Sekunde klar, als sich ihre Blicke trafen. Sie hätten vernichtender nicht sein können.

Winters Gesicht konnte ich ablesen, dass dieser Vorfall mein rettender Anker war und Harros Faust sich momentan nur deshalb nicht direkt in meiner Magengrube befand.

Bevor sich nun doch noch irgendein Unglück ereignen würde, schwärmten wir für die erste Unterrichtsstunde des Tages in unsere Klassenzimmer aus.

In der ersten großen Pause, in der Niko, Yun, Dominic, Steve und ich uns vor dem Schulgelände aufhielten, um unbemerkt eine Zigarette rauchen zu können, fragte ich Niko: »Was ist das Problem zwischen euch?« Ich machte keinen Hehl aus meiner Beobachtung.

»Was meinst du?«, stellte er sich begriffsstutzig.

»Mit dir und Harro stimmt was nicht. Erzähl schon!«

»Quatsch, du spinnst. Alles ist in bester Ordnung.« Lügen gehörte nicht zu seiner Paradedisziplin. Wieso tat er das? Wieso belog er ausgerechnet mich, denjenigen, dem er alles erzählen konnte? 

Mit ihren befangenen Blicken, die sie sich erst untereinander, dann Niko zuwarfen, machten die anderen Jungs es viel schlimmer und bekräftigten meinen Verdacht auch noch unbewusst. Mehr noch legten sie offen, dass etwas Gravierendes zwischen Harro und Niko vorgefallen sein musste.

»Oh komm schon, das ist doch albern. Warum kriegst du die Zähne nicht auseinander? Tut das Not?«

»Ich möchte darüber nicht sprechen. Ganz einfach.«

»Und wieso sagst du mir das nicht gleich? Als hätte ich das nicht respektiert!«

Niko schwieg kurz, murmelte dann kleinlaut: »Entschuldige, du hast recht.«

Daraufhin war die Stimmung gedrückt. Dominics klägliche Versuche, diese mit Humor wieder aufzulockern, scheiterten gnadenlos. »Ist das jetzt ein Grund, Trübsal zu blasen?«, war er gereizt. Ich konnte nicht wirklich ausmachen, ob sein Ärger sich auf die miese Stimmung bezog oder darauf, dass seine Witze eine Schlappe erlitten hatten.

Die Schulklingel läutete, was uns nötigte, wieder hineinzugehen. Doch Niko hielt mich kurz auf und ließ den anderen Jungs einen großen Vorsprung.

»Könntest du mir was versprechen?«, sprach er so leise, dass es nur für mich hörbar war.

»Alles!« Meine Tonlage ließ jedoch mehr auf Verwunderung als auf Bestimmtheit schließen.

»Auch wenn du es gerade nicht verstehst und das ein bisschen zu viel verlangt ist, aber könntest du Winter in Ruhe lassen?«

»Warum?« Damit hatte ich zuallerletzt gerechnet.

»Lass sie einfach in Ruhe.«

Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, mir würde seine Äußerung nicht zu denken geben. Trotzdem wollte ich mir Gewissheit verschaffen und fragte: »Ist das ein Befehl?« Denn wenn es ein Befehl gewesen wäre, müsste ich ihm zuliebe mein Versprechen erfüllen. Das war eine unserer goldenen Freundschaftsregeln.

Zu meinem Glück erwiderte er: »Nein, nur ein Rat.« Vielleicht hatte er meine Sympathie für sie in letzter Sekunde bemerkt und wollte sich mir nicht in den Weg stellen?

Oder: »Bist du irgendwie verliebt in Winter? Soll ich deswegen die Finger von ihr lassen?«

Er starrte mich voller Entsetzen an. Dann prustete er los. »Soll das ein Witz sein?« 

»Nein, dein merkwürdiges Verhalten spricht dafür.« War ihm das denn nicht bewusst?

»Deine Theorie hat nur einen Haken: ich bin mit Jule zusammen.«

»Und wovor schützt dich das? Ich meine, so wie sich Liebe entwickelt, kann sie auch wieder vergehen. Und vielleicht vergeht sie dir mit Jule gerade. Ihr seid gut vier Jahre ein Paar. Da würde es wohl niemanden sonderlich verwundern.« 

»Ach, denk doch, was du willst!«, kapitulierte er schon jetzt, nach so kurz gesprochenen Worten, und ließ mich eiskalt stehen.

Besagte Jule traf ich am nächsten Tag zufällig im Zentrum im Stadtcafé. Dass ich hier auf sie traf, war kein Zufall. Auch sie verbrachte ihre Freizeit gern und oft hier. Mal mit, mal ohne Niko. Heute war ein Ohne-Tag.

Ich musste mich zu ihr herunterbücken, um sie zur Begrüßung zu drücken, denn sie war ziemlich klein. Einsfünfundfünfzig, um genau zu sein. Ich mochte sie, sogar wirklich gern, aber lang hielt man es mit ihr nicht aus. Sie war sehr lebhaft. Und gesprächig. Ich meine, nicht gesprächig im Sinne von kommunikativ und gesellig. Sie war eine Quasselstrippe wie sie im Buche stand. Und dabei war ihre Stimme so piepsig wie die von Schlumpfine und hektisch wie ein Maschinengewehr.

»Heute so allein hier?«

Wir setzten uns an einem der fünf Tische vor dem Café, der uns durch einen Sonnenschirm vor der direkten Sonneneinstrahlung schützte. Im Sommer war es schier illusorisch, hier einen Platz zu ergattern. Aber zumindest heute war das Glück auf unserer Seite.

»Nicht ganz.« Sie griff in ihre Handtasche und nahm eine prallvolle Schachtel Zigaretten heraus. Während sie sich eine herausfingerte, bot sie mir eine an. Ich verneinte mit einem Kopfschütteln, denn ich wollte mir das Rauchen abgewöhnen. Fast eine Woche hielt ich schon durch.

»Nicht ganz?«, ging ich auf ihre Antwort ein.

»Nun, du bist doch jetzt da, Dummerchen.«

Rücksichtsvoll blies Jule den ersten Zug ihrer Zigarette in eine andere Richtung, doch der leichte Wind trug den Qualm wieder zurück zu mir. Ich störte mich nicht die Bohne daran. Mir war schon klar, dass Passivrauchen nicht gerade gesund war, aber ich mochte den Geruch von frischem Zigarettenqualm, wenn er sich mit der natürlichen Luft vereinigte.

»Willst du denn allein sein?«

»Wenn du beschließt, hierherzukommen, ist man doch nie allein, oder? Irgendjemanden, den man kennt, trifft man am Ende doch immer.«

»Da kann ich dir leider nicht widersprechen.« Ich grinste nur zaghaft, denn ich sah ihr an der Nasenspitze an, dass sie etwas bedrückte.

Den zweiten Zug ihrer Zigarette inhalierte sie so genusssüchtig, dass meine Lunge schon vom Zusehen bestialisch stach. »Isabell kommt später noch rum.«

Isabell war mir nicht bekannt. »Eine Freundin?«

»Jein. Eine Arbeitskollegin. Sie ist nicht so sehr Arbeitskollegin wie sie mir eine Freundin geworden ist. Aber wir unternehmen nicht sehr viel zusammen in unserer Freizeit, weil wir uns schon von früh bis spät in der Praxis sehen.«

Jule war ebenfalls achtzehn, aber sie besuchte längst nicht mehr die Schule. Sie hatte ihr Abitur geschmissen und machte entgegen aller Kritik eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten in einer Gynäkologie. Dafür braucht man kein Abitur, verflucht noch mal, hatte sie vor allem ihren Eltern die Stirn geboten. Aber du könntest wesentlich mehr sein, hatte ihr Vater dagegen argumentiert. Zum Beispiel die Gynäkologin, hm? Mehr! Im Leben geht es immer um mehr, nicht wahr? Ich will aber nicht mehr. Ich will Arzthelferin sein. Das und nichts anderes will ich sein. Nachdem er erkannt hatte, mit welch unermüdlicher Leidenschaft sie ihre Ausbildung durchzog, hatte sich der Vater bei ihr inständig dafür entschuldigt, dass er ihr jemals das Gefühl gegeben hatte, nicht genug zu sein und ließ sie seither tun, was nicht ihn, sondern sie glücklich machte.

»Sehr verständlich.«

Endlich kam die Bedienung an unseren Tisch und nahm unsere Bestellungen entgegen. Jule hatte keine Lust auf ein Heißgetränk und orderte eine eiskalte Zitronen-Limetten-Limonade. Ich entschied mich für einen Milchkaffee. Mein persönlicher Seelenwärmer, auch wenn draußen tropische Temperaturen herrschten und mir die Schweißperlen auf die Stirn trieben.

»Niko ist deinetwegen leicht angepisst«, ließ sie es ungefiltert heraus, sobald die Bedienung wieder fort war.

»Ach ja? Dabei hat er sich heute in der Schule mir gegenüber ganz normal gegeben.«

»Okay, das wusste ich nicht. Zuletzt habe ich ihn gestern Abend gesehen. Seine Laune war nicht zum Aushalten. Ich habe ihn gefragt, was los sei. Zuerst hat er ein riesengroßes Staatsgeheimnis daraus gemacht. Als ich ihn dann endlich dazu bringen konnte, sich auszusprechen, machte er wiederum eine riesengroße Staatsaktion daraus. Man könnte meinen, er steht zurzeit vor seinen Tagen.« Sie war sichtlich amüsiert. »Ich wollte ihm schon eines meiner Röckchen anbieten.«

Auch ich lachte, denn Niko wurde unwillkürlich Opfer meiner blühenden Fantasie. Zwar kam ich mir dabei schäbig vor, aber die Bilder von ihm im pinken Tutu drängten sich mir förmlich auf. Wie hätte ich da ernst bleiben können?

»Was hat er erzählt?«

»Grob umrissen? Dass du ihm angedichtet hast, er sei in Winter verschossen.«

»Das habe ich auch getan«, bekannte ich mich schuldig im Sinne der Anklage. »Sein Allgemeinverhalten zum Thema Winter Sommer hat mich lediglich irritiert. – Falsche Rücksicht kenne ich nicht, das weißt du.«

Sie nickte zustimmend, während sie sagte: »Ich kenne jedoch die Hintergründe, und ich weiß, dass Niko sich weigert, auch nur ein Sterbenswörtchen über die blöden Geschehnisse zu verlieren. Er glaubt, er könnte sie auf diese Weise hinter sich lassen.«

Was hatte ich verpasst? Offenbar hatte er einmal in einer prekären Lage gesteckt, die eine emotionale Wunde verursacht hatte, die einfach nicht heilen wollte und ihn zwang, sie mit sich zu führen wie eine Bulldogge, die sich in ihn festgebissen hatte und versuchte, ihn totzuschütteln. Wieso hatte er mir nie etwas davon erzählt?

Ich konnte mich vage an eine Phase erinnern – die lag nun anderthalb Jahre zurück –, in der er sich nur selten in Hamburg sehen lassen hatte und Anrufen oder Nachrichten ausgewichen war. Allerdings hatte ich ihm geglaubt, als er es mit familiärem Stress abgetan hatte. Tatsächlich hatten seine Eltern eine Scheidung in Betracht gezogen, sich letztendlich jedoch wieder berappelt gehabt.

»Tja, funktioniert ja astrein!«, scherzte ich mit einem Augenzwinkern.

»Nun, so gesehen funktioniert es schon. Er begegnet Winter zwar ignorant, und trotzdem so, als wäre nie etwas geschehen. Weißt du, was ich meine?« Ja, ich verstand, was sie meinte, denn ich hatte es ja selbst erlebt. Bis gestern Vormittag hatte ich nicht einmal den Hauch einer Ahnung, dass zwischen ihm und Winter etwas nicht stimmte. Ich hätte ihnen nicht mehr Verbindung als normal zugetraut. »Bis auf Harro. An ihm kann er kaum vorbeigehen, ohne bald zu explodieren. Das ist ziemlich anstrengend auf Dauer. Für alle Beteiligten. Wir können von Glück reden, dass sie nicht in dieselbe Klasse gehen. Das käme einer Katastrophe gleich, sag ich dir. Erstaunlicherweise ist Harro sehr bemüht, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Wahrscheinlich hat Winter ihn dazu angehalten. Ja, wahrscheinlich ist es sogar eine Bedingung. Denn Winter weiß genau um Nikos Wut. Aber es ist ja nicht an Niko, sich unter Kontrolle zu halten. Es ist ganz allein an Harro. Und wenn der feine Herr es sich nicht mit Winter verscherzen will, hat er sich wohl oder übel zu beweisen.«

Ich war dankbar für die Informationen, die Jule nun so frei und offen auf den Tisch legte, ja, auch wenn sie mehr Fragen aufwarfen als beantworteten.

Die Bedienung unterbrach uns, indem sie unsere bestellten Getränke an den Tisch brachte. Sie lächelte freundlich, als sie uns wieder verließ.

Und ich fuhr fort: »Aber liegt das Problem nicht schon eine halbe Ewigkeit zurück und ist somit verjährt?« Nur ungern stellte ich mich auf Harros Seite, aber was konnte schon so krass sein, dass man ihm auch noch anderthalb Jahre später einen Fehler nachtrug? Was war so krass, dass man sich auch noch nach anderthalb Jahren zusammennehmen musste, um ihm nicht an die Gurgel zu gehen?

»Das tut es. Aber solange sie sich der Schule wegen regelmäßig begegnen, wird das alles nie abkühlen. Alles fühlt sich so verdammt frisch an. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das mit Harro und Winter überhaupt Zukunft hat. Ich bin ja der Meinung, dass sie die Beziehung nur künstlich am Leben erhalten.«

Sieh mal einer an, von wegen beliebtes Paar. Offensichtlich spielten sie nur eine Show, eigentlich nicht einmal eine gute. Alles nur Schein. Litt hier denn jeder unter Schwarzen Star oder warum bekam niemand etwas von der seltsamen Allgemeinstimmung mit? 

»Wofür das denn?«, wollte ich nur zu gern wissen.

»Für die Eltern. Denn die sind mit dem jeweiligen Partner ihres Kindes vollauf zufrieden. Auch nur, weil sie von dem ganzen Drama nichts wissen. Das alles blieb unter den Betroffenen.«

»Wie geht das denn? Ich bin immer davon ausgegangen, Stoff wie dieser macht auf dem Dorf irre schnell die Runde?«