Eros Dewil - Aim Hornby - E-Book

Eros Dewil E-Book

Aim Hornby

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Beschreibung

Rüya übernimmt die ihr zugeteilten Rolle in einer ehrenhaften türkischen Familie. Zerrissen zwischen Tradition und Moderne versucht sie diese Aufgabe, wie ein Mann zu stemmen. Nastaran flüchtet aus den Konventionen und sucht neue sexuelle Erfahrungen. Janina beginnt nach dem Zusammenbruch der DDR ein neues Leben und verdrängt ihre ehemalige Tätigkeit als Mitarbeiterin der Hauptverwaltung Aufklärung. Und Victor? Victor ist als verdeckter Ermittler in Braunschweig unterwegs. Seit mehr als zwei Jahren ist er an ihm dran, dem Boss, dem Paten der Organisation, die Drogen und Waffen verbreiten. Er nennt ihn schlicht King. Die ersten Spuren, die er fand, führt durch den 'Eisernen Vorhang': für ihn als Beamter des Bundeskriminalamtes eine Sackgasse. Informationen des Bundesnachrichtendienstes weisen auf eine Person, mit der er bereits ein Gefecht führt, die ihm alles nahm. Die Mauer fällt, die DDR stirbt. Sein falsches 'ICH', die Vita, die er sich zulegte, übernimmt von Woche zu Woche, Monat zu Monat seinen Verstand. Er richtet sich ein, glaubt manchmal, beinahe bis zur Selbstaufgabe, der zu sein, den er mimt. Regelmäßig trifft er sich mit seinem Kontaktkollegen im Braunschweiger Lokal L'emigre . Eine Spur bringt ihn zurück zum Fall. Die Spur, die ihn mit seinem früheren Leben verbindet: einem damals mickrigen Nachtclubbesitzer. Lag er all die Jahre falsch und hat ihn der Hass geleitet? Kann Victor es wagen, seine Maske fallenzulassen? Die Vier verbindet mehr als Freundschaft, das L'emigre und das Restaurant 'Da Giovanni': ein Mann, Fabian Zeise.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Rüya übernimmt die ihr zugeteilte Rolle in einer ehrenhaften türkischen Familie. Zerrissen zwischen Tradition und Moderne versucht sie diese Aufgabe wie ein Mann zu stemmen.

Nastaran flüchtet aus den Konventionen und sucht neue sexuelle Erfahrungen.

Janina beginnt nach dem Zusammenbruch der DDR ein neues Leben und verdrängt ihre ehemalige Tätigkeit als Mitarbeiterin der Hauptverwaltung Aufklärung.

Und Victor?

Victor ist als verdeckter Ermittler in Braunschweig unterwegs. Seit mehr als zwei Jahre ist er an ihm dran, dem Boss, dem Paten der Organisation, die Drogen und Waffen verbreiten. Er nennt ihn schlicht King. Die ersten Spuren, die er fand, zeigten durch den ‚Eisernen Vorhang‘: für ihn als Beamten des Bundeskriminalamtes eine Sackgasse. Informationen des Bundesnachrichtendienstes weisen auf eine Person, mit der er persönlich ein Gefecht führt, die ihm alles nahm. Die Mauer fällt, die DDR stirbt. Sein falsches ‚Ich‘, die Vita, die er sich zulegte, übernimmt von Woche zu Woche, Monat zu Monat seinen Verstand. Er richtet sich ein, glaubt manchmal, beinahe bis zur Selbstaufgabe, der zu sein, den er vorgibt zu mimen. Regelmäßig trifft er sich mit seinem Kontaktkollegen im Braunschweiger Lokal L’emigre.

Eine neue Spur bringt ihn zurück zum Fall. Eine Spur, die ihn mit seinem früheren Leben verbindet: einen damals scheinbar mickrigen Nachtclubbesitzer. Lag er all die Jahre falsch und hat ihn der Hass geleitet? Kann Victor es wagen, seine Maske fallenzulassen?

Die Vier verbindet mehr als Freundschaft, das L’emigre und das Restaurant ‚Da Giovanni‘: ein Mann, Fabian Zeise.

Trotzdem blieb er der Außenseiter. Dabei besuchte er ein humanistisches Gymnasium. Erfahrungen mit Fricks hatte diese Lehranstalt, pries sie sogar. Da war unter anderem sein Mitschüler Wilhelm Raabe. Einverstanden, der besuchte viele Dekaden zuvor diese Anstalt, dennoch konnte Junus sich mit dem Stopfkuchen aus der gleichnamigen Erzählung anfreunden. Da waren auch Elster und Geitel, zwei Lehrkörper, die ein paar Jahre nach Raabe auf der anderen Seite des Pults standen. Ihre Arbeiten zum lichtelektrischen Effekt, der Entwicklung des Zerfallsgesetzes der Radioaktivität sowie die Erfindung der Fotozelle, waren gewiss bahnbrechend, dennoch blieben sie Außenseiter. Außenseiter wie Schüler, die in der Türkei geboren, diese Sprache ihre Muttersprache nannten und sich mehrmals am Tage gen Mekka verneigten.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären ein zufällig.

Bei der Nennung von Handelsnamen handelt es sich nicht um Werbung für diese Produkte, sondern ist rein des Zeitgeistes und der Region geschuldet.

Inhalt

Cover

Parfüm

Zufall

Zerrissen

Veruntreut

Käse-Sahne

Abendmahl

Verführt

Amore-Platte

Bedroht

Muslima

Aktfotos

Daneben

Hausputz

Silvesterball

Schischa

Schwiegervater

Hauptversammlung

Aufklärung

Klatsche

Celle

Kniefall

Goldbrand

Kännchen

Konspiration

Gedemütigt

Partnertausch

Entlassen

Retour

Pide-Hack

Abflug

Nagerschaden

Überfall

InSalata

Zahnarzt

Clique

Flussfahrt

Liquidation

Neuanfang

Angelegt

Berlin-Mitte

Kassiber

Gebrochen

Fluchtversuch

Verschwörung

Mustafa

Paris-Moskau

Wiedergeburt

Sprung

Transit

Zurück

Spezialität

Getrennt

Freiheit

Tel-Aviv

Löwenbastion

Kuddelmuddel

Letztmalig

Lügnerin

Schwiegertochter

Verloren

Vorbei

Der King flieht

Eros Dewil

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ParfüM

Der King flieht

Eros Dewil

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Parfüm

Sein Name war nicht Junus, jedoch hatte er sich in den letzten Jahren derart an diesen gewöhnt, dass er sogar als jener träumte.

Er war vor Stunden auf dem Frankfurter Flughafen gelandet, raste anschließend im modernen Intercity-Express auf der neuen Schnellbahntrasse.

Es war für ihn das erste Mal, sonst flog er. Was für ein Erlebnis. Immerhin hatte er als studentische Hilfskraft, wie es geschrieben stand, bei der Entwicklung der Bahntechnik einen Anteil gehabt.

Auf dem Hannoveraner Hauptbahnhof kaufte er für Nastaran einen riesigen Strauß rote Rosen und für den Abend zu zweit exzellenten Roten, ehe er den D-Zug nach Braunschweig bestieg. Er freute sich, sie einen Tag eher zu sehen. Gemächlich reiste er weiter. Wie stets, wenn er von einer Dienstreise kam, wartete er auf dem Bahnhofsvorplatz auf den Linienbus, um heim nach Cremlingen zu fahren.

Ach, wie schön war es, nach eineinhalb Monaten wieder daheim zu sein, neben Nastaran zu sitzen und mit ihr zu kuscheln, dachte er. Abgesehen von dem nasskalten Novemberwetter und – er schaute hinauf – der früh einsetzenden Finsternis.

Er schloss die Haustür auf, rief nach ihr, sah das Licht im Obergeschoss und hörte die Dusche plätschern. Die Schuhe ausgezogen, schlich er ins Bad und sah, wie sie sich wusch.

Sie schrie, als er die Kabine aufriss. Flugs hielt er ihr den Strauß hin und fing sich eine Backpfeife ein. Im nächsten Moment schlang sie ihre Arme um ihn, zerrte ihn unter den Strahl, zog ihn aus.

Nachdem er sich etwas Luftiges übergeworfen hatte, ging er hinunter in die Küche. Er schenkte den Roten ein und warf ihrem Abbild einen Kuss zu, das im Akt an der Küchenwand oberhalb des Tisches verewigt war. Kein in Gänze freizügiger Akt, wenngleich sie nackt war. Sie lag bäuchlings, die Beine angewinkelt auf einem Flokati und lächelte den Betrachter an. Die gewagteren Fotos hingen dort, wo sie hingehörten: im Schlafzimmer. Er liebte sie, bewunderte sie, schmachte sie an. Ein Arbeitskollege von ihr hatte die Bilder geschossen und ihr zum 25. geschenkt. Das Einzige, was ihm an dem Kunstwerk in der Küche, das die Dimension eines Schulmalblocks hatte, störte, war, dass Nastaran eins von den postkartengroßen Hochzeitsfotos mit unter das Glas des Bilderrahmens geschoben hatte. Was sie an dem Foto fand, ahnte er. Er mochte es nicht sehen, denn das Herz schmerzte ihm dabei. Er vergötterte sie.

Die Weingläser gefasst, ging er zurück ins Bad. Er erblickte Nastaran weiterhin beim Frottieren. Während sie sich dem Badezimmerspiegel zuwandte, betrachtete er die Rosen, die vor der Dusche lagen. „Die armen Blumen.“

Sie wandte sich um, derweil er ihr ein Glas reichte. „Die werden wieder“, gab sie lapidar zu verstehen, übernahm das Glas und trank einen Schluck. „Hauptsache, es hat dir Spaß gemacht.“

Er küsste ihren Hals, schnappte ihre Bürste, einen Kamm, flüsterte „Wenn du beim nächsten Mal auf die Backpfeife verzichtest“, während er ihre Haare aus der Bürste kämmte.

„Engel, hast du mich irgendwann schon einmal betrogen?“

Es schockte ihn. Dann sah er ihr ins Gesicht und erkannte ein Schmunzeln, ein schelmisches Schmunzeln und ahnte, dass sie etwas vermutete, allerdings nichts Genaues wusste. Er lehnte sich zur Seite, warf die Haare in die Klosettschüssel, spülte. „Nastaran, wie kommst du darauf?“

„Die Dienstreisen in fremde Länder wie Thailand oder

Kolumbien wer weiß, wie dir die exotischen Frauen gefallen.“

„Gar nicht.“

„Wie, gar nicht?“

Er küsste sie abermals. „Es gibt für mich nur eine exotische Frau. Dich.“

„Danke. Sollte es geschehen, würde ich es dir verzeihen.“ Sie wandte sich erneut dem Spiegel zu und murmelte für ihn kaum verständlich: „Ich liebe dich.“

„Nastaran, es wird nie vorfallen. Aber wieso …“ Er stockte, dachte reflexartig an den Freund aus ihrem früheren Leben, wie sie sagte, von dem sie ihm schemenhaft erzählt hatte, verknüpfte, begriff, flüsterte: „Du Luder“, dann mit erhobener Stimme: „Wann?“

„Vor gut vier Wochen. Wir trafen uns, dieses wortwörtlich beim Einkaufen. Ich fuhr beim Einparken mit deinem Wagen in seinen.“

„Nastaran, dir ist nichts passiert? Du bist gesund?“

„Nein.“

Er atmete erleichtert aus.

„Du fragst nicht nach deinem Wagen?“

Just begriff er es in Gänze, was sie ihm gestand, sodass er erstarrte, sich scheinbar aus seinem Körper verabschiedete und nach seiner Annahme, fremdgesteuert, Blödsinn sabbelte. „Unwichtig! Hauptsache … entschuldige bitte, ich wollte dich nicht unterbrechen.“

„Ich muss mich bei dir entschuldigen, immerhin ist es mir passiert. Ganz durch den Wind war ich. Er war die Ruhe in Person, sagte mir, ich solle erst einmal meinen Wagen abstellen. Dann lud er mich zu einem Kaffee ein, um die Formalitäten zu klären: Versicherung und so. Er sprach nicht viel, sah mich fortwährend an. Danach ging ich einkaufen. Als ich zurück auf den Parkplatz kam, stand sein Wagen weiterhin neben deinem. Ich lud ein. Dann wollte ich starten, aber nichts. Ich weiß nicht, aber ich vermute, ich hatte vergessen, das Licht auszuschalten. Entschuldige! Du könntest dir wirklich einmal einen neuen leisten. Zu meinem Glück kam Fabian. Ach, habe ich dir gar nicht gesagt: Fabian heißt er, schöner Name. Nicht?“

Was beabsichtigte sie mit dieser Betonung. Er kannte keinen Fabian. Oder wollte sie ihn auf eine andere Fährte locken?

„Jedenfalls brachte er mich und den Einkauf heim und ich lud ihn nun zu einem Kaffee ein. Er trug die Taschen ins Haus, stellte sie in der Küche ab, während ich die Kaffeemaschine anstellte. Dann umarmte ich ihn, küsste ihn und sagte ‚Danke Engel‘. Wie ich es dir immer sage, wenn … den Rest brauche ich dir bestimmt nicht zu erzählen. Wir kennen uns zu gut.“

Er umfasste ihre Taille, küsste sie und versuchte, durch den Kuss die Wut, die er ihr gegenüber spürte, zu dämpfen. Diese in eine Bahn zu lenken, damit jene – zwar übertrieben – kein Blutbad zur Folge hatte. „Danke, dass du es mir gesagt hast. Ein Ausrutscher. Der Stress. Alles gut. Ich liebe dich und werde dich stets lieben. Aber weshalb soll ich mir ein neues Auto zulegen, du hast mir den Käfer geschenkt.“

Er tat es gewiss profan ab. Dabei grummelte es weiterhin in ihm, stieg in ihm auf. Nein, durchatmen. Sie war ehrlich und dieses für ihn entscheidend. Er küsste sie erneut, lächelte sie an.

„Engel, er war gebraucht. Irgendwann ist eben der Lack ab. Eigentlich wollte ich heute ein letztes Mal …“

„Letztes Mal?“

Sie zog ihre Schultern herauf. „Entschuldige bitte, aber unterbrich mich nicht. Es fällt mir schwer genug, dir alles zu beichten und mehrmals einen Anlauf …“

„Ich verzeihe dir alles.“

„Ich wollte heute ein letztes Mal mit ihm ausgehen, um Schluss zu machen. Jetzt werde ich ihn anrufen und es am Telefon klären. Wenn du nichts dagegen hast?“

„Das habe ich. Seit wann bist du derart kaltherzig?“

„Wie meinst du das?“

Er erfasste ihre Rechte, flüsterte: „Hast du ihm die Wahrheit gesagt?“, und strich über den Ringfinger.

„Meine Schuld. Du weißt, dass wir im Labor keinen Schmuck tragen dürfen und …“

„Ich mache dir keine Vorwürfe. Also?“ Dabei war ihm bewusst, zwischen seinen Worten und seinen Gefühlen bestand eine Diskrepanz, die – wenn er nicht aufpasste – ihn zerriss.

„Ich weiß nicht. Ich war dumm, durcheinander, habe ihm gesagt, wir seien Geschwister.“

„Wie Geschwister! Bitte, das ist lächerlich. Du hast wunderschöne lange pechschwarze Haare, einen entzückenden südländischen Teint und ich bin bleich, blond.“

„Jetzt ist es vorbei. Ich werde ihm alles gestehen.“

„Nastaran, weshalb?“

„Weshalb? Das fragst du?“

„Kannst du die Vergangenheit ändern?“

Vergangenheit? Er hatte keine. Alles, was er erlebte, ehe er Nastaran das erste Mal in die Augen geschaut hatte, weggesperrt, vernichtet. Denn es war kein Leben, sondern Siechtum gewesen.

„Kannst du die Vergangenheit ändern?“, hörte er sich erneut fragen.

„Nein.“

„Würdest du es tun, wenn du es könntest?“

„Ja!“

„Nastaran, bist du immer offen zu mir?“

„Ja!“

„Willst du, dass es Fabian gut geht?“

„Ja!“

„Wolltest du heute mit ihm schlafen?“

„Ja, Engel!“ Sie verdeckte den Mund. „Ups.“

Er küsste sie. „Danach … wer es glaubt. Mach’ dich für ihn fertig.“

„Nein! Ich liebe dich. Ich kann doch …“

War sie wirklich der Ansicht, er wäre derart naiv? Ging sie davon aus, sie könne sich erst mit diesem Fabian vereinen, mit dem Körper ihre Zuneigung zeigen, dann ihm an den Kopf werfen, es sei alles aus? Nein! Er kannte sie zu gut, um dieses anzunehmen, derart war sie nicht gestrickt.

„Du kannst – nein – du willst. Wenn ich nicht einen Tag früher heimgekommen wäre, hättest du dich mit ihm getroffen, vielleicht ihm gesagt, es sei vorbei. Aber ich …“ Er sah, wie sie zu sprechen ansetzte. „Bitte unterbrich mich nicht, aber ich bin dir dazwischengekommen. Anstatt ihn anzurufen, wie du es mir vor Sekunden anbotest, ohne es mir zu beichten, es für dich zu behalten, hast du es mir erzählt. Warum? Weil du in der Zwickmühle bist. Jetzt weiß ich es und ich muss damit umzugehen lernen. Nastaran, seit wann gehörst du zu dieser Art Mensch? Gestehe es dir ein. Wenn du ihm nachher gegenübersitzt, ihm in die Augen schaust, wirst du ihm gewiss sagen, dass du ihn liebst, aber nie: Es ist aus. Bevor du einem Menschen dieses an den Kopf wirfst, muss mehr geschehen als meine Heimkehr. Denn ich war bereits zuvor in deinem Leben. Daher hat sich keine der Bedingungen geändert.“ Er pausierte, dachte, irgendwann würde es ohnehin passieren. Die Frage für ihn war folglich wann, nicht ob. Unschlüssig wandte er sich dem Waschbecken zu, stützte sich auf diesem ab und entdeckte eine zweite Zahnbürste. Eine neue, die neben der ihren im Glas steckte. Er schob ihr französisches Lieblingsparfüm beiseite, das er ihr von seiner ersten Reise mitgebracht hatte. „Worin liegt der Unterschied, ob du gestern mit ihm geschlafen hast oder heute, nächste Woche, nächsten Monat mit ihm schläfst, mit ihm heute, nächste Woche, nächsten Monat Schluss machst? Zeit. Der Fakt als solcher bleibt. Mein Schmerz bleibt. Trenne dich mit Anstand von ihm, aus Überzeugung, und nicht, um mir zu gefallen. Sei ehrlich, wenn du dich derart für ihn eingesetzt, indem du es mir gebeichtet hast, wirst du es schließlich übers Herz bringen, ihm zu sagen, es ist vorbei?“ Er berührte ihre Lippen. „Ich erwarte keine Antwort, mach’ dich für ihn fertig. Bezaubere ihn, verführe ihn, wie du mich verführen würdest, wenn …“

Er konnte nicht weiter, erkannte den Irrwitz seines Gedankens. Es musste ihm gelingen, die Eifersucht im Zaum zu halten. Denn gleich, was er ihr gesagt hätte, war der Verstand, nicht das Herz es gewesen, dem er folgen musste. Wie oft hatte er sich Gedanken darüber gemacht, was passieren würde, wenn dieser Fall eintrete? Gewiss, es war hypothetisch. Wie viele Paare kannte er, die nicht mehr zusammen waren? Bei denen sich die Liebe zu Hass entwickelte. Blödsinn! Er war nicht naiv. Egal, wie er sie liebte, sie ihn liebte, ihre Trennung war zwar nicht unumgänglich, aber unausweichlich. Stand ihr Schicksal bereits fest, als er Maja, die er vor Nastaran vergöttert hatte, gestand und ihr sagte, es wäre aus? Ihr schien es gleichgültig. Sie stellte seinen Koffer vor die Tür und sagte: „Tschüss“. Nie wieder wollte er das erleben. Gab es in solch einer Situation den ‚Goldenen Weg‘? Er wusste, egal, wie er reagiert hätte, es wäre nicht angemessen gewesen. Genauso wenig korrekt, wie sie zu ermutigen.

Nachdem Maja ihn hinausgeworfen hatte, zog er zu seinem Freund Mustafa. Der studierte zwar in Hamburg, hatte jedoch noch seine Bude in Braunschweig. Mustafa! Der einzige Mann in seinem Leben, der ihn verstand, der an seiner Seite stand. In der Elften kam er an seine Penne und sie sich näher. Während die anderen im Religionsunterricht schmorten, gingen sie in die Fußgängerzone zum Italiener.

Es gab zwei Eisdielen in Wolfenbüttel: eine für die Feinen und eine andere für die Coolen. Dort gab es einen Cappuccino, so richtig echt mit Milchschaum und nicht mit Sahne wie bei dem ersten. Dann hätten sie gleich in eins der Cafés gehen können, in dem die Rentner abstiegen. Gewiss, es existierte eine dritte Eisdiele. Bei der gab es wahrlich das leckerste Eis, aber für eine Freistunde zu weit entfernt. Sie hätten bis zum Kino laufen müssen. Dort kehrte man entweder nach dem Kino ein oder wenn man im Sommer vom Stadtbad kam. Dieses war bei ihm selten. Seine Schulkameraden nötigten ihn eher, obwohl er meist eine Sonnenallergie vortäuschte. Dann war er mal wieder die Diva. Allerdings hatte immer irgendeines der Mädchen ihre Tage, freute sich daher, nicht allein zu sein, während die anderen schwammen.

Trotzdem blieb er der Außenseiter. Dabei besuchte er ein humanistisches Gymnasium. Erfahrungen mit Fricks hatte diese Lehranstalt, pries sie sogar. Da war unter anderem sein Mitschüler Wilhelm Raabe. Einverstanden, der besuchte viele Dekaden zuvor diese Anstalt, dennoch konnte Junus sich mit dem Stopfkuchen aus dessen gleichnamige Erzählung anfreunden. Da waren auch Elster und Geitel, zwei Lehrkörper, die ein paar Jahre nach Raabe auf der anderen Seite des Pults standen. Ihre Arbeiten zum lichtelektrischen Effekt, der Entwicklung des Zerfallsgesetzes der Radioaktivität sowie die Erfindung der Fotozelle, waren gewiss bahnbrechend, dennoch blieben sie Außenseiter. Außenseiter wie Mitschüler, die in der Türkei geboren, diese Sprache ihre Muttersprache nannten und sich mehrmals am Tage gen Mekka verneigten.

Beim Italiener sprachen, philosophierte er mit Mustafa über Gott und die Welt – dieses wortwörtlich. Sie rezitierten Suren aus dem Koran, besprachen diese, legten sie in ihre, in die moderne Lebenswelt. Hätte er damals geahnt oder gar gewusst, dass Mustafa so eine Art Cousin von Nastaran war, dann …

Zuhause war er oft bei Mustafa gewesen. Er gehörte fast zur Familie, aber welche Beziehung Mustafa zu Nastaran hatte, blieb ihm verborgen. Nicht ein einziges Mal fiel ihr Name.

Zufall

„Engel, das Mitternachtsblaue oder Weinrote?“, hörte Junus Nastaran rufen.

Er legte die Tageszeitung beiseite, stand vom Sofa auf, rief „Was meinst du?“ und ging hinauf ins Schlafzimmer. Sie stand in Dessous vor dem Kleiderschrank, kramte, während er näherkam. Sinnlich strich er ihr über den Rücken, zupfte an ihrem Slip. „Neu? Steht dir!“

Sie wandte sich zu ihm um, zerrte an den Strapsen. „Habe ich heute nach der Arbeit gekauft. Meinst du das ernst oder machst du dich lustig? Meins ist es nicht.“

„Wenn es Fabian gefällt, ist es in Ordnung.“

„Hab‘ mich bequatschen lassen.“

Er grinste. „Von Fabian?“

„Blödel! Dann ist es wohl keine Überraschung. Außerdem hätte ich es nie gekauft. Du weißt, ich hasse es, wenn mir ein Mann sagt, was ich anzuziehen habe. Falls ich frage, verlange ich natürlich …“

„Die Antwort, die du hören willst. Dann ziehe etwas Anderes an. Ich steh’ nicht auf so ein Zeug.“

„Dein Problem“, zischte sie, drehte sich. „Jetzt gefällt es mir. Gewöhne dich an meinen neuen Look“, gab sie preis und hob ihre Brüste. „Es wird Zeit, dass ich wieder zeige, was ich habe.“ Sie gab ihm eine Kopfnuss, presste ihm einen innigen Kuss auf die Lippen. „Dummerchen, ich liebe dich. Entschuldige, aber Maja hat mich quasi überzeugt.“

Fürwahr, er war damals froh darüber gewesen, dass Maja und Nastaran ihre Freundschaft weiterführten, nachdem er sich für Nastaran entschieden hatte. Immerhin waren sie Kolleginnen, aber dass Maja ihre beste Freundin wurde, ein Tacken zu viel. Mit ihr shoppte sie, ging mit ihr essen, ins Kino oder ins Theater, all das, was beste Freundinnen, so richtige dicke Busenfreundinnen unternahmen – soweit er dieses einschätzen konnte. Denn ihm fehlte die Erfahrung. Die Luft knisterte, wenn Maja und er sich trafen. Daher ging er ihr generell aus dem Weg und hielt sich von ihrer gemeinsamen Clique fern. Er hatte seine eigenen Freunde. Nastarans Schwester, Shirin, deren Eltern, Mustafa und natürlich Hediye. Die kannten ihn, nahmen ihn, wie er war, und stellten keine Fragen.

Die kurze Stille, die eintrat, schien für Nastaran eine Frage zu sein.

„Engel, Maja ist meine beste Freundin. Natürlich weiß sie von Fabian. Ich fuhr gleich danach zu ihr, brauchte ihren Rat.“

„Rat?“

„Nein. Nicht, wie du denkst. Warum sprichst du dich nicht endlich einmal mit ihr aus? Sie hat mir abgeraten.“

„Abgeraten?“

„Weshalb wiederholst du alles? Nachdem Fabian und ich …“

„Es euch im Bett gemütlich gemacht habt.“

„Wieso Bett? Wir haben es in der Küche getrieben. Wenn du es genau willst, auf dem Küchentisch. Na ja, ich saß auf dem Küchentisch, er stand vor mir. Aber derart haarklein möchtest du es bestimmt nicht wissen. Nachdem Fabian und ich eingesehen hatten, dass wir es überzogen, lud er mich zum Abendessen ein. Er meinte, wir sollten es gelassen angehen und ich sollte ihn anrufen, wenn ich die Einladung annehme.“

Langsam wurde es ihm zu bunt. Sie war nicht einfach hineingeschlittert, sondern mit voller Absicht die Liaison eingegangen.

„Ich habe ihn nicht angerufen. Das musst du mir glauben. Es war purer Zufall. Er hatte mir nicht einmal gesagt, wohin er mich einladen wollte. Maja, Detlef und ich sind am Abend zu Giovanni. Ich konnte nicht ahnen, dass Fabian in der Nähe von Giovanni wohnt und es gleichfalls sein Lieblingsitaliener ist. Du weißt, Augenkontakt und so. Detlef hat ihn an unseren Tisch gebeten. Ein, zwei Glas Wein. Nicht, dass du glaubst, ich gebe dem Alkohol die Schuld. Maja und Detlef gingen, wir blieben. Wir unterhielten uns“, sie senkte den Kopf, schmunzelte, „küssten uns. Ich ging mit ihm.“

Nastaran schüttelte sich, griff in den Kleiderschrank. „Also Mitternachtsblaues oder Weinrotes, was empfiehlst du mir? Welches würdest du wählen?“

Er griff ebenfalls hinein, zog das kleine Schwarze heraus und hielt es sich vor. „Ich würde das anziehen.“

„Engel, nicht fürs Theater!“

„Dass ihr ins Theater wollt, hast du mir nicht gesagt.“

„Zuerst gehen wir vier eine Kleinigkeit essen und dann …“

„Ihr vier?“

„Ja, Maja, Detlef, Fabian und ich. Stell‘ dich nicht so an. Maja und Detlef wissen es und Detlef versteht sich echt gut mit Fabian. Na ja, obwohl, darf ich dir ja nicht sagen, die Maja findet den Fabian auch scharf. Sie hat mir gesteckt, wenn ich nicht ihre beste Freundin wäre, hätte sie mir ihn längst abgeluxt. Treu ist sie, muss man ihr lassen.“ Sie strich über seinen Oberkörper. „Von dir hält sie echt viel. Sie hätte nie von dir gedacht, dass du derart tolerant bist. Oh, habe ich total vergessen. Ich habe Maja gesagt, du hättest nichts dagegen einzuwenden, dass ich mit Fabian liiert bin. Sie war zwar verwundert, trotzdem nahm sie es mir ab. Ja, ich gebe es zu, deshalb habe ich es dir erzählt. Wie ständen wir beide sonst vor Maja und Detlef da? Hätte ich ihr die Wahrheit gesagt, wärst du vor ihr der intolerante Arsch. Hättest du es von ihr oder Detlef erfahren, obwohl ich es längst beendet hätte … noch Fragen? Also Mitternachtsblaues oder Weinrotes?“

„Das Weinrote“, stammelte er.

„Ich weiß nicht, beißt sich das nicht?“

„Womit?“

„Beigen Stiefeln.“

Er hing das Minikleid über die Schulter, nahm das weinrote Kleid heraus. Den Kopf gesenkt, presste er es an seine Taille. „Du willst die Beigen zu einem derart sexy Kleid anziehen.“

„Glaubst du, ich will mir kalte Füße holen?“

Er hing die Kleider zurück, tippte sich an die Nase, schaute sich um und zielte gen Schlafzimmertür. „Wenn Stiefel, dann Shirins schwarze, die passen zu Weinrot.“

Shirin war Nastarans Schwester. Sie studierte in Hannover Zahnmedizin. Ihr Vater wollte, dass sie später seine Praxis in Celle übernehmen sollte.

„Nee, auf Highheels kann ich heut‘ nicht.“

„Willst du ihn nun verführen?“, hakte er nach, während er sich wieder ihr zuwandte.

„Du mit diesem Verführen. Warum sollte ich Fabian verführen?“ Sie griff sich an den Schritt. „Glaubst du, wir kuscheln bloß?“

Erst in diesem Augenblick wurde es ihm bildhaft gewahr, was die beiden im Bett trieben. Er überlegte, wie er aus der Nummer herauskam. „Natürlich geht es bei euch nicht mehr darum, ob du ihn verführst. Ich bin fest davon überzeugt, er schafft es ohne Vorspiel.“ Er räusperte sich, ahnte, er redete sich immer mehr um Kopf und Kragen.

„Nicht das Vorspiel, ehe er … , sondern das, bevor es überhaupt losgeht.“

„Mich nimmt, nagelt, vögelt. Manchmal bist du echt verklemmt.“

Dabei wegsehend, winkte er ab. „Du verstehst mich falsch. Ich meine, für einen Mann kann es erotisch sein, wenn andere Männer die eigene Frau sexy finden. Und aus seiner Sicht bist du seine Frau. Nach dem Motto: Schaut her, was für ein Hengst ich bin, dass so eine geile Frau an meiner Seite steht und so.“

Sie gluckste. „Was du alles weißt? Keine Angst, ich habe dir gesagt, ich trenne mich heute von ihm. Warum sollte ich ihm dann einen Gefallen bereiten, obwohl ich davon ausgehe, dass Fabian nicht darauf steht?“

„Und ich habe dir gesagt, ich möchte das nicht.“

„Was?“

Er war auf einmal hin- und hergerissen. War es der Zeitpunkt, die Notbremse zu ziehen, hinzunehmen, von ihr bis ans Ende aller Tage Vorhaltungen zu bekommen oder ihr die Freiheit zu geben? Mit dem Risiko, er könnte sie zeitweise verlieren? „Dass du dich von ihm trennst.“

„Ich entscheide auch künftig, mit wem ich zusammen bin, wann ich mich von jemandem trenne“, harschte sie ihn an und zeigte ihm einen Vogel.

„Vorhin hast du dich für ihn entschieden. Wenn die Lösung nicht aus deinen Herzen kommt, dann wird Fabian immer wie ein Damoklesschwert über uns schweben.“

„Aber ich will mich nicht für einen entscheiden.“ Sie schniefte. „Ich liebe dich, …“

Langsam hielt er es nicht mehr aus. Ihr Um-den-heißen--Brei-Reden ging ihm auf den Wecker. „Sage schlicht, du willst heute mit ihm in die Kiste und gut“, schrie er außer sich.

Den Kopf erhoben, schmunzelte sie. „Kann sein, möglich. Trotzdem kann ich nicht …“

Er umarmte sie und ahnte, an wen sie dachte. „Du musst nicht wählen, das hast du bereits.“

Irgendwie kam ihm das alles langsam spanisch vor. Zögernd sah er an die Wohnzimmerdecke. Wenn er die Zeitspanne von seiner Ankunft bis zu diesem Augenblick betrachtete, kam es ihm vor, als hätte sie nie vorgehabt, sich von diesem Fabian zu trennen. Eher ihm eine freundschaftliche Trennung anzubieten. Eins wusste er, sie liebte ihn, sonst hätte sie es ihm direkt an den Kopf geworfen, hätte ihre Koffer gepackt und wäre zu Fabian. Zumindest schwankte sie und für ihn daher das kleinere Übel, ihr einen Geliebten zu gönnen. Bis der Alltag die beiden einfing und sie Fabian den Laufpass gab.

Erneut legte er die Zeitung ab, jedoch nicht, weil sie ihn rief, sondern weil es schellte.

„Engel, bleib’ sitzen, das wird Fabian sein“, rief sie, ehe sie an der Wohnzimmertür erschien. Sie tippte an ihre Reisetasche und warf ihm einen Luftkuss zu. „Bis morgen Nachmittag.“

Die Bitternis, die er zeitweise spürte, schlug in Gleichmut um. Daher ergriff er erneut die Zeitung und rief ihr „Viel Spaß und grüße Maja und Detlef von mir“ teilnahmslos hinterher, sodass er erschrak.

Er hörte sie „Mach’ ich gern’“ rufen, dann die Tür, anschließend Stille. Er zog die Augenbrauen zusammen, wollte just „Fremdgehen, aber nicht die Tür zuziehen können“ fluchen, als er „später“ vernahm und ahnte, was derweil an der Haustür abgegangen war. Die Tür schlug ins Schloss und er war allein.

Zerrissen

Junus drückte monoton, einem Roboter gleich, die Starttaste des Fotokopierers und bewunderte, als wäre es Hexenwerk, wie das Abbild seiner Rechten, gebannt auf Papier, den Automaten verließ.

Den ganzen Tag schleppte er sich eher durch die Arbeit, als etwas Vernünftiges hinzubekommen. Er hatte fast die ganze Nacht kein Auge geschlossen. Ununterbrochen dachte er an Nastaran, diesen Fabian, und was sie trieben. Ein Martyrium hatte er durchlebt, dass er versucht hatte, mit dem Kopfkissen zu besiegen, als wäre er süchtig und auf Entzug. Sie mit jemanden Anderen zu teilen, in der Theorie denkbar, in der Philosophie ergründbar, aber in der Praxis Folter. Wie sehr wünschte er, dass sie es ihm nie gesagt, er ihr nie die Freiheit gegeben hätte. Sicher, sie hätten sich irgendwann gestritten, sie ihm seine Eifersucht aufs Butterbrot geschmiert, ihm vorgehalten, wie absurd diese war, weil sie ihn liebte. Möglicherweise hätte es eines schönen Tages ihre Liebe zerrissen, allerdings zerriss es zurzeit ihn. Jedoch, dieses machte ihm Hoffnung, gingen – soweit er es wusste – viele geheilt aus dem Entzug.

Nach der Mittagspause gelang es ihm kaum, die Augen aufzuhalten. Deshalb entschied er, eher in den Feierabend zu gehen.

Allerdings fuhr er nicht direkt heim, sondern besuchte seine ältere, jüngere Schwester, Hediye. Älter, da sie zwei Jahre vor ihm auf die Welt gekommen war und jünger, weil sie geistig zwischen Kind und Pubertät feststeckte. Hediye war nicht seine einzige Schwester. Er hatte eine sieben Jahre ältere und eine drei Jahre jüngere. Für ihn zählte nur Hediye. Sie war der Mensch, den er inniger liebte als sonst wen. Alles würde er für sie unternehmen, sogar jemanden töten und ins Gefängnis gehen. Ihr Lächeln, ihre Liebe war ihm Dank genug.

Wie so oft spielten sie mit ihren Puppen, wie sie es als Kinder taten, oder auf der Straße Gummitwist. Bei Hediye stand die Zeit still. Nach gut einer Stunde verließ er ihre Wohngruppe in Neu-Erkerode.

Daheim lächelte ihn Nastaran an. Sie saß, gekleidet in ihren Hausanzug, die Beine auf der Sitzfläche des Sofas, und zappte durchs Fernsehprogramm. Er sah ihr sofort an, dass auch sie nicht viel geschlafen hatte, hielt dennoch diese Erkenntnis zurück, küsste sie dafür und fragte sie, wie der Tag gelaufen wäre. Folglich tat er das, was er immer tat, wenn er heimkam.

„Gerd ist ein Arschloch. Irgendwann …“

Gerd war ihr Chef und ein beliebtes Thema am Nachmittag. „Was hat der böse Bube wieder angestellt? Hat er dich wieder geärgert? Kaffee?“

„Gern.“

„Nastaran, ich ziehe mich hurtig um, dann …“

„Wie lange willst du das durchhalten?“

Auch so ein Satz, der täglich durchs Wohnzimmer spazierte. Diese Normalität beruhigte ihn. Es kam ihm fast vor, als hätte der gestrige Tag nie stattgefunden. Derart erschien es ihm, wenngleich er wusste, er hatte stattgefunden.

Sie saßen auf dem Sofa. Er wie sie, die Beine auf der Sitzfläche, die Fußsohlen aneinandergepresst und tranken Kaffee. Jeder berichtete, was er auf der Arbeit erlebt hatte. Sie lachten, schauten zwischenzeitlich Fernsehen, schmusten, küssten sich, schmiegten sich aneinander. Anschließend knüpften sie sich gegenseitig einen Zopf, erledigten alle Hausarbeiten wie je gemeinsam. Die Arbeiten, die sie, wie immer während seiner Abwesenheit, vernachlässigt hatte. Er trug es ihr nicht nach. Putzen war eben nicht ihr Ding. Nastaran hatte andere Qualitäten. Nach dem Abendbrot, das sie täglich in der Küche einnahmen, machten sie es sich wieder auf dem Sofa bequem. Auf dem kuschelten sie sich ein, sahen Fernsehen, hörten Musik, lasen, oder wie an diesem Abend, unternahmen das, was Paare mitunter im Bett vollführten.

Nastaran schlang die Arme um seinen Hals, küsste ihn und hauchte ihm „Ich lieb dich“ ins Ohr. Sie kletterte von seinem Schoß, derweil seine Finger aus ihr glitten. Er ergriff sein Glas, während sie sich das Telefon schnappte.

„Willst du telefonieren?“

Sie zog sich ihren Slip über, deckte sich zu und kuschelte sich bei ihm ein. „Was sonst? Glaubst du, ich kann mit dem schnurlosen Telefon ein Foto von dir schießen?“

„Und wen? Ich bin bei dir.“

„Meinen Freund! Wen sonst?“

„Welchen Freund? Detlef!“

„Engel, leidest du unter Gedächtnisverlust? Fabian! Seit gestern bin ich fest mit ihm zusammen. Hast du das nicht gewollt, gar von mir verlangt?“

Dieser eine Name katapultierte ihn sofort zurück. Wie bei einem rückfälligen Junkie fingen seine Finger an zu zittern. „Soll ich rausgehen?“

„Warum? Haben wir Geheimnisse?“ Sie presste den Kopf an seinen Schoß. „Außerdem liege ich gerade bequem.“

Das Wort ‚Liebster‘, was sie schmachtete, gab ihm den Rest, sodass die Augen ihm feucht wurden. Er schaltete den Fernseher an, um sich abzulenken. Allerdings fing Nastarans Stimme ihn ein und er hörte zu. Banales. Als wären die beiden ein altes Ehepaar, unterhielten sie sich über Banales: Was sie erlebt hatten, Ärger in der Firma. Eben das, über das sich Paare, wenn sie getrennt waren, unterhielten. Wie bei ihnen, wenn er auf Dienstreise war. Kein Deut anders.

„Nastaran!“

Sie streckte den Hals, sodass er ihr in die Augen sah. „Ja, Engel.“

„Könntest du mir einen Gefallen bereiten?“

„Jederzeit.“

„Ich will offen zu dir sein. Ich toleriere deine Affäre, aber bitte mehr Heimlichkeit. Eine Frau, die betrügt, schleicht sich hinaus, versteckt sich, wenn sie mit dem Liebhaber telefoniert. Sie verheimlicht die Treffen und sagt nicht, wir sehen uns morgen. Ich will es nicht wissen, lüge mich an, sage von mir aus, du triffst dich mit Maja, machst Überstunden oder“, er wackelte mit dem Kopf, „wenn du mehrere Tage mit ihm verbringen möchtest, gehst du eben auf Dienstreise.“

„Soll ich dich belügen?“

„Ja!“

„Stehst drauf?“

„Nastaran, wie meinst du das?“

„Dann mache dich nicht lächerlich.“

Sie war eingeschlafen und hatte sich an ihn gekuschelt. Er wandte sich dem Nachttisch zu, um das Licht auszuschalten. Da fiel sein Blick auf ihr Hochzeitsfoto. Die Wehmut im Herz spürend, erfasste er den Rahmen, blies den Staub vom Glas und stockte. Er lehnte sich weiter zum Nachttisch, strich hinüber. „Nastaran du Biest, du wilde Rose“, murmelte er, während er an das gleiche Foto in der Küche dachte, an den Akt, an ihr französisches Parfüm. In diesem Augenblick fiel es ihm ein, wer es kreierte: Fabienne Chabot. Er erinnerte sich daran, dass sein Käfer keine Schramme besaß, und schlug den Bogen zu dem Satz, den sie ihm beiläufig gesagt hatte: „Ich liebe dich. Sorry, aber Maja hat mich quasi überzeugt.“

Fabian war ein Fake, schloss er schlussendlich, grinste, schaltete das Licht aus. Er kuschelte sich an sie und nahm sich vor, alle Fotos, auf denen sie nicht allein abgelichtet waren, in ein Fotoalbum zu verbannen. Damit, falls sie einen Mann mitbrachte, sie nicht in Erklärungsnotstand kam.

Veruntreut

Maja beobachtete, wie Nastaran Gerds Wohnzimmer betrat, und ging auf sie zu. Sie umarmte sie, küsste sie auf den Mund und schaute sich anschließend um. „Wo ist deine Errungenschaft?“

„Ich schätze, daheim.“

„Wollte er nicht mitkommen?“

„Was weiß ich, ob er es wollte. Bin ich sein Kindermädchen?“

„Ich dachte, es war alles geklärt? Hast du mich belogen und nicht mit ihm gesprochen?“

„Quatsch.“

Sie küsste sie erneut. „Kommst du später mit zu mir?“

„Gern, aber irgendwie habe ich heute keine Lust.“

„Nastaran, schön, dass du zu meiner Geburtstagsparty gekommen bist, ich hatte schon …“

Aufgeschreckt schaute sie sich um, sah in Gerds Augen, zischte „Finde ich genauso“ und zerrte Nastaran an den anderen Gästen vorbei. An dem Tisch mit den Getränken blieb sie stehen. „Komm, erst einmal ein Prosecco, dann erzählst du mir alles.“ Sie drohte mit dem Zeigefinger. „Aber nichts auslassen!“ Zuerst spürte sie eine Hand an der Taille, daraufhin Lippen auf dem Hals, sogleich Nastaran „Detlef! Und ich?“ fragen.

Angewidert beobachtete sie, wie Detlef Nastaran umarmte und seine Lippen auf die ihre presste. Sie zügelte sich, zählte bis zehn, bevor sie auf seine Schulter tippte, „Jetzt ist es genug, Lulu. Übertreibe es nicht“ zischte.

Umgehend ließ er Nastaran los und reckte sich. „Wo ist deen …?“ Er grinste. „Du weißt schon.“

„Nicht da“, antworteten sie und Nastaran unisono.

„Dann kommst du mit zu uns.“

„Lulu, sie hat heute kein Bock.“

„Eure Sache! Jeht mir ja nix an.“ Sie beobachtete, wie er eingeschnappt den Kopf hob und mit den Wimpern klimperte. „Ick bin eh bloß Ballast für euch.“

Es gab Tage, da ging er ihr auf den Keks. Sie tätschelte ihn. „Wenn Nastaran das nächste Mal bei mir schläft, dann darfst du dabei sein, dann lassen wir dich nicht allein.“

„Wirklich?“

„Meine kleine Diva, Ehrenwort.“

„Nastaran, was’s jetze mit ihmchen?“

„Sie wollte es mir gerade erzählen“, fuhr Maja fort.

Detlef überreichte Nastaran und ihr je ein Glas, nahm ein weiteres und stieß mit diesem an. „Auf meene sexy Frauen, der, der nicht da ist und auf den süßen Gastgeber.“

Nastaran verzog den Mund, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. „Den Letzten streichen wir, Mädels.“

„Lass ihn, vielleicht hat er bei Gerd Chancen.“ Sie stießen abermals an. „Auf uns!“

„Und jetz, Nastaran, schieß los, erzähl mir, was los is. Was hat deen Ehemann jesacht?“

„Detlef, ich will das Wort nicht von dir hören.“

„Welches?“

„Ehemann! Lulu, Ehemann. Nastaran hat damit ein Problem. Er ist eben ein Freak, ein abartiger, schräger Vogel.“

„Du machst mir richtich neujirich, ihmchen mal zu treffen.“

„Maja, kannst du uns nicht mit deinen blöden Sprüchen verschonen? Es war falsch herzukommen. Anstatt mir einen Rat zu geben …“ Nastaran winkte ab. „Ich habe einen Liebhaber und du …“

„Wir wissen’s, unsere Clique weeß’s. Tim und Tanja verbreiten längst, dass du dir von ihmchen jetrennt hast.“

„Lulu, außer mir kennt ihn niemand aus der Clique.“

„Weshalb ist danne ihr Neuer nicht mitjekommen? Öffentlich ist die Party ja nicht.“

„Genug aus dem Institut! Dort weiß niemand, dass ich mich nach einem anderen umgeschaut habe.“

Detlef umarmte, küsste Maja und flüsterte: „Außer meiner bezaubernden Vermieterin.“

Worauf sie Nastaran ansah. „Trefft euch erst einmal heimlich, bis du weißt, ob er der richtige ist. Kenne ich ihn?“

„Betrügen?“

Detlef kicherte. „Deen Jatte ist bestimmt balde wieder uuf Dienstreise.“

„Sicher. In drei Wochen für zwei Wochen.“

„Dann ist doch alles knorke.“

„Das überstehe ich nicht.“

„Was sagt dein Neuer dazu?“, wollte sie wissen, ehe sie ihre Hand erfasste.

„Ich weiß es nicht, konnte mit ihm bisher nicht offen reden. Hab‘ ihn kurz von der Arbeit angerufen und ihm gesagt, ich müsse mich zwei Tage um meine kranke Mutter kümmern.“

„Was fehlt ihr?“

„Nichts, Lulu.“

„Herzblatt, woher willst du das wissen?“

Sie schlug ihm an die Stirn und ergriff erneut Nastarans Rechte. „Lass mal Schätzchen, ich kümmere mich darum. Ich finde bestimmt eine Lösung. Unten an der Ecke ist eine Telefonzelle. Ruf‘ ihn an, klär‘ mit ihm alles. Den Rest snacken wir auf der Arbeit.“

Nastaran umarmte, küsste sie. „Danke. Wir sehen uns Montag.“

„Montag?“, fragte Detlef, als hätte er etwas missverstanden. „Die Party jeht erst richtig los.“

Nastaran strich über den Norwegerpullover, über ihre Jeans. „Hast du mich je gesehen, dass ich so auf’n Party gehe? Ich habe mich verpisst und gesagt, ich hole etwas zum Abendbrot. Du weißt, alles bloß heimlich“, erklärte sie und zwinkerte.

Detlef spitze die Lippen und tippte darauf. „Hast du nicht etwas vergessen?“

Nastaran winkte ab. „Beim nächsten Mal. Heute hast du reichlich bekommen.“

Detlef schmiegte sich an Maja. „Irgendwie tut sie mir leid.“

„Wie, leid?“

„Der Neue, ihr Mann?“

„Lulu, hör‘ mal. Ich habe keinen Kerl, du hast keinen. Sie hat zwei. Solche Luxusprobleme möchte ich gerne haben. Sie wird einen verlieren und den Richtigen behalten.“

„Meinst du, der Ihre wird’se von’se trennen?“

„Lulu, denken! Er hat die besseren Karten, denn er erlaubt ihr, sich mit einem Anderen zu vergnügen, schränkt sie dennoch ein. Wie lange macht das der Neue mit?“

„Nachtigall, ick hör dir trapsen.“

„Ich hätte zumindest nichts dagegen. Lulu, lass uns feiern.“

„Wenn ich’s mir so recht überlege, …“

„Du denkst? Was ist mit dir los?“

„Herzblatt, ich kann’s mir nicht vorstellen.“

„Was?“

„Dit die Nastaran neben ihrem een hat.“

„Bitte?“

„Na, bist du dabei, wenn er’se pimpert? Knutschen tun sie, aber amtlich ist nichts. Vielleicht will’se den Ihren ankohl’n, vaklickan dit’se jefragt ist oder so.“

„Na, Maja, einen Prosecco?“

Sie fuhr herum. „Gerd, ich hatte schon einen. Lieber etwas Richtiges, sonst bekomme ich Sodbrennen.“

„Wodka, Whiskey oder vielleicht einen Asbach?“

„Das erste.“

„Dann komm mit in mein Reich.“

„Ich dachte, das ist deine Hütte.“

„In meinem Studierkämmerlein sind die guten Sachen.“

Verwundert griff sie sich an die Nase. Okay, sie hatten von vornherein einen schlechten Start. Ihr Prof hatte ihr bis an dem Tag, an dem Gerd auftauchte, immer gesteckt, sie übernehme die Leitung des Labors. Die hatte sie sich verdient, denn sie war ihm stets loyal geblieben. Aber, dass der Alte sich bloß nicht traute, ihr es zu sagen, wurmte sie. Gerd war eben ein Mann.

Sie konnte ihn nicht ausstehen und er zeigte ihr meist, was er von ihr hielt: nichts. Daher wunderte sie sich, weswegen er sie zu einem Gespräch unter vier Augen einlud. Oder wollte er ihr schlicht an die Wäsche?

„Na, Maja, wie gefällt dir mein kleines Reich?“

Erstaunt bekam sie den Mund nicht mehr zu. Was sie sah, passte nicht zu diesem Zwei-Meter-Hünen mit der Bierwampe. Sie fühlte sich, als wäre sie in der Kulisse eines Filmes. In einem viktorianischen Herrenzimmer, wenn ihr nicht dieser stechende Geruch in die Nase dringen würde. Zwei wuchtige Ledersessel, die Bücherregale und der Hauch von Zigarrentabak unterstrichen den Eindruck. Einzig die Gemälde an den Wänden wirkten anachronistisch.

Die grellen Farben, die Art, wie die Menschen abgebildet waren, gehörte für sie nicht in diese Epoche. Akte. Allerdings posten nicht sexy Frauen, sondern Jünglinge, zart, mädchenhaft. Sie trat hinein. Derweil Gerd die Tür hinter ihr verschloss, ging sie auf ein Stehpult zu, auf dem eine Geige lag. Sie ergriff diese, schaute sich erneut um. „Spielst du?“

„Maja, sie spiele ich“, er wies durch den Raum, „mit ihnen habe ich gespielt.“

Sie schluckte. An alles hätte sie bei ihm gedacht, jegliche Abnormalitäten ihm zugesprochen, aber homosexuell nie.

„Was schaust du so merkwürdig? Wusstest du nicht, dass ich schwul bin? Ich verstecke mich nicht, habe das nicht nötig. In der DDR war das etwas anderes. Aber hier im freien Westen? Setz dich! Wodka! Richtig?“

„Das hört man dir nicht an.“

„Was?“

„Dass du von drüben kommst.“

„Ihr Wessis glaubt alle, dass wir aus der DDR sächseln. An der Küste sprechen sie Platt und ich bin in Quedlinburg geboren, also gleich nebenan. Wo bist du geboren?“

„Gifhorn.“

„Deine Eltern haben dich sicher mit allem umsorgt, dir keinen Wunsch verwehrt.“

„Da muss ich dich leider enttäuschen. Ich habe meine Eltern, meine Mutter“, sie musste schlucken, „nie kennengelernt, denn ich bin im Waisenhaus aufgewachsen.“

Sie verlangte keinen Kommentar von ihm. Daher fläzte sie sich in einen der beiden Sessel, versank in dessen Tiefe, während Gerd zu einem Beistelltisch ging, auf dem die Flaschen standen. Das Knacken des Verschlusses drang ihr ins Ohr. Er schenkte ein, kam auf sie zu, übergab ihr den Wodka. Dann quetschte er den Hintern zwischen die Lehnen des zweiten Sessels und versank.

Sie hob das Glas. „Aber auf’m Sommerfest hast du doch mit der Rothaarigen herumgeschwänzelt.“

„Wenn überhaupt, der Rothaarige. Mein Ex. Du weißt, jedem Tierchen sein Pläsierchen. Er stand zwar nicht darauf, aber mir zuliebe stieg er gern in aufreizende Fummel. Ich stehe eben auf sexy Dessous und Highheels und dazu passt ein Kleid besser als ein Anzug.“ Er erhob gleichfalls das Glas. „Kippis, Maja.“

„Kippis“, murmelte sie, ohne zu wissen, was es bedeutete. Allerdings wusste sie, dass er log. Denn sie traf Gerds Rothaarigen auf der Toilette und dieser suchte einen Eimer, um einen Tampon zu entsorgen. Welcher Rothaarige hat schon seine Tage. Zumindest kam sie von Gesicht und Statur einem Mann nahe. Sie war keine Schönheit, gehörte, das schätze Maja, zu den Frauen, die wie Kerle ihre Muskeln trainierten. Das war das zweite Indiz, dass er log. Falls es wirklich ein ‚Er‘ war, was aus ersterem Grund nicht möglich war, passte er nicht zu seiner Bildergalerie.

„Ich muss gestehen, ich bin ein großer Doyle-Fan. Der eine oder andere behauptet ja, dass Sherlock gleichfalls dem Manne zugeneigt war. Eine These, die ich nicht teile, Sherlock ist wie viele Protagonisten der Krimiszene asexuell.“ Er schmunzelte. „Leider. Es ist für mich genauso unverständlich, wie, wenn ein gutaussehender Mensch nicht zeigt, was er fühlt, welches Geschlecht er bevorzugt.“

„Gerd, ich bin Hetero“, monierte sie.

„Wer spricht von dir? Ich meine Detlef. Er gefällt mir.“

Sie betrachtete erneut die Gemälde. Es waren sicher alles eher junge Männer und Detlef weitaus älter, aber von der Statur glichen sie sich.

„Wie kommst du darauf? Ich kenne ihn. Immerhin ist er mein Untermieter.“

Er nahm einen Schluck. „Ich bin gewiss nicht neugierig, aber ich habe ein Gespräch zwischen dir und Nastaran belauscht. Falsches Wort! Eher mitbekommen. Bei ihr kann niemand von Reden, eher von Stammeln sprechen. Wann lernt diese Türkin endlich Deutsch.“

„Perserin, Gerd, Nastaran ist Perserin.“

Er winkte ab. „Das sind auch nur Türken. Ist dir das auch aufgefallen? Die hatte heute gar kein Kopftuch auf. Egal, spielt keine Rolle, was diese Hammelfresser aufhaben. Jedenfalls habe ich im Labor gehört, dass du ihr gesagt hast, Detlef würde zur Diva, er bräuchte endlich einmal wieder einen Kerl, der es ihm richtig besorgt.“ Er spreizte die Arme auseinander. „Voilà, da ist er.“

„Hast du mich deswegen eingeladen“, sie ließ den Blick schweifen, „zum Drink geladen? Tut mir leid, das wird nichts. Detlef hat seine Gründe. Wenn du Interesse an ihm hast, musst du balzen, wie sich das gehört.“

„Oh, verstehe mich nicht falsch. Ich bin sehr wohl in der Lage, um ihn zu buhlen, benötige keine Fürsprecherin. Darum geht es nicht. Unsere Unterredung ist rein dienstlicher Natur.“

„Dienstlich?“ Sie stütze sich ab, erhob sich. „Und ich habe Wochenende.“

„Bleibe sitzen. Ich vertraue dir. Du hättest meine Stelle bekommen sollen, nicht ich. Mich qualifiziert bloß eins: Ich bin ein Mann. Du bist viel länger dabei, deshalb meine Frage: Wie viele studentische Hilfskräfte liefen bei uns herum?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Pro Jahr, circa?“

„Wenn überhaupt, drei. Was sollen wir mit denen im Sicherheitsbereich anfangen? Wieso kommst du auf diese Frage?“

„Na ja, hatte einmal zu viel Zeit und ich bin die alten Unterlagen durch, dort sind es zehn. Wie du sagtest, was sollen wir mit denen?“

„Gerd, du meinst?“

„Möglich.“

Ihren Mantel bereits über dem Arm gehängt, ging sie zurück ins Wohnzimmer.

Detlef sprach sie sofort an: „Herzblatt, willst schon weg?“

„Lulu, ich bin irgendwie müde und die meisten Triefnassen seh’ ich eh jeden Tag, bleib’ du mal.“

„Ach, ich komm’ mit.“

„Bitte, musst du wissen, obwohl ich dir sagen muss, der Gerd hat ein Auge auf dich geworfen.“

„Ist er …?“

„Das weiß doch jeder bei uns im Labor. Du hättest mich einfach fragen müssen.“

„Dann bleib’ ich ein wenig.“

Detlef umarmte sie, küsste sie und sie verließ die Wohnung. Auf der Straße angekommen, überquerte sie diese und steuerte eine Telefonzelle an. Sie trat ein, nahm den Hörer ab, warf drei Groschen in den Schlitz, drehte die Scheibe und wartete.

„Fabian“, flüsterte sie, als könne jemand mithören, „ich bin es, Maja. Wir müssen uns treffen … Wann? Morgen zum Brunch Café Okerterrassen? … Gut.“

Sie legte auf, verließ die Telefonzelle.

Käse-Sahne

Maja stellte das Wasser ab und ergriff das Badetuch. Das Tuch um ihren Oberkörper legend, verließ sie die Dusche, ging stracks zur Tür. Noch mit einem Bein im Bad stieß sie mit Detlef zusammen. „Kannst du nicht aufpassen? Wo kommst du eigentlich jetzt erst her? Gleich mit Gerd gevögelt, was?“

Detlef gähnte. „Langsam, Herzblatt. Ich bin zu müde“, er gähnte erneut, „um …“

„War wohl eine sehr heiße Nacht?“

„Kann man jut sajen. Eijentlich wollten wir noch ins Schlucklum, aber kenner wollte mit. Fahren demnächst mal an eenen Freitach rüber. Darum waren wir erst im Pano abrocken, dann im Joker eine Lage Pommes und an die Bar, zum Abschluss in die Tasse. Wie früher.“

„Lulu, ich dachte, du wolltest Gerd vernaschen?“

„Hab‘ ick. Aber gloobst, ick jump mit ihm gleich in de Kiste? Ick bin keen Mann für eene Nacht. Da erwarte ick von meen Liebsten schon mehr. Ein bissle den Hof machen und so, wa.“

„Dann leg dich hin. Mein Bett ist noch warm.“

„Nee, lieber in den meen. Nicht, dass ick mir da wohlfühl’ und ick zum Hetero mutier’, wa. Und wo willst so zeitig hinne? In die Kirch?“

„Ich habe mich mit Fabian im Café Okerterrassen verabredet: Brunchen.“

„Du lässt och nix anbacken. Erst willst an deen Neuen von der Nastaran, da ihmchen mit ihm Knatsch hat. Dann machst du dir an den Fabian ran. Ick dacht immer, du kannst een nicht verknusen.“

„Neidisch? Fabian passt in dein Beuteschema: athletisch, hochgewachsen.“

„Die sind out. Lieber Kuschelbären. Du musst wissen, was’de machst. Außerdem mach ich den Namen Fabian nicht.“

„Was ist an Fabian schlimm?“

„Erinnerungen. Im Sportinternat hatten wir een Fabian: Jeräteturner.“

„Und?“

„Frach nicht.“

„Lulu, geh‘ einmal in Therapie. Du musst es verarbeiten.“

„Vergiss’s“, schnauzte er sie an, ging ins Bad und schlug die Tür zu.

Maja saß am Tisch des Cafés, beobachtete Fabian, wie er den Kopf wandte und bedächtig, beinahe pastoral „Nettes Ambiente“ von sich gab.

„Warst du nie hier? Erst recht im Sommer, dann kann man direkt an der Oker sitzen. Und eine Käse-Sahne haben sie, lecker. Die musst du nachher probieren. Aber erst einmal stärken.“

„Lass uns gleich zur Sache kommen. Du hast mich bestimmt nicht ohne Grund eingeladen. Hast Sehnsucht?“

„Träum’ weiter. Schluss ist Schluss. Da gibt’s kein Zurück.“

„Juwel, wie oft soll ich es dir sagen. Ich habe nichts mit einer anderen.“

„Das Parfüm, das ich gerochen hatte, der Lippenstiftfleck auf dem Hemdkragen.“

„Ich würde nie …“

Sie spitzte den Mund.

„Herr Gott, der Begrüßungskuss. Detlef küsst sie auch, da machst du keinen Hermann.“

„Wen?“

„Nastaran.“

„Bist du scharf auf sie? Zart, handlich, genau das Richtige. Aber sie kannst du anschreiben. Erstens ist sie verheiratet und zweitens hat sie bereits einen Liebhaber.“

Dabei hätte er mit jeder anbändeln können, es wäre ihr schnuppe gewesen. Wäre sie nie … hätte, hätte, Fahrradkette. Es ist Schluss und damit basta.

Maja war bloß auf einer Party in Berlin. Weswegen Tanja und sie am nächsten Tag noch knülle im Schädel auf die Idee kamen, mit der S-Bahn in den Osten zu fahren, wusste sie nicht mehr. Jedenfalls nicht, um ins Pergamonmuseum zu gehen.

***

„Das Ischtar-Tor ist eines der Stadttore von Babylon. Errichtet zur Zeit Nebukadnezar des Zweiten.“

Sie schaute sich um, erblickte ihn: Fabian. „Bitte?“

„Nächsten Samstag 15:00 Weltzeituhr“, flüsterte er, worauf sie perplex „gern“ antwortete. Er drehte ihr den Rücken zu und verschwand.

„Maja, hast du einen Geist gesehen?“

„Fast, Tanja, fast, den Traummann.“

Punkt 15:00 erreichte Maja den Alexanderplatz und ging auf die Weltzeituhr zu. Fabian sah in seinem braunen Cordanzug lächerlich aus. Er schenkte ihr eine rote Nelke und lud sie in ein Café ein. Der Kaffee war Plörre, die Torte schlabberig und die Bedienung unfreundlich, aber seine Augen …

Keine Namen, keine Herkunft vereinbarten sie. Die Gefahr wäre für sie, für ihn zu groß, in die Fänge des Staates zu kommen.

„Machst du das öfter?“

„Was?“

„Frauen zu einer festen Zeit an einen bestimmten Ort zu schicken?“

„Möglich.“

***