Erstaunlich gereift - Franziska König - E-Book

Erstaunlich gereift E-Book

Franziska König

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Beschreibung

In ihrem Tagebuch vom September 2014 sammelt die Geigerin und Schriftstellerin Franziska die interessantesten Themen, um sie kunstvoll mit eigenen Gedanken nachzuwürzen, und aus einem speziellen Sichtwinkel heraus erlebbar zu machen. Die Realität in diesem Falle lässt sich mit dem Gesang der Vögel vergleichen, der nicht selten als Vorlage für ein musikalisches Meisterwerk gedient hat. Die Bild-Zeitung von Dichterhand umgeschrieben! Wie stets eine Mischung aus Kriminalfällen und Geschichten aus dem Alltag einer Musikerfamilie.

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Seitenzahl: 144

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Meiner lieben Mutter zu ihrem 81. Geburtstage!

Familie Rothfuß-König an Heiligabend 1963

(Auch Ming ist bereits dabei – doch dies weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand)

Von links nach rechts:

Rehlein mit der kleinen Franziska (Kika) auf dem Schoß.

Untere Reihe: Tante Antje und der Opa, auf deren Knien die Zwillinge Heiner und Friedel verteilt sind.

Daneben Onkel Rainer, der erklärend den Zeigefinger ausgefahren hat.

Obere Reihe: Der junge Buz neben der Degerlocher Oma, Tante Bea, Onkel Dölein, Omi Mobbl, und der damals erst 14-jährige Onkel Andi.

Die wichtigsten Vorkömmlinge vorweg:

Rehlein (Erika, Eri):

Mutter (*1939)

Buz (der Wolf):

Vater (*1938)

Ming:

Bruder (*1964)

Julchen:

Schwägerin (*1983)

Yara (Pröppilein):

kleine Nichte, * Dez. 2012

Den Rest findet man am Schluß des Buches im Personenverzeichnis

Ort der Handlung:

Aurich: Hauptstadt von Ostfriesland

Grebenstein: Kleinstadt in Nordhessen

Ofenbach: kleines Dorf in Niederösterreich

Zum Hintergrund der Geschehnisse empfiehlt sich

ein Blick auf diesen Link:

Einfach nur - familie könig vs werner bonhoff –

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Inhaltsverzeichnis

September 2014

Montag, 1. September Aurich

Dienstag, 2. September

Mittwoch, 3. September Aurich

Donnerstag, 4. September Aurich

Freitag, 5. September Aurich

Samstag, 6. September Aurich

Sonntag, 7. September Aurich

Montag, 8. September Aurich

Dienstag, 9. September Aurich

Mittwoch, 10. September Aurich

Donnerstag, 11. September Aurich

Freitag, 12. September Aurich (allein)

Samstag, 13. September Aurich – Arnstadt

Sonntag, 14. September Arnstadt

Montag, 15. September Arnstadt – Ofenbach

Dienstag, 16. September Ofenbach

Mittwoch, 17. September Ofenbach

Donnerstag, 18. September Ofenbach

Freitag, 19. September Ofenbach

Samstag, 20. September Ofenbach

Sonntag, 21. September Ofenbach

Montag, 22. September Ofenbach

Dienstag, 23. September Ofenbach

Mittwoch, 24. September Ofenbach – Grebenstein

Donnerstag, 25. September Grebenstein

Freitag, 26. September Grebenstein – Celle

Samstag, 27. September Celle

Sonntag, 28. September Celle – Grebenstein

Montag, 29. September Grebenstein

Dienstag, 30. September Grebenstein

September 2014

Montag, 1. September Aurich

Nach anfänglichem Schönwetter

wurde es schon bald sehr grau,

blieb allerdings gottlob spätsommerlich warm

___________________________

Vorwissen

Ende August hatte sich auf Mings holprigem Lebensweg schon wieder eine Baustelle gebildet, und leider sah man sich nun gezwungen, die Verdrüsse des Vormonats in den frischen neuen Monat mithineinzunehmen.

Der „Musikalische Sommer“ war vorbei, die jungen Leute hätten etwas Erholung so nötig gehabt, aber da bekam Ming unversehens Ärger mit einer sog. „Tastenfee“ – sprich, einer renommierten Cembalospielerin, die sich über die Zeitung empört hatte.

Doch hört selber:

Ming als stellvertretender Intendant hatte nach dem gloriosen Festival eine Pressekonferenz einberufen, und die daraus resultierten wunderschönen Artikel, über die man doch so glücklich war, sollten nun vom Netz genommen werden, denn die aufgebrachte Professorin drohte mit der Anwaltskeule.

Folgende Passagen aus der Zeitung hatten sie in flammende Erbosung versetzt:

„…. die entgegen der vorherigen Abmachung ohne Cembalo angereist war, so daß das Team noch in der Nacht ein passendes Instrument auftreiben und herbeitransportieren mußte.“

Den mit Schwung dahingetippten Passus eines emsigen Journalisten:„..entgegen der vorherigen Abmachung“, empfand sie als „rufschädigend, zumal er faktisch falsch sei.“

Zu gestrig später Stund´ war ich vom Nordseebad Wremen zurückgekehrt.

Einem Ort, unweit von Bremerhaven, so daß ich damit rechnen mußte, daß vielleicht die Frauke kommt? Eine alte Studienkollegin aus Trossinger Zeiten. Doch die Frauke kam nicht –

„gottlob“ und „leider“ in einem. Ich liebe es, Fraukes Briefe zu lesen – grad wegen dem leisen Unterton – und auch Ming bekommt manchmal eine Anwandlung, und hätte Lust einen Brief von der Frauke zu lesen.

„Ich hätte jetzt Lust, einen Brief von der Frauke zu lesen!“ so sagt er.

Man wird zum Fraukenkundler, und es bereitet kaum Mühe, sich einen auf jede Lebenssituation zugeschnittenen Brief von der Frauke auszudenken:

Mutig, mutig liebe Franze!

In Deinem Alter noch solch schwere Kost auf´s Programm zu setzen! Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß diese Art von Musik viel Publikum anlockt. Hört man doch in unseren Breiten viel lieber die Schanty-Chöre.

Es sei denn natürlich von international renommierten Interpreten interpretiert – bloß, daß diese Garnitur an Musikern sich womöglich einen husten würde, wenn man sie bäte, in der Kirche von Wremen aufzutreten.

Der heutige Tag hatte uns zunächst mit herzlichem Sonnenschein empfangen.

Beim Frühstück erzählte ich von Onkel Jesses kleinem Enkel Jamison, der so artig sei, und auf Befehl „cheese“ sage, wenn ein Foto geschossen wird, und das Julchen lachte sehr nett dazu.

Er sagt´s mit einem süßen hellen Kinderstimmchen.

„Ihr müsst unbedingt auch mal nach Amerika!“ fügte ich der Schilderung einen leicht senioril klingenden Passus hintan, und da das ohnehin meist leicht abwesende Julchen kaum je auf Sätze dieser Art einzugehen pflegt, stand er plump wie ein frischgestürzter Plumpudding im Raum, der nun zusammenzufallen drohte, da er von nichts gestützt wurde und so wirkte, als sei er von törichter Seniorinnenstimme um des Schwatzen Willens mit überflüssigen Worten dort hinbeschworen worden. Julchen könne doch jetzt Managerin beim FC Bayern werden! plabberte ich anbetrachts von Uli Hoeneß´s Knastaufenthalt lose.

Sei der Posten dort nicht vakant?

Wie man in der OSL* wohl spitzen würde, wenn in der Zeitung stünd´, daß sich der FC Bayern eine Spitzenmanagerin aus Ostfriesland ins Boot geholt hat?

„Schrecklich!“ murmelte das Julchen, während es in ein anderes Zimmer lief, und mich wehte ein leiser Schreck an, sie könne mich und mein Gequassel meinen, das ja an diesem Morgen wohl nicht das allerklügste war? Man öffnet den Mund und es entweicht eine Torhaftigkeit, die man eigentlich gar nicht hatte sagen wollen.

*Eine Körperschaft im Operettenstaat Ostfriesland

Am Vormittag rief die Veronika an.

Sie meldete sich förmlich, da die geplanten Worte als geschäftliches Telefonat konzipiert waren.

Und dann war die rührende Veronika so erfreut, daß jemand von uns den Hörer abgenommen hatte, nämlich ich.

Die Veronika wollte wissen, ob sie ihr Hospitierungsgeld für den Meisterkurs wohl bereits überwiesen habe? Sie könne leider keine Unterlagen finden.

Da sieht man nun den großen Unterschied zwischen der Veronika und all den typischen Musikern mit denen man sonst zu tun hat, denn der typische Musiker hätte an Veronikas Statt doch wohl eher gefragt, wann wir wohl das Honorar für die Mitwirkung im Orchester zu überweisen gedächten?

Gegen Ende des Telefonats saß die arme Veronika ja schon wieder zwischen den Stühlen: Der Jorberg ließ durch allerlei Gestik wissen, daß sie die Leitung blockiere, und „die“ Freund“in“, mit der sie da angeblich telefoniere, „die“ kenne er ja leider allzu gut.

(„Natürlich! Da spricht sie wieder mit Herrn König, so wie immer, und will mich einfach für dumm verkaufen!“ dachte der Jorberg in mir verdrossen.)

Ein langer Früchtebrotbrief Rehleins hatte sich angesogen.

„Die Mama hat geschrieben!“ sagte ich zärtlich.

„Die blöde Ziege!“ sagte Ming am PC, doch er meinte die Mareike, die sich schon wieder kühl, empört und kampfeslüstern aus ihrem Urlaubsparadiese gemeldet hatte:

Sie habe der Ostfriesenzeitung geschrieben, und bereits eine Anwältin angespitzt, gegebenenfalls gerichtlich einzuschreiten. Wichtigtuerisch verlangte die Mareike hinzu von Ming, daß er den Artikel, der doch so stolz auf unserer Facebookseite prangt und womöglich bereits dutzende priapisch in die Höhe gereckte Däumen auf den Plan gerufen hat, löschen möge, und somit unseren Ruhm zur Ehrenrettung des ihrigen unter den Teppich kehre – man staune. Sollte man vielleicht jene Passage schwärzen, von der sie sich seelisch so unschön bezwackt fühlte, und ihren guten Ruf beschädigt sah?

…..die entgegen der Abmachung ohne Cembalo angereist war, so daß sich das Team nach Mitternacht, bleischwer und zitternd vor Müdigkeit noch auf den beschwerlichen Weg begeben mußte, ein passendes Cembalo aufzustöbern und herbeizutransportieren.

Na, dies macht doch wohl neugierig auf den Hintergrund der Geschichte?

Ich las die Geschichte vom Bürgermeister Scholl weiter:

Die Mutti seiner Ehefrau Brigitte trank sich zu Tode, doch Brigitte Scholl tat so, als sei sie die Treppe hinabgefallen, und dabei tragisch ums Leben gekommen, da sie ihren Mitmenschen beätchengleich eine heile Welt vorgaukeln wollte.

Der Bürgermeister Scholl wiederum war ein Mann der Tat. Er arbeitete zunächst beim Zirkus, und der Direktor hätte ihn gerne angestellt, weil er fein, künstlerisch und zupackend in einem war.

Bloß die Stasi verhinderte dies auf ihre häßliche Art.

Abends hatte die Mareike Mings Denken ganz und gar ausgefüllt. Sie schickte die Stellungsnahme der Ostfriesenzeitung, die sich weigerte, eine Gegendarstellung auszuhandeln. Man könne nicht wegen jeder Kleinigkeit eine Gegendarstellung bringen, denn sonst bestünde die morgige Ausgabe ja wohl nur noch aus Gegendarstellungen, schoss das Blatt in Friesenlogik ein leichtes Eigentor.

Man wußte gar nicht mehr, was man machen solle, und eine erneute anwältliche „Gegeneinander-Aufhebung“ wollte Ming um jeden Preis vermeiden.

Ich stellte mir vor, wie es Mareikes Ehemann nun auch bald zu viel wird: Den ganzen schönen Urlaub auf den man sich doch so gefreut hatte, verdirbt sie ihm mit dieser idiotischen Aktion!

Ming wurmt und verdrießt, daß sie ihm ganz offenbar unterstellt, er wolle ihren Ruf ruinieren.

All meine liebevollen Versuche, beschwichtigend auf Ming einzuwirken, blieben weitestgehend unbeachtet, da sie im Vergleich zur Tragweite des Geschehens so überaus unbedeutsam schienen, und ich mich somit fühlen durfte, wie einst die Mutti von Ludwig Thoma in den Lausbubengeschichten.

Ich durfte Buzens deutlichen Brief an die neue Ministerin gegenlesen, und versetzte mich hierzu in die Ministerin hinein, die das Schreiben, das eigentlich den Sünden ihrer Vorgängerin geschuldet war, auf Ministerinnenart nur überfliegt.

Zunächst versteht sie nur „Bahnhof“, da die Kultur in einem Ministerinnenhaupt letztendlich als zweitrangig eingestuft ist. Nur eines versteht sie: Daß der Brief scharf gewürzt, und in berechtigter Verärgerung niedergetippt worden war.

Onkel Dölein schrieb, daß er eine Entscheidung gefällt habe: Er wolle seinen alten Schultern keinen unbequemen Flug mehr zumuten, wünschte uns jedoch einen schönen Herbst, bishin zu einem gesegneten Weihnachtsfest, indem er die verbliebenen Monate alle einzeln auflistete, um die dürren Zeilen etwas zu strecken, und ich fühlte mich so, als habe man Onkel Dölein nun zu etwa 75 % bereits bestattet!

Natürlich erwartet man auf diesen Brief hin, daß ich auf unreife Weise in lautes Wehklagen ausbreche, weil ich so infantil bin, und es einfach nicht einsehen will, daß die Flammen der Jahre am Onkel emporzüngeln.

Dreimal schlug das Pech heut zu:

Der Steigbügel meiner Lesebrille brach ab, die Mareike, mit der man sich doch bereits leicht befreundet gewähnt hatte, festigte ihren Unruf als „blöde Ziege“, und Onkel Dölein sagte seinen Herbstbesuch ab.

Da denkt man doch an Friedels weise Worte: „Der Ausgleich kommt! – kein Leben der Welt besteht ausschließlich aus Glück oder Pech!“

Ich brachte Ming den gerupfte Brillenbügel, der in seiner bloßen Form an das Bein eines gigantischen Insekts erinnerte, und sagte: „Das schreit doch förmlich nach einem Ausgleich, oder?“

Dienstag, 2. September

Zunächst grau, aber dann wurde es wunderschön!

Gestern ging ich relativ früh zu Bett. Mir war so durmelig zumute, und nun bekam ich auch noch einen lästigen und handfesten Schnupfen. Manchmal erwachte ich mitten in der Nacht, und jedesmal flutete mir der Kummer um Onkel Dölein in den Kopf zurück.

Denn während es mir nichts ausmachen würde, wenn ich die Tante Bea nie wiedersehe, so wurmt und schmerzt dies bei Onkel Dölein.

Der Onkel hat immer auf so wohltuende Weise Anteil an unserem Schicksal genommen, allerdings nur aus der Ferne, und zum Dank habe ich ihm gestern noch einen Brief getippt.

Mein liebster Onkel Dö!

In diesem Jahr wohl nicht mehr, aber Du könntest doch am 1. Januar 2015 zu Besuch kommen?

An diesem Tag wird unser Papa 900 Monate alt, und dies denkwürdige Jubiläum würden wir doch sehr gerne feiern – mit Dir, und nur mit Dir!

Bis dahin haben sich Deine alternden Schulterblätter sicherlich etwas erholt?

Wir vermissen Dich!

Fast jeden Tag passiert etwas ganz und gar Ungewöhnliches:

Vor vier Tagen beispielsweise wurde unser Onkel Wolfhard 80 Jahre alt.

(Ja, unsere Tant- und Önkel stürmen nun im Sauseschritt das Gnadenalter!), doch der Onkel Wolfhard wurde nur knapp 5 Monate alt und starb in einer eiskalten Januarnacht des Jahres 1935 – . Ich denke sehr oft an den verstorbenen Onkel, und denke ich an ihn, so muß ich gleichzeitig auch an den kleinen Leopold aus den „G´schichten aus dem Wiener Wald“ von Ödön v. Horvath denken, und jene traurige Szene tritt mir vor Augen, wie eine bitterböse uralte Frau mit verkrüppelten Fingern das Hemdchen vom kleinen Leopold aufknöpfte, so daß sich der kleine Leopold verkühlte und starb.

Wäre der Onkel Wolfhard nicht gestorben, so hätte man sich den Wolfram ersteinmal sparen können. Rehlein hätte ihren Kommilitonen Frank Maus geheiratet, einen hornbebrillten Herrn mit sportlicher Figur, und ich wäre jetzt eine ganz normale Tochter, die Dir einen völlig anderen Brief geschickt hätte –so ungefähr:

„Ja, schade! Doch ich kann Dich verstehen und erwidere die Grüße herzlich!

Gruß, Sabine“

(So wie eben eine normale Nichte schrüb oder schrübe).

Doch jeden einzelnen Buchstaben, mit dem man einen Erwachsenen zur Umkehr oder gar zum Umdenken bewegen möchte, darf man sich im Grunde sparen, und wenn diese Erkenntnis zum Reifen dazugehört, so bezeichne ich mich jetzt als „gereift“.

Aber vielleicht wäre es ja netter, wenn man ein Herz für den frisch Moribundelten zeigt, und ihn so in Erinnerungen behält, wie er eben früher einmal war?

Aus dem malerischen emaillierten Krug im Windfang fischte ich einen lustigen kleinen Kinderschirm hervor, um ihn zu bestaunen. Ich fand es so schön, daß wir jetzt einen kleinen Kinderschirm in unserem Besitz haben. Auf der Oberfläche sieht man eine zufriedene Prinzessin mit runden, roten Backen und auf der Schirmspitze richtet sich beim Aufspannen ein kleines Krönchen auf.

Beim Frühstück erinnerten wir uns an das junge Yüsslein, und ich machte dem Pröppilein, das nachts nur selten zu lärmen pflegt, ein Kompliment. Einmal habe ich mit dem Yüsslein in einem Zimmer genächtigt, und so etwa alle zehn Minuten wurde die Nachtruhe durch ein Plärrkonzert unterbrochen.

“Pschsch…die Kika schläft!“ mahnte Mutti Hilke scharf.

„Sein Papi hat ihm gefehlt!“ mutmaßte der feinfühlige Ming.

Doch der war ja damals noch da, nächtigte jedoch in einem anderen Zimmer, da er sich morgens sehr früh erheben, und für sein Fach-Abitur büffeln mußte.

Nach einer Weile zupften wir Geschwister mit dem Pröppilein Blaubeeren. Das Pröppilein fütterte den Papi, und nach einer Weile fütterte es auch mich, indem es sogar die halben Fingerlein die die Beere umschlangen, in meinen Schlund stopfte.

Ich studierte die Liste der Kriminalfälle, und während ich den einen studierte, studierte ich im Geiste bereits den nächsten.

Zunächst las ich über den pummeligen Amerikaner Lowell Andrews, der bereits mit 22 Jahren gehängt wurde, da er seine Eltern und seine Schwester erschossen hatte, und dies, wo er so schön Fagott bließ, zum „nettesten Jungen von Wolcott“ gewählt wurde, gerne Dostojewski las, und in der Schule brillierte! Er starb am 30. November 1962 in Lansing/ Kansas am Galgen, als ich noch ein kleines Baby war.

Dann las ich über den Frauenmörder Heinrich Pommerenke, der so lang im Knast saß, wie kaum ein anderer.

Die Wachleute, die ihn bewachen sollten, staken in einem Alter, über das zu sagen war: Als die geboren wurden, saß der alternde Knästling bereits 15 Jahre ein!

Die meisten seiner stumpfsinnigen Mitgefangenen hatten keine Ahnung, was er eigentlich verbrochen hatte, und im Alter durfte er hi und da in Begleitung eines Gefängnisgeistlichen ein bißchen in der Freiheit herumpromenieren. Man lief gemeinsam zu einer Kirche, da der Sünder das Frommsein als echte Alternative zu seinen Sünden für sich entdeckt hatte.

Die Gretel hatte heute Besuch von einer jungen Dame namens Silvia, einziger Enkelin ihrer verstorbenen Schwester Mechthild.

Zuerst saßen die Damen bei einer schmackhaften Kürbissuppe hoch oben auf dem Balkon. Später saßen sie dann im Garten, und ich stellte mir vor, wie die Silvia vielleicht auch so ein ekelhaftes junges Ding ist, wie die Lea in der „Lindenstraße“? Sie spielt die sympathische junge Großnichte, der es eine Herzensangelegenheit zu sein scheint, ihre Großtante zu besuchen, doch in Wahrheit will sie die Gretel womöglich berauben, um ihren Lover zu halten?

Ming kochte für seine Lieben, und gab den Etepetetsamen, indem er etwas übertrieben zur Ruhe mahnte, während er selber ganz normal vor sich hinrumpelte, und sogar das Radio laufen ließ. Aber als die Türklinke ein ganz klein bißchen schepperte, rief Ming ganz unlogisch und hinzu hochverärgert und laut: „Mann!!!“

Das ärgerte mich maßlos, so daß sich ein richtiger Wust an zwiderwurzigen Worten in meinem Inneren zusammenballte, die ich jedoch nicht anbrachte, weil ich mich erinnerte, wie enttäuscht der süße Ming gestern wegen der Mareike war, und man darüber hinaus doch versuchen solle, sich ganz und gar auf sein Gegenüber einzustellen.

„Verzeihung, liebster Ming!“ sagte ich stattdessen somit nett, und hinzu so wie jemand, der sich nicht immer nur vornimmt umzukehren und gut zu werden, sondern es auch wirklich tut!

Mings köstliche Mahlzeit wurde bald darauf auf der Terrasse serviert: Lachs, Zucchini und Reis, und alles schmeckte so lecker und hinzu unverwechselbar nach Ming! Das Julchen war allerdings bereits fertig, als wir Geschwister uns ebenmal niedergelassen hatten.

„Ich bin fertig!“ sagte es, und hüpfte von dannen.

Da mußte ich plötzlich an die Bea denken, die sich immer so nach einer heilen Bilderbuchfamilie gesehnt hatte, und zu diesem Gedanken wurde ich von Rührung und Wehmut gestreift.

Historische Erinnerung aus dem Jahre 1984:

Die Bea buk und kochte für ihre Lieben, und das damals 11-jährige schnippische Lindalein schlang alles in Sekundenschnelle hinab, und verschwand augenblicklich wieder auf ihr Zimmer, um Scheologie oder Mathematik zu studieren.

Später fachsimpelte es mit ihrem Papi Ric über hochgeistige Themen, und blendete Mutti Bea hierzu auf