Erwacht – Die Zeitenwanderer-Chroniken - Karolyn Ciseau - E-Book

Erwacht – Die Zeitenwanderer-Chroniken E-Book

Karolyn Ciseau

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Beschreibung

Eine Liebe durch Raum und Zeit. Das packende Finale der erfolgreichen Zeitenwanderer-Chroniken. Nur noch zwei Koordinaten sind übrig, nur noch zwei Zeitreisende, die Alison aufhalten muss – und die Zeit drängt. Wird es ihr gelingen, die Prophezeiung und mit ihr das Ende der Welt zu verhindern? Und kann sie auf Gregors Unterstützung hoffen? Im Paris des Jahres 1910 angekommen, erfährt Alison, warum Gregor ihre Verlobung aufgelöst hat. Eine Welt bricht für sie zusammen, denn Gregors Leben hängt an einem seidenen Faden. Während sie versucht, eine Tänzerin aus dem Moulin Rouge als Zeitreisende zu enttarnen, quält Alison vor allem eine Frage: Kann es eine Zukunft für sie und Gregor geben? Der siebte und letzte Teil der Zeitenwanderer-Chroniken. Tauche ein in ein neues romantisches Zeitreise-Abenteuer.

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ERWACHT

DIE ZEITENWANDERER-CHRONIKEN

BUCH 7

KAROLYN CISEAU

INHALT

Die Prophezeiung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Bonusmaterial: Zeitlinie

Erwacht

Die Zeitenwanderer-Chroniken

Copyright © 2019 von Karolyn Ciseau

Carola Meissl

Ilmenaugarten 115

21337 Lüneburg

[email protected]

www.karolynciseau.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat/Korrektorat: Textwerkstatt Anne Paulsen

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Covermotiv: © Shutterstock

Tag der Veröffentlichung: 26.11.2019

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

DIE PROPHEZEIUNG

Es sind zehn an der Zahl. Sie werden kommen und die Zukunft verändern. Und ihr Eingreifen bedeutet das Ende von Raum und Zeit.

12 / 07 / 395

27 / 01 / 622

07 / 09 / 767

23 / 04 / 1558

20 / 10 / 1665

05 / 04 / 1754

22 / 09 / 1812

07 / 10 / 1888

10 / 07 / 1910

22 / 01 / 1944

1

PARIS, 1910 – ALISON

Heute habe ich kein einziges Mal an ihn gedacht.

Während ich Tische abwische und Stühle hochstelle, fühlt es sich an, als wäre das die größte Herausforderung, vor der ich Tag für Tag stehe: nicht an Gregor zu denken. Ich hebe eine weiße Feder auf, die eine der Tänzerinnen verloren hat, und drehe sie zwischen meinen Fingern, während ich meinen Blick durch den Saal schweifen lasse. Selbst ohne die schwungvollen Klänge des Cancans und die fliegenden, bunten Röcke spürt man die Energie dieses Ortes. Stimmgewirr und ausgelassenes Gelächter klingen mir in den Ohren, obwohl die Gäste das Moulin Rouge längst verlassen haben.

Auf der Empore knarzen Schritte auf dem ausgedienten Parkett. Der Hausmeister, der einige Glühbirnen ausgetauscht hat, winkt mir mit dem Staubtuch in der Hand zu.

»Einen schönen Abend noch, Mademoiselle Kendall. Ich mache mich auf den Heimweg.«

Ich lege die Feder beiseite und nicke dem Mann mit der Halbglatze und der runden Brille freundlich zu. Er ist einer der wenigen Angestellten, die sich meinen Namen gemerkt haben. Ob er eine Frau hat, die zuhause auf ihn wartet? Oder kriecht er, ebenso wie ich, in ein einsames Bett, wenn seine Schicht vorbei ist? Wenigstens kann er jetzt nach Hause gehen. Ich habe noch einiges zu tun.

Es ist spät in der Nacht. So spät, dass die meisten Angestellten bereits ihre Zimmer im ersten Stock des Moulin Rouge aufgesucht haben oder in den Straßen von Montmartre den Abend ausklingen lassen. Nur Yvette schlendert pfeifend durch den Saal und lässt sich in einer der Sitznischen in meiner Nähe nieder. Sie läuft barfuß über den polierten Holzboden, ihre cremeweißen Tanzschuhe in der Hand, und ist nur mit Strapsen und Mieder bekleidet. Ihre Wangen sind erhitzt und das dunkelbraune Haar fällt ihr in kleinen, wirren Locken ins Gesicht.

»Du hast dich wieder mit Claude getroffen«, sage ich grinsend und wringe meinen Lappen über dem Putzeimer aus.

Yvette legt beide Hände an die Wangen und schenkt mir ein zauberhaftes Lächeln, das sonst den männlichen Gästen des Moulin Rouge vorbehalten ist.

»Er hat mich nach der Vorstellung erwartet. Und er hat Rosen gebracht. Ist das nicht romantisch?«

»Das ist es.«

Natürlich hat er ihr Rosen geschenkt. Claude ist über beide Ohren in Yvette verliebt. Auch wenn ich sicher bin, dass das sein Untergang sein wird. Die Tänzerin scheint in Liebesdingen nicht allzu festgelegt zu sein. Sie flirtet ununterbrochen mit den Kellnern und Gästen, und jeder kann sehen, wie sehr sie die männliche Aufmerksamkeit genießt.

Eigentlich müsste ich Yvette jetzt fragen, ob sie Claude schon vor ihrer Zeit im Moulin Rouge kannte. Oder ob ihr sein förmliches Werben, die Handküsse und Geschenke manchmal altmodisch vorkommen. Irgendetwas, was meinen Verdacht bestätigt, dass sie die Zeitreisende ist, die ich schon seit zwei Wochen suche. Aber ich bin viel zu müde und erschöpft, um zu dieser Uhrzeit noch Detektivin zu spielen.

Yvette sprach mich gleich an meinem ersten Tag im Moulin Rouge an. Die Koordinate der Prophezeiung hatte mich hierhergeführt, und ich fand eine Anstellung als Mädchen für alles. So konnte ich unauffällig in Kontakt mit den Angestellten und Besuchern des Pariser Varietés kommen. Du kommst mir bekannt vor, hatte sie zu mir gesagt, sind wir uns schon mal irgendwo begegnet? Ich hatte nur mit den Schultern gezuckt, aber ich war hellhörig geworden.

Vielleicht kennen wir uns tatsächlich. Aus einer Zukunft, die mir noch bevorsteht. Ich bin schon anderen Zeitreisenden begegnet, die sich an mich erinnerten, obwohl sie mir vollkommen fremd waren. Elicio und Henry.

In den vergangenen Tagen habe ich alles getan, um Yvette besser kennenzulernen. Wir waren in einem der vielen kleinen Cafés Espresso trinken und sind zusammen über die Champs-Élyséesgeschlendert. Ich habe ihr unzählige Fragen über ihr Leben gestellt, aber keine hat mir die Antworten gebracht, nach denen ich suche.

Jetzt malt meine neue Freundin mit dem Zeigefinger ein unsichtbares Herz auf den Tisch vor sich.

»Warum hast du eigentlich keinen heißblütigen Liebhaber, der dir den Abend versüßt, mon amie?«, will sie wissen und schaut unter flatternden Lidern zu mir auf.

Vielleicht, weil mein Liebhaber mir erst einen Heiratsantrag gemacht hat, um unsere Verlobung kurz darauf wieder zu lösen? Vielleicht, weil er mich im viktorianischen London sitzen gelassen hat, um sich mit einer Flasche Laudanum einen gemütlichen Abend zu machen.

Ich schlucke meine bissigen Erwiderungen hinunter. Sie würden nur zu unangenehmen Fragen führen. Und das ist kein Thema, über das ich gerne sprechen möchte.

»Männer machen nur Probleme«, murmele ich stattdessen, während ich mich intensiv mit einem Rotweinfleck auf einem der Stühle beschäftige.

Yvette lacht.

»Natürlich tun sie das. Aber was wäre unser Leben ohne ein bisschen Dramatik?«

Momentan könnte ich gut und gerne darauf verzichten.

Ich spare mir einen Kommentar und sortiere die Tischdecken, die ich in einem unordentlichen Haufen auf einen Stuhl gelegt habe. Einige von ihnen sind voller Kerzenwachs und Essensflecken. Ich werde sie morgen früh in die Wäscherei bringen müssen. Die Übrigen falte ich zusammen und lege sie für den kommenden Tag bereit.

Was wäre unser Leben ohne ein bisschen Dramatik? Die Worte könnten von Melissa stammen. Meine Gedanken schweifen zu Ben und meiner besten Freundin, die mir kurz vor meiner Zeitreise ein Foto aus Venedig geschickt haben. Sie stehen in einer der engen Gassen. Hinter ihnen ist eine Wäscheleine zwischen den Häusern gespannt. Die weißen Stoffe blähen sich im Wind. Der Verlobungsring an Melissas Hand funkelt in der Sonne. Meine Freunde sehen glücklich aus. Unbeschwert.

Könnte ich Fotos machen und sie mit ins Jahr 2065 nehmen, würde ich mich vor dem gigantischen Gipselefanten im Lustgarten des Moulin Rouge fotografieren. 1910 ist das ein beliebtes Motiv. Er wurde zur Weltausstellung erbaut, und in seinem Inneren befindet sich eine Bühne, auf der die männlichen Besucher sich bei Bauchtanz-Aufführungen verlustieren können. Aber da technische Gegenstände die Zeitreise nicht überstehen, ist das leider nicht möglich. Und ich würde wohl kaum ein ebenso glückliches Bild wie Melissa und Ben abgeben. Das hier ist keine ausgelassene Urlaubsreise – es ist eine Aufgabe, die ich erfüllen muss.

»Alison? Träumst du?«

Ich blinzele irritiert. Yvette hat das Kinn auf die Hände gestützt und schaut mich erwartungsvoll an. Mein Blick bleibt an ihren geschminkten Lippen hängen. Das Rot ist an einer Stelle ein wenig verwischt. Vermutlich von den Küssen, die sie und Claude getauscht haben.

»Entschuldige. Hast du etwas gesagt?«

Yvette schnaubt belustigt.

»Ich wollte wissen, was es mit dem gutaussehenden Mann auf sich hat, der dich den ganzen Abend beobachtet hat. Gibt es vielleicht doch einen Verehrer, den du mir verschweigst?«

»Welcher Mann?«, frage ich überrascht.

Ich habe keine Ahnung, von wem sie spricht. Während der Öffnungszeiten schenke ich Getränke aus, spüle Gläser ab und wische verschütteten Alkohol auf, was im Laufe des Abends immer häufiger passiert. Ich komme eher selten dazu, die Gäste genauer in Augenschein zu nehmen. Und ich habe keinen Mann bemerkt, der mich beobachtet hätte. Yvette wird wohl kaum den Hausmeister meinen, der sich so nett von mir verabschiedet hat.

»Er saß hier unten in einer der Nischen, ein wenig verdeckt von den roten Vorhängen. Vielleicht hast du ihn nicht bemerkt. Groß, dunkelblonde Locken, teurer Anzug und ein ziemlich ernster Blick«, berichtet Yvette und ahmt dabei den Gesichtsausdruck nach, den der Fremde gemacht haben muss.

Könnte es sein …

Nein, Alison. Schlag dir diesen Gedanken aus dem Kopf!

Natürlich kommt mir sofort Gregor in den Sinn, obwohl es doch so viele andere Männer gibt, auf die diese Beschreibung zutreffen könnte. Meine Hand krampft sich in eines der Tischtücher, das ich gerade zusammenfalte.

»Bist du sicher, dass er mich angesehen und nicht nur zufällig in meine Richtung geblickt hat? Ich meine, hier gibt es so viele hübsche Mädchen. Warum sollte er sich ausgerechnet für mich interessieren?«

Yvette zupft an dem Tischtuch, an dem ich mich festklammere.

»Ich bin mir sicher. Er hat dich nicht aus den Augen gelassen. – Du kennst ihn, oder?«

Sie mustert mich aufmerksam. Wahrscheinlich sieht sie es mir an der Nasenspitze an, dass mich selbst die vage Möglichkeit, Gregor könnte in Paris sein, völlig durcheinanderbringt.

Er hat gesagt, er will sein eigenes Leben führen – frei von Verpflichtungen, frei von den dunklen Schatten der Prophezeiung. Er hat gesagt, er erinnert sich kaum mehr an mich und an die Gefühle, die er einmal für mich empfunden hat. Warum sollte er also ausgerechnet an diesen Ort kommen?

Gregor ist nicht hier. Er hat damit abgeschlossen und das solltest du auch tun, Alison, ermahne ich mich. Doch mein Lächeln ist hilflos, als ich Yvette anschaue. Ich kann spüren, wie zugleich Hoffnung und Angst an meinen Mundwinkeln ziehen.

Vielleicht will er sich entschuldigen, weil er mich in London sitzengelassen hat.

Vielleicht sind einige Erinnerungen zurückgekehrt, und nun will er mich zurück.

Stopp!

»Ich kenne in Paris niemanden, auf den diese Beschreibung passt«, sage ich und versuche damit nicht nur Yvette, sondern auch meine eigenen Gedanken zum Schweigen zu bringen. »Und jetzt lass uns schlafen gehen. Wir haben morgen wieder einen langen Tag vor uns.«

Yvette schüttelt ihre dunkelbraunen Locken und lacht ungläubig.

»Du hast ein kleines Geheimnis, Alison. Ich sehe es in deinen hübschen grünen Augen. Aber ich werde es schon noch aus dir herauskitzeln.«

Ein Geheimnis. Ob sie auch nur ansatzweise ahnt, wie recht sie damit hat?

Der nächste Abend beginnt mit einem umgestoßenen Glas Rotwein und einer zeternden Dame mit riesigem Federhut, die sich über ihren tollpatschigen Begleiter beschwert, während sich die rote Flüssigkeit über Tischdecke, Kleid und Boden ergießt. Ich eile mit Putzlappen und Eimer in der Hand herbei, doch es scheint kaum noch etwas zu retten zu sein.

»Es ist ein Skandal, schau dir mein Kleid an, Raphaël. Wie konntest du bloß so unvorsichtig sein?«

»Es tut mir unendlich leid, ma chérie.«

Raphaël senkt demütig den Kopf, doch irgendwie nehme ich ihm die Geste nicht ab, denn jetzt starrt er mir in den Ausschnitt. Schnell richte ich mich auf und stoße dabei gegen die Dame mit dem ruinierten Kleid.

»Passen Sie doch auf! Mon Dieu, hier ist es aber auch eng. Warum in Herrgotts Namen stehen die Tische denn so nah an der Tanzfläche. Es ist skandalös! Einfach skandalös!«

»Entschuldigen Sie, Madame.«

»Ich entschuldige gar nichts.«

Da hilft es nur noch, tief durchzuatmen. Innerlich schüttele ich den Kopf über so viel Feindseligkeit. Aber im Moulin Rouge ist der Gast König. Das wurde mir gleich zu Anfang meiner Tätigkeit eingebläut.

Als ich schließlich mit gesenktem Haupt davonschleiche, hakt sich Yvette bei mir unter.

»Was für ein Abend«, stöhne ich.

Aber anstatt etwas zu erwidern, zieht meine Freundin mich in eine ruhige Ecke des Tanzsaals. Sie hält einen riesigen Fächer, bedruckt mit Pfauen, den sie auf- und zuklappen lässt, während sie mir mit ihren langen Wimpern verschwörerisch zuzwinkert.

»Er ist wieder da. Und er hat sich bei Madame Lilou nach dir erkundigt.«

Madame Lilou ist die Tanzlehrerin und Teilhaberin des Moulin Rouge. Ich kann mir vorstellen, dass sie nicht besonders begeistert davon war, weil sich ein Mann ausgerechnet nach mir und nicht nach einem ihrer Mädchen erkundigt hat.

»Von wem redest du?«, frage ich Yvette, obwohl ich die Antwort bereits kenne.

Mir ist mulmig zumute.

Yvette klappt den Fächer zu und wedelt damit in Richtung der Sitznischen auf der linken Seite des Saals, gleich neben der Bühne.

»Na, dein Verehrer von gestern Abend. Madame Lilou will, dass du zu ihm gehst und ihm schöne Augen machst. Er scheint gut betucht zu sein. Vielleicht kannst du ihn zu einer teuren Flasche Champagner überreden.«

Mein Herz klopft in wildem Stakkato und meine Augen schweifen hektisch durch die Menge. Doch die wirbelnden Tänzer und das schummrige Licht machen es schwer, eine einzelne Person ausfindig zu machen.

»Er sitzt dort hinten«, sagt Yvette, die meinen suchenden Blick bemerkt, und hebt noch einmal ihren Fächer.

Dann sehe ich ihn. Und alles, was Gregor und ich zusammen erlebt haben, ist plötzlich wieder so präsent, als wäre es erst gestern gewesen. Unser erster Kuss in Irland, der so überraschend kam, dass es mir beinahe den Boden unter den Füßen wegriss. Sein Liebesgeständnis in Frankreich, das er unabsichtlich machte, weil er nicht wusste, dass ich zuhöre. Der romantische Heiratsantrag in Venedig.

Und schließlich: unsere Trennung.

Gefühle prasseln auf mich ein wie dicke Regentropfen, und ich wünschte, ich hätte einen Schirm, mit dem ich mich dagegen schützen könnte. Doch da ist nur Yvettes Fächer, den sie aufklappt und hinter den ich mich eilig ducke – und ihre verständnislose Miene.

»Ich kann da nicht hingehen«, presse ich hervor.

»Aber warum denn nicht? Du musst dich nur neben ihn setzen und ein bisschen plaudern.«

»Ich kann nicht.«

Mein Kopf ist leer. Mir will einfach keine Ausrede einfallen, warum ich dem vornehmen Herrn, der ungeduldig – oder nervös – mit den Fingern auf den Tisch trommelt, keine Gesellschaft leisten kann. Vielleicht, weil auf meinem Kleid Rotweinflecken vom Aufwischen sind oder weil mir von der harten Arbeit und den vielen Menschen der Schweiß auf der Stirn steht. In diesem kläglichen Aufzug will ich Gregor nicht gegenübertreten, nur um mir erneut von ihm das Herz brechen zu lassen.

Bevor ich noch etwas sagen kann, nickt Yvette verstehend.

»Er ist ein Verflossener.«

Beinahe bin ich erleichtert, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hat.

»Das kann man so sagen.«

»Ich werde mit ihm reden und ihm sagen, er soll sich davonscheren. Mach dir keine Gedanken.«

Panik wallt in mir auf. Ich will nicht, dass Yvette mit ihm redet – oder dass sie ihn fortschickt. Am liebsten möchte ich mich verstecken und dieser Situation einfach aus dem Weg gehen. Aber das wird Gregor nicht zulassen.

Was will er hier? Ist nicht schon alles zwischen uns gesagt? Will er noch einmal seinen Finger in die offene Wunde legen, die unsere Trennung bei mir hinterlassen hat? Warum kann er mich nicht einfach in Ruhe nach dem Zeitenwanderer suchen lassen? Schließlich war er derjenige, der die Verantwortung für die Prophezeiung auf mich abgewälzt hat.

»Also gut.«

Yvette klappt entschlossen ihren Fächer zusammen und strafft sich. Sie sieht aus, als wolle sie in die Schlacht ziehen und nicht einen verflossenen Liebhaber verscheuchen. Ich will sie aufhalten, aber es ist zu spät. Zu den schnellen Rhythmen eines Cancans bewegt sie sich zwischen den Tischen hindurch.

Ich sehe zu Gregor und für einen Moment scheint es, als würde er meinen Blick erwidern. Doch dann senkt er den Kopf und starrt in seinen Brandy. Ich zähle die Sekunden, bis Yvette den Tisch erreicht hat, an dem er sitzt. Und jede einzelne von ihnen lässt mein Herz ein wenig schwerer werden.

Es wäre richtig, ihn fortzuschicken. Für uns gibt es keine Zukunft. Aber was, wenn ich ihn dann niemals wiedersehe?

2

PARIS, 1910 – GREGOR

»Darf ich fragen, was Sie hier machen?«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, überrascht von dem harschen Ton. Die Tänzerinnen im Moulin Rouge sind meistens ausgesprochen freundlich – vor allem, wenn sie sehen, dass man Geld mitbringt. Diese hier hat kein Lächeln für mich übrig. Und so entschlossen, wie sie die Hände in die schmalen Hüften stemmt, kann ich mich wohl auf einiges gefasst machen.

»Nun, ich genieße die Vorstellung«, antworte ich und lehne mich auf meinem Sitz zurück.

Mein Auftreten ist selbstsicherer als ich mich fühle. Ich sitze hier seit einer Stunde, und anstatt den Tänzerinnen zuzusehen, halte ich nach Alison Ausschau. Heute konnte ich mich sogar dazu durchringen, Madame Lilou nach ihr zu fragen. Sie wirkte ein wenig unwillig, aber sie hat versprochen, nach Alison zu schicken.

Ich hätte mich schon gestern nach ihr erkundigen sollen. Den ganzen Abend habe ich sie mit Blicken verfolgt, ihr beim Einschenken der Getränke und beim Abräumen der Tische zugesehen. Aber ich hatte Angst davor, wie sie reagieren würde, wenn sie mich erkennt, und diese Angst begleitet mich noch immer.

Die Tänzerin, die nun an Alisons Stelle an meinem Tisch steht, mustert mich von oben bis unten. Abschätzig, als hätte ich einen Hund getreten oder einem alten Mann seinen Stock weggenommen. Was habe ich bloß getan, um sie derart gegen mich aufzubringen?

»Sie will, dass sie gehen. Und zwar auf der Stelle«, sagt sie und sieht mich herausfordernd an.

Sie.

Alison.

Bei dem Gedanken, dass sie in der Nähe ist und mich vielleicht gerade beobachtet, wird mein Mund trocken. Ich verschränke die Arme vor der Brust, um nicht wieder nervös mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln und blicke der Brünetten direkt in die graugrünen Augen.

»Und warum kommt sie nicht her, um mir das persönlich zu sagen?«

Dabei weiß ich genau, warum: Ich habe Alison verletzt. Wieder und wieder. Als wir uns nach unserer Trennung in London wiedergesehen haben, hätte Frieden zwischen uns einkehren können. Vielleicht hätten wir es trotz unserer Gefühle füreinander sogar zu einer recht passablen Freundschaft geschafft. Und vielleicht hätte ich alle Bedenken über Bord geworfen und ihr erzählt, warum wir nicht zusammen sein können. In meinem Kopf hatte ich unser Gespräch unzählige Male durchgespielt.

Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe, Alison. Du musst etwas für mich tun. Du musst die letzten Koordinaten bereisen und die Prophezeiung verhindern. Das Schicksal der Welt hängt davon ab, und wir können unser eigenes nicht darüber stellen.

So oder so ähnlich hätte ich es gesagt und ihr dann mein verletztes Bein gezeigt, das seit Jahren nicht heilt. Der Beweis dafür, dass mein langes Leben vermutlich bald zu einem Ende gelangen würde.

In London, nachdem wir den Angriff des Rippers abgewendet hatten, war ich kurz davor gewesen, Alison alles zu beichten. Aber dann kam mir mein Unfall in die Quere: die lebensbedrohliche Verletzung an meinem Bein führte zu einem schwerwiegenden Sturz, bei dem ich mir den Schädel anschlug.

Sechs Stunden lag ich bewusstlos in meiner Wohnung in Whitechapel, bevor meine Wirtin mich fand. Mein Kopf dröhnte und ich hatte viel Blut verloren. Die alte Wunde an meinem Bein hatte sich so schlimm entzündet, dass der Arzt befürchtete, es amputieren zu müssen. Für Wochen war ich dem Tod näher als dem Leben.

Natürlich war Alison aus meinem Leben verschwunden, als ich wieder bei Gesundheit war. Vermutlich hatte sie angenommen, ich hätte sie versetzt oder ein bisschen zu viel Laudanum zu mir genommen und mich damit außer Gefecht gesetzt.

Es war meine Schuld. Ich hatte alles getan, damit sie zu diesem Schluss gelangte. Und ich hatte sie erneut verloren. Nur war es dieses Mal schlimmer, weil ich nicht wusste, ob ich weitere zwanzig Jahre durchhalten konnte, bevor ich starb.

Jetzt bin ich hier. Der Zustand meines Beins hat sich verbessert, aber ich zähle täglich mehr graue Haare. Sie breiten sich an meinen Schläfen aus. Und wer genau hinsieht, erkennt, dass ich mittlerweile mehr einem Mann Mitte dreißig, denn Ende zwanzig ähnele. Ich altere noch immer deutlich langsamer als jeder andere Mensch. Aber nicht langsam genug, um die Prophezeiung aufzuhalten, und um Alisons Gegenwart im Jahr 2065 zu erleben.

»Also? Gehen Sie jetzt bitte!«

Ich habe die Tänzerin, die vor mir steht, komplett ausgeblendet. Sie wird irgendeinen Grund genannt haben, warum Alison mich nicht sehen will, aber ich habe ihren Worten nicht gelauscht. Es würde meine Meinung auch nicht ändern.

»Nein«, erwidere ich so ruhig wie möglich.

In mir tobt ein Sturm, aber ich lasse es mir nicht anmerken. Die junge Frau schweigt einen Moment, irritiert über meine Unverblümtheit.

»Wie meinen Sie das? Nein?«, fragt sie dann gereizt.

Die Tänzerin wirkt nicht so, als würde sie mich mit meiner Antwort durchkommen lassen. Ich stelle die Füße fest auf den Boden, als erwartete ich, dass sie mich jeden Moment aus meiner Sitznische zerrt. Und sie sieht so aus, als würde sie das tatsächlich in Erwägung ziehen.

»Ich muss mit Alison reden, und ich werde nicht gehen, bevor ich das getan habe.«

Eben war ich noch unsicher, ob ich das Moulin Rouge nicht lieber verlassen sollte. Ich kann Alison nicht zwingen, mit mir zu reden. Aber jetzt fühlt es sich an, als würde alles davon abhängen, dass ich hier sitzen bleibe und auf sie warte. Egal, wie lange es dauert. Und egal, wie viele Menschen versuchen, mich von hier wegzuscheuchen.

»Schön, dann werde ich mit Madame Lilou sprechen. Sie mag es nicht, wenn man ihre Mädchen belästigt«, sagt die Tänzerin laut, um die Musik zu übertönen.

Ein Mann am Nebentisch dreht sich zu uns um und runzelt die Stirn. Ich spüre seinen argwöhnischen Blick auf mir und bin sicher, er wird ihr zur Hilfe eilen. Doch dann wendet er sich wieder seiner jungen Begleiterin zu, und die beiden lachen über eine kleine, komische Szene, die sich vor ihnen auf der Bühne abspielt.

»Machen Sie das«, sage ich gelassen zu der Tänzerin, »und bringen Sie eine Flasche Dom Pérignon mit, wenn Sie zurückkommen.«

Sie zögert. Ich habe gerade das teuerste Getränk auf der Karte bestellt, und das wird ihrer Madame gefallen. Weniger gefallen wird ihr dagegen, dass eines ihrer Mädchen einen gut zahlenden Gast vertreiben will.

Ich habe gewonnen. Das verächtliche Schnauben der Tänzerin verrät es mir.

»Am besten, ich bringe Ihnen gleich zwei Flaschen«, schlägt sie mit wütend funkelnden Augen vor.

Ich nicke, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.

Geld spielt keine Rolle. Nichts spielt eine Rolle, solange ich nur noch ein einziges Mal die Möglichkeit bekomme, mit Alison zu reden.

Mein Triumph darüber, dass ich mich nicht habe vertreiben lassen, hält genau so lange an, wie die Musik spielt. Ich halte immer wieder Ausschau nach Alison, aber sie lässt sich nicht mehr blicken. Und als die Gäste nach und nach den Saal verlassen, schwindet meine Hoffnung. Alison wird nicht mit mir reden. Warum sollte sie auch? Zu viel ist geschehen, das nicht wieder gutgemacht werden kann.

Ich hätte ihr viel früher sagen müssen, warum ich so abweisend war. Ich hätte nicht allein darüber bestimmen sollen, wie es mit uns weitergeht. Aber ich bin es gewohnt, Entscheidungen auf diese Art zu treffen.

Allein.

»Sie haben Ihren Dom Pérignon nicht getrunken.«

Die Tänzerin von vorhin gleitet mit einer geschmeidigen Bewegung zu mir in die Nische und nippt an meinem Glas, in dem der Champagner nur noch leicht perlt. Ihre rot geschminkten Lippen hinterlassen einen Abdruck.

»Nein.«

Ich stütze meinen Kopf schwer auf die Hand und reibe mir über die Stirn. Hinter meinen Schläfen pocht ein dumpfer Schmerz, der mich sonst nur überfällt, wenn ich zu viel getrunken habe.

»Und ich dachte, Sie hätten Ihren Kummer längst in überteuertem Alkohol ertränkt.«

Ich schnaube.

»Da würden zwei Flaschen wohl kaum genügen.«

Glauben Sie mir, ich habe es versucht, will ich hinzufügen. Aber das scheint mir doch zu erbärmlich.

Wir schweigen einen Moment, als wollten wir der Trauer, die in diesen Worten mitschwingt, Raum geben. Unsere Stille wird durchbrochen vom Klirren der Gläser, die von einem Kellner abgeräumt werden, vom Stühlerücken und dem Kichern einiger Tänzerinnen, die sich nach der Vorstellung unter die verbliebenen Gäste gemischt haben. Alison ist nicht dabei.

»Es tut mir leid, aber Sie müssen jetzt gehen«, sagt die brünette Tänzerin schließlich sanft.

Es klingt endgültig. Als wäre das meine letzte Chance gewesen und ich hätte sie vertan. Auf einmal komme ich mir schrecklich verloren vor.

»Ich kann nicht«, flüstere ich.

Vielleicht sieht sie etwas in meinen Augen, oder sie hört es in meiner verzweifelten Stimme. Jedenfalls legt sie ihre Hand vorsichtig auf meine und streicht darüber. Ihre Finger sind schmal, ihre Haut ist warm und zart und die Berührung auf gewisse Weise tröstlich.

»Ich könnte ihr etwas ausrichten«, schlägt sie leise vor.

Erleichtert atme ich auf. Es ist, als würde die Tänzerin mir ihre rettende Hand reichen. Und die Worte, die ich mir zweiundzwanzig Jahre lang zurechtgelegt habe, sprudeln einfach so aus mir heraus.

»Sagen Sie ihr, dass ich ein Narr war, sie gehen zu lassen. Dass ich mich an jeden unserer gemeinsamen Momente erinnere und dass sie mir alles bedeuten. Sagen Sie ihr, ich könnte sie ebenso wenig vergessen, wie ein Vogel das Fliegen verlernt. Ich habe sie das glauben gemacht, und ich hatte Gründe dafür. Aber diese Gründe waren unbedeutend. Das weiß ich jetzt.«

Die Tänzerin nickt langsam. In ihrem Augenwinkel schimmert eine Träne.

»Ich werde es ihr ausrichten«, verspricht sie.

Als sie aufsteht und sich zum Gehen wendet, setze ich noch etwas hinzu. Für sie ergibt es keinen Sinn, aber Alison wird es verstehen. Ich weiß nicht, ob es ihre Meinung ändern wird, mich zu sehen, aber ich hoffe es inständig. Denn dieses Geheimnis hätte ich nie für mich behalten sollen.

»Sagen Sie ihr, ich bekomme graue Haare – und das jagt mir schreckliche Angst ein.«

3

PARIS, 1910 – ALISON

»Warte!«

Gregor will gerade das Moulin Rouge verlassen. Mein Herz klopft wild, als ich ihm in die Eingangshalle folge. Und es fühlt sich an, als würde es stehenbleiben, als er sich zu mir umdreht. Ich trete vor ihn und streiche vorsichtig durch sein lockiges Haar, in dem sich einzelne graue Strähnen abzeichnen.

Er hat nicht gelogen. Das war keine Tücke, um mich zu ihm zu locken. Er altert tatsächlich.

Ich mache einen Schritt zurück und lasse meine Hand langsam sinken. Sie scheint plötzlich unendlich schwer zu sein. Um uns herum werden die Lichter ausgeschaltet – eines nach dem anderen, bis es schließlich fast dunkel ist. Der Mond, der von draußen durch die gläsernen Eingangstüren scheint, beleuchtet Gregors Profil nur spärlich. Seine Miene wirkt ernst und schuldbewusst, aber er macht keine Anstalten, etwas zu sagen.

Abgestandener Zigarrenrauch hängt in der Luft, mischt sich mit dem Geruch nach Schweiß und Parfum. Mich überkommt der dringende Wunsch, frische Luft zu atmen.

»Wie lange weißt du es schon?«, stoße ich mit zitternder Stimme hervor.

Ich wage kaum, Gregor in die Augen zu sehen, weil ich fürchte, ich könnte in Tränen ausbrechen. Eigentlich kenne ich die Antwort auf meine Frage bereits. Sie dröhnt in meinen Ohren, noch bevor er sie ausspricht.

»Seit wir uns 1812 in Cornwall gesehen haben.«

Das war der Grund, warum er so abweisend war. Das war der Grund, warum er unsere Verlobung gelöst und mich fortgeschickt hat.

Ich schlucke schwer.

Heißt das, er wird sterben? Irgendwie habe ich immer gehofft, Gregor würde eines Tages vor meiner Wohnungstür auftauchen und wir könnten gemeinsam in meiner Zeit leben. Jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob ihm überhaupt so viel Zeit bleibt.

»Und wie lange …?«

Ich breche ab. Ich kann diese furchtbare Frage nicht stellen: Wie lange hast du noch zu leben? Wie bald werde ich dich verlieren? Denn obwohl ich glaubte, ihn längst verloren zu haben, ist die Realität viel schlimmer.

Gregor zieht die Schultern hoch.

»Ich weiß nicht. Vielleicht bleiben mir hundert Jahre. Vielleicht weniger.«

Seine Antwort sollte mich nicht so sehr schockieren. Wenn Melissa mir eröffnen würde, dass sie noch hundert Jahre zu leben hat, würde ich sie beglückwünschen. Aber es ist Gregor, der vor mir steht, und für ihn sind hundert Jahre nur ein Wimpernschlag. Trauer überkommt mich bei dem Gedanken, dass er niemals meine Zeit kennenlernen wird.

»Du hättest es mir sagen müssen«, erwidere ich. Mein Tonfall ist bitter.

Ich will ihm keine Vorwürfe machen. Nicht jetzt. Aber ich kann einfach nicht anders. So vieles wäre anders gelaufen, wenn ich seine Beweggründe verstanden hätte.

---ENDE DER LESEPROBE---