Verloren – Die Zeitenwanderer-Chroniken - Karolyn Ciseau - E-Book

Verloren – Die Zeitenwanderer-Chroniken E-Book

Karolyn Ciseau

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Beschreibung

Eine Liebe durch Raum und Zeit. Die Geschichte um Alison und Gregor geht weiter. Erst die schmerzhafte Trennung von Gregor, und dann gibt es auch noch Streit zwischen Alison und ihren besten Freunden Melissa und Ben. Da kommt die Flucht in eine andere Zeit gerade recht. Alison reist ins Norwegen des 8. Jahrhunderts. Eigentlich hatte sie gehofft, Gregor wiederzusehen und mehr über die apokalyptische Prophezeiung in Erfahrung zu bringen. Doch dann kommt alles anders: Alison gerät in den erbitterten Kampf zwischen zwei Wikinger-Clans und muss sich in einer Welt voller blutiger Schlachten und nordischer Götter-Mythen behaupten. Eine Welt, die ihr einiges über ihre große Liebe offenbart: Denn Gregors Vergangenheit birgt ein düsteres Geheimnis. Der dritte Teil der erfolgreichen Zeitenwanderer-Chroniken. Tauche ein in ein neues romantisches Zeitreise-Abenteuer.

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VERLOREN

DIE ZEITENWANDERER-CHRONIKEN

BUCH 3

KAROLYN CISEAU

INHALT

Die Prophezeiung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Verloren

Die Zeitenwanderer-Chroniken

Copyright © 2017 von Karolyn Ciseau

Carola Meissl

Ilmenaugarten 115

21337 Lüneburg

[email protected]

www.karolynciseau.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat/ Korrektorat: Anne Paulsen

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Covermotiv: © Shutterstock

Tag der Veröffentlichung: 09.11.2017

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

DIE PROPHEZEIUNG

Es sind zehn an der Zahl. Sie werden kommen und die Zukunft verändern. Und ihr Eingreifen bedeutet das Ende von Raum und Zeit.

12 / 07 / 395

27 / 01 / 622

07 / 09 / 767

23 / 04 / 1558

20 / 10 / 1665

05 / 04 / 1754

22 / 09 / 1812

07 / 10 / 1888

10 / 07 / 1910

22 / 01 / 1944

1

»Wo ist es?«

Hektisch durchwühle ich meinen Rucksack, schiebe die Reste eines Müsliriegels, einen Apfel, mein Handy und eine Packung Taschentücher beiseite. Meine Trinkflasche fällt auf den Boden, schlägt mit einem dumpfen Geräusch auf einen Stein auf. Ich beachte sie kaum.

»Was suchst du denn? – Alison?«

Ben legt beruhigend eine Hand auf meinen Arm. Ich halte inne und bemühe mich, tief durchzuatmen. Mein Blick gleitet über den wolkenverhangenen Himmel, die braungrünen Wiesen. Melissa ist schon ein paar Schritte vorausgegangen. Ihre pinke Funktionsjacke und die blonden Locken stehen in buntem Kontrast zu der kargen Moorlandschaft.

»Ach, es ist nichts.«

»So sieht es aber nicht aus. Du zitterst am ganzen Körper. Ist dir kalt?«

Ich weiß nicht warum, aber Bens besorgte Stimme macht mich wütend. Kann er nicht einfach zu Melissa gehen und mich in Ruhe lassen?

»Es ist alles in Ordnung. Wirklich.«

Ich versuche nicht so gereizt zu klingen, wie ich mich fühle, aber es funktioniert nicht. Ben wirkt verletzt.

»Mein Haarband, ich glaube, ich habe es verloren.«

Meine Stimme bebt, ich kralle meine Finger in die Handflächen bis es wehtut. Weil ich nicht weinen will und weil ich wütend bin. Wütend auf Ben, weil er so fürsorglich ist und damit alles nur noch schlimmer macht. Und wütend auf mich selbst. Weil mir dieses verdammte Haarband die Tränen in die Augen treibt.

»Das blaue?«

Ich nicke. Ben lacht erleichtert auf, holt meine Trinkflasche und reicht sie mir.

»Hier ist es doch.«

Das Band klebt an der feuchten Flasche. Es hat sich zweimal um den durchsichtigen Plastikbehälter geschlungen, das Ende baumelt herab. Ich ziehe daran und wickele es um meine Hand.

»Siehst du? Ist doch alles in Ordnung.«

Ben spricht mit mir wie mit einem kleinen Kind, aber es ist ja auch kein Wunder. Er weiß nicht, was mir dieses blaue Haarband bedeutet. Dass Gregor es mir auf meiner Zeitreise nach Frankreich als ein Zeichen seiner Liebe gegeben hat. Es kommt mir wie Verrat vor, es vor Bens Augen wieder in mein Haar zu binden. Aber ich habe das Gefühl, dass es zu mir gehört. Ein Stück meiner Vergangenheit ist, das ich noch nicht bereit bin loszulassen.

Wir holen Melissa an einem kleinen Pfad ein, der sich zwischen zwei Felsbrocken hindurchschlängelt und an einem Fluss endet. Moosbewachsene Steine stellen sich dem sprudelnden und schäumenden Wasser mutig in den Weg. Eine weiße Wohnkapsel mit Solarplatten auf dem Dach und einem breiten Fenster steht daneben. Das futuristische Design passt für meinen Geschmack so gar nicht in die Landschaft. Aber im Dartmoor National Park findet man diese Zelt-Kabinen jetzt an jeder Ecke. Sie sind mit einer Küchenzeile, einem kleinen Bad, einer Schlafecke und einem Monitor zum Surfen und Fernsehen ausgestattet. Über eine App kann man die Kabinen spontan mieten.

Melissa, Ben und ich haben unseren Trip nach Dartmoor schon vor einer Ewigkeit geplant, weil Ben unbedingt die neuen Zelt-Kabinen ausprobieren wollte. Melissa steht bereits davor und überprüft die Verfügbarkeit.

»Was meinst du, Ben? Sollen wir diese Kabine nehmen? Im Logbuch ist noch niemand eingetragen.«

Ich versuche den Stich zu ignorieren, den mir ihre Frage versetzt. Sie spricht mit Ben, als wäre ich gar nicht hier. In letzter Zeit ist das häufig der Fall. Erst dachte ich, sie hätte nur viel in der Uni zu tun und sich deshalb immer weiter zurückgezogen. Keine gemeinsamen WG-Abende mehr, keine Zeit, um mit mir in die Mensa zu gehen oder auf dem Campus in der Sonne zu liegen und heiße Studenten zu beobachten. Aber dann ist mir klargeworden, dass es an meiner Beziehung zu Ben liegt.

Wobei Beziehung gewiss nicht das richtige Wort ist. Wir verbringen Zeit miteinander, und wir haben ein paar Mal geknutscht, aber es fühlt sich merkwürdig an. So, als wolle ich etwas erzwingen, für das ich einfach nicht bereit bin.

»Klar, warum nicht. – Alison?«

Ich zucke mit den Schultern, blicke zum Horizont, an dem sich die Sonne langsam senkt.

»In Ordnung.«

Melissa bucht die Kabine, und die Tür springt mit einem mechanischen Klicken auf. Im Inneren ist alles neu und sauber und technisch auf dem neuesten Stand. Es riecht sogar noch nach frischer Farbe, sodass ich erstmal das breite Fenster aufschiebe, um Luft hereinzulassen. Melissa und Ben sind völlig aus dem Häuschen, aber ich muss ständig an Frankreich zurückdenken. An die Stunden mit Gregor in unberührter Natur, an die Lagerfeuer und an Momente, in denen wir den Naturgewalten ausgeliefert waren. Es war nicht immer bequem, aber es war authentisch – ungeschliffen.

»Kommst du mit mir die Trinkflaschen auffüllen?«, fragt Ben mich, während Melissa es sich vor dem Fernseher bequem macht.

Ich würde am liebsten ablehnen. Er will Zeit mit mir alleine verbringen, wissen, ob es mir gut geht, mich küssen. Und dann sind da noch die ewig gleichen Fragen, denen ich beständig aus dem Weg gehe: Sind wir ein Paar? Liebst du mich? Ich wünschte, es wäre alles anders. Ich wünschte, ich könnte Gregor endlich aus meinen Gedanken verbannen und mich voll und ganz auf Ben und diese Beziehung einlassen. Aber das kann ich nicht.

»Geh schon vor. Ich komme gleich.«

Ben wirkt enttäuscht. Er wird wissen, dass ich mir Zeit lassen werde.

»Was schaust du da?«, frage ich Melissa, nachdem Ben die Zelt-Kabine mit unseren Trinkflaschen verlassen hat.

Meine Freundin hält den Blick starr auf den Fernseher gerichtet, auf dem irgendein Naturfilm flimmert. Wie ironisch, wo sie doch nur vor die Tür gehen müsste, um all das zu sehen. Aber ich habe das Gefühl, sie schaut sowieso nicht richtig hin. Sie will mir nur ausweichen. Ich frage mich, warum sie überhaupt auf diesen Wanderausflug mitkommt, wenn ihr meine Nähe doch so unerträglich geworden ist.

Seufzend schnappe ich mir Bens Rucksack und räume unser Abendessen, das er den ganzen Tag mit sich herumgeschleppt hat, aus – gefüllte Pilze, Avocado-Käse-Sandwiches und ein Couscous-Salat, der herrlich würzig duftet. Er hat gestern Abend bestimmt noch eine halbe Ewigkeit in der Küche gestanden.

Melissa und ich hatten versprochen, uns um den Nachtisch kümmern. Aber dann sind es doch nur ein paar Müsliriegel und ein Obstsalat geworden, die wir schon auf dem ersten Teil unserer Wanderung gegessen haben. Morgen wollen wir noch hinunter zur Küste, anschließend geht es zurück nach London.

Es wird ein ruhiger Abend. Draußen zieht dichter Nebel auf und umwabert unsere Zelt-Kabine. Die letzten Sonnenstrahlen tauchen die Landschaft vor unserem Fenster in ein mystisches Licht. Doch davon bekommen wir nur wenig mit. Wir spielen Karten und irgendein Ratespiel, das Ben sich neu gekauft hat. Aber wir sind alle müde und irgendwie ist die Stimmung komisch. Wenn ich an der Reihe bin, etwas zu erklären, und Melissa raten soll, gibt sie sich keine Mühe. Lustlos lässt sie Begriffe fallen, bis ich es schließlich aufgebe.

»Ich gehe schlafen«, verkünde ich und klettere auf das obere Bett.

Ben sieht mich überrascht an.

»Willst du nicht mit mir hier unten schlafen?«

Ich blicke auf das untere Doppelbett, auf dem unser Kartenspiel und die Tupperdosen mit unserem Abendessen verteilt sind. Melissa hat sich dort bereits in ihren Schlafsack eingewickelt, weil ihr kalt ist. Ben sitzt im Schneidersitz am Fußende der Matratze, greift nach der Spielschachtel, um die Karten wieder zu verstauen.

»Nein, ist schon okay. Ich störe euch doch nur, wenn ihr jetzt alles zusammenräumen müsst.«

»Das machen wir gerne«, sagt Ben viel zu hastig.

Melissa schnaubt.

»Lass sie. Sie ist lieber allein.«

So wie sie es sagt, klingt es abfällig. Dabei hat sie recht. Vermutlich würde ich neben Ben kein Auge zutun.

Ich liege noch eine Weile wach, lausche auf Bens und Melissas Stimmen, deren Unterhaltung viel angeregter geworden ist, seitdem ich nicht mehr dabei bin. Dann drifte ich weg, falle in einen unruhigen Schlaf.

Weiß. So viel Weiß. Wo ich auch an mir herunterschaue bauschen sich Tüll und Spitze, geben mir das Gefühl, in einem Meer aus Stoff zu versinken. Mir ist viel zu warm unter all den Stoffschichten, und ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

»Meine Tochter, du bist eine wunderschöne Braut«, versichert mir mein Vater.

Meine Mutter nickt zustimmend und wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Doch sie ist nicht meine Mutter, sondern Caterina de’ Medici. Und es sind keine Tränen, die in ihren Augen glänzen, sondern ein diabolisches Funkeln.

»Nun wirst du deinem zukünftigen Ehemann dein schönstes Lächeln schenken. Ein Lächeln, das einer Königin würdig ist.«

Ich habe das Gefühl, dass sie mich mit jedem ihrer Worte verhöhnt.

»Da fehlt noch etwas«, sagt mein Vater.

Und Caterina de’ Medici nickt zustimmend. Sie zieht das blaue Band aus dem Ärmel ihres Kleides und tritt hinter mich, um es mir ins Haar zu binden. Ich wende mich einem großen, golden eingerahmten Spiegel zu und beobachte sie dabei.

»Etwas Altes, etwas Neues, etwas Geborgtes und etwas Blaues«, flüstert sie.

»Es ist nicht geborgt«, widerspreche ich, »Gregor hat es mir geschenkt.«

Sie wirft den Kopf nach hinten und fängt hysterisch an zu lachen. Der Laut, wie sie kicksend die Luft ausstößt, schmerzt regelrecht in meinen Ohren. Als sie sich beruhigt hat, sieht sie mich ernst an.

»Und du glaubst, er wird sich daran noch erinnern?«

Ich schlucke und betrachte mich im Spiegel, versuche, mein Lächeln zu üben, doch es ist eingefroren. Caterina de’ Medici legt ihre Hände auf meine Schultern.

»Es wird Zeit, mein Kind.«

Ich setze einen Fuß vor den anderen. Ganz vorsichtig, damit ich nicht falle. Die Schleppe an meinem Kleid ist so furchtbar lang. Ich kann gar nicht sehen, wo sie aufhört. Wir betreten Notre-Dame durch einen Seiteneingang und sofort setzt die Musik ein. Schwere, dunkle Orgelklänge, die mein Schicksal besiegeln. Caterina de’ Medici und mein Vater setzen sich in die erste Reihe und winken den Gästen zu.

»Unsere Tochter – seht sie Euch an!«, rufen sie aufgeregt.

Ich kenne all diese Leute nicht. Wer sind sie?

Der Bräutigam am Altar dreht sich zu mir um. Mein Bräutigam. Ben. Erneut versuche ich zu lächeln.

Hinter mir wird das Hauptportal der Kirche aufgestoßen. Ein Raunen geht durch die Menge. Und endlich ist dort eine Person, die mir vertraut ist. Ich will mich umdrehen und zu Gregor laufen, doch meine Schleppe hat sich irgendwo verhakt und das Korsett meines Brautkleides raubt mir die Luft.

»Gregor!«, rufe ich atemlos.

Ich suche seine grauen Augen, als er auf mich zukommt, doch sie sind leer, schauen durch mich hindurch. Er tritt neben mich und zieht an meinem Haar. Ich spüre, wie sich das blaue Band löst.

»Es war nur geborgt, ma petite«, flüstert er mir ins Ohr.

Ich unterdrücke ein Schluchzen, höre, wie Caterina de’ Medici kichert.

»Gregor, lass mich nicht mit ihm allein!«, flehe ich.

Aber er hat sich schon von mir abgewendet.

»Wach auf!«, befiehlt mein Vater.

Ich rufe noch einmal: »Gregor … Gregor, bitte!«

Dann schlage ich die Augen auf.

Ben sieht aus, als hätte ich ihm mit voller Wucht die Faust ins Gesicht geschlagen. Er taumelt zurück, als ich hochschrecke, und mir wird bewusst, dass ich meine letzten Worte laut gerufen habe. Melissa hat das Licht in unserer kleinen Zelt-Kabine eingeschaltet. Sie scheint ein wenig genervt.

»Ich hoffe, das war es jetzt«, sagt sie.

Und ich bin nicht sicher, ob sie meinen schlechten Traum oder meine Nicht-Beziehung zu Ben meint. Denn deutlicher hätte ich es nicht ausdrücken können, dass mein Herz einem anderen gehört.

»Ich denke, das war es«, sagt Ben mit tonloser Stimme.

Er schluckt. Seine Augen sind wässrig. Ich möchte etwas zu ihm sagen, aber ich weiß nicht was. Stattdessen sitze ich einfach nur da, sehe ihn an und bitte mit Blicken um Verzeihung. Wir beide wissen, dass das nicht reichen wird. Ohne es zu wollen, habe ich ihn schrecklich verletzt. Ich kann förmlich dabei zusehen, wie etwas in ihm zerbricht.

Melissa greift nach Bens Arm.

»Komm, wir wollen wieder schlafen.«

Er entzieht sich ihr, steht weiterhin einfach nur da. Sein Blick ist mir unerträglich. Ich habe das Gefühl, dass seine Augen mich in zwei Teile zerreißen. Einem, der sich einfach nur zu einer kleinen, kläglichen Kugel zusammenrollen und sterben möchte. Und einem zweiten, der beinahe erleichtert ist, weil die Wahrheit nun ans Tageslicht gekommen ist.

Erst als Melissa ein zweites Mal nach Bens Arm greift und zärtlich seine Hand nimmt, reagiert er. Ich sinke zurück auf mein Kissen und atme zitternd aus.

»Aber wieso?«

Ich stehe noch immer völlig fassungslos im Wohnzimmer unserer WG und sehe Melissa dabei zu, wie sie die zweite Umzugskiste an mir vorbeischleppt.

Unser kleiner Ausflug nach Dartmoor hat damit geendet, dass weder Ben noch Melissa mehr mit mir reden. Ben kann ich verstehen, aber Melissa reagiert maßlos übertrieben. Alles was sie weiß ist, dass ich im Traum den Namen eines anderen Mannes gerufen habe. Das hat noch lange nichts zu bedeuten. Und eigentlich geht sie meine Beziehung, oder das Fehlen derselben, gar nichts an.

»Die Miete ist bis zum Ende des Monats bezahlt. In drei Wochen beginnt ein neues Semester. Du wirst also schnell Ersatz für mich finden.«

»Wohl kaum.«

Wie soll man einen Ersatz für seine beste Freundin finden?

Sie sieht mich nicht an. Im Wohnzimmer hängt immer noch der abgestandene Geruch von Pizza. Als wir gestern zu Abend gegessen haben, hat sie ihren Auszug mit keinem Wort erwähnt. Wusste sie es da schon, oder war es ein spontaner Entschluss? Ein Einfall, der ihr über Nacht gekommen ist?

»Melissa, bitte geh nicht! Was ist denn überhaupt los? Ist es wegen Ben?«

Sie stellt ihren Karton scheppernd vor sich ab. Mr. Darcy, mein kleiner grauer Kater, der bis eben auf dem Sofa geschlafen hat, springt erschrocken auf und hechtet unter den Couchtisch. Am liebsten würde ich mich ihm anschließen.

»Wegen Ben, wegen allem. Ich habe das Gefühl, wir haben uns einfach zu weit voneinander entfernt. Es ist, als würdest du in deiner eigenen Welt leben. Und Ben und ich spielen darin nur noch eine Nebenrolle. Aber wir sind keine Nebenrollen, Alison. Wir kommen auch gut ohne dich klar.«

»Das weiß ich doch. Ich wollte nicht …«

Melissa schüttelt den Kopf. Tränen glitzern in ihren Augen.

»Vergiss es einfach.«

Ich sehe ihr noch eine Weile dabei zu, wie sie Kisten in ihr Auto räumt, Regale auswischt und den Fußboden saugt. Dann ist sie weg, und die Wohnung ist furchtbar leer. Wenn ich durch Melissas Zimmer gehe, hallen meine Schritte. Und dort, wo einmal Melissas Buchregal im Wohnzimmer gestanden hat, klafft jetzt eine riesige Lücke. Die Wohnung ist viel zu groß für eine einzelne Person. Der Kater maunzt kläglich. Ich zerre ihn unter dem Couchtisch hervor und kraule seinen Nacken.

»Was machen wir jetzt nur, Mr. Darcy?«

Mir graut davor, heute Abend alleine in der Wohnung zu schlafen und wieder einen dieser Träume zu haben. Ich mache den Fernseher an, damit es nicht länger so still ist und lasse mich samt Kater auf das Sofa fallen. Mein Tablet ist zwischen die Sofakissen gerutscht. Ich ziehe es hervor und schaue auf das Display. Keine neuen E-Mails. Aber eine alte Mail erregt mein Interesse.

Wenn Sie die weite Reise von London antreten möchten, sind Sie herzlichst eingeladen, uns zu besuchen und unsere Studenten für Ihre Hausarbeit zu interviewen.

Beste Grüße aus Cambridge, Iman Akhabbar

Ich hatte den Gedanken bereits verworfen, nach Cambridge zu reisen. Schließlich ist es verdammt weit weg, und es ist nicht mal sicher, dass ich etwas über die Prophezeiung in Erfahrung bringen kann. Außerdem würde mich der Flug meine letzten paar Pfund kosten. Aber die Aussicht, die Wohnung zu verlassen und meinen Streit mit Melissa und Ben zu verdrängen, ist verlockend. Mr. Darcy kann ich zu meinen Eltern bringen und wenn ich eine Woche vor Semesterbeginn nach einem Nachmieter suche, ist das zwar knapp, aber der Wohnungsmarkt ist umkämpft, die Nachfrage entsprechend groß.

»Hey, Fellknäuel«, flüstere ich Mr. Darcy in das plüschige Ohr, »Lust auf einen kleinen Ausflug?«

2

Das Institut für Zeitreise-Forschung in Harvard ist genau so, wie ich mir eine solche Einrichtung immer vorgestellt habe. Kein dunkles Backsteingebäude wie unser Institut in London, sondern ein heller und moderner Bau. Am Eingang wird ein Netzhautscan durchgeführt. Ich zögere kurz, bin nicht sicher, ob ich eingelassen werde, aber Professor Iman Akkhabar scheint meine letzte Mail erhalten und meine Daten in das System eingetragen zu haben.

Drinnen trete ich an einen von fünf Computerterminals und lasse mir den Weg zu Professor Akkhabars Büro zeigen. Bis zu meinem Termin in einer halben Stunde bleibt mir noch Zeit, den Campus zu erkunden und mich auf das Gespräch mit ihm vorzubereiten. Mein Anliegen – oder zumindest den Vorwand – hatte ich bereits in meiner Mail an den Professor formuliert: Für eine Hausarbeit zum Thema »Unterschiedliche Wahrnehmung bei Zeitreisen« bin ich auf der Suche nach Studenten, die im Oktober 1557 den Französischen Hof bereist haben. Das ist die Zeit, in der Anthony – jener Zeitreisende, den ich in Frankreich getroffen habe – an den Hof gekommen ist. Jetzt gilt es nur noch herauszufinden, ob er einer dieser Studenten ist. Aber wie stelle ich das am klügsten an, ohne mich zu verraten?

Während ich darüber grübele, spaziere ich über einen verglasten Innenhof, in dessen Mitte ein vertikaler Garten angepflanzt wurde. Die grüne Pflanzensäule wächst bis unters Dach. Sonnenstrahlen fallen durch die Fenster und verbreiten eine angenehme Wärme. Auf den weißen Bänken rundherum sitzen Studenten, die auf ihren Handys oder Tablets herumtippen oder in kleinen Gruppen Kaffee trinken. Ich ziehe mir einen Cappuccino aus dem Automaten, atme gierig den Geruch von frisch gemahlenen Kaffeebohnen ein und lasse mich neben zwei Jungs, die Online-Schach spielen, und einer laut schwatzenden Semestergruppe, die über ihre Einführungsseminare redet, nieder.

Auf einem Bildschirm mir gegenüber läuft das Werbevideo des Zeitreise-Instituts in Dauerschleife. Ich fixiere die animierte Sanduhr, deren Sandkörner nach oben zu fallen scheinen. Anthonys Traum kommt mir wieder in den Sinn. Seltsam gekleidete Menschen, Gebäude, die bis in den Himmel ragen und glänzende Kutschen ohne Pferde. Wie fremd ihm meine Welt doch vorgekommen sein muss. Wie fremd sie mir manchmal vorkommt, seit ich in anderen Jahrhunderten gelebt habe.

»Miss Kendall?«

Ich schrecke hoch, blicke in das Gesicht eines dunkelhäutigen Mannes mit schwarzen Haaren, dichten Augenbrauen und Knopfaugen, die mich neugierig ansehen. Er ist schätzungsweise zehn Jahre älter als ich und riecht stark, aber nicht unangenehm, nach einem herben Rasierwasser. Trotz der Wärme trägt er eine lange, dunkelblaue Jeans und einen grauen Pullover über einem weißen Hemd.

»Ich bin Iman Akkhabar. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Forsch streckt er mir seine Hand entgegen, die ich etwas verdattert ergreife. Seine Haut ist ungewöhnlich weich für die eines Mannes.

»Woran …?«

»Woran ich Sie erkannt habe?«, er zeigt grinsend auf sein rechtes Auge, »Ich trage eine Virtual-Reality-Kontaktlinse.«

»Oh, okay.«

Ich mustere ihn unauffällig und frage mich, welche Informationen er gerade über mich abruft. Vermutlich hat er aus meinen Online-Profilen meine Interessen erfahren, kennt jetzt meine Lieblingsmusik, meine Lieblingsfilme und weiß, dank einem Post, den ich gestern Abend noch abgesetzt habe, dass Mr. Darcy bei meinen Eltern ist. Ein komisches Gefühl, so durchleuchtet zu werden, während man einer Person direkt gegenübersteht.

»Die VR-Linsen sind in England noch nicht zugelassen, habe ich gehört.«

Ich nicke zustimmend, obwohl er gar keine Frage gestellt hat, und er hebt theatralisch die Hände gen Himmel.

»Ihr Engländer seid immer so schrecklich vorsichtig. Dabei entgeht Euch der ganze Spaß. – Na, kommen Sie! Gehen wir in mein Büro.«

Wir fahren mit dem Aufzug in den dritten Stock und gehen einen langen Flur entlang, der links und rechts von Bildschirmen gesäumt ist, auf denen Werbevideos verschiedener Firmen laufen. Sie alle bewerben die neueste Zeitreisetechnik. Vermutlich haben sie diesen Flügel der Universität gesponsert. Professor Akkhabar bemerkt meinen kritischen Blick, beantwortet ihn mit einem Schulterzucken.

»Man gewöhnt sich an die Werbung. Irgendwann nimmt man sie gar nicht mehr wahr.«

Sein Büro ist ebenso modern eingerichtet wie der Rest der Universität. Neben einem Schreibtisch steht ein Laufband mit integriertem Bildschirm zum Arbeiten. Momentan wird ein Bildschirmschoner mit dem Logo der Universität angezeigt. Eine der Wände wird komplett von einem riesigen Aquarium eingenommen, in dem bunte Fische und Wasserpflanzen schwimmen. Ein Goldfisch hängt an der Scheibe und glotzt mich ausdruckslos an. Irgendwas ist eigenartig an dem Büro, aber ich kann es nicht benennen. Vielleicht ist es einfach nur der harte Kontrast zu den veralteten Büros meiner Professoren in London.

»Setzen Sie sich!«

Ich nehme auf einem mit Leder bezogenen Schwingstuhl ihm gegenüber Platz und bin mit einem Mal schrecklich nervös. Was, wenn er wissen will, bei welchem Professor ich meine Hausarbeit schreibe? Und was, wenn ich einen Namen nenne, den er zufällig kennt, und meine ganze Lüge auffliegt?

Professor Akkhabar sitzt auf seinem Schreibtischstuhl zurückgelehnt, mit übereinandergeschlagenen Beinen und mustert mich lächelnd.

Nach einer kurzen Pause fragt er: »Darf ich dich Alison nennen? Ich bin Iman.«

Ich bin ein wenig überrascht von seiner Direktheit, nicke zögerlich. Erst jetzt fällt mir auf, was mich die ganze Zeit schon unterbewusst irritiert hat. Vogelzwitschern und das Rascheln von Blättern ist zu hören, dabei sind alle Fenster geschlossen. Vermutlich kommen die Geräusche vom Band.

»Gut«, Iman lehnt sich vor, »Ein spannendes Hausarbeitsthema hast du dir ausgesucht. Wie bist du darauf gekommen?«

»Nun, ja …«

Ich ärgere mich, dass ich meine Antwort nicht besser geprobt habe, jetzt komme ich ins Rudern.

»Ich habe bei meinen eigenen Zeitreisen festgestellt, dass ich Dinge anders wahrnehme, als meine Kommilitonen – andere Details registriere und dafür manches übersehe. Also habe ich mich gefragt, ob das häufiger passiert und welche Auswirkungen es auf unsere heutige Geschichtsschreibung hat.«

Iman legt die Fingerspitzen aneinander und führt sie an die Lippen. Ich winde mich unter seinen Blicken, die mir in diesem Moment alles andere als recht sind. Ich habe Angst, dass er meine Lüge enttarnt. Als ich meine Ausführungen beendet habe, hebt er einen Zeigefinger und hält inne. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass er mit Hilfe seiner VR-Linse etwas sucht.

»Ein Kollege von mir hält heute Nachmittag einen Vortrag, der dieses Thema streift. Den solltest du dir unbedingt anhören! Ich habe dir einen Gasthörer-Zugang eingerichtet.«

»Vielen Dank.«

»Ach ja, und die Liste mit den Namen und Kontaktprofilen unserer Studenten, die im Oktober 1557 am Französischen Hof waren, sende ich dir per Mail. Dann kannst du selbst entscheiden, wen du kontaktieren möchtest.«

Das war viel einfacher, als ich angenommen hatte. Mit Hilfe der Liste und den Online-Profilen der Studenten sollte es ein Leichtes sein, Anthony ausfindig zu machen. Vorausgesetzt, dass er tatsächlich am Zeitreise-Institut in Harvard studiert.

»Warum eigentlich dieser Zeitraum?«, reißt Iman mich aus meinen Gedanken.

»Entschuldigung?«

»1557 am Französischen Hof. Warum nicht das Elisabethanische Zeitalter oder Frankreich unter Ludwig XIV.? Es gibt so viele spannende Zeitpunkte in der Geschichte.«

Ich zucke mit den Schultern und lächele ihn entschuldigend an.

»Ich habe einfach ein Faible für diese Epoche.«

»Interessant.«

Als ich mich bei Iman bedanke und seine Hand zum Abschied schüttele, hält er sie länger als nötig fest. Er neigt den Kopf, um Augenkontakt herzustellen, den ich bisher möglichst vermieden habe. Seine Augen sind freundlich – schwarz, mit einem zarten Funkeln.

»Alison, würdest du heute Abend mit mir Essen gehen?«

»Natürlich. Gerne«, stammele ich, viel zu überrascht, um abzulehnen.

Hat er mich etwa gerade um ein Date gebeten? Und habe ich tatsächlich zugesagt? Ob es eine gute Idee ist, mit ihm auszugehen? Er ist mir sympathisch, keine Frage. Aber es wäre das Gleiche wie mit Ben: Ich bin einfach nicht bereit, mich auf etwas Neues einzulassen. Andererseits ist es nur ein Abendessen, und er ist der Leiter des Instituts für Zeitreise-Forschung. Vielleicht gelingt es mir, etwas in Zusammenhang mit der Prophezeiung herauszufinden.

Ich greife in meine Hosentasche, fühle den zusammengefalteten Zettel mit den Daten und Koordinaten der Prophezeiung. Nach meiner Zeitreise nach Irland habe ich sie mir aufgeschrieben und trage den Zettel immer bei mir. Dabei könnte ich die Zahlen im Schlaf herunterbeten. Ich bin nicht sicher, warum sie mir dermaßen wichtig sind. Vielleicht weil sie unser aller Schicksal besiegeln. Vielleicht weil sie die Möglichkeit in sich tragen, Gregor wiederzusehen.

»Und du wusstest wirklich nicht, dass man schon bis ins Jahr 700 zurückreisen kann?«

»Nein, nach meinem letzten Stand ging es bis ins Jahr 1200 zurück.«

Ich lasse mir von Iman ein weiteres Glas Weißwein einschenken. Wir sind bereits beim Dessert angekommen – Crème brûlée mit Kirschsauce. Ich habe lange nicht mehr etwas so Leckeres gegessen. Die Creme zergeht einem auf der Zunge. Aber nur solange man die Speisekarte nicht zu eingehend studiert. Die Preise sind der reinste Wucher. Ich glaube, Iman hat mich in das schickste Restaurant von ganz Boston ausgeführt. Die Teller sind dreimal so groß wie die Speisen und die Kellner schon fast nervig zuvorkommend. Zum Glück sitzen wir in einer kleinen Nische, sodass ich mir nicht zu sehr wie auf dem Präsentierteller vorkomme. Und der Ausblick über den Hafen und die erleuchteten Hochhäuser ist eine Wucht. Ich kann mich gar nicht daran sattsehen.

»Die Zeitreise-Technik entwickelt sich rasend schnell«, erklärt mir Iman, während er die hauchdünne Karamellschicht auf seiner Crème knackend zerbricht, »Irgendwann wird es uns möglich sein, bis ins Jahr Null oder noch weiter zu reisen.«

»Aber ist das nicht viel zu gefährlich? Wegen der Gravitationskräfte und der Beschleunigung, die auf den Körper wirken, meine ich. Zumindest habe ich das damals in der Grundlagen-Vorlesung so gelernt. Auch wenn ich es nicht wirklich begriffen habe.«

Iman schnappt sich seine Gabel und eine der Kirschen, die am Rand des Tellers als Dekoration angerichtet sind.

»Du musst dir das wie eine Kanone vorstellen, aus der eine Person geschossen wird. Wenn man nur ein wenig Schießpulver – oder in unserem Fall Energie – nimmt, fliegt die Person mit einer geringen Beschleunigung drei Meter weit.«

Er zieht den Stiel der Kirsche ab, legt das dunkelrote, runde Geschoss wie bei einem Katapult auf die Gabel und dreht den Stiel, ohne Schwung zu nehmen. Die Kirsche kullert unbeschadet über die Tischdecke, bleibt vor meinem Teller liegen.

»Fliegt man ein paar Meter weiter, schürft man sich beim Landen die Knie auf, aber sonst ist alles in Ordnung«, fährt er fort, »Wenn man jetzt aber eine große Menge Schießpulver nimmt, tötet einen die Beschleunigung vermutlich bereits beim Start oder spätestens beim Aufprall. Hundert Meter weiter ist man Matsch.«

Er greift erneut nach der Kirsche, legt sie auf die Gabel und biegt die Zinken nach hinten, während er den Stiel festhält. Ich sehe mich peinlich berührt im Restaurant um, aber niemand schenkt uns Beachtung. Als Iman die Kirsche diesmal mit Schwung wegkatapultiert, zerschmettert sie hinter mir an der Wand, hinterlässt einen dunkelroten Fleck. Ich beiße mir auf die Lippen und schirme die Augen mit den Händen ab, während Iman weiter isst, als wäre nichts gewesen.

»Also weiß man noch nicht genau, wie weit man zurückreisen kann? Jeder Vorstoß, der uns tiefer in die Vergangenheit führt, birgt seine Gefahren?«, setze ich schließlich die Unterhaltung fort.

»Nun ja, Gefahr lauert überall dort, wo wir neues Terrain betreten. Deswegen ist es wichtig, dass die Regierung die Zeitreise gesetzlich reguliert. Aber solange wir vorsichtig einen Schritt nach dem anderen machen, uns an die Gesetze halten und ausreichend Tests durchführen, sehe ich keinen Grund zur Besorgnis.«

Iman lehnt sich vor, greift ganz unvermittelt nach meiner Hand. Bisher hat er sich mit Avancen zurückgehalten, und es war ein schöner Abend. Wir haben viel gelacht, und ich habe von der Vorlesung seines Kollegen erzählt, die ich mir am Nachmittag angehört habe. Dass er nun wie selbstverständlich über meinen Handrücken streicht, ist mir unangenehm. Ich ziehe die Hand weg und greife nach meinem Weinglas.

»Glaubst du, es wird eines Tages möglich sein, physisch in die Zeit einzutreten?«, frage ich, um den peinlichen Moment zu überspielen.

Er nimmt seine Serviette und wischt sich über den Mund. Ich frage mich, ob ich ihn mit meiner Ablehnung vor den Kopf gestoßen habe, aber wenn es so ist, lässt er es sich nicht anmerken.

»Ich denke nicht. Und wenn es tatsächlich gelänge, würde es hoffentlich gesetzlich verboten werden. Stell dir vor, was alles passieren könnte. Jemand tötet Hitler. Eigentlich eine gute Sache, sollte man meinen. Aber sie gibt der Geschichte eine ganz neue Wendung. Du oder ich wären vielleicht nie geboren. – Oder jemand schleppt eine Grippe ins Mittelalter ein und rottet damit eine ganze Nation aus. Nicht auszudenken.«

Er lacht. Doch mir ist nicht mehr nach Lachen zumute. Ich denke an die Prophezeiung und all die Zeitreisenden, die in die Geschichte eingetreten sind und sie verändert haben. Schlagartig steht mir die Wichtigkeit von Gregors Mission wieder vor Augen.

»Ist dir nicht gut?«

»Doch, doch. – Der Wein ist wirklich sehr lecker.«

Er schmunzelt.

»Was hältst du davon, wenn wir uns noch eine Flasche mitgeben lassen und einen kleinen Ausflug machen?«

An meinen hochgezogenen Augenbrauen ist unschwer zu erkennen, was ich von seinem Vorschlag halte. Glaubt er etwa, ich bin an einem One Night Stand interessiert? Ich denke nicht, dass ich ihm entsprechende Signale gegeben habe. Obwohl ich zugeben muss, ich habe mich heute Abend ziemlich schick gemacht.

Sonst trage ich meinen schwarzen Jeans-Minirock und das dunkelgrüne Seidentop nur selten. Aber als ich vor meinem Abflug gepackt habe, war mir einfach nach einer Veränderung. Ich wollte mich nach dem Streit mit Melissa und Ben besser fühlen. Ein Ortswechsel, ein schönes Outfit – bisher hat nichts davon seinen Zweck erfüllt.

»Ins Institut«, fügt Iman schnell hinzu, »Ich dachte, so eine kleine Zeitreise zu den Wikingern könnte für dich bestimmt ganz spannend sein. Immerhin bist du noch nie so weit zurückgereist.«

Noch während er es sagt, steht mir die Zahl aus der Prophezeiung vor Augen: 07 / 09 / 767. Gregor hat mir nie verraten, wie er den Zeitreisenden aufgehalten hat, der zu diesem Zeitpunkt die Geschichte verändert hätte. Angeblich erinnerte er sich nicht mehr an das, was geschehen ist. Oder er wollte es mir nicht erzählen. Ich habe nichts getan, was nicht getan werden musste. Das hat er auf meine Frage geantwortet, ob er einen der Zeitreisenden getötet hat. Was ist wirklich passiert? Das wäre meine Chance, es herauszufinden.

»Dürfen wir denn einfach die Chronos benutzen?«, frage ich Iman.

Er zwinkert mir verschwörerisch zu.

»Aber bitte, ich bin der Leiter des Instituts. Was hätte ich denn von dieser Position, wenn ich mit unserer Zeitreisemaschine nicht ab und an einen kleinen Ausflug durch die Geschichte unternehmen dürfte?«

Er will mich ganz offensichtlich beeindrucken. Mich dagegen beschäftigt mehr die Frage, wie es sein wird, Gregor wiederzusehen. Wir sind uns in Irland zum ersten Mal begegnet, zumindest hatte er damals keine frühere Erinnerung an mich. Also wird meine Reise ins Jahr 767 wohl nur eine Beobachtungstour werden.

Gregor als Wikinger. Wie er wohl war? Und will ich das, was er getan hat, überhaupt mit eigenen Augen sehen? Auch wenn es vielleicht bedeutet, dass er einen Menschen getötet hat?

»In Ordnung. Aber ich darf den Zeitpunkt und die Koordinaten bestimmen.«

»Wenn du mir verrätst, wohin es geht!«

»Nach Norwegen, ins 8. Jahrhundert.«

»Eine gute Wahl.«

Iman strahlt über das ganze Gesicht.

Wir haben die zweite Flasche Wein bereits zu drei Vierteln ausgetrunken, als wir am Zeitreise-Institut ankommen.

---ENDE DER LESEPROBE---