Geblendet – Die Zeitenwanderer-Chroniken - Karolyn Ciseau - E-Book

Geblendet – Die Zeitenwanderer-Chroniken E-Book

Karolyn Ciseau

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Beschreibung

Eine Liebe durch Raum und Zeit. Die Geschichte um Alison und Gregor geht weiter. Alison et Grégoire Entretemps. Der Eintrag in das Personenregister des Französischen Hofes führt Alison geradewegs in das Jahr 1558. Schon bald findet sie sich inmitten von höfischen Intrigen, romantischen Liaisons und Machtkämpfen rund um die schottische Königin Maria Stuart wieder. Und dann ist da natürlich noch der Kuss mit Gregor, der Alison nicht aus dem Kopf gehen will … Gar nicht so einfach, dabei die eigentliche Aufgabe im Blick zu behalten: Denn Alison und Gregor müssen den Zeitreisenden finden, der im 16. Jahrhundert alles durcheinanderwürfelt und dadurch die Zukunft in Gefahr bringt. Wird es ihnen gelingen, die unheilvolle Prophezeiung, die das Ende der Welt verkündet, zu verhindern?

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GEBLENDET

DIE ZEITENWANDERER-CHRONIKEN

BUCH 2

KAROLYN CISEAU

INHALT

Die Prophezeiung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Geblendet

Die Zeitenwanderer-Chroniken

Copyright © 2017 von Karolyn Ciseau

Carola Meissl

Ilmenaugarten 115

21337 Lüneburg

[email protected]

www.karolynciseau.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat/ Korrektorat: Anne Paulsen

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer

Tag der Veröffentlichung: 10.08.2017

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

DIE PROPHEZEIUNG

Es sind zehn an der Zahl. Sie werden kommen und die Zukunft verändern. Und ihr Eingreifen bedeutet das Ende von Raum und Zeit.

12 / 07 / 395

27 / 01 / 622

07 / 09 / 767

23 / 04 / 1558

20 / 10 / 1665

05 / 04 / 1754

22 / 09 / 1812

07 / 10 / 1888

10 / 07 / 1910

22 / 01 / 1944

1

Gregors Finger streifen meine, als er mir den Becher reicht. Für einen kurzen Moment bin ich versucht, den heißen Met auf den Sandboden fallen zu lassen, meine Hand mit seiner zu verschränken. Stattdessen lehne ich mich auf das Holzgatter, blicke auf die Felder, die sich grün und golden in eine endlose Weite erstrecken.

»Wie ist es, unsterblich zu sein?«, frage ich.

Er zuckt mit den Schultern und nippt an seinem Becher.

»Wie ist es, sterblich zu sein?«

Als ich nicht antworte, lehnt er sich neben mich an das Gatter. Unsere Schultern berühren sich. Selbst durch den dicken Stoff unserer Mäntel kann ich seine Körperwärme spüren. Bedächtig dreht er den Becher in seinen Händen und beginnt zu sprechen. Ganz leise. Mehr zu sich selbst, als zu mir.

»Es ist wie mit diesem Becher voll Met. Ihr werdet ihn austrinken. Dann werdet Ihr wissen, wie es war, den ersten Schluck zu tun, den köstlichen Geschmack auf der Zunge zu spüren. Ihr werdet wissen, wie es sich anfühlt, wenn der Met zur Neige geht, wie heiß der Becher war und wie er jetzt langsam abkühlt. Und Ihr werdet den letzten Schluck nehmen, mit dem Wissen und ein wenig Wehmut, dass es nun zu Ende geht. Aber jeder Schluck war einzigartig und kostbar.«

Er fixiert eine meiner Haarsträhnen, die im Wind tanzt. Das Rotbraun fängt das Sonnenlicht ein, strahlt in all seinen Facetten. Ich führe meinen Becher an den Mund und benetze die Lippen mit der fruchtigen Süße. In diesem Augenblick ist das alles, was ich jemals machen möchte: Hier neben ihm stehen und diesen Becher mit heißem Met trinken – bis auf den letzten Tropfen.

Doch Gregor will wieder zurück zum Haus.

»Wir sollten nachsehen, ob wir Eileen und John helfen können. Der Sturm hat die Dachziegel ganz schön in Mitleidenschaft gezogen und ein paar der Zaunpfähle gelöst.«

Er ist schon im Gehen, als ich seinen Arm greife und ihn aufhalte.

»Wie ist es für Euch?«

Ich nicke zu dem Becher in seiner Hand. Er folgt meiner Geste, starrt nachdenklich in die honigfarbene Flüssigkeit.

»Für mich gibt es keinen letzten Schluck. Ich trinke und trinke, aber mein Becher wird sich niemals leeren.«

Da ist Bitterkeit in seiner Stimme.

»Alison.«

»Hm?«

»Ich habe gefragt, ob du noch Kaffee möchtest!«

Überrascht blicke ich auf meine leere Kaffeetasse. Ein brauner Ring hat sich auf dem Porzellanboden gebildet. Ben hebt die Kanne, schwenkt sie ungeduldig vor meinen Augen hin und her.

»Danke, ich habe genug.«

Ich sehe ihm dabei zu, wie er den Kaffeerest in seine Tasse gießt und sie an den Mund führt, nur um sie ohne zu trinken wieder abzustellen.

Wir sitzen uns in zwei Ledersesseln gegenüber. Ich muss mich nach vorne lehnen, um nicht in dem klobigen Ungetüm zu versinken. Meine Füße berühren gerade so den Boden.

»Du hast an Gregor gedacht.«

Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Unter seinem entnervten Blick traue ich mich kaum zu nicken. Je näher mein Aufbruch rückt, desto häufiger erinnere ich mich an Gregor und die letzten Tage, die wir zusammen verbracht haben. Für mich ist all das vier Monate her. Aber für ihn werden mehr als zweihundert Jahre vergangen sein, wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen. Eine unglaublich lange Zeitspanne. Fast so unglaublich wie die Tatsache, dass Gregor seit tausendsechshundert Jahren lebt. Und das, ohne zu wissen, warum er unsterblich ist, warum er nicht mehr altert und seine Wunden schneller heilen als die anderer Menschen. Ob er mich überhaupt noch erkennt?

Ben seufzt leise.

»Ich gehe jetzt besser.«

»Aber wir sind doch gerade erst gekommen.«

Tatsächlich sitzen wir seit einer halben Stunde in der gut gefüllten Coffee Bar am Hyde Park. Wir haben uns bisher kaum unterhalten, was aber auch an dem unerwartet hohen Geräuschpegel liegt. Stimmen und muntere Jazzmusik versuchen sich gegenseitig zu übertrumpfen. Ben hat, seitdem wir uns an den Tisch gesetzt haben, mindestens drei Tassen Kaffee hinuntergestürzt. Er wirkt nervös, wippt mit dem Fuß. Aber angesichts des ganzen Koffeins ist das kein Wunder.

»Hör zu Alison, als ich dich gefragt habe, ob wir heute etwas zu zweit machen wollen, dachte ich ...«

Ben stockt und fährt sich durch die schwarzen Haare. Er wirkt unentschlossen, wie er den Satz zu Ende bringen soll. Noch ehe er die richtigen Worte findet, wird es mir klar: Das neue Hemd, die Art wie er mir die Tür zur Coffee Bar aufgehalten hat, sein nervöses Fußwippen – das alles passt nicht zu einem lockeren Kaffeetrinken unter Freunden. Aber ich war viel zu abgelenkt von meiner bevorstehenden Reise und dem Wiedersehen mit Gregor, als dass ich es bemerkt hätte.

Ben verschränkt die Arme vor der Brust.

»Um ehrlich zu sein, hatte ich gehofft, wir hätten ein Date.«

»Oh«, entweicht es mir.

Ich sehe ihn betroffen an.

»Aber das war ganz offensichtlich ein Irrtum, denn du fixierst dich lieber auf irgendein Fantasiegebilde aus dem Mittelalter.«

»Gregor ist kein Fantasiegebilde«, protestiere ich.

Bens Kopfschütteln hält mich davon ab, weiterzureden. Ich habe ihn schon genug vor den Kopf gestoßen. Und mir zu sagen, dass er eigentlich ein Date mit mir haben wollte, ist ihm bestimmt nicht leichtgefallen. Ich sehe ihm hilflos dabei zu, wie er aufsteht, unsere Rechnung begleicht und Schal, Handschuhe und Mantel zusammenpackt, ohne mir dabei in die Augen zu sehen.

»Ben, bitte.«

Ich lege meine Hand auf seine. Er erstarrt unter meiner Berührung.

»Es tut mir leid.«

Ein Zögern. Kurz denke ich, er wird sich wieder hinsetzen und so tun, als wäre nichts geschehen. Aber dann zieht er seinen Mantel über, sieht mich durchdringend an.

»Ich weiß.«

Ich spüre den kalten Windstoß im Nacken, als Ben wenig später die Coffee Bar verlässt. Draußen liegt eine dicke Schneeschicht.

Auf dem Weg hierher haben wir uns mit Schneebällen beworfen. Es war kindisch, aber wir hatten so viel Spaß wie schon lange nicht mehr. Bens Nase war ganz rot von der Kälte, und ich konnte mich vor Lachen kaum halten. Der pulvrige Schnee ließ sich gut formen und ein Schneeball traf Ben im Nacken. Das Wasser fraß sich durch seinen Schal, lief ihm den Rücken hinunter. Schal und Mantelkragen waren klatschnass, als er sie ausgezogen hat. Hoffentlich erkältet er sich nicht.

Auf meinem Nachhauseweg schaue ich noch schnell bei Melissas Mom vorbei. Sie besitzt eine kleine Schneiderei am Portobello Market. Ich muss mich durch Menschenmassen schieben, die sich vor den bunten Geschäften mit ihren Auslagen mit Porzellangeschirr, antiken Büchern, Zinkwannen und Vintage-Schildern drängen. Normalerweise stöbere ich hier auch gerne, aber heute habe ich ein anderes Ziel. Das schmale, unscheinbare Haus mit dem Schild Ann Bell – Maßschneideratelier verschwindet beinahe hinter den vielen Ständen.

Als ich die Tür öffne, weht mir ein süßlicher Geruch entgegen. Früchtetee. Der düstere Raum schluckt das Tageslicht und das rege Treiben vor der Tür. Die Fenster sind mit hellblauen Gardinen verhangen. Ich frage mich, ob Mrs. Bell nur die Stoffe schön fand oder ob sie die Außenwelt aussperren wollte.

Hier drinnen befindet man sich in einer völlig anderen Welt. Regale voll mit bunten und gemusterten Textilien türmen sich bis unter die Decke. Zwei große, antike Sessel und ein Tischchen mit Modezeitschriften sollen den Kunden die Wartezeit verkürzen. Als Melissa und ich jünger waren, haben wir im Sommer oft dort gesessen, Tee getrunken und auf ihre Mom gewartet, die dann früher Feierabend machte, um mit uns Eis essen zu gehen.

Es ist still, bis auf das Rattern einer Nähmaschine, das aus dem Nebenzimmer dringt. Ich lehne mich auf die Theke und versuche einen Blick auf den Raum dahinter zu erhaschen.

»Ich bin es, Mrs. Bell«, rufe ich.

»Sofort.«

Die Nähmaschine stoppt, etwas fällt polternd zu Boden. Augenblicke später steht Melissas Mom im Raum, in der einen Hand ihre Teetasse, in der anderen ein geblümtes Stück Stoff. Wie immer bin ich überrascht, wie wenig sich Melissa und ihre Mutter ähneln. Mrs. Bell ist klein und untersetzt, trägt eine Brille auf der Nase und ein spitzbübisches Grinsen auf den Lippen.

»Alison, Liebes. Du willst bestimmt dein Kleid abholen. Ich bin erst vor wenigen Stunden fertig geworden.«

Sie nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse, mustert mich über den Rand ihrer Brille hinweg.

»Wann ist dein Kostümball doch gleich?«

»Nächstes Wochenende.«

Ich habe ein wenig geflunkert, als ich sie bat, mir ein Kleid anzufertigen, wie ich es auf einer Zeichnung von Maria Stuart gefunden habe. Die schottische Königin fasziniert mich. Ich habe viel über sie gelesen – über ihre Schönheit, ihre Stärke und ihre Intelligenz. Sie muss eine einnehmende Persönlichkeit gehabt haben.

Mrs. Bell denkt, ich brauche das Kleid für einen Kostümball. Tatsächlich wollte ich diesmal nur besser auf meine Zeitreise vorbereitet sein und nicht darauf warten müssen, dass Gregor mir neue Kleider besorgt.

Noch immer habe ich niemandem außer Ben erzählt, dass ich auf meinen Zeitreisen nicht länger nur stille Beobachterin bin. Dass es mir gelungen ist, körperlich in die Zeit einzutreten und in ihr zu leben. Ich weiß nicht genau, warum ich es geheim halte. Vielleicht, weil man mir ohnehin nicht glauben würde. Und wenn es jemand täte, wäre ich für ihn vermutlich ein hervorragendes Forschungsobjekt – eine Abnormität, die es zu untersuchen gilt.

»Na, dann komm mal mit! Ich bin sicher, du wirst ganz bezaubernd darin aussehen.«

Ich folge ihr in den Nebenraum, wo auf einem Tisch mehrere Stoffbahnen liegen. Daneben, von einer Schreibtischlampe gelblich beleuchtet, steht die Nähmaschine, die ich vorhin gehört habe. An einer Kleiderstange, die sich über die komplette linke Seite des Raumes spannt, hängen verschiedene Kleidungsstücke. Einige von ihnen sind in durchsichtige Folie eingepackt. Mrs. Bell stellt ihre Tasse ab und legt den Stoff neben ihre Nähmaschine. Dann schiebt sie die Kleiderbügel suchend von links nach rechts, bis sie gefunden hat, was sie sucht.

»Schau her!«

Das Kleid, das sie aus seiner Folie schält, ist wunderschön. Es ist aus einem lila samtig-glänzenden Stoff, der von einer goldenen Blumenborte umrahmt wird. Vorne am Rock ist ein zweiter Stoff mit reichen Verzierungen eingenäht. Die Ärmel sind lang und leicht ausgestellt an den Oberarmen. Eine weiße Halskrause komplettiert mein Outfit.

»Gefällt es dir?«

»Es ist wunderbar.«

»Dann zieh es mal an, damit ich es abstecken kann!«

Ich brauche Mrs. Bells Hilfe, um in das Kleid zu kommen. Als ich vor dem Spiegel stehe, wird mir zum ersten Mal mulmig vor meiner Reise. Was, wenn Gregor nicht mehr derselbe ist? Wenn ich zwar in die Zeit eintreten kann, aber nicht mehr zurückkomme?

Die Frau, die mir entgegenblickt, scheint einer anderen Zeit entsprungen. Ich erkenne mich kaum wieder. Aber schaffe ich es, nicht nur mich selbst, sondern auch alle anderen zu täuschen?

»Wer ist denn der Glückliche?«

»Wie bitte?«

Ich schaue irritiert auf Mrs. Bell, die vor mir kniet und den Saum meines Kleides absteckt. Sie lacht.

»Alison, ich kenne dich schon, seit du sechs Jahre alt bist, und du hast dir noch nie viel aus schönen Kleidern gemacht. Melissa habe ich ein Prinzessinnenkleid nach dem nächsten geschneidert, aber du wolltest bei Kostümpartys lieber Cowboy oder Vampir sein. Hauptsache, du durftest Hosen tragen. Da liegt doch die Vermutung nahe, dass du damit einem jungen Mann imponieren willst.«

Ich schlucke die Frage hinunter, was ein junger Mann an einer Halskrause attraktiv finden sollte, zucke stattdessen nur mit den Schultern.

»Meine letzte Kostümparty ist lange her.«

Mrs. Bell zwinkert mir als Antwort verschwörerisch zu.

»Sag mir bitte, dass du das in Ordnung bringst!«

Melissa ist richtig aufgebracht, als ich ihr von meinem missglückten Treffen mit Ben erzähle. Sie steht in der Küche und versucht erfolglos, ihre Tiefkühlpizza vom Backpapier zu lösen. Ich habe mir auf dem Heimweg eine Nudelbox beim Chinesen geholt, aber das hält mich nicht davon ab, nach dem dick belegten Teig mit Schinken, Salami, Champignons und jeder Menge Käse zu schielen. Mr. Darcy, mein kleiner grauer Kater, hat ebenfalls Stellung neben dem Küchentisch bezogen.

»Ich konnte ja nicht ahnen ...«

»Natürlich konntest du das. Ben schleicht schon seit Wochen um dich herum wie ihr beide um meine Pizza.«

Sie wirft Mr. Darcy einen vorwurfsvollen Blick zu, der kläglich maunzend zu ihr aufsieht. Nach den Weihnachtsfeiertagen bei meinen Eltern müssen wir ihm die Bettelei jedes Mal wieder abgewöhnen. Mein Dad kann den großen goldenen Augen nur schwer widerstehen. Melissa holt sich einen Teller aus dem Schrank, sieht misstrauisch zwischen dem Kater und mir hin und her.

»Ich betone es gerne noch einmal: meine Pizza.«

Ich schnappe mir eins der Stücke, das sie mittlerweile vom Papier befreit hat und schlurfe damit zu unserem breiten Ecksofa, ein Erbstück von Melissas Großvater. Mr. Darcy folgt mir mit gierigem Blick, springt auf das Kissen zu meiner Linken.

»Nimm wenigstens einen Teller.«

Ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen, als Melissa mir Teller und Serviette bringt. Von uns beiden ist eindeutig sie die Ordnungsliebende.

Während wir unsere Pizza essen, greife ich das Thema erneut auf.

»Was hätte ich Ben denn sagen sollen? Er ist mein bester Freund, mehr ist da nicht.«

Melissa seufzt.

»Ach, Alison. Du wartest immer noch auf den Traumprinzen mit seinem weißen Pferd, der dich in sein Schloss entführt und dir mit seinen Küssen den Boden unter den Füßen wegreißt. Habe ich recht?«

Ich muss mir das Lachen verkneifen, so sehr trifft sie damit ins Schwarze. Nur dass ich Gregor nicht gerade als Traumprinzen bezeichnen würde. Melissa ist mittlerweile richtig in Fahrt gekommen und gestikuliert wild, während sie spricht.

»Aber den gibt es nun mal nicht. Hier wimmelt es von Fröschen. Große, kleine, laut quakende und welche mit besonders langer, klebriger Zunge. Such dir einen aus! Und Ben ist gar kein so schlechtes Exemplar.«

Den Frosch-Vortrag, wie ich ihn nenne, hält Melissa nicht zum ersten Mal. Doch normalerweise rechtfertigt sie damit nur ihre häufig wechselnden Liebschaften. Ich lecke meinen Daumen ab, der etwas Tomatensoße abgekriegt hat, und runzele die Stirn.

»Du hast Ben gerade als Frosch bezeichnet.«

Sie lässt sich neben mir aufs Sofa fallen, verscheucht dabei Mr. Darcy, der ihr einen empörten Blick zuwirft, um dann unter dem Küchentisch zu verschwinden.

»Das war nicht nett, oder? Dabei ist Ben eigentlich ziemlich süß.«

Sie stellt ihren halbleeren Pizzateller auf dem Couchtisch ab, greift nach der Fernbedienung und zappt durch die Kanäle. Ein alter Schwarzweißfilm, eine Quiz-Show, die Nachrichten. Plötzlich hält sie inne, sieht mich bittend an.

»Alison, du bringst das in Ordnung, oder?«

Ich zögere mit meiner Antwort.

2

Ein wenig albern komme ich mir schon vor, als ich Raum 261a mit meinem neuen Kleid über dem Arm betrete. Auf dem Weg zur Universität hatte ich bereits Mühe, einen Platz im Bus zu finden. Dank des ausladenden Unterrocks verschwinde ich beinahe unter einem Berg Stoff. Ich muss das sich aufbauschende Kleid immer wieder herunterdrücken. Ben steht mit verschränkten Armen neben der Chronos und sieht mich argwöhnisch an.

»Das willst du anziehen?«

»Meinst du, in Jeans und T-Shirt falle ich im 16. Jahrhundert in Frankreich weniger auf?«, entgegne ich und versuche dabei nicht so gereizt zu klingen, wie ich mich fühle.

Er zuckt mit den Schultern.

Während ich meinen Schmuck und meine Handtasche in den dafür vorgesehenen Korb lege, muss ich an Melissas Worte denken. Ich möchte mich ja bei Ben entschuldigen, aber ich weiß einfach nicht, wie ich das anfangen soll. Es ist nicht meine Schuld, dass ich seine Gefühle nicht erwidere. Wir haben seit dem missglückten Treffen im Café nicht mehr miteinander gesprochen. Jetzt hängt unsere Auseinandersetzung wie eine düstere Wolke im Raum.

»Kann ich mich hier irgendwo umziehen?«, frage ich.

Ben nickt.

»Ich lass dich kurz allein.«

Es schmerzt, dass er so kurz angebunden ist und mich kaum eines Blickes würdigt. Aber ich muss mich jetzt auf die Ereignisse konzentrieren, die vor mir liegen.

Ich hatte recht mit meiner Vermutung bezüglich der Zahlen in Gregors Prophezeiung. Der 23. April 1558 ist der Tag vor Maria Stuarts Vermählung mit dem französischen Thronfolger. Die Koordinate konnte ich auf Paris und Umgebung eingrenzen. Und da Maria Stuart sich zu dieser Zeit am Französischen Hof in Fontainebleau aufhielt, werde ich mit der Chronos vier Wochen vor dem angegebenen Datum dort hinreisen. Das sollte Gregor und mir genügend Zeit geben, den Zeitreisenden zu finden und aufzuhalten.

Noch weiß ich nicht, wer der Zeitreisende ist oder was er vorhat. Vielleicht ist es ein Attentäter, der Maria Stuart nach dem Leben trachtet? Vielleicht will er die Heirat der Königin mit dem Prinzen verhindern? Ich weiß nur eins: Wenn wir ihn nicht aufhalten, wird – zumindest, wenn man der Prophezeiung Glauben schenken darf – 2067 die Welt untergehen. Und bis dahin sind es nicht einmal mehr fünf Jahre.

»Bist du soweit?«

Ben hat die Tür einen Spalt breit geöffnet.

»Komm rein!«, rufe ich, während ich noch dabei bin, mein geflochtenes Haar zu einem Knoten aufzustecken.

Es fühlt sich ungewohnt an, so viele Lagen Stoff am Körper zu tragen. Ich habe das Gefühl, mich in dem Kleid kaum bewegen zu können. Der weite Rock schwingt bei jeder Bewegung wie eine Kirchglocke, die Halskrause kratzt in meinem Nacken, und mir ist schon jetzt furchtbar warm.

»Kannst du mir mit der Schnürung am Rücken helfen?«

Ben zögert, kommt aber schließlich zu mir. Seine Hände zittern, als er die Bänder durch die letzten zwei Ösen fädelt und die Schnürung straffzieht. Ich spüre es, als er mit der Hand meinen Rücken streift. Dann wendet er sich seinem Tablet zu und fährt die Chronos hoch. Augenblicklich erfüllt ein unangenehmer Plastikgeruch den Raum. Ich lasse mir von Ben den Reverser geben, der mich aus der Vergangenheit in das Jahr 2063 zurückbringen wird, bin ein wenig enttäuscht, weil er mein neues Outfit mit keinem Wort kommentiert.

Auf der weißen Plastikliege finde ich mit dem Kleid kaum Platz. Der Rock ragt an beiden Seiten über den Rand der Liege hinaus. Ich muss ihn mit den Händen festhalten und den Kopf mit der Halskrause ein wenig anwinkeln, um den Stoff nicht zu verknittern. Die unbequeme Haltung trägt nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei.

»Kann es losgehen?«, fragt Ben.

Ich möchte noch irgendetwas sagen. Auch wenn ich für ihn nicht wirklich fort bin, im selben Moment zurückkehren werde, in dem ich aufbreche – für mich wird dann ein ganzer Monat vergangen sein. Doch mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte. Ich habe keine Worte, die sein gebrochenes Herz oder seinen verletzten Stolz wieder in Ordnung bringen.

Tief ein- und ausatmend, versuche ich, das Gefühl der Beklemmung unter Kontrolle zu bekommen, das mich jedes Mal ergreift, wenn ich mit der Chronos reise. Dann nicke ich Ben zu.

»Ich bin soweit.«

Während Ben auf seinem Tablet Eingaben macht, ertönt das vertraute Summen der Maschine. Ich schließe die Augen und versuche mich nur auf den dünnen Luftzug zwischen meinen Lippen zu konzentrieren. Ein und aus. Ein und aus. Obwohl ich mich nicht bewege, habe ich das Gefühl, alles um mich herum dreht sich und ich zerspringe in winzige Splitter. Und dann werde ich durch die Zeit geschleudert.

Kinderlachen ist das erste, was ich höre. Ich blicke auf einen Bund violetter Krokusse, die sich einen Weg an die Erdoberfläche gebahnt haben. Sie sind noch nicht aufgeblüht, halten ihre zarten Blütenblätter fest verschlossen. Grashalme kitzeln meine Handinnenflächen. Irgendwie muss ich auf den Knien gelandet sein. Es fühlt sich an, als hätte ich sie mir aufgeschlagen.

Das Lachen kommt näher, ein kleines Mädchen mit bunten Bändern im Haar rennt geradewegs auf mich zu. Sein weißes Kleidchen wirbelt durch mich hindurch, als wäre ich Luft. Es ist nicht das erste Mal, dass mir das während einer Zeitreise passiert. Trotzdem fahre ich auch diesmal erschrocken zusammen.

Auf dem Rasen vor dem Schloss singen und tanzen ein paar ältere Mädchen im Reigen. Ihr Tanz gleicht mehr einem Wettkampf, weil sie sich gegenseitig an den Händen ziehen. Immer wieder brechen sie in Gelächter aus. Sie tragen helle Kleider, die bei Weitem nicht so ausladend sind wie meines. Die Kleine, die sich hinter mir im Schneidersitz ins Gras gesetzt hat, beobachtet sie aufmerksam, während sie einen Krokus in ihrer Hand zerpflückt. Sie ist wohl noch zu jung, um mitmachen zu dürfen.

Vorsichtig richte ich mich auf und betaste meine Knie durch den Stoff. Sie brennen ein wenig, aber sonst scheint alles in Ordnung zu sein. An den Mädchen vorbei gehe ich einige Schritte in Richtung des Schlosses. Kleine Kieselsteine säumen meinen Weg, als ich von der Wiese auf den angelegten Pfad trete, der geradewegs zum Haupteingang führt. Ich muss mein Kleid vorne anheben, um laufen zu können und komme mir dabei reichlich ungelenk vor.

Das Schloss ist noch viel imposanter, als ich es mir vorgestellt habe. Graue Mauern, hohe, mit Efeu bewachsene Türme, Erkerfenster und Balustraden erstrecken sich vor mir. Ein großer Brunnen mit einer Fontäne liegt zu meiner Rechten. Er ist umgeben von rund geschnittenen Bäumchen. Links und rechts davon hat man Beete angelegt. Die länglichen Blumenteppiche blühen in den buntesten Farben.

Ich zögere, zum Eingang zu spazieren, als gehöre ich hierher. Vor meiner Zeitreise nach Irland war es für mich eine Selbstverständlichkeit, durch die Geschichte zu schlendern, als wäre sie ein lebendig gewordenes Bilderbuch. Doch nachdem ich selbst in der Vergangenheit gelebt habe, fühlt sich alles anders an. Nicht nur, dass ich jeden Moment erwarte, von jemand entdeckt zu werden, ich habe auch das Gefühl, in die Privatsphäre jener Menschen einzudringen. Ich bin kein geladener Gast, sondern eine Fremde, die sich unbefugt Eintritt verschafft – auch wenn das niemals jemand erfahren wird.

Schließlich ist es der Wunsch, Gregor wiedersehen zu wollen, der mich dazu bringt, die hufeisenförmige Treppe hinaufzusteigen und das Schloss zu betreten.

Kuppelartig gewölbte Gänge, bunte Fresken und riesige Kronleuchter erwarten mich im Inneren. Ich laufe über schwarz-weiß gemusterte Fliesen, die den Buchstaben »H« in ihrer Mitte tragen. »H« für König Henri II., wie ich vermute. Der französische König ist hier allgegenwärtig – in Portraits und Büsten oder im Flüstern der Dienstmädchen, die mit gesenkten Köpfen durch die Hallen hasten.

Ich husche an zwei Wachen vorbei, die mit gelangweiltem Blick links und rechts von einem großen Wandteppich stehen, der Szenen einer Schlacht zeigt.

»Fünf«, ertönt es plötzlich hinter mir so laut von einer der Wachen, dass ich zusammenzucke.

»Wie meint Ihr?«, fragt der zweite, ein kleiner, untersetzter Mann, mit rot geränderten Augen.

»La Belle Ecossaise, Filippa Duci, die Baronin von Saint-Rémy, die Comtesse von Saint-Vallier und die Comtesse von Lanneau – fünf Mätressen.«

Der andere lacht, verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, wobei seine Rüstung ein ächzendes Geräusch von sich gibt.

»Lasst Ihre Majestät nicht wissen, dass Ihr lieber die Mätressen ihres Mannes zählt, als ihren kostbaren Wandteppich zu bewachen. Sie ist bärbeißig genug, um Euch für Euer Geschwätz zu vierteilen.«

»Fünf Frauen. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Ich wäre schon glücklich, wenn die kleine Schottin aus der Küche mir ihre Aufmerksamkeit schenken würde.«

»Ihr meint dieses hochnäsige Ding, das Ihre Hoheit, Königin Maria, mit an den Hof gebracht hat?«

»Genau die.«

Während die Wachen sich noch über das weibliche Gefolge der schottischen Königin unterhalten, wähle ich den Raum am Ende des Ganges als Ausgangspunkt für meine Suche nach Gregor. Die Tür wird ebenfalls bewacht, aber die beiden Männer in Rüstung stehen so reglos, dass man sie für Statuen halten könnte.

Da die Tür nicht offen steht, bleibt mir nichts anderes übrig, als wie ein Geist durch das massive Holz zu treten. Ich schließe beim Durchschreiten der Tür die Augen.

Als ich sie wieder öffne, stehe ich in einem hohen, lichtdurchfluteten Saal, der von einem Thron aus Holz mit Goldverzierungen und einem blauen Sitzkissen mit der französischen Lilie darauf dominiert wird. Ich bin allein, wie ich zu meiner Erleichterung feststelle. Vielleicht ist der König auf der Jagd, in seinen Gemächern oder bei einer seiner zahlreichen Mätressen. Ihn treffe ich im Thronsaal jedenfalls ebenso wenig an wie Gregor.

Ich seufze. Es wird viele Stunden dauern, dieses Schloss mit all seinen Räumen nach Gregor abzusuchen. Ich vermute ihn im Gästetrakt. Bevor ich hierher gereist bin, habe ich mir einen Grundriss des Gebäudes angesehen, aber momentan bin ich so orientierungslos, dass mir das keine Hilfe ist. Und da mich niemand sehen und ich mit niemandem sprechen kann, wird es schwierig sein, Gregors Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen. Vermutlich hätte ich lieber Jeans und Turnschuhe anziehen sollen, als dieses Kleid. Schon jetzt habe ich das Gefühl, dass mein Körper von dem schweren Stoff herabgezogen wird und ich mit jedem Schritt immer mehr in mich selbst zusammensacke.

Als ich aus dem Thronsaal zurück in die Haupthalle trete, kommt mir der Zufall zu Hilfe. Eine junge Frau fragt eines der Dienstmädchen nach Comte Grégoire. Sie könnte genauso gut jemand anderen meinen, aber bevor ich weiter umherirre, beschließe ich, den beiden zu folgen. Wir gehen eine Treppe hinauf und durch einen langen Flur, dessen Wände mit Gemälden der Königsfamilie geschmückt sind.

Die Frau geht schnell. Ich kann nur mit Mühe mit ihr Schritt halten. Sie ist schön. Ihre blonden Haare trägt sie hochgesteckt, der Stoff ihres Kleides umspielt die schmale Taille und die vollen Hüften. Ich frage mich, was sie von Gregor will. Ob sie eine Freundin ist? Vielleicht sogar eine Geliebte? Den letzten Gedanken verdränge ich wieder. Würde ich ihn zu Ende denken, gelänge es mir kaum mehr, einen Schritt vor den anderen zu setzen.

Mein Herz pocht immer lauter, je näher wir unserem Ziel kommen. Tausend Mal habe ich mein Wiedersehen mit Gregor im Kopf durchgespielt. Tausend Sätze habe ich mir im Kopf zurechtgelegt. Aber nun will mir nicht ein einziger einfallen.

Gelächter dringt durch die Tür am Ende des Flurs. Der Klang einer vertrauten Stimme flutet in warmen Wellen durch meinen Körper. Gregor. Er klingt verändert. Ich kann nicht genau sagen, warum. Vielleicht ist es einfach nur die Klangfarbe einer anderen Sprache. Zuletzt hat er Frühneuirisch gesprochen. Jetzt übersetzt mein Transmitter sein Mittelfranzösisch für mich, als das Dienstmädchen die Tür öffnet und die blonde Frau in das Zimmer tritt. Er beherrscht die Sprache fließend, viel besser als ich. Aber das ist ja auch kein Wunder. Schließlich hatte er viele hundert Jahre Zeit, sie zu lernen.

»Isabelle, ma chérie. Wir haben schon auf Euch gewartet.«

Der Geruch von Frischgebackenem steigt mir in die Nase. Ich dränge mich an dem Dienstmädchen vorbei hinter der blonden Frau ins Zimmer, verschlucke mich beinahe bei dem Anblick, der sich mir bietet.

Gregor hält die Hand einer Frau. Sie haben mitten in ihrer Tanzbewegung innegehalten, als sich die Tür öffnete. Er trägt einen sorgfältig gestutzten Bart und kurze Locken, die so aussehen, als hätte er jede einzelne von ihnen bei der Morgentoilette an den richtigen Platz gelegt. Sein schwarzes Gewand ist mit goldenen Fäden durchwirkt, überall finden sich kleine Knöpfe und Verzierungen. Jener Mann, den ich im Mittelalter kennengelernt habe, hätte in einem solchen Aufzug verkleidet gewirkt. Aber Gregor ist völlig verändert. Nicht nur sein Aussehen und seine Stimme, auch sein Verhalten hat sich gewandelt.

Auf einer gepolsterten Bank vor Gregor sitzen zwei junge Damen, die ihn mit sehnsuchtsvollem Blick anschmachten. Eine Etagere mit kleinen Kuchen und Früchten und eine Karaffe stehen vor ihnen auf dem Tisch. Gregor nickt dem Diener zu, der neben der Tür Stellung bezogen hat und auf Anweisungen wartet.

»Schenk Mademoiselle de Mouret einen Becher Wein ein! Ich sehe so gerne, wie sich ihre roten Lippen nur einen Hauch öffnen, wenn sie trinkt.«

Die beiden Frauen auf der Sitzbank kichern verzückt, während Gregor seine Tanzpartnerin auf den Handrücken küsst. Ich verdrehe die Augen, über diese Schmierenkomödie. Würde im 21. Jahrhundert jemand so reden, würde er sich zum Narren machen. Aber den Frauen scheinen Gregors Schmeicheleien zu gefallen.

Isabelle de Mouret lässt sich von ihm zu einem Sessel führen. Als er ihre Hand nimmt, ist er mir für einen Moment so nahe, dass ich nicht wage zu atmen. Ich bin sicher, er hat mich gesehen. Doch dann gehen seine Augen durch mich hindurch, wenden sich ab.

Erst jetzt nehme ich den mit gelbem Damast und Brokat ausgestatten Raum zur Gänze war. Die Decke ist mit vergoldetem Stuck verziert und an den Wänden stehen hohe Bücherregale aus Eichenholz. In einem Kamin lodert ein freundliches Feuer. Die Fenster geben den Blick auf einen Rosengarten frei, der zu dieser Jahreszeit noch nicht erblüht ist. Offenbar hat Gregor die Bibliothek für sein Tête-á-tête mit den Damen des Hofes auserkoren.

»Comte, tragt uns doch bitte ein Gedicht vor! Ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr Ihr das letzte Mal mit Euren Worten mein Herz bewegt habt.«

Es ist Mademoiselle de Mouret, die als einzige in der Runde ihre Sprache wiedergefunden hat. Sie führt ihren Weinbecher zum Mund, lächelt selbstgefällig, als sie Gregors Blick auf ihren Lippen spürt. Ich habe Mühe, nicht laut loszuprusten. Andererseits würde mein Lachen ohnehin ungehört im Raum verklingen.

Gregor greift seinen Weinbecher vom Tisch und nimmt einen langen Zug. Erneut habe ich das Gefühl, dass seine grauen Augen mich streifen. In ihnen glimmt ein amüsiertes Funkeln.

»Nur zu gerne, meine Damen.«

Er setzt den Becher ab und tritt geradewegs auf mich zu. Ich brauche einige Sekunden, um zu begreifen, dass er zu dem Bücherregal neben mir will. Nun sind wir ganz dicht beieinander. Ich könnte seinen Atem auf meiner Wange spüren, wäre ich wirklich hier. Er beugt sich an mir vorbei und greift nach einem Buch.

Er kann mich nicht sehen. Enttäuschung greift nach mir, klammert sich eiskalt um mein Herz. Ich fühle einen Kloß im Hals und schließe die Augen, um die aufkommenden Tränen zurückzudrängen. Die Suche nach ihm, die Nächte, die ich mir bei meiner Recherche über das Frankreich des 16. Jahrhunderts um die Ohren geschlagen habe, die Reise hierher – all das war ohne Bedeutung.

Nur vereinzelt dringen Gregors Worte in mein Bewusstsein. Er rezitiert voller Inbrunst von verseufzter Luft und hingegossenen Tränen, vom Bersten des Herzens und den blinden Abenteuern der Liebe. Als er geendet hat, klatschen die Damen in die Hände, versichern ihm, wie hingerissen sie von seinen Worten sind und dass sie gar nicht genug davon bekommen können. Dabei sind es nicht einmal seine eigenen.

Ich halte noch immer die Augen fest aufeinandergepresst, als könnte ich sie so vor der Realität verschließen. Gregors Hand an meinem Armgelenk spüre ich erst, als er mit dem Daumen sanft über meinen Unterarm streift. Ein Kribbeln geht durch meinen Körper, und ich kann fühlen, wie ich von ihm ins 16. Jahrhundert gezogen werde. Er ist mein Anker. Durch ihn werde ich sichtbar, kann Dinge berühren und berührt werden. Warme, graue Augen blicken mich an, als ich meine öffne.

»Hallo.«

Seine Stimme ist leise, zärtlich. In diesem Moment gibt es nur uns beide. Unser letzter Kuss, das Gefühl seiner Lippen auf meinen ist mit einem Mal übermächtig. Fast verliere ich den Boden unter den Füßen. Ich fühle, wie mein Puls rast und frage mich, ob er es auch spüren kann. Wie gerne würde ich meine Arme um seinen Hals schlingen und ihn zu mir hinunterziehen. Gleichzeitig überkommt mich ein Anflug von Scham, der mich zwingt, meine Lider zu senken.

Ehe ich die richtigen Worte finden kann, wendet sich Gregor ab. Die anderen Anwesenden haben mich noch nicht bemerkt, weil ich bis eben von dem Bücherregal, Gregor und der angelehnten Tür gut verdeckt war. Jetzt zieht er mich am Armgelenk in die Mitte des Raumes und lacht ausgelassen.

»Das nächste Gedicht muss ein wenig warten, meine Damen. Meine liebe Schwester ist gerade eingetroffen. – Und wie ich sehe, hast du noch immer einen sehr exzentrischen Kleidergeschmack, ma petite Alison.«

Er mustert mein Kleid mit einem spöttischen Blick. Ich kann spüren, wie mir das Rot in die Wangen schießt. Mein Kleid ist vermutlich einer Königin angemessen, nicht aber einer Hofdame.

Während mir die vier Damen vorgestellt werden, bemühe ich mich, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Gregor hat mein Armgelenk losgelassen, und ich stehe verloren im Raum, bekomme weder die Namen der Frauen noch die Herzlichkeiten, die ausgetauscht werden, richtig mit. Ich würde mich gerne an etwas festhalten, aber da ist nichts in meiner Reichweite.

Mademoiselle de Mouret schaut zwischen mir und Gregor hin und her.

»Ich wusste gar nicht, dass Ihr eine Schwester habt, Comte. Und ein so bezauberndes junges Ding noch dazu.«

Ich verziehe den Mund zu einem schiefen Lächeln. Bezauberndes junges Ding. Sie klingt, als wäre ich ein kleines Mädchen, dabei ist sie wohl kaum älter als ich.

»Ihr müsst mir unbedingt alles über Euren Bruder erzählen, meine Liebe.«

Sie hakt mich unter, als wären wir alte Freundinnen. Ich widerstehe dem Drang, mich von ihr loszureißen, und nicke höflich, aber wortlos.

Es ist Gregor, der mich sanft von Mademoiselle de Mouret trennt.

»Ich bin sicher, da gibt es nicht viel zu erzählen. – Gabriel, wärst du so nett meine Schwester mitzunehmen und dich um ein Schlafgemach für sie zu kümmern?«

Ich will protestieren, als Gregor seinem Diener zunickt und mich zur Tür schiebt, aber es liegen zu viele interessierte Augenpaare auf mir. Offenbar bin ich für Gregors Verehrerinnen ein gefundenes Fressen. Vielleicht glauben sie, über eine Freundschaft mit mir besser an ihn heranzukommen. Ohne sein weibliches Gefolge hat er mir besser gefallen.

---ENDE DER LESEPROBE---