Ein Herz aus Eis und Schnee - Karolyn Ciseau - E-Book
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Ein Herz aus Eis und Schnee E-Book

Karolyn Ciseau

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Beschreibung

Ein magisches Märchen über ein mutiges Wüstenmädchen, einen geheimnisvollen Eisprinzen und einen Fluch, der sie vereint. Auf Prinz Eirik lastet ein Fluch. An seinem siebzehnten Geburtstag wird er zu ewigem Eis erstarren und mit ihm das gesamte Königreich Nascimur. Nur ein Kuss der wahren Liebe kann das Land aus den unbarmherzigen, kalten Klauen von Eis und Schnee befreien. Dreißig Mädchen werden auserwählt, um das Herz des Thronfolgers zu erobern. Auch Farina aus der Wüstenprovinz Terra Sitienti reist in den Norden und taucht ein in die prunkvolle, faszinierende Welt des Palastes. Doch sie will sich auf keinen Fall verlieben. Denn was für den Palast ein Fluch ist, ist für Terra Sitienti ein Segen: Die Menschen müssen dank der Eiszeit endlich nicht mehr Hunger und Durst leiden. Als Farina dennoch Gefühle für den Prinzen entwickelt, setzt sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel …

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EIN HERZ AUS EIS UND SCHNEE

KAROLYN CISEAU

INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Ein Herz aus Eis und Schnee

Copyright © 2018 von Karolyn Ciseau

Carola Meissl

Ilmenaugarten 115

21337 Lüneburg

[email protected]

www.karolynciseau.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat/ Korrektorat: Textwerkstatt Anne Paulsen

Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff

Covermotiv: © Shutterstock

Tag der Veröffentlichung: 27.02.2018

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

PROLOG

»Es war einmal vor langer, langer Zeit …«

»Wie lange?«

»Das sagt man so, Tochter. Alle Märchen beginnen mit Es war einmal.«

Ich streiche ihr durch das haselnussbraune Haar, schnuppere an ihrem Scheitel. Sie duftet nach den ersten Sonnenstrahlen, die frühmorgens die Sommerwiese küssen.

»Es war einmal vor langer Zeit …«

»Aber wie lange ist lange?«, drängelt sie.

Ich muss lachen.

»Lässt du mich jetzt die Geschichte erzählen, oder nicht?«

Sie zieht einen Schmollmund. Wenn sie das tut, sieht sie ihrem Vater unwahrscheinlich ähnlich.

»Na schön.«

»Vor langer Zeit herrschte ein mächtiger König über ein Reich. In seinem Palast sammelte er die größten Schätze und die schönsten Menschen um sich. Er feierte rauschende Feste, bei denen die Speisen und Getränke auf der Zunge zergingen – süß wie Nektar, zart wie schmelzende Schneeflocken und vollmundig wie ein guter Wein. Aber der König hatte ein kaltes Herz. Er wollte seine Reichtümer nicht teilen, die Mägen seiner Untertanen nicht füllen. Was jenseits der Palastmauern vor sich ging, interessierte ihn nicht.«

»Und dann kam die Fee.«

Sie sieht mich aus großen, blauen Augen an. Wie oft habe ich ihr die Geschichte schon erzählt? Wenn sie eine erwachsene Frau ist, wird diese Erzählung nur noch ein Märchen sein. Buchstaben, die ihre Mutter zu Worten, und Worte, die ihre Mutter zu Sätzen gesponnen hat.

»Dann kam die Fee«, greife ich ihre kindliche Formulierung auf, »Sie war schön, weil alle Feen schön sind. Und sie hatte ein gutes Herz, weil alle Feen ein gutes Herz haben.«

»Bist du sicher?«

Sie runzelt die Stirn. Ihre dunklen Augenbrauen ziehen sich zusammen. An dieser Stelle hat sie mich schon beim letzten Mal unterbrochen. Denn wie kann eine Fee, die ein ganzes Königreich mit einem Fluch belegt, ein gutes Herz haben? Diese Frage kann ich ihr nicht beantworten, darum erzähle ich einfach weiter.

»Die Fee erkannte die Unbarmherzigkeit, die den König wie eine dunkle Macht umfing. Ihr denkt nur an Euch selbst, warf sie ihm vor. Aber der König lachte sie aus. Ein tiefes, grollendes Lachen, bei dem er sich den dicken Bauch hielt. Denn alle alten, mächtigen Könige haben dicke Bäuche.«

Sie kichert. Sie weiß, dass ich schwindele. Nicht alle alten Könige haben dicke Bäuche. Nur diejenigen, die in Märchen vorkommen.

»Du täuschst dich, erwiderte der König, nachdem sein Lachen verklungen war, ich denke auch an meine Königin und an meinen ungeborenen Sohn, der dieses Reich einmal erben wird. Was kümmern mich die Mägen meiner Untertanen, wenn ihre stets gefüllt sind? Da schwang die Fee ihren Zauberstab …«

Ich wedele in der Luft, um das Gesagte zu unterstreichen. Ihr kleiner Zeigefinger folgt mir.

»… und sprach: Du sollst sehen, was ein kaltes Herz anrichten kann. Dein Sohn soll siebzehn Jahre alt werden, bevor sein Herz zu Eis und Schnee erstarrt. Und mit ihm das gesamte Königreich.«

»Feen-Willkür«, beschwert sich meine Tochter.

Ich frage mich, wo sie das Wort Willkür aufgeschnappt hat. Vermutlich bei ihrem Vater. Sie hört Worte und probiert sie aus, formt sie in ihrem Mund.

»Warum muss der arme Prinz unter seinem bösen Vater leiden? Das ist nicht fair.«

Ich denke nach.

»Vielleicht hat die Fee in die Zukunft gesehen und erkannt, dass nur eine harte Prüfung das Königreich retten kann.«

»Feen-Willkür«, wiederholt sie bestimmt.

Denn Feen sind von Natur aus schön und gut und willkürlich in ihren Handlungen. Alte Könige haben immer dicke Bäuche. Und Märchen enden immer mit: Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Oder etwa nicht?

Da sind Dinge, die ich ihr nicht erzähle. In Märchen hungern die Menschen nur, sie sterben nicht. Sie erstarren nicht zu ewigem Eis und zersplittern dann in tausend Scherben. Sie haben keine Wunden zu lecken, keine Fehler zu bereuen. Sie leben glücklich.

»Der König scheuchte die Fee fort und lachte so lange über ihren Fluch, bis ihm das Lachen wie eine schleimige Kröte im Halse stecken blieb.«

Das ist der Moment, in dem sie immer das Gesicht verzieht und Iiihhh ruft. Dann reiße ich die Augen auf und quake wie eine eklige Kröte. Aber diesmal bleibt sie still. Sie scheint abgelenkt.

»Denn der Sohn des Königs wurde mit blasser Haut und eisblauen Augen geboren. Wer ihn berührte, der schreckte vor der Kälte zurück. Und vor dem, was er mit sich brachte. Denn mit jedem Jahr versank das Königreich tiefer in Eis und Schnee. Der Frost ließ das Land einen langsamen Tod sterben. Bald gab es keine rauschenden Feste mehr, keine Speisen und Getränke, die auf der Zunge zergingen. Bald gab es nur noch die Kälte. Und einen Palast, der unter einer dicken Schneedecke begraben lag.«

An diesem Punkt beginnt die Geschichte. Alles andere ist nur der Vorspann. Aber meine Tochter hört mir schon längst nicht mehr zu. Sie hat ihre Freunde entdeckt. Gustav, Jeremy und Alex, die auf der Terrasse mit Kieselsteinen spielen.

»Darf ich zu ihnen?«, fragt sie.

Wer könnte diesen großen, bittenden Augen widerstehen? Ich lasse sie gehen, bleibe zurück mit meiner Geschichte, die bald nur noch ein Märchen sein wird. Ein Märchen von Königen und Feen und kalten Herzen, die gerettet werden wollen.

Ein Märchen, das kein Märchen ist.

1

Malvik spitzt die Lippen zu einem Kussmund, macht schmatzende Geräusche.

»Komm schon, gib mir einen Kuss, Farina! Nur einen einzigen. Erlöse mein eiskaltes Herz!«

»Du spinnst!«

Ich ziehe den Schlauch aus der Pferdetränke, die ich gerade mit Wasser fülle und spritze ihn damit nass. Mein kleiner Bruder stößt einen spitzen Schrei aus und weicht zurück, wobei er über einen Stein stolpert und auf den Hintern plumpst. Ich kann mir ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Das Wasser tropft ihm aus den kurzen schwarzen Haaren, läuft über seine roten Wangen.

»Das werde ich Jerrod sagen. Dann bekommst du richtig Ärger«, schimpft er.

Jerrod ist unser älterer Bruder. Wir sind jeweils im Abstand von dreieinhalb Jahren geboren worden. Malvik ist dreizehn, ich sechzehn und Jerrod wird diesen Sommer zwanzig Jahre alt. Manchmal frage ich mich, ob meine Eltern einen Zehnjahresplan hatten, den sie unbedingt einhalten wollten.

Ich stelle den Hahn ab und lasse den Schlauch auf die Erde fallen. Mein kleiner Bruder hat recht. Jerrod wird stinksauer sein, wenn er hiervon erfährt. Nicht, weil Malvik nass geworden und gestolpert ist. Das würde sogar ihm ein Lächeln entlocken. Sondern weil ich Wasser verschwendet habe.

In Terra Sitienti ist Wasser so kostbar wie in anderen Provinzen des Königreichs Holz oder Kohle. Wir nennen unsere Provinz auch das durstige Land. Lange Jahre der Dürre haben dafür gesorgt, dass sich das Land nicht entwickeln konnte. Die Menschen hier leben in Armut. Viele von ihnen leiden Hunger. Und ich nutze das Wertvollste, das wir besitzen, um meinen Bruder zu ärgern.

»Hast du die Ställe ausgemistet?«, frage ich Malvik, der mit der Zungenspitze die Wassertropfen aus seinen Haaren auffängt.

»Alles fertig.«

»Dann lass uns gehen.«

Ich streichele Butterblume, meiner grauen Stute, zum Abschied über die weichen Nüstern. Sie schnaubt, lehnt mir ihren Kopf entgegen und schüttelt die zottelige Mähne.

»Bis später, meine Hübsche.«

Auf dem Nachhauseweg mache ich Malvik auf ein paar Sträucher aufmerksam, die ihre Zweige trotzig in die brennende Sonne recken. Im Gegensatz zu mir hält sich seine Begeisterung für ihre grünen Blätter in Grenzen. Er ist zu jung. Er weiß nicht, wie es hier vor dem Beginn der Eiszeit war.

Sie setzte mit der Geburt von Prinz Eirik ein und überzieht das Königreich Nascimur mit einer hauchdünnen Schicht aus Eis und Schnee, die von Jahr zu Jahr dicker wird. Was für den Rest des Königreiches ein Fluch ist, ist für Terra Sitienti ein Segen. Wo nur totes, unwirtliches Land war, wachsen heute Pflanzen. Es ist immer noch brütend heiß und Wasser ist immer noch kostbar. Doch in den letzten Jahren ist alles besser geworden.

»Hast du Angst?«, fragt Malvik plötzlich.

Er weiß, dass heute die Bekanntmachung ist. Wir werden alle um das Radio sitzen und dem König dabei zuhören, wie er die Namen der Auserwählten verliest. Dreißig Mädchen sollen bald in den Königspalast einziehen, um den Kronprinzen kennenzulernen und sein kaltes Herz wortwörtlich zum Schmelzen zu bringen. Denn nur ein Kuss der wahren Liebe kann angeblich den Tod von Prinz Eirik verhindern und Nascimur aus der Eiszeit befreien.

»Ich glaube nicht, dass der König Mädchen aus Terra Sitienti in den Palast einlädt«, antworte ich mit fester Stimme.

»Aber sie haben doch gesagt, sie würden Kandidatinnen aus allen Provinzen auswählen. Es könnte also auch Terra Sitienti treffen. Es könnte dich treffen. Du bist im gleichen Alter wie der Prinz. Und wenn du etwas mit diesem Mopp auf deinem Kopf machen würdest, wärst du vermutlich auch ganz hübsch.«

Ich zupfe an meinem störrischen, schwarzbraunen Haar, das sich bereits wieder aus meinem geflochtenen Zopf gelöst hat. Mama sagt immer, ich sähe wie eine weibliche Ausgabe meiner beiden Brüder aus. Wir sind alle schlank, haben ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, buschige Augenbrauen und dunkle Haare. Einzig unsere Augen sind unterschiedlich. Meine sind graugrün, die meiner Brüder braun.

Damit der König eine Auswahl für seinen Sohn treffen konnte, wurden alle Mädchen im Königreich zwischen vierzehn und zwanzig Jahren einer Musterung unterzogen. Sie haben ein Foto von mir gemacht, Blut abgenommen, meinen Blutdruck gemessen und mir alle möglichen Fragen gestellt. Manche sollten wohl meine Kompatibilität mit dem Prinzen feststellen, manche meine Eignung als Prinzessin. Bei einigen Fragen musste ich mich beherrschen, nicht laut aufzulachen. Was tut es zur Sache, ob ich lieber drinnen sitze und lese oder den Tag an der frischen Luft verbringe? Oder ob ich lieber Kaviar oder Eintopf esse? Es ist nicht so, als hätte Terra Sitienti eine große Bibliothek zu bieten oder als hätte ich jemals Kaviar probiert.

»Du hast bei der Musterung bestimmt ohnehin alles falsch gemacht, was man falsch machen kann«, neckt Malvik mich.

Vermutlich sollten mich seine Worte beruhigen. Aber er war nicht dabei. Er weiß nicht, dass ich mich gefühlt habe, als müsste ich einen Test bestehen und wäre zu blöd, die Regeln zu begreifen. Dabei will ich den Prinzen gar nicht kennenlernen oder das Königreich vor der Eiszeit retten. Kein Mädchen in Terra Sitienti will das.

Bald schon kommen die bunten Häuser unserer Siedlung in Sichtweite. Gelb, orange und hellgrün erheben sich die flachen Bauten aus dem Sand. Es sind nur ein paar wenige. Unsere Siedlung ist so klein, dass sie keinen eigenen Namen hat. Sie gehört zum Einzugsgebiet des Fürstensitzes in Incendium, aber selbst der liegt eine volle Reitstunde von uns entfernt. Unser Haus ist mit seiner blassgelben Farbe eines der unauffälligeren. Dafür ist es ein wenig größer als die anderen.

Mama hat heute früher gekocht, damit wir noch vor der Bekanntmachung essen können. Es duftet schon durch die offene Tür nach ihrer berühmten Linsensuppe mit Kurkuma und Ingwer. Jerrod ist vor dem Haus damit beschäftigt, das Vordach zu reparieren, das beim letzten Sturm in die Brüche gegangen ist.

»Da seid ihr ja«, begrüßt er uns, »Mama war schon ganz aufgeregt, dass ihr die Bekanntmachung verpassen würdet.«

Er verdreht genervt die Augen. Alles, was die Monarchie anbelangt, sorgt bei ihm für Magenverstimmungen. Während Mama das Leben der Königsfamilie mit einiger Begeisterung verfolgt, trifft Jerrod sich mit anderen jungen Männern in irgendwelchen dunklen Verschlägen zu hitzigen, politischen Diskussionen. Sie planen, die Monarchie zu stürzen. Ich glaube, es ist nur ein schöner Traum, den sie in ihrer Freizeit in den leuchtendsten Farben ausschmücken. Keiner von ihnen wäre so dumm, es wirklich zu versuchen.

»Wie lief es heute auf der Farm? Geht es Butterblume wieder besser?«

Ich nicke, werfe Malvik einen warnenden Blick zu, damit er nichts über die Sachen mit dem Wasser sagt. Doch er scheint seine Drohung längst wieder vergessen zu haben.

»Sie lahmt nicht mehr. Ich habe sie heute ein paar Runden an der Longe geführt.«

»Das ist gut.«

Jerrod wirkt abwesend. Drinnen stellt Mama das Radio an und wieder aus. Noch ist nur ein gleichförmiges Rauschen zu hören.

Ich weiß noch, wie es war, als wir unseren ersten Rundfunkempfänger bekommen haben. Während die meisten Haushalte im Norden bereits mit den neuartigen Geräten ausgestattet waren, gehörten wir zu den ersten Menschen in Terra Sitienti, die einen dieser großen, klotzigen Holzkästen hatten. Damals war ich neun Jahre alt und dieses Rauschen war so faszinierend, dass wir alle zusammen in der Küche saßen und ihm gemeinsam lauschten. In einer Dreiviertelstunde wird es durch die Hymne Nascimurs abgelöst werden. Und dann durch die Stimme des Königs. Eine dunkle, ehrwürdige Stimme. Als Kind habe ich mir den König immer als alten Mann mit einem dicken Bauch vorgestellt. Ich kannte ihn nur aus dem Radio. Mittlerweile weiß ich, dass er zwar schon graue Haare und eine Halbglatze hat, aber keine Wampe.

»Jerrod, glaubst du, diese ganze Sache könnte die Eiszeit wirklich beenden?«, frage ich besorgt.

Mein Bruder zupft an seiner Unterlippe.

»Ein Kuss der wahren Liebe. Das klingt in meinen Ohren reichlich albern. Aber es gefällt mir nicht, dass der König irgendein armes Mädchen in eine Ehe mit seinem Sohn zwingen will. Welcher Vater tut so etwas? Und was für ein Sohn macht das mit?«

Diese Fragen habe ich mir auch schon mehr als einmal gestellt.

»Ich schätze, die meisten Mädchen sind ganz begeistert von dieser Chance.«

Das letzte Wort setze ich mit den Fingern in Anführungszeichen.

»In Triticum hat der Prinz sogar seinen eigenen Fanclub.«

»Triticum.«

Jerrod spuckt das Wort förmlich aus. Er hält von der Provinz, die den Hauptsitz des Königsreichs beherbergt, ebenso wenig wie vom Palast selbst.

»Wahrscheinlich wird es ohnehin ein Mädchen von dort werden. Und ihre feurigen Küsse werden rein gar nichts an der Eiszeit ändern. – Komm, wir wollen Mama beim Tischdecken helfen! Und dann werden wir ja hören, wer die Erwählten sind.«

Tischdecken ist eindeutig ein Euphemismus. Jerrod drückt Mama einen Kuss auf die Wange, holt fünf Löffel aus der Schublade und wirft sie in die Mitte des Tisches. Ich hole die tiefen Teller aus dem Küchenschrank, schaue mich nach der Suppenkelle um, die Mama normalerweise zusammen mit den Kochlöffeln in einem Tontopf aufbewahrt.

»Isst Papa heute mit uns?«

»Es geht ihm nicht gut. Bist du so lieb und bringst ihm einen Teller?«

Mama streicht mir über das Haar und reicht mir die Kelle. Ich gehe zum Herd, tauche sie in den großen Suppentopf und fülle einen Teller mit dem blubbernden, duftenden Eintopf. Dann gehe ich durch den Flur in das abgedunkelte Schlafzimmer meiner Eltern. Durch die Rollos fällt ein schmaler Streifen Abendsonne auf das blasse Gesicht meines Vaters. Staub tanzt im Licht.

Ich stelle den Suppenteller vorsichtig auf dem Nachttisch ab und lege den Löffel daneben. Papa schläft. Er schläft viel in letzter Zeit. Vergangenes Jahr haben die Ärzte Leberkrebs bei ihm diagnostiziert. An manchen Tagen geht es ihm gut, an anderen sind die Schmerzen so schlimm, dass er nicht einmal aufstehen kann.

»Farina«, flüstert er, als ich das Zimmer verlassen will.

»Ja, Papa?«

»Viel Glück heute Abend.«

Er meint die Bekanntmachung. Meine Hand krampft sich um den Türrahmen. Papa macht keinen Hehl daraus, dass er mich gerne als Prinzessin und später als Königin auf dem Thron sehen würde. Du bist für Großes bestimmt, mein Engel. Ich weiß es einfach. Ich glaube, es ist die Krankheit. Das Wissen, dass er bald nicht mehr hier sein wird. Er würde so gerne etwas Bedeutungsvolles hinterlassen.

»Iss etwas! Du musst zu Kräften kommen«, erwidere ich.

»Als du ein Kind warst, habe ich das immer zu dir gesagt, weißt du noch? Iss etwas! Du musst groß und stark werden.«

Er lächelt traurig. Ich erwidere seinen Blick.

»Es hat etwas gebracht, findest du nicht?«

»Das hat es.«

Mühsam richtet er sich auf und greift mit zittriger Hand nach dem Suppenlöffel.

»Soll ich dir helfen?«

Er schüttelt den Kopf. Obwohl er krank ist, hat sein Stolz ihn nicht verlassen. Er besteht darauf, alles selbst zu machen.

»Geh zu deiner Mutter und deinen Geschwistern. Das ist ein großer Tag für dich, mein Engel.«

Nach dem Essen stellt Mama das Radio in die Mitte des Tisches. Das ist unmissverständlich: Heute bestimmt der König unser Abendprogramm. Ich würde lieber noch einmal nach Butterblume sehen. Es interessiert mich nicht wirklich, welche Mädchen ausgewählt werden. Es sind Namen auf einer Liste, mehr nicht. Übermorgen wird es eine Sonderausgabe der Zeitung mit den Bildern der Kandidatinnen geben. Aber was verrät mir das schon über sie, außer dass sie vermutlich alle sehr hübsch sind und einen Namen haben?

Malvik greift nach meiner Hand, als die Hymne erklingt. Eine Schlacht zwischen Pauken und Trompeten hat Jerrod sie einmal genannt. Für mich klingt es eher wie eine wilde Hetzjagd. Dann herrscht einen Augenblick lang Stille, bevor sich der König zu Wort meldet.

»Liebe Bürgerinnen und Bürger von Nascimur, liebe Untertanen, ich spreche heute nicht nur als Euer Herrscher zu Euch, sondern auch als besorgter Vater.«

»Was für ein Heuchler!«, stöhnt Jerrod.

Mama schlägt mit dem Küchenhandtuch nach ihm, dann beugt sie sich weiter über den Tisch. Am liebsten würde sie in dem Radiogerät versinken.

»Mein Sohn, Prinz Eirik, wird in drei Monaten seinen siebzehnten Geburtstag feiern. Und wir alle wissen, was an diesem Tag geschieht, wenn der Fluch nicht gebrochen wird: Eis und Schnee, die schon jetzt das Königreich in ihren unbarmherzigen, kalten Fingern halten, werden sich in eine ewige Eiszeit verwandeln, und das Herz meines Sohnes wird aufhören zu schlagen.«

»Wie schrecklich, auf diese Weise einen Sohn zu verlieren«, murmelt meine Mutter.

Ich ziehe amüsiert die Augenbrauen hoch. Mein Mitleid für den schockgefrosteten Prinzen hält sich in Grenzen. Vor allem, weil ich nicht an Flüche glaube. All diese Märchen sollen doch nur der Unterhaltung des Volkes dienen. Brot und Spiele.

»Liebe Bürgerinnen und Bürger von Nascimur, es ist unsere Pflicht, dieses Königreich zu schützen – mit unseren Waffen, unserem Verstand und unserem Herzen. Heute appelliere ich an Euch, meine Damen. Prinz Eirik braucht Eure Hilfe, denn nur ein Kuss der wahren Liebe kann ihn und unser Land retten.«

Malvik wirft mir einen spöttischen Blick zu, spitzt die Lippen zu einem Kussmund. Wo ist der Wasserschlauch, wenn ich ihn brauche?

»Ich weiß, Ihr seid alle sehr gespannt, wer von Euch die Gelegenheit bekommt, das Herz des Prinzen zu erobern. Wir haben dreißig Kandidatinnen aus allen Provinzen dieses Landes ausgewählt. Dabei haben wir auf Intelligenz, Schönheit, Gesundheit und ein gutes Herz Wert gelegt.«

»Okay, du bist raus, Farina«, scherzt mein kleiner Bruder.

»Seid doch mal still!«, zischt Mama und stellt das Radio lauter.

»Kommen wir nun zu unserer Auswahl. Aus der Provinz Silva: Sveta Dahlberg, Taylor Holland, Linda Parker, Meredith …«

Bei dem vierten Namen steige ich aus. Ich kenne niemanden aus Silva. Ebenso wenig aus den Provinzen Pecus, Triticum, Monitbus und Modicum, die als nächstes an der Reihe sind. Von der kleinen Insel Tantum hat es nur eine einzige Kandidatin geschafft: Anabel Molina. Wir haben Verwandtschaft dort, aber der Name des Mädchens sagt mir ebenso wenig, wie die der anderen.

»Kommen wir nun zu der letzten Provinz unseres wunderbaren Königreichs. Aus Terra Sitienti treten an …«

Es fehlen noch drei Kandidatinnen. Mein Mund ist trocken, und mein Puls rast. Malvik hält meine Hand, seine Fingernägel drücken in meine Handinnenfläche. Bitte nicht ich. Bitte nicht ich, flehe ich still. Ich denke an meine Freundinnen, schließe sie in meine stummen Gebete ein. Niemand von uns sollte in den Palast einziehen müssen. Denn auch wenn Terra Sitienti zum Königreich gehört, ist es für uns Feindgebiet.

»Aleyna Zahrah.«

Ich kenne das Mädchen. Sie hat uns einmal das Brot vorbeigebracht, als der Bäckersjunge, der es sonst immer austrägt, krank war.

»Farina Nadia.«

Malviks Hand zuckt zurück, als hätte er sich an mir verbrannt. Jerrod und meine Mutter starren mich fassungslos an.

»Hat er gerade …?«

Ich presse die Hände auf meinen Bauch. Mit einem Mal ist mir ganz schlecht. Farina Nadia. Hat er das wirklich gesagt? Hat er wirklich gerade meinen Namen gesagt? Ein hysterischer Lacher presst aus meiner Kehle hervor. Mama schließt mich in die Arme und streicht mir beruhigend über den Rücken. Das darf alles nicht wahr sein.

»Du musst es deinem Vater sagen, Schatz. Er wird so stolz auf dich sein«, flüstert sie.

Sie atmet zittrig ein und aus. Dann zwingt sie ein verzweifeltes Lächeln auf ihr Gesicht.

2

»Hey, ich habe mir das nicht ausgesucht«, schreie ich Jerrod wütend an.

Er beißt die Zähne aufeinander, sein Kiefer mahlt.

»Ich weiß, Farina.«

Tränen der Wut treten mir in die Augen. Ich wische sie mit dem Handrücken weg. Jerrod tut gerade so, als wäre es meine Schuld, dass ich ausgewählt wurde. In den vergangenen drei Tagen hat er kaum ein Wort mit mir geredet. Er weicht mir aus, meidet meine Blicke.

Glaubt er etwa, ich würde freudestrahlend in den Palast ziehen und mich mit dreißig anderen Mädchen um diesen arroganten Schnösel streiten? Glaubt er, ich sitze gerne im Morgenmantel in meinem Zimmer auf dem Bett und warte auf das Vorbereitungsteam, während Malvik und er sich um die Pferde kümmern dürfen? Viel lieber würde ich mir Butterblume schnappen und mit ihr durch die Savanne galoppieren.

»Ich habe noch etwas für dich.«

Jerrod wirft mir ein kleines Päckchen in den Schoß. Ich erkenne das rote Siegel von Fürst Ardijan, dem Herrscher unserer Provinz.

»Was ist das?«

»Sieh selbst. Er hat es mir bei der Versammlung für dich mitgegeben.«

Jerrod ist gleich nach der Bekanntmachung wieder zu einem seiner Revoluzzer-Treffen gegangen. Ich wusste nicht, dass sich der Fürst dort auch blicken lässt.

Fürst Ardijan ist noch jung. Sein Vater starb vor vier Jahren, da war er gerade siebzehn Jahre alt geworden. Ich bin ihm einmal auf einem Ausritt mit meinem älteren Bruder begegnet. Er preschte uns auf seinem schwarzen Hengst entgegen, wirbelte den Sand um sich herum auf und brachte sein Pferd so nah vor uns zum Stehen, dass Butterblume unruhig auf und ab tänzelte.

»Sag, mache ich dein Pferd nervös oder dich?«

Das waren die ersten Worte, die er an mich richtete, und ich hätte ihm dafür am liebsten eine schallende Ohrfeige in das feixende Gesicht verpasst.

»Fürst Ardijan, darf ich Euch meine kleine Schwester Farina vorstellen?«

»Hallo, Jerrod«, begrüßte er nun auch meinen Bruder.

Während sich die beiden unterhielten, betrachtete ich ihn aus den Augenwinkeln. Schwarze Locken, stechend schwarze Augen, gebräunte Haut, ein schmales Gesicht und ein markantes Kinn. Keine Frage, er war attraktiv. Und ich wusste, dass er die Provinz mit großer Leidenschaft und Hingabe regiert. Vielleicht hätte ich mich an diesem Nachmittag auf der Stelle in ihn verliebt, hätte er nicht diese arroganten acht Worte an mich gerichtet: Sag, mache ich dein Pferd nervös oder dich?

Das Päckchen liegt kalt auf meinem nackten Bein. Nachdem Jerrod gegangen ist, fahre ich mit den Fingern über das braune Packpapier und löse vorsichtig das Siegel. Zum Vorschein kommt eine Kladde aus rotem Leder. Der Verschluss ist aus Gold gefertigt – eine kleine Sonne, die durch einen Haken mit wogenden Wellen verbunden ist. Als ich den Verschluss öffne, sehe ich ein dickes, edles Briefpapier. Die erste Seite wurde bereits mit einer breiten, nach rechts geneigten Schrift beschrieben.

Liebe Farina,

ich wünsche dir alles erdenklich Gute für deine Zeit im Palast. Von deinem Bruder Jerrod weiß ich bereits, dass du dir deiner Verpflichtung gegenüber Terra Sitienti wohl bewusst bist und dass du nichts tun würdest, was unsere harte Arbeit gefährdet. Wir sind ein Land der Sonne, doch wir brauchen das Wasser, um zu leben. Was der König einen Fluch nennt, ist für uns ein Segen. Vergiss das nie!

Mit diesen Zeilen möchte ich dir nicht nur deine Bedeutung für Terra Sitienti in Erinnerung rufen, ich möchte dir auch etwas versprechen: Während deiner Zeit im Königspalast werde ich immer ein offenes Ohr für dich haben. Du kannst mir Briefe schreiben, wenn du möchtest. Und solltest du das Gefühl bekommen, dass es brenzlig wird, werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dich aus den Klauen des Palastes zu befreien.

Fürst Ardijan

Gedankenverloren zeichne ich mit dem Zeigefinger seine schwungvolle Unterschrift nach. Ob die anderen beiden Mädchen ein ähnliches Schreiben vom Fürsten erhalten haben? Ich bin ihm dankbar für jedes einzelne Wort. Irgendwie habe ich das Gefühl, mit dieser Kladde einen heimlichen Verbündeten mit in den Palast schmuggeln zu können.

»Sie sind da.«

Mama steckt den Kopf zur Tür herein. Sie wirkt schrecklich aufgeregt. Seit der Bekanntmachung ist sie das reinste Nervenbündel, irgendwo gefangen zwischen Lachen und Weinen. Sie weiß, dass das Ende der Eiszeit für uns nichts Gutes bedeutet. Aber sie ist auch schrecklich stolz auf ihre einzige Tochter, die in den kommenden Wochen im Palast wohnen wird.

»Ich komme sofort.«

Schnell lasse ich das Päckchen mit der Kladde unter meinem Kopfkissen verschwinden. Niemand darf es sehen. Die Worte des Fürsten grenzen an Hochverrat. Man könnte ihn dafür seines Amtes entheben. Oder Schlimmeres.

Das Vorbereitungsteam quetscht sich in unserem Wohnzimmer auf der Couch. Mama hat ihnen Gläser und einen Krug mit Wasser und Zitronenscheiben hingestellt, den sie bereits zu drei Vierteln geleert haben. Sie sind die Hitze in Terra Sitienti nicht gewohnt. Ich mustere die drei Abgesandten argwöhnisch. Ein Pummliger mit Brille, Aktenkoffer und Glatze, dem der Schweiß auf der Stirn steht, ein hochgewachsener, aalglatter Typ in Anzug und Krawatte, der angesichts der Hitze langsam aus dem Leim geht und eine Brünette mit Pferdeschwanz. Sie ist die einzige, die mich freundlich anlächelt.

»Miss Farina Nadia, wie ich annehme?«, meldet sich Mister Aalglatt mit näselnder Stimme als erster zu Wort.

Er steht auf, rückt seine Krawatte zurecht und streckt mir die Hand entgegen. Auf einmal komme ich mir in meinem weißen Morgenmantel reichlich albern vor. Ich habe die schriftliche Anweisung bekommen, mich heute Morgen nicht unnötig anzukleiden oder Haare und Make-up zu machen. Jetzt wünsche ich mir, ich hätte wenigstens eines meiner schlichten Leinenkleider übergeworfen.

Zögernd ergreife ich die mir angebotene Hand und beantworte seine Frage mit einem Nicken.

»Ich bin Mister Faraday. Ich werde Ihnen alles über den Palast und den Prinzen erzählen, was Sie wissen müssen. Mister Morris ist hier, um alle rechtlichen Angelegenheiten mit Ihnen abzuklären und Ihre Zofe Annie wird mit Ihnen Ihre äußere Erscheinung besprechen und wie Sie im Palast wahrgenommen werden wollen.«

Gar nicht, platzt es fast aus mir heraus. Ich presse die Lippen aufeinander. Bisher habe ich noch kein einziges Wort gesagt. Die drei schauen mich erwartungsvoll an.

»Wie schön!«, stottere ich und bemühe mich um ein Lächeln.

Mister Faraday nickt befriedigt.

»Gut, ich schlage vor, wir beginnen mit den Verträgen. Mister Morris?«

Ich werde auf einen Stuhl am Esstisch gesetzt und arbeite mich mit dem pummeligen Anwalt durch einen Berg an Papieren. Verschwiegenheitsklauseln, Verzichtserklärungen, Vertragsstrafen. Am Ende raucht mir der Kopf, und ich bin nicht sicher, alles richtig verstanden zu haben. Fakt ist: Ich darf keine politischen Geheimnisse verraten, ich habe an allen Veranstaltungen, zu denen ich gebeten werde, teilzunehmen, und ein Kuss mit dem Prinzen verleiht mir keinen automatischen Anspruch auf die Krone.

»Alles reine Formalien«, murmelt Mister Morris, während ich ein Dokument nach dem nächsten unterschreibe.

Als er den Aktenkoffer schließt, zieht sich alles in mir zusammen. Es kommt mir vor, als hätte ich gerade mein Todesurteil unterschrieben. Mister Faraday klatscht zufrieden in die Hände.

»Weiter im Text. Das hier ist für Sie.«

Er reicht mir mit feierlicher Miene eine Autogrammkarte des Prinzen. Eine Autogrammkarte! Ist das sein Ernst? Wortlos blicke ich auf den schwarzhaarigen Jungen mit der durchscheinenden Haut, den schmalen Lippen und den eisblauen Augen.

»Damit Sie schon heute Nacht etwas haben, wovon Sie träumen können.«

Er zwinkert mir vertraulich zu. Ich bin sicher, die Albträume werden noch früh genug kommen. Wieder ein Kommentar, den ich herunterschlucken muss.

»Des Weiteren erhalten Sie eine Übersicht über den Stammbaum des Prinzen, die Abläufe und Hierarchien im Königspalast, die Familiengeschichte sowie eine Liste mit allen Kandidatinnen. Es kann nicht schaden, sich rechtzeitig damit vertraut zu machen. Außerdem das hier.«

Er legt einen Ordner vor mir auf den Tisch. Ich lese die Überschrift Persönliches.

»Dort drinnen befinden sich Informationen über die persönlichen Vorlieben des Prinzen. Zitate aus Büchern, die er gerne liest, Hinweise zu seiner Lieblingsmusik, seinem Lieblingsessen, Hobbies und so weiter. Prinz Eirik weiß nicht, dass wir Ihnen diese Unterlagen zusammengestellt haben. Ich würde Ihnen raten, die enthaltenen Informationen sparsam zu verwenden.«

»Bitte, was?«

Ich glaube, ich habe mich verhört. Mister Faraday schmunzelt über meine Verwirrung.

»Es soll Ihnen den Zugang zur Gunst des Prinzen erleichtern.«

»Wir sollen schummeln?«

»Wenn Sie es so nennen wollen.«

Mister Faraday zuckt unbeeindruckt mit den Schultern.

»Haben alle Kandidatinnen so einen Ordner erhalten?«

»Natürlich. Und wie Sie haben alle eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet, dass sie dem Prinzen nichts davon erzählen werden.«

Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück, schüttele verstört den Kopf. Eigentlich müsste es mir egal sein, wie und ob der Prinz seine Auserwählte findet. Aber das hier ist Betrug.

»Weiß der König davon?«

»Es war seine Idee.«

Was für ein Vater tut so etwas? Ich versuche mir die Empörung nicht zu sehr anmerken zu lassen, während Mister Faraday nun meine Zofe Annie herbeiwinkt.

»Hallo, Farina«, begrüßt sie mich mit einem munteren Lächeln, »gibt es einen Ort, an den wir uns zurückziehen können?«

Ich gehe mit ihr in mein Schlafzimmer, wo wir uns zusammen im Schneidersitz aufs Bett setzen und einige ihrer Skizzen durchgehen. Sie hat eine Vielzahl verschiedener Kleider für mich entworfen, aus denen ich nun auswählen soll. Die, die mir am besten gefallen, werden in der königlichen Hofschneiderei eigens für mich angefertigt. Überfordert schiebe ich die Zeichnungen von links nach rechts.

»Sie sind alle schön.«

Annie grinst.

»Keine Sorge. Wir finden schon etwas für dich. Weil du die Kälte nicht gewöhnt bist, würde ich sagen, wir schließen allzu dünne Kleidchen aus. Wie stehst du zu High Heels?«

Wir müssen beide über ihre Frage lachen. Nein, ich stolziere normalerweise nicht mit High Heels durch die Wüste. Ich bin froh, dass Annie mich duzt. Es ist ein bisschen so, wie mit einer Freundin zu sprechen.

»Also möglichst nicht zu hohe Absätze. Glitzer, Strasssteine, Pailletten? – Nein. Dachte ich mir. – Wie wäre es hiermit?«

Sie zeigt mir ein langärmeliges, bordeauxfarbenes Kleid, das ein wenig lässiger als die übrigen aussieht. Es besitzt sogar Taschen, und um die Taille schmiegt sich ein goldener Gürtel mit einer Sonne als Verschluss. Der v-förmige Ausschnitt ist mit Spitze besetzt.

»Was meinst du?«

»Es ist schön.«

Ich wähle noch neun weitere Kleider mit Annies Hilfe aus. Dann holt sie einen Kosmetikspiegel hervor und wir besprechen Haare und Make-up. Ein neuer Schnitt, Haare glätten, Augenbrauen zupfen – aber nicht zu viel, wie Annie betont –, ein natürliches Make-up, das meine hohen Wangenknochen zur Geltung bringt. Annie ist freundlich. Sie fragt mich viel und versucht auf meine Wünsche einzugehen, aber es hilft alles nichts. Ich komme mir wie eine willenlose Puppe vor, die zurechtgemacht wird. Ob die anderen Mädchen ähnlich empfinden? In der nördlichen Gebirgsprovinz Monitbus und der Grenzregion Modicum ganz im Westen sind teure Kleider ebenso untypisch wie hier. Sie gehören zu den ärmeren Provinzen. In Triticum können die Roben dagegen gar nicht pompös genug sein.

Gegen Nachmittag sind wir endlich fertig. Ich verabschiede mein Vorbereitungsteam und mache mich auf den Weg zur Farm. Jerrod und Malvik finde ich in den Ställen. Sie sind dabei, die Sättel zu polieren, aber sie wirken beide etwas lustlos.

»Da bist du ja endlich«, begrüßt mich Malvik, »aber du siehst ja noch aus wie die Alte. Sag bloß, sie haben festgestellt, dass bei dir eh nichts zu retten ist.«

Ich strecke ihm die Zunge heraus.

»Sie haben erstmal nur meine neue Garderobe besprochen. Alles andere wird im Palast gemacht.«

»Wie sollen wir dich denn dann wiedererkenne, wenn du rausfliegst und hierher zurückkommst?«

Ich ignoriere meinen Bruder und schnappe mir Butterblumes Sattel und das Zaumzeug.

»Ist sie draußen?«

Jerrod nickt.

»Mach nicht zu lange. Wir wollen heute auch noch was von unserer Schwester haben.«

Er sieht traurig aus. Morgen früh werde ich aufbrechen. Niemand weiß, wie lange ich weg sein werde. Vielleicht fliegen einige Mädchen gleich zu Anfang raus, und ich bin unter ihnen. Aber was, wenn der Prinz mich dabehalten will?

Butterblume hört mein Rufen schon von weitem und trabt mir entgegen. Ich klopfe ihren Hals, lehne meine Stirn dagegen. Einige Sekunden stehen wir einfach nur da.

»Ich werde eine Weile weg sein, meine Hübsche. Aber keine Sorge, Jerrod und Malvik werden sich gut um dich kümmern.«

Sie schnaubt.

»Es ist ja nicht für lange.«

Nicht für lange. Während ich sie sattele und aufsitze, hoffe ich, dass ich recht behalten werde. Wir traben an den Dünen entlang. Meine Haare flattern im Wind und die Sonne brennt auf meiner Haut.

---ENDE DER LESEPROBE---