Verraten – Die Zeitenwanderer-Chroniken - Karolyn Ciseau - E-Book

Verraten – Die Zeitenwanderer-Chroniken E-Book

Karolyn Ciseau

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Beschreibung

Eine Liebe durch Raum und Zeit. Die Geschichte um Alison und Gregor geht weiter. Nach den tragischen Ereignissen der letzten Monate will Alison nur eins: zurück zu Gregor. Doch als sie sich im Venedig der 18. Jahrhunderts auf die Suche nach ihm macht, erlebt sie eine böse Überraschung. Denn ihre große Liebe tritt unter dem Namen des berühmtesten Schürzenjägers der Geschichte auf – Giacomo Casanova. Während Alison noch herauszufinden versucht, was das für ihre Beziehung bedeutet, bekommen Gregor und sie es mit einem durchtriebenen Gegner zu tun; ein Zeitreisender will in Venedig die Macht an sich reißen. Wird es ihnen erneut gelingen, die apokalyptische Prophezeiung zu verhindern? Und was hat es mit den Andeutungen auf sich, die der Zeitreisende gegenüber Alison macht? Ist es möglich, dass er sich an sein Leben im 21. Jahrhundert erinnert? Der fünfte Teil der erfolgreichen Zeitenwanderer-Chroniken. Tauche ein in ein neues romantisches Zeitreise-Abenteuer.

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VERRATEN

DIE ZEITENWANDERER-CHRONIKEN

BUCH 5

KAROLYN CISEAU

INHALT

Die Prophezeiung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Verraten

Die Zeitenwanderer-Chroniken

Copyright © 2018 von Karolyn Ciseau

Carola Meissl

Ilmenaugarten 115

21337 Lüneburg

[email protected]

www.karolynciseau.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat/ Korrektorat: Textwerkstatt Anne Paulsen

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Covermotiv: © Shutterstock

Tag der Veröffentlichung: 20.09.2018

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

DIE PROPHEZEIUNG

Es sind zehn an der Zahl. Sie werden kommen und die Zukunft verändern. Und ihr Eingreifen bedeutet das Ende von Raum und Zeit.

12 / 07 / 395

27 / 01 / 622

07 / 09 / 767

23 / 04 / 1558

20 / 10 / 1665

05 / 04 / 1754

22 / 09 / 1812

07 / 10 / 1888

10 / 07 / 1910

22 / 01 / 1944

1

Es gibt Momente, da fühlt sich alles seltsam surreal an. Wenn ich Mom zum Abendessen besuche und einen dritten Teller aufdecken will, wirft sie mir diesen Blick zu, und wir wissen beide, dass er noch immer da ist.

Sein Stuhl bleibt leer, aber wir füllen ihn mit unseren Erinnerungen. An Dads Lachen und seine ironischen Bemerkungen. An die Art, wie er Messer und Gabel beiseitelegte und mit einer langen Ausführung begann, wenn man ihn fragte, wie sein Tag war. Wir essen schweigend und halten uns an jeder noch so kleinen Erinnerung fest. Jedem Moment, der uns jetzt flüchtig erscheint wie Sand, der zwischen den Fingern zerrinnt.

Als ich mich an diesem Abend auf den Heimweg mache, ist es schon spät. Ich habe Schuldgefühle, wenn ich Mom allein lasse. Nach außen hin wirkt sie gefasst, aber ich weiß, dass die nächtlichen Stunden die schwersten für sie sind. Wenn alle anderen schlafen, liegt sie wach und trauert. Ich weiß nicht, was schlimmer für mich ist: Dad zu verlieren oder ihr dabei zusehen zu müssen, wie sie ihn verliert.

Ich schaue nach links und rechts, bevor ich über eine Absperrung klettere und die Abkürzung quer durch den Park nehme. Die Bäume werfen im Licht des Halbmonds gespenstische Schatten, und ich gehe schneller, verschränke die Arme vor der Brust, um mich vor der Kälte zu schützen.

Es ist Herbst geworden. Mittlerweile ist es über ein Jahr her, seit Gregor in mein Leben getreten ist. In den vergangenen Wochen und Monaten habe ich ständig an ihn denken müssen. Immer wenn mich die Trauer überkam und zu Boden reißen wollte, war die Erinnerung an ihn mein Anker. Wenn es sich anfühlte, als würde ich ertrinken, war sie meine Luft.

Und dann, wenn die Enge in meiner Brust verschwunden war, machte sich ein anderes Gefühl in mir breit: Panik. Panik, weil der Zettel verschwunden war, den er mir bei unserem Abschied zugesteckt hatte. Ein Zettel mit den Koordinaten eines Treffpunktes in Raum und Zeit, der nur uns beiden gehören sollte. Ich hatte auf ein Wiedersehen gehofft, das nicht erst hundert Jahre nach unserer letzten Begegnung stattfinden würde. Aber nach meiner Rückkehr und dem Tod meines Vaters war diese Hoffnung verloren – ebenso wie der Zettel.

Es beginnt zu regnen. Als hätte der Himmel auf einmal seine Schleusen geöffnet, fallen dicke Tropfen auf die Erde. Jetzt ärgere ich mich, dass ich keinen Schirm mitgenommen habe. Meine rotbraunen Haare kleben mir schon nach wenigen Sekunden im Gesicht.

Eine Gruppe Jugendlicher, die sich im Park zum Trinken getroffen hat, sammelt hektisch die Flaschen ein. Die Mädchen rennen lachend und kreischend los. Sie tragen für diese Jahreszeit viel zu kurze Röcke, die sie beim Laufen festhalten müssen, damit sie nicht hochrutschen. Die Jungs folgen ihnen mit einigem Abstand, lässigen Schrittes. Der Regen macht ihnen nichts aus.

Wir klettern fast zeitgleich über die Absperrung am anderen Ende des Parks. Einer der Jungs hält mir seine Bierflasche hin. Er ist bestimmt drei Jahre jünger als ich. Ich frage mich, ob er überhaupt schon Alkohol trinken darf.

»Du siehst so aus, als könntest du einen Schluck vertragen«, sagt er und schwenkt die Flüssigkeit in der grünen Flasche.

Ich schüttele stumm den Kopf, was er mit einem Schulterzucken quittiert.

»Chill mal!«, ruft er mir hinterher.

Ich unterdrücke den Impuls, ihm den Mittelfinger zu zeigen. Normalerweise würde ich nicht einmal auf den Gedanken kommen, so etwas zu tun. Aber gerade bin ich wirklich nicht in der Stimmung für blöde Sprüche.

Zu Hause angekommen empfängt mich meine Mitbewohnerin Melissa mit einem spitzen Schrei.

»Alison, du bist ja pitschnass!«

Während ich mich aus Jacke und Schuhen schäle, verschwindet Melissa im Bad. Kurz darauf kommt sie mit einem Handtuch zurück, das sie mir schwungvoll zuwirft. Sie ist furchtbar aufgedreht.

»Es ist spät. Schreibst du morgen nicht eine Klausur?«, frage ich und unterdrücke ein Seufzen.

Ein kleiner Teil von mir hatte gehofft, dass ich meine Ruhe habe, wenn ich nach Hause komme. Ich mag Melissa, aber ihre gute Laune kann manchmal richtig anstrengend sein.

Meine Mitbewohnerin winkt kichernd ab und pustet sich eine blonde Locke aus dem Gesicht.

»Ja, in Zeitreise-Technologie. Aber ich bin bestens vorbereitet. Ben hat mit mir gelernt.«

Ich nicke verstehend und verkneife mir ein Grinsen. Kein Wunder, dass Melissa heute noch aufgekratzter ist als sonst. Sie steht auf Ben, auch wenn er das vermutlich noch immer nicht gemerkt hat.

Melissa, Ben und ich waren immer als Dreiergespann unterwegs. Doch nach dem Tod meines Vaters habe ich mich mehr und mehr zurückgezogen. Dabei haben sich die beiden wirklich Mühe gegeben, mich einzubeziehen. Ihre Freundschaft ist in den letzten Wochen sehr viel enger geworden. Und ich hoffe, dass Melissa sich endlich einen Ruck gibt und Ben ihre Gefühle gesteht. Normalerweise ist Schüchternheit ein Fremdwort für sie – aber bei Ben ist alles anders.

»Hallo, Alison«, tönt es aus dem Wohnzimmer.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und flüstere: »Er ist noch hier?«

Melissa wirkt jetzt fast ein bisschen verlegen. Sie betrachtet ausgiebig ihre Fingernägel.

»Ja. Willst du dich zu uns setzen? Wir haben Frühlingsrollen und einen Glasnudelsalat mit Hühnchen gekocht. Es ist noch etwas da.«

Ich schnuppere. Es riecht köstlich. Ben ist ein hervorragender Koch, und wenn ich mit Mom zu Abend esse, bekommen wir beide meist keinen Bissen hinunter. Aber ich würde Melissa und ihn bloß stören.

»Danke, aber ich gehe lieber ins Bett. – Gute Nacht, Ben«, rufe ich laut genug, damit er mich im Nebenzimmer hören kann.

Melissa hält mich am Arm fest.

»Da ist noch etwas.«

Sie schluckt. Mit einem Mal sieht sie nervös aus.

»Was ist denn?«

»Ben und ich wollten noch mal mit dir sprechen – wegen Venedig.«

Ihre Worte kommen nur zögerlich. Ich muss ein Seufzen unterdrücken, als sie endlich raus sind. Wir führen diese Diskussion nicht zum ersten Mal, und ich bin ihrer wirklich müde.

Es geht um die nächste Koordinate. Jene, die in der Prophezeiung steht und mich unweigerlich zum nächsten Zeitreisenden und vermutlich auch zu Gregor führen wird. Denn er folgt diesen Zahlen schon sein Leben lang.

Der 5. April 1754.

»Sieh mal, ich glaube nicht, dass wir den Zettel mit eurem Treffpunkt wiederfinden werden. Vermutlich hast du ihn im Zeitreiseinstitut verloren und irgendein Hausmeister hat ihn weggeschmissen«, beginnt Melissa.

Gleich wird sie mir wieder erzählen, dass ich die Hoffnung aufgeben soll. Dass ich Gregor einfach hundert Jahre später, im Jahr 1754 treffen soll. Aber ich habe Angst. Angst, er könnte sich in der Zwischenzeit verändert haben und sich vielleicht nicht mehr an mich erinnern.

»Wir haben schon überall danach gesucht.«

Melissa wirkt schrecklich hilflos. Ich schüttele langsam den Kopf.

»Ich kann jetzt nicht darüber nachdenken. Gute Nacht.«

Das ist nicht das, was sie hören will, und meine Antwort ist ein wenig harsch. Schließlich will sie mir nur helfen. Sofort steigen Schuldgefühle in mir auf.

»Es ist schon alles bereit.«

Ben steht plötzlich im Türrahmen zum Wohnzimmer. Er sieht aus, als hätte er es sich in den vergangenen Stunden auf unserer Couch sehr gemütlich gemacht. Seine Haare sind verwuschelt, und auf seiner Wange ist ein Abdruck des Sofakissens.

Neben ihm tappst Mr. Darcy, mein kleiner grauer Kater, in den Flur und streift mir einmal um die Beine. Als er feststellt, dass ich kein Futter für ihn habe, verschwindet er mit einem mürrischen Maunzen in der Küche. Der Platz neben dem Kühlschrank ist sein Lieblingsort. Vielleicht hofft er, dass die Tür eines Tages von selbst aufspringt und ein Stück Käse für ihn herausfällt.

Ich presse die Lippen fest zusammen, als Ben fortfährt.

»Melissa hat ihre Mutter gebeten, ein Kleid zu schneidern, dass der venezianischen Mode des 18. Jahrhunderts entspricht, und ich habe für kommenden Freitag die Chronos gebucht. Du musst nur noch Ja sagen.«

Freitag. Das ist übermorgen. Wie hat Ben nur so schnell einen Termin für die Nutzung der Zeitreisemaschine bekommen? Er ist studentische Hilfskraft in der Technik und hat daher die Möglichkeit, Slots für uns zu reservieren. Aber normalerweise gibt es Wartezeiten von einigen Wochen.

Ich sehe zwischen ihm und Melissa hin und her. Die beiden müssen das schon eine ganze Weile hinter meinem Rücken geplant haben. Schließlich hat Mrs. Bell – Melissas Mutter, die eine kleine Schneiderei besitzt – das Kleid nicht über Nacht angefertigt.

»Aber … Ich weiß nicht. Im Moment kann ich meine Mom unmöglich allein lassen.«

Melissa greift meine Hände, reibt mir mit dem Daumen über den Handrücken. Ich sehe Mitleid in ihrem Blick und schaue schnell zu Boden.

»Du lässt deine Mom nicht allein. Selbst wenn du Monate weg bist, wird dich die Chronos doch immer zu jenem Zeitpunkt zurückbringen, an dem du aufgebrochen bist.«

Das weiß ich natürlich. Aber es aus Melissas Mund zu hören, lässt meine Abwehr schwächer werden.

»Ich denke, du brauchst das jetzt. Du hast dich in den ganzen letzten Wochen in deinem Zimmer eingesperrt. Und da Gregor nun mal nicht zu dir kommen kann …«

»Freitag um zehn, überleg es dir«, sagt Ben knapp.

Dann nickt er mir zu und verschwindet wieder im Wohnzimmer. Ich weiß, was es ihn kostet, mir diesen Vorschlag zu machen. Ben war mal in mich verliebt oder ist es noch. Aber so langsam scheint er zu akzeptieren, dass ich zu Gregor gehöre.

Ich wünsche Melissa nun endgültig eine gute Nacht und ziehe mich in mein Zimmer zurück. Als ich ins Bad gehe, um mir die Zähne zu putzen, trottet Mr. Darcy an mir vorbei und macht es sich in seiner Ecke gemütlich. Nachts schläft er auf einem Kissen, zwischen einer Topfpflanze und dem Fenster – das heißt, wenn ich ihn davon abhalten kann, zu mir ins Bett zu springen oder den dünnen Lichtstreifen unter dem Türspalt zu jagen.

Nachdem ich das Licht gelöscht habe, liege ich noch eine ganze Weile wach. In der Dunkelheit lausche ich den Stimmen aus dem Fernseher, der im Wohnzimmer läuft, Mr. Darcys Krallen, die träge über den Parkettboden kratzen und den Sirenen, die ab und zu von der Straße zu hören sind.

Ich denke an Gregor. Daran, dass ich ihm erklären müsste, warum ich an unserem vereinbarten Treffpunkt nicht aufgetaucht bin.

Mein Vater ist gestorben.

Ich bin nicht sicher, ob ich die Worte über die Lippen bringe. Jedes Mal, wenn ich nur daran denke, sitzt ein dicker Kloß in meinem Hals.

Vielleicht ist das der wahre Grund, warum ich mich davor fürchte, nach Venedig zu reisen. Ich bin Gregor eine Erklärung schuldig. Und es auszusprechen, lässt es wahr werden. Eine in Stein gemeißelte, unumstößliche Wahrheit, die ich nicht mehr leugnen kann.

Mr. Darcy springt plötzlich neben mir auf das Kissen. Seine goldenen Augen blitzen im Licht der Straßenlaterne, das von draußen durch das Fenster fällt. Eine samtige Pfote landet in meinem Gesicht, dann leckt seine Zunge warm und rau über meine Wange. Erst jetzt bemerke ich, dass ich wieder geweint habe. In den vergangenen Wochen habe ich so viele Tränen vergossen, dass ich es schon gar nicht mehr mitkriege.

Mein Kater stupst mich mit der Nase an, und ich kraule ihn im Nacken.

»Willst du auch, dass ich nach Venedig reise?«, flüstere ich.

Er schmeißt sich auf den Rücken und streckt mir schnurrend den Bauch entgegen. Ich lächele in die Dunkelheit.

»Nun, ich deute das mal als ein Ja.«

Am liebsten möchte ich auf dem Absatz kehrtmachen, als ich Freitagvormittag Raum 261a des Instituts für Zeitreisen betrete, und Melissa und Ben mich erwartungsvoll anschauen. Sie sind schon vor mir eingetroffen, um alles vorzubereiten. Melissa hält mein neues Kleid an ihre Brust gedrückt und schwingt den ausladenden Rock.

»Ist das nicht der Wahnsinn?«, ruft sie vergnügt und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich weiß, sie würde alles dafür geben, dass ich genauso ausgelassen durch den Raum tanze wie sie. Und obwohl es mir schwerfällt, ringe ich mir ein Lächeln ab und streiche über den kostbaren Stoff. Das Kleid strahlt in einem leuchtenden Gelb. Es hat gerüschte, dunkelrote Volants an der Rückseite des Rockes und ist ausladend genug, um beim Durchschreiten von Türrahmen Probleme zu bereiten.

»Da hat deine Mutter ja ein richtiges Kunstwerk gezaubert«, sage ich.

Melissa grinst.

»Sie denkt, es wäre für eine Freundin, die nächstes Jahr zum Karneval nach Venedig will. Sie hat es nach einer historischen Skizze angefertigt.«

Ich muss an das Kleid denken, das Mrs. Bell mir für meine Reise ins Frankreich des 17. Jahrhunderts genäht hatte. Damals dachte sie, ich ginge damit auf einen Kostümball. Mein Aufzug hatte Gregor lediglich ein Grinsen entlockt. Ich war völlig overdressed. Hoffentlich falle ich mit diesem Kleid weniger aus dem Rahmen.

»Los, los, probiere es an!«, drängt Melissa und scheucht Ben mit einer Handbewegung aus dem Raum.

Ich lege meinen Schmuck und meine Kleider ab und lasse mir von ihr in das Kleid helfen. Als sie beginnt, das Korsett zu schnüren, bleibt mir fast die Luft weg.

»Nicht so eng!«

»Das muss so sein. Damit deine Brüste richtig zur Geltung kommen.«

Ich sehe zweifelnd an mir hinunter. Nun, zumindest kann ich jetzt sicher sein, dass sie genügend Frischluft bekommen. Ich glaube, einen so tiefen Ausschnitt habe ich noch nie getragen.

Ben traut sich kaum, mich anzuschauen, als er wieder den Raum betritt. Er tippt konzentriert auf seinem Tablet.

Melissa lässt es sich nicht nehmen, mir die Haare zu machen, mein Gesicht zu pudern und meine Lippen mit ihrem roten Lippenstift nachzumalen. Sie scheint Spaß daran zu haben. Vielleicht ist sie auch nur dankbar, endlich etwas tun zu können, nachdem sie mir wochenlang beim Trauern zugesehen hat.

»Bist du so weit?«, fragt Ben.

Ich schaue ein letztes Mal auf mein Handy, nur für den Fall, dass meine Mom angerufen hat, aber das Display zeigt keine neuen Nachrichten. Vorsichtig, um das Kleid nicht zu zerknittern, klettere ich auf die Liege der Chronos. Sie empfängt mich mit dem ewig gleichen Summen und dem Geruch nach Plastik. Melissa befestigt die Elektroden an meinen Schläfen.

»Grüß den mürrischen, alten Mann von mir«, sagt sie mit einem Zwinkern.

Ich grinse schief. Nach unserer gemeinsamen Zeitreise in die Niederlande verbindet Gregor und Melissa eine Art Hassliebe.

»Das werde ich.«

Melissa steckt mir den Reverser zu, und ich umklammere den silbernen Stift mit meiner Hand.

»Damit du wohlbehalten zurück nach Hause kommst.«

Wir lächeln uns an, und ich versuche nicht an meine letzte Rückkehr aus der Zeit zu denken. An Bens blasses Gesicht. An Melissas Frage, was los sei. An meine Tränen, die auf den grauen Vinylboden tropften.

Das Summen wird lauter, als ich mich zurücklehne. Es wird alles gut, sage ich mir. Du wirst Gregor erklären, warum du nicht aufgetaucht bist, und dann wird alles gut.

Aber mir ist ganz komisch. Und dieses Gefühl verstärkt sich, als das vertraute Pulsieren durch meine Adern schießt und die Welt um mich herum verschwimmt.

2

Ich hatte verwinkelte Gassen und Kanäle mit Gondeln erwartet. Palazzi, über denen die Möwen kreisen. Stattdessen ist es um mich herum finster. Meine Hände ertasten raue Holzwände, und ich setze vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Wo bin ich hier gelandet?

Nur langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Schmale Lichtstreifen fallen durch vernagelte Fenster in den Raum. Er ist länglich und die Decken sind hoch. Es scheint, als stünde ich auf dem Dachboden eines Hauses. Ein riesiger Eichenschrank versperrt mir den Weg.

Ich gehe auf Zehenspitzen um ihn herum, um auf den Holzdielen nur ja kein Geräusch zu machen. Aber das ist natürlich Unsinn. Noch bin ich nur Beobachter des Geschehens.

Bis ich im mittelalterlichen Irland auf Gregor traf, war es immer so. Ich konnte weder gesehen noch gehört werden, nichts berühren oder berührt werden. Ihm ist es gelungen, mich in seine Zeit zu ziehen. Mittlerweile kann ich das Energiefeld sehen und ohne seine Hilfe hindurchtreten. Zumindest war es die letzten zwei Male so. Doch hier ist kein Energiefeld zu sehen, das Raum und Zeit miteinander verbindet.

Ein Mann. Wie angewurzelt bleibe ich stehen, als ich die glänzenden weißen Haare und den dunkelgrünen Gehrock nur wenige Meter vor mir sehe. Er steht still und hat mir den Rücken zugewandt. Mein Herz hämmert in meiner Brust. Denn auch wenn mein Verstand weiß, dass ich unsichtbar bin, sagt mir mein Körper etwas anderes. Ich will flüchten, mich verstecken. Aber dieser Raum hat nur einen Ausgang, und der liegt vor mir.

Ich wage mich einen Schritt vor, dann noch einen. Irgendwo weiter unten im Haus sind Stimmen zu hören. Der Mann mit den weißen Haaren hat sich noch immer nicht bewegt. Worauf er wohl wartet?

Als ich näher trete, möchte ich am liebsten laut auflachen. Vor mir steht eine Schneiderpuppe, die man mit einer Perücke und einem Gehrock ausgestattet hat. Sie leistet mir als einzige hier oben Gesellschaft. Die Anspannung fällt allmählich von mir ab. Doch ich muss noch immer hier weg. Und dort unten warten ganz reale Menschen auf mich.

Ich gehe zwischen zwei Holztruhen und einem Tisch auf die Tür zu. Es ist staubig, und ich muss reflexartig husten, obwohl nichts davon in meine Lunge gelangt. Dass niemand auf meine Laute reagiert, lässt mich ein wenig mutiger werden. Ich trete durch die Tür und steige leise die schmale Holzstiege hinab.

»Ich kann diesen Mann nicht heiraten, Mamma. Allein wie er redet. Ich ertrage seine Stimme nicht. Und hast du diesen eigenartigen Hut gesehen, den er immer trägt? Er behauptet, es sei die angesagteste Mode, aber es ist einfach nur peinlich.«

Geschirr klirrt. Ich werde langsamer, als ich merke, dass die Treppe geradewegs auf ein vom Sonnenlicht durchflutetes Esszimmer zuführt. Es muss noch früh am Tag sein. Eine Familie sitzt beim Essen – Vater, Mutter und drei junge Mädchen. Die Älteste ist vielleicht gerade mal fünfzehn Jahre alt. Sie tupft sich mit der Serviette den Mund ab und füttert den schwarzweißen Hund zu ihren Füßen mit einem Stück Fleisch aus ihrer Suppe, was die Mutter mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis nimmt.

»Außerdem hat er Mundgeruch«, gluckst ihre jüngere Schwester.

Ich bin sicher, dass sie nicht den Hund meint, sondern den Mann, den die Älteste heiraten soll.

»Jetzt ist es aber genug.«

Die Hand des Vaters fährt donnernd auf den Tisch und ich mache vor Schreck einen Satz rückwärts.

»Die Barbieris sind eine angesehene Familie und du kannst dich glücklich schätzen, dass der junge Matteo um deine Hand angehalten hat, Tochter.«

Er nickt seiner Frau zu, als wolle er fragen: Gut so? Wahrscheinlich hat sie ihn darum gebeten, ein Machtwort zu sprechen. Seine Gesichtszüge sind weich, und man sieht ihm gleich an, dass ihm das Schimpfen nicht liegt.

»Meine Nerven machen das nicht länger mit«, seufzt die Mutter und legt eine Hand an ihre Stirn, als müsste sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

Die Älteste verdreht ob dieser theatralischen Geste die Augen. Sie hat abweisend die Hände vor der Brust verschränkt. Das Sonnenlicht schimmert golden in ihrem blonden Haar. Sie ist hübsch. Vermutlich hat sie eine ganze Reihe von Verehrern. Aber so wie es aussieht, scheint sie sich ihren Mann nicht aussuchen zu dürfen.

Ich mache einen vorsichtigen Schritt in das schmucklose Esszimmer. Von dem prunkvollen Venedig ist in diesen Räumen nichts zu merken. Die Familie scheint zu den weniger wohlhabenden Bürgern zu gehören. Die Möbel wirken abgenutzt, die Kleider der Mädchen sehen so aus, als wären sie von der ältesten Schwester bis zur jüngsten durchgereicht worden.

»Ich werde ihn abweisen«, sagt die Älteste bestimmt.

Der Hund bellt, als wolle er ihr zustimmen.

»Dann wirst du uns alle in den Ruin stürzen. Du weißt, wie es um uns bestellt ist. – Wieso bloß musste ich drei Töchter kriegen, die mir nichts als Sorgen machen? Es ist eine Schande.«

Der Vater vergräbt sein Gesicht bekümmert in den Händen. Er tut mir ein wenig leid, genauso wie seine Tochter. Aber die wahre Schande ist, dass sie sich nicht einfach eine Arbeit suchen und ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Sie wird ihre Jahre an der Seite eines Mannes verbringen, den sie nicht liebt, nur weil sie und ihre Familie auf seinen Reichtum angewiesen sind. Um nichts in der Welt würde ich mit ihr tauschen wollen.

Der Hund hebt den Kopf, als ich mich zwischen Esstisch und Wand vorbei zur Tür schiebe. Ich frage mich, ob er mich wahrnehmen kann. Manchmal haben Tiere einen siebten Sinn. Für den Rest der Familie bleibe ich unbemerkt.

Ich steige eine zweite, breitere Treppe hinab, laufe schneller, als ich die Haustür erblicke. Dann bin ich draußen.

»Gebt acht!«

Im letzten Moment weiche ich einem Karren mit Heu aus. Der Junge, der ihn schiebt, schüttelt nur den Kopf, als ich seitwärts von ihm fort stolpere.

Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass er mich gesehen hat. Scheinbar bin ich unbemerkt durch das Energiefeld getreten, kurz nachdem ich das Haus verlassen habe.

»Geht es Euch gut?«

Ich zucke zusammen, als sich eine warme, zierliche Hand auf meinen Rücken legt.

»Es geht schon wieder. Besten Dank, Signorina.«

Mit einiger Befriedigung stelle ich fest, dass mein Italienisch noch nicht eingerostet ist. Es war eine der ersten Sprachen, die ich mir selbst angeeignet habe. Eine Leidenschaft von mir, die meine Eltern und Freunde so gar nicht nachvollziehen können. Im 21. Jahrhundert ist es nicht mehr nötig, eine Sprache zu lernen. Wir alle tragen fortwährend Transmitter im Ohr, die jede Fremdsprache in Echtzeit übersetzen können.

Seitdem ich tatsächlich in die Zeit eintreten kann, gesehen und angesprochen werde, ist meine Liebe zur Sprache ein großer Vorteil. Denn natürlich trägt die Venezianerin, die mich gerade angesprochen hat, keinen Transmitter im Ohr.

Mit zittrigen Händen ziehe ich mich an einer kleinen Steinmauer zu meiner Rechten hinauf und mustere meine Umgebung. Ich war schon einmal hier. Nicht in diesem Jahrzehnt, aber in diesem Jahrhundert. Ich erinnere mich an das flaschengrüne Kanalwasser, das Gurren der Tauben und die schwarzen Gondeln, die sich gemächlich an den prachtvollen Palazzi entlangschieben. Irgendwo in der Ferne läuten Glocken. Es muss gegen Mittag sein. Die Sonne steht hoch am Himmel, brennt unnachgiebig auf meiner Haut. Unter dem voluminösen Kleid wird die Hitze schnell unerträglich.

»Um ein Haar wäret Ihr in den Canałazzo gefallen, meine Liebe.«

Das wäre nicht das erste Mal, dass ich bei meiner Ankunft fast ins Wasser falle. Bei meiner Zeitreise in die Niederlande wäre ich in einer der vielen Grachten fast ertrunken. Ein Erlebnis, das ich nicht wiederholen möchte.

»Mir war nur ein wenig schwindelig«, sage ich zu der Frau, die mir daraufhin mitleidig die Schulter tätschelt.

»Ach, das kenne ich nur zu gut. Diese furchtbare Schnürbrust raubt einem den Atem. Aber was tut man nicht alles für eine schlanke Taille, nicht wahr? – Mir gefällt Euer Kleid. Ist das Florentiner Spitze und chinesische Seide?«

Ich nicke stumm, obwohl ich keine Ahnung habe, was ich da am Leib trage.

»Wusste ich es doch. Wunderschön! Für so etwas habe ich einen Riecher, müsst Ihr wissen.«

Sie tippt sich mit gespreiztem Zeigefinger zweimal an die Nasenspitze.

Noch immer dreht sich alles vor meinen Augen. Aber ich bin bemüht, mir mein Unwohlsein nicht ansehen zu lassen.

Mein Gegenüber muss etwa in meinem Alter sein. Ihre dunkelblonden Locken trägt sie hochgesteckt, die Augenbrauen sind betont und bringen ihre braunen Augen zur Geltung, und ihre Lippen sind rot geschminkt. Ihr bordeauxfarbenes Kleid steht meinem in seinem Prunk und Zierrat in nichts nach – ebenso wenig sein Ausschnitt.

Obwohl ich für ihre Fürsorge dankbar sein sollte, möchte ich sie am liebsten fortscheuchen. Es ist schon so schwer genug, sich in einer anderen Zeit zurechtzufinden, auch ohne eine aufmerksame Beobachterin.

Während ich meine Röcke ordne, schaue ich mich unschlüssig um. Hinter mir führt eine schmale Gasse zwischen den Häusern entlang. Rosen ranken an den Backsteinmauern. Doch ihr schwacher Duft kann den beißenden Geruch der Abfälle, die sich in einem Holzfass an der Hauswand sammeln, nicht überdecken. Fliegen drehen, auf der Suche nach Nahrung, surrend ihre Kreise.

Vor mir ragt ein Steg auf den Canal Grande. Offenbar wollte die junge Frau gerade die Gondolieri zu sich rufen. Sie hält einen schwarzen Fächer in der Hand, mit dem sie nun nach einem der Boote winkt. Die Männer ziehen die Ruder mit kräftigen Armzügen durch das sprudelnde Wasser. Einer von ihnen nickt, zum Zeichen, dass er ihre Geste verstanden hat. Ich will mich abwenden, doch die junge Frau hält mich auf.

»Ihr seid nicht von hier, habe ich recht? Ich höre es an Eurer Aussprache. Ach, teilt Euch doch eine Gondel mit mir, dann können wir noch ein bisschen plaudern, und ich kann mich versichern, dass es Euch gut geht. Es wäre mir eine große Beruhigung. – Ich schätze, es obliegt uns, uns einander vorzustellen. Ich bin Concetta Leoni.«

Ich bin viel zu überrumpelt, um ihrem Drängen nicht nachzugeben. Meinen Namen murmelnd, steige ich hinter ihr in die Gondel, wobei ich Mühe habe, meine Röcke in dem schmalen Boot unterzubringen. Ihr gelingt es mit einer einzigen, flüssigen Bewegung. Überhaupt wirkt alles an ihr elegant und zugleich irgendwie einstudiert – aufgesetzt. Sie will mir einfach nicht sympathisch werden, obwohl sie sich alle Mühe gibt.

»Entretemps? Ihr stammt also aus Frankreich? Ich war noch nie dort, aber ich habe schon so viel Wunderbares darüber gehört.«

»Aus London. Ich habe französische Vorfahren«, berichtige ich sie.

Ich weiß nicht, warum ich ihr diesen Namen genannt habe. Vielleicht, weil er mich an meine Zeit mit Gregor erinnert. Überall, wo wir gemeinsam aufgetreten sind, haben wir diesen Namen benutzt.

»Wie aufregend. England, Frankreich, Ihr müsst schon viel von der Welt gesehen haben. Kennt Ihr Paris? Ich würde so gerne einmal dort hinreisen. Die Mode und die Art zu leben – es muss bezaubernd sein.«

Sie schlägt mit ihrem Fächer nach einer Möwe, die dicht über unseren Köpfen kreist, dann wendet sie sich wieder mir zu und greift nach meinen Händen.

»Ihr müsst unbedingt meinen Freund Giacomo kennenlernen. Er ist ein wahrer Weltenbummler. Er war schon in Mailand, Paris, Genf und Prag. In Rom hat er sogar den Papst kennengelernt. – Wie lange seid Ihr schon in Venedig?«

»Noch nicht lang«, stottere ich.

Genau genommen habe ich mich gerade vor ihren Augen manifestiert. Zum Glück ist niemandem aufgefallen, dass ich scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht bin. Concetta muss mit dem Rücken zu mir gestanden haben, als es geschehen ist.

»Und wie gefällt es Euch?«

»Es ist … sehr schön.«

Concetta blinzelt übertrieben irritiert.

»Ihr wirkt so verhalten, meine Liebe. Aber das liegt bestimmt daran, dass Ihr noch nicht die richtigen Freunde gefunden habt. In Venedig gibt es so viel zu erleben. Die Maskenbälle und Theater, und all die Salons, in denen man die aufregendsten Bekanntschaften machen kann. Dort habe ich auch Giacomo kennengelernt.«

Meine Gedanken sind bei Gregor. Ich höre Concetta, die von ihrem Verehrer schwärmt, nur noch mit halbem Ohr zu. Ob er auch diesmal den Nachnamen Entretemps verwendet? Und wo soll ich bloß anfangen, ihn zu suchen?

»Ich habe eine Idee.«

Concettas aufgeregtes Quietschen holt mich in die Realität zurück. Sie strahlt über das ganze Gesicht.

»Giacomo gibt heute Abend einen Ball, da könnt Ihr ihn kennenlernen. Begleitet mich, als meine Freundin!«

Himmel, was ist denn in sie gefahren? Überrascht ziehe ich die Augenbrauen hoch. Concetta nickt, wie um sich selbst zu bestätigen.

»Doch, doch, Ihr müsst. Bitte begleitet mich. Ihr werdet es nicht bereuen. Und danach werden Eure Reden über unsere schöne Stadt nicht mehr so verhalten sein. Das verspreche ich Euch.«

Ich habe das Gefühl, auf dem Wasser zu treiben und von der Strömung immer weiter fortgespült zu werden. Erst waren es Ben und Melissa, die mir die Richtung vorgaben, jetzt ist es Concetta. Aber trägt mich diese Strömung zu Gregor hin oder von ihm weg?

»Nun gut«, sage ich schließlich.

Ein Ball verschafft mir die Möglichkeit, mich unauffällig nach Gregor umzuhören. Vielleicht habe ich ja Glück und jemand kennt ihn. Und Concetta scheint genau die richtige Person zu sein, um schnell Bekanntschaften zu machen.

An einem Marktplatz machen wir halt und steigen aus. Concetta bezahlt die Gondolieri mit ein paar Münzen. Da ich kein Geld bei mir habe, bedanke ich mich mit einem Lächeln und hoffe, dass Concetta die Schuld für uns beide beglichen hat. Die Gondolieri scheinen zufrieden zu sein, auch wenn meine Begleitung eine Schimpftirade loslässt, weil ihr Kleid während der Fahrt in Unordnung geraten ist. Sie glättet einige Falten, die ich mit dem bloßen Auge nicht erkennen kann. Normalerweise, erklärt mir Concetta, nimmt sie ihre eigene Gondel. Aber heute war ihr danach, sich ein wenig die Füße zu vertreten.

Unter den Rundbögen verkaufen Händler Fisch, Obst und Gemüse und allerlei Tand. Es ist trubelig. Die Mägde feilschen mit den Händlern um die Waren, ein Junge jagt einen Hund zwischen den Ständen umher und eine Gruppe wohlhabender, älterer Herren mokiert sich über die Aufregung, die er verursacht. Ein Gewürzhändler preist lautstark seine Waren an. Ich rieche Kurkuma und Rosmarin, Zimt und Anis.

Concetta hakt sich bei mir ein und gibt mir eine kurze Führung, wo ich das beste Tuch und die vornehmsten Duftwässerchen kaufen kann. Nachdem wir unsere Runde beendet haben und sie ihre Einkäufe erledigt hat, verabschiedet sie sich.

»Trefft mich um acht an der Ponte di Rialto, dann können wir die letzten Schritte gemeinsam gehen. Ich bin so froh, dass wir uns begegnet sind.«

Concetta drückt noch einmal meine Hände, dann ist sie auch schon verschwunden. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Wir haben keine drei Worte miteinander gewechselt und sie verhält sich bereits, als wären wir die besten Freundinnen. Aber vielleicht ist das ja von Vorteil, und ich erhalte durch sie Zugang zur venezianischen Gesellschaft.

Ich schlendere noch ein wenig an den Ständen entlang, gehe durch die Gassen, über Brücken und vorbei an den prachtvollen Palästen mit ihren Steinsäulen und Engelsfiguren. Die Stadt vibriert förmlich vor Energie. Obwohl Venedig seine wirtschaftliche Blütezeit hinter sich hat, ist sie zu einem Zentrum der Kultur und des Vergnügens geworden.

Als die Sonne sich langsam dem Horizont zuneigt und mein Magen zu knurren beginnt, steuere ich auf die Ponte di Rialto zu. Hoffentlich gibt es auf dem Ball etwas zu Essen.

Das Läuten einer Kirchenuhr verrät mir, dass ich viel zu früh bin. Also setze ich mich an den Rand des Kanals und lasse die Füße baumeln. Das Wasser plätschert in sanften Wellen gegen die Kaimauer, eine Möwe kreischt.

Ich rufe mir den Wortlaut der Prophezeiung in Erinnerung. Schließlich ist sie einer der Gründe, warum ich hier bin – auch wenn mich das Wiedersehen mit Gregor momentan am meisten beschäftigt.

Es sind zehn an der Zahl. Sie werden kommen und die Zukunft verändern. Und ihr Eingreifen bedeutet das Ende von Raum und Zeit.

Wird es Gregor und mir erneut gelingen, den Zeitreisenden aufzuhalten? Und ob er bereits einen Verdacht hat, wer es diesmal sein könnte?

Ich zweifele nicht mehr an der Wahrhaftigkeit der Prophezeiung. Dank ihr ist es uns gelungen, eine Liebesbeziehung zu verhindern, die die Allianz zwischen dem schottischen und dem französischen Königshaus bedroht hätte. Und wir haben dafür gesorgt, dass Vermeers Gemälde Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge noch immer seinen Platz in der Geschichte hat. Aber ich frage mich, woher die Prophezeiung kommt. Wer sie geschrieben hat und wie sie in Gregors Hände gelangen konnte. Er weiß es selbst nicht mehr. Zu viele Jahre sind seitdem vergangen und die Erinnerung hat ihn verlassen.

---ENDE DER LESEPROBE---