Erwählt – Die Zeitenwanderer-Chroniken - Karolyn Ciseau - E-Book

Erwählt – Die Zeitenwanderer-Chroniken E-Book

Karolyn Ciseau

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Liebe durch Raum und Zeit. Die Geschichte um Alison und Gregor geht weiter. Ihr Wiedersehen mit Gregor hat sich Alison in den schönsten Farben ausgemalt. Schließlich hat er ihr die alles entscheidende Frage gestellt und wartet nun auf eine Antwort. Doch während Alison im Geiste bereits die Hochzeit plant, hat sich Gregors Leben dramatisch geändert. Statt im siebten Himmel findet sich Alison bald in den düsteren Gassen des viktorianischen Londons wieder, die voller Gefahren stecken: Denn die Verfolgung eines Zeitreisenden führt sie auf die Spur des berüchtigten Frauenmörders Jack the Ripper, der im 19. Jahrhundert sein Unwesen treibt. Schon bald bangt Alison nicht nur um ihre Liebe, sondern auch um ihr Leben. Der sechste Teil der erfolgreichen Zeitenwanderer-Chroniken. Tauche ein in ein neues romantisches Zeitreise-Abenteuer.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ERWÄHLT

DIE ZEITENWANDERER-CHRONIKEN

BUCH 6

KAROLYN CISEAU

INHALT

Die Prophezeiung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Erwählt

Die Zeitenwanderer-Chroniken

Copyright © 2019 von Karolyn Ciseau

Carola Meissl

Ilmenaugarten 115

21337 Lüneburg

[email protected]

www.karolynciseau.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat/Korrektorat: Textwerkstatt Anne Paulsen

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Covermotiv: © Shutterstock

Tag der Veröffentlichung: 27.08.2019

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

DIE PROPHEZEIUNG

Es sind zehn an der Zahl. Sie werden kommen und die Zukunft verändern. Und ihr Eingreifen bedeutet das Ende von Raum und Zeit.

12 / 07 / 395

27 / 01 / 622

07 / 09 / 767

23 / 04 / 1558

20 / 10 / 1665

05 / 04 / 1754

22 / 09 / 1812

07 / 10 / 1888

10 / 07 / 1910

22 / 01 / 1944

PROLOG

LONDON, 2063 – ALISON

Als ich mich aufsetze, fällt der Ring aus meiner Hand und landet mit einem Klirren auf den kalten Fliesen. Ich sehe, wie er über den Boden rollt und schließlich zur Seite kippt, meine Sicht noch immer verschwommen von den Tränen, die ich geweint habe.

»Alison, was ist passiert?«

Melissa ist sofort bei mir. Sie bleibt vor der weißen Liege der Chronos stehen und streicht mir die rotbraunen Strähnen aus dem Gesicht, die sich aus meinem geflochtenen Zopf gelöst haben. Ihre Geste ist fürsorglich, dennoch wünschte ich, sie ließe mich einfach einen Augenblick in Ruhe. Ich habe das Gefühl, nicht atmen zu können, und ihre Nähe macht es schlimmer. Abwehrend hebe ich eine Hand.

»Ich kann nicht …«, stammele ich.

Mein Blick fällt auf den schlichten, hellen Stoff meines Empire-Kleids, das Melissas Mom mir nach einem Bild in einer Romanausgabe von Stolz und Vorurteil angefertigt hat. Ich hatte mir alles so schön erträumt, als ich erfuhr, wohin mich die nächste Koordinate der Prophezeiung führen würde: das Cornwall der Regency-Zeit.

Für jemanden, der sogar seinen Kater nach Jane Austens Romanhelden Mr. Darcy benannt hat, hätte es nicht besser kommen können. Zumal ich Gregors Ring an meinem Finger und eine Antwort in meinem Herzen trug, auf die ich ihn viele Jahre hatte warten lassen. Ich würde seine Frau werden. Irgendwo zwischen Raum und Zeit würden wir unsere Liebe möglich machen.

Und dann kam alles anders.

Ben legt das Tablet beiseite, mit dem er meine Vitalwerte kontrolliert hat, und gesellt sich zu Melissa und mir. Ich bemerke, wie er instinktiv ihre Hand ergreifen will. Wie er sie stattdessen flach gegen den Stoff seiner Jeans presst und schuldbewusst die Lippen verzieht, als wäre es unverzeihlich, dass er so verliebt ist, während ich hier weinend sitze. Das mit den beiden ist noch ganz frisch.

Ein Funken Eifersucht glüht in meiner Brust. Ich sollte nicht so fühlen. Nein. Ich sollte den beiden alles Glück dieser Erde wünschen. Aber warum muss ich diese Tragödie durchleben, diese epische Liebe, die doch nur zum Scheitern verurteilt ist, während Ben einfach nur Melissas Hand nimmt und sie anlächelt? Zwischen den beiden ist alles so einfach. Da gibt es kein »Wir dürfen nicht, wir sollten nicht, die Rettung der Welt liegt allein in unseren Händen und vielleicht in einem anderen Leben«. Da gibt es nur das Hier und Jetzt. Nur klopfende Herzen, Geflüster und Gekicher und Finger, die nicht voneinander lassen können.

»Sollen wir dich nach Hause bringen?«, fragt Ben.

Seine Stimme hat diesen leisen, verständnisvollen Ton, den ich gerade nur schwer ertragen kann. Ich nicke. Meine Augen sind immer noch auf den schmalen, goldenen Ring mit dem in Silber gefassten Diamanten geheftet, der unter dem Tisch an der Wand liegen geblieben ist. Er sieht so klein und verloren aus. Ich sollte aufstehen und ihn wieder an mich nehmen, aber meine Beine fühlen sich bleischwer an.

Melissa und Ben werfen sich einen hilflosen Blick zu. Sie waren schon einmal mit mir in diesem Raum und haben versucht, meine Tränen zu trocknen. Es ist noch gar nicht lange her, dass ich hier vom Tod meines Vaters erfuhr und eine Welt für mich zusammenbrach.

Und heute ist sie ein zweites Mal zerbrochen.

Doch diesmal werde ich stärker sein. Ich muss stärker sein, denn ich habe immer noch eine Aufgabe. Mein Lächeln ist kläglich, als ich mir die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht wische. Meine Beine zittern ein wenig. Aber ich stehe auf und dränge mich zwischen Melissa und Ben hindurch.

»Gehen wir!«

Irgendwann werde ich diesen Raum wieder betreten und in die Chronos steigen müssen. Ich werde zu Ende bringen, was Gregor und ich begonnen haben. Denn die Prophezeiung ist alles, was zählt. Ich muss verhindern, dass die Welt untergeht, dass Raum und Zeit aus den Fugen geraten.

Aber nicht hier und nicht heute. Im Moment will ich einfach nur aus diesem Kleid steigen. Ich will vergessen, was in Cornwall geschehen ist, egal wie lange es dauert.

Wochen. Monate. Jahre.

Und das kann ich. Jetzt kann ich es. Denn ich besitze etwas, das Gregor und ich nie hatten.

Zeit.

1

CORNWALL, 1812 – ALISON

Es ist ein wahr gewordener Traum.

Ich drehe mich einmal um mich selbst und mustere meine Umgebung. Die saftigen, grünen Wiesen, das blaue Meer, das gegen schroffe Felsen brandet und in der Ferne ein fürstliches Herrenhaus, dessen graue Mauern sich stolz über der Landschaft erheben. Die Koordinate der Prophezeiung scheint mich direkt in einen Jane-Austen-Roman katapultiert zu haben.

Während ich durch das vom Morgentau feuchte Gras auf das Herrenhaus zulaufe, stelle ich mir Gregor vor, wie er mir entgegenkommt in Gehrock, Weste und Stiefeln. Wie er den Verlobungsring an meinem Finger sieht und sich ein zaghaftes Lächeln auf sein Gesicht legt. Du hast es dir überlegt?, wird er fragen und dabei ein wenig angespannt klingen, obwohl er meine Erwiderung doch bereits kennt. Frag mich noch einmal, werde ich ihn bitten und seine Hände in meine nehmen. Und meine Antwort wird lauten: Ja. Tausendmal Ja. Ich will deine Frau werden. Ich will mein Leben mit dir verbringen.

Aber natürlich laufe ich Gregor nicht sofort in die offenen Arme. Wie soll er auch wissen, dass ich ausgerechnet den heutigen Tag für meine Ankunft gewählt habe? Es sind noch drei Wochen bis zum 22. September 1812. Drei Wochen, die uns bleiben, um den oder die Zeitreisende aufzuhalten. Drei Wochen, in denen wir Heiratspläne schmieden können.

Ich denke zurück an all die Abenteuer, die Gregor und ich gemeinsam erlebt haben. An die unglückliche Liebesgeschichte zwischen Anthony, einem Zeitreisenden, der sich in Maria Stuart verliebt hatte und damit die Allianz zwischen Schottland und Frankreich in Gefahr brachte. An Shenmi, die um ein Haar die Fertigstellung von Vermeers die Dame mit dem Perlenohrgehänge verhindert hätte, weil ihr die Perlenohrringe so gut gefielen, dass sie sie dem Maler abkaufte. Oder an Elicio, dessen Attentat auf den Dogen von Venedig wir im letzten Moment verhindern konnten. So viele Länder, so viele Epochen, so viele Lebensgeschichten. Doch das größte Abenteuer steht uns erst noch bevor.

Der Ring an meinem Finger glitzert und funkelt im Sonnenlicht, und ich strahle mit ihm um die Wette. Je näher ich dem Herrenhaus komme, desto beeindruckter bin ich von seiner Größe. Der längliche, doppelstöckige Steinbau mit seinen zahlreichen rechteckigen Fenstern wirkt beinahe ein bisschen einschüchternd. Ein Gärtner bearbeitet die Hecken vor dem Haus, schneidet sie in perfekte Quader. Kein Blättchen darf aus der Reihe tanzen.

Ich bin nicht sicher, ob er mich sehen wird, wenn ich näherkomme. Bei meiner letzten Zeitreise nach Venedig bin ich unbemerkt durch das Energiefeld getreten, das Raum und Zeit miteinander verbindet. Vielleicht ist es diesmal das Gleiche.

Eine schmale Brücke trennt mich noch von dem Anwesen. Sie führt über einen kleinen, sprudelnden Fluss, der sich zwischen Steinen hindurchschlängelt. Ich überquere sie und laufe geradewegs auf den Eingang des Anwesens zu. Der Gärtner beachtet mich nicht, dafür jedoch eine Magd in grauer Dienstmädchentracht und weißer Schürze. Sie kommt mit eiligen Schritten auf mich zu.

»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«

»Ja, ähm …«

Ich streiche etwas unbeholfen den Stoff meines Kleides glatt. In den ersten Augenblicken einer Zeitreise fühle ich mich immer am unwohlsten. Ich habe Angst, etwas falsch zu machen und ungewollte Aufmerksamkeit zu erregen. Meine Kleidung könnte unangemessen sein, meine Aussprache verraten, dass ich nicht aus dieser Zeit komme. Oder es ist einfach nur verdächtig, dass ich als Frau ganz allein unterwegs bin.

Doch wenn es so ist, lässt die Dienstmagd es sich nicht anmerken.

»Ich suche einen Herrn. Sein Name ist Gregor Entretemps.«

Natürlich ist das nicht Gregors richtiger Nachname, aber er hat ihn bereits in Frankreich und Holland verwendet. Ich hoffe also darauf, dass ich ihn auch diesmal unter diesem Namen finden werde.

»Mr. Entretemps. Natürlich.« Die Magd lächelt. Eine sanfte Röte färbt ihre Wangen. »Er bewohnt Longcliffe Park. Ein reizender Gentleman.«

Sie beißt sich auf die Unterlippe. Wahrscheinlich ist sie der Meinung, sie hätte schon zu viel geredet. Aber ihrem Gesicht sind die Worte anzusehen, die sie nicht spricht. Gutaussehend. Wohlhabend. Unverheiratet. Nun, letzteres lässt sich schnell ändern, denke ich mit einem Grinsen.

»Kannst du mir sagen, wie ich nach Longcliffe Park komme?«

»Da haben Sie Glück, Miss. Ein Bote soll heute Nachmittag zum Anwesen reiten, um eine Einladung meiner Herrin an Mr. Entretemps zu überbringen. Ich kann ihn bitten, die Kutsche zu nehmen und etwas früher loszufahren.«

»Das wäre sehr freundlich.«

Ich lehne das Angebot der Magd dankend ab, eine Tasse Tee zu trinken, während der Bote die Kutsche bereit macht, und spaziere noch ein wenig durch die Gärten des Hauses. Kies knirscht unter meinen Schuhsohlen, ein leichter Wind zieht an meinem Zopf und löst einige Strähnen. Das lange Warten macht mich nervös. Aber ich kann mich wohl kaum beschweren. Gregor wartet bereits seit fast sechzig Jahren auf meine Antwort. Da kann ich wohl die paar Stunden aushalten, die uns noch voneinander trennen. Für mich sind schließlich nur ein paar Wochen seit unserer Begegnung in Venedig vergangen. Wochen, die ich unruhig verstreichen ließ, weil ich Gregors Bitte nachkommen wollte. Ich sollte mir meines Jaworts ganz sicher sein. Jetzt bin ich es, und ich kann kaum erwarten, es ihm zu sagen.

Als es endlich soweit ist, lasse ich mir von dem Boten in die Kutsche helfen. Er ist ein schlaksiger Junge mit braunen Haaren und flinken Augen, die einen nie richtig anzusehen scheinen. Ich sitze hinter ihm auf dem offenen Einspänner, der von einem schwarzen Hengst gezogen wird. Es ist ein schönes Tier, mit einer schmalen Blesse, die sich von der Stirn bis zu den Nüstern zieht.

»Sie sind nicht aus der Gegend, oder, Miss?«, fragt der Junge, nachdem wir eine Weile gefahren sind.

Die Kutsche bewegt sich nur langsam vorwärts, und ich frage mich, ob ich zu Fuß nicht ebenso schnell vorankommen würde.

»Das stimmt. Ich komme aus London.«

»Oh, die große Stadt.«

Er wirft einen ehrfürchtigen Blick über die Schulter. Wahrscheinlich war er noch nie dort. Ich bin schon so oft nach Cornwall gefahren, manchmal nur übers Wochenende. Aber so ein spontaner Ausflug ist in dieser Zeit wohl nicht jedem vergönnt.

»Dann kennen Sie Mr. Entretemps von seiner Zeit in London?«, fragt der Bote.

Ganz schön neugierig. Ob er versucht, meine Absichten in Erfahrung zu bringen? Möglicherweise hat seine Herrin, für die er die Einladung überbringt, Interesse an Gregor. Ich könnte ihm erzählen, dass ich seine Verlobte bin. Aber irgendwie kommt mir das wie ein Geheimnis vor, das ich nicht jedem unter die Nase reiben sollte. Schon gar nicht, weil ich nicht weiß, wie es Gregor in den Jahren nach unserem Abschied ergangen ist.

»Wir sind alte Freunde«, antworte ich ausweichend und konzentriere mich wieder auf die grüne Landschaft.

Wir fahren an Wiesen und Feldern vorbei. Ein Junge, der einen Esel am Strick hinter sich herführt, kommt uns entgegen. Er hebt seine Kappe, und der Bote erwidert den Gruß. Schon bald wünschte ich, ich hätte Melissas Vorschlag, einen Hut zu dem Kleid zu tragen, nicht ausgeschlagen. Die Sonne brennt auf meinen Wangen. Bis wir das Anwesen erreicht haben, wird meine Haut sicherlich krebsrot sein.

»Dort ist Longcliffe Park«, erklärt der Bote, während er das Pferd antreibt und zerstreut damit meine Befürchtung.

In der Ferne erkenne ich ein Herrenhaus, das noch gewaltiger zu sein scheint, als jenes, das ich zuerst aufgesucht habe. Ich zähle drei Stockwerke, mit unzähligen Fenstern. Die sandfarbene Fassade ist hier und da mit Efeu bewachsen. Der Eingang ist überdacht und wird von schmalen Säulen getragen.

Die Aufregung prickelt in meinem ganzen Körper. Ich kann kaum noch stillsitzen, als wir endlich die gepflasterte Auffahrt hinauffahren. Die Hufe des Pferdes klappern auf den Steinen und kündigen unsere Ankunft an. Hunde bellen.

»Wohnt er hier ganz allein?«, frage ich überrascht, während mein Blick über das Anwesen schweift.

»So ist es, gnädiges Fräulein«, erwidert der Bote.

Eine Dienstmagd eilt uns entgegen, gefolgt von zwei großen, braunen Jagdhunden, die uns schwanzwedelnd begrüßen. Die Magd lächelt den Boten so fröhlich an, dass ich mich frage, ob die beiden sich besser kennen. Nachdem er das Pferd angehalten hat, springt er vom Kutschbock und wechselt einige Worte mit ihr. Ich kann ihn nicht verstehen, aber seine Hand streift wie zufällig über ihren Oberarm und sie kichert. Zumindest, was das zu bedeuten hat, weiß ich. Ich schmunzele in mich hinein.

»Wen darf ich ankündigen, Miss?«, wendet sich die Magd schließlich an mich.

Kurz überlege ich, Miss Entretemps zu sagen, aber das würde viel zu viele Fragen aufwerfen. Und es spricht nichts dagegen, ihr meinen richtigen Namen zu nennen.

»Miss Alison Kendall«, sage ich deswegen und sie nickt.

Da flackert kein Erkennen in ihrem Gesicht, also hat Gregor wohl nichts von mir erzählt. Aber was soll er auch sagen? Da ist eine Frau, die ich liebe, doch Raum und Zeit trennen uns voneinander. Das Mädchen würde wohl sofort einen Nervenarzt rufen.

»Folgen Sie mir bitte, Miss.«

Ich bedanke mich bei dem Boten, bevor ich mit ihr die Treppenstufen hinaufsteige, die ins Innere des Hauses führen. Hier ist es angenehm kühl und hell. Ein schwacher Duft nach Lavendel hängt in der Luft. Marmorfliesen bedecken den Boden der Eingangshalle. An den hohen Wänden hängen zahlreiche Landschaftsszenen und die Decken sind mit goldenem Stuck verziert. Alles ist prunkvoll und riesig und einschüchternd. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich hier jemals wohlfühlen könnte.

»Hier entlang.«

Wir durchqueren mehrere Räume. Ein Wohnzimmer, ein Speisezimmer, einen langen Flur. In der Bibliothek machen wir Halt. Die dunklen Bücherregale reichen bis unter die Decke.

»Eine Miss Kendall, Herr«, kündigt mich die Magd an.

Ihre Stimme hallt durch den Raum, doch ich kann niemanden finden, zu dem sie spricht. Das Mädchen macht auf dem Absatz kehrt, nickt mir kurz zu und lässt mich dann allein. Etwas verloren stehe ich in der Mitte des Raumes, mustere kostbare Ledereinbände und Goldprägungen. Dann höre ich das Blättern von Seiten, Papier, das raschelt.

Gregor?, will ich fragen, doch auf einmal kommt mir kein Ton über die Lippen.

Ein Räuspern. Ich recke den Hals und sehe übereinandergeschlagene Stiefel, die hinter der Rückseite eines braunen Ledersessels hervorschauen. Jemand beugt sich gemächlich vor und gießt Milch in eine kleine, mit Rosenmustern verzierte Tasse.

Nicht jemand, korrigiere ich mich, Gregor.

Ein wenig nervös umrunde ich den Sessel, um ihn anzusehen. Seit unserem letzten Treffen in Venedig hat er sich verändert. Er ist schmaler geworden und ein wenig blasser. Aber vielleicht liegt das auch an der Mode, die weniger pompös und dafür mehr gentlemanlike ist. Er trägt eine dunkelblaue Hose, schwarz polierte Stiefel und ein weißes Hemd mit einem breiten Kragen. Ich lächele vorsichtig, während meine Augen über ihn gleiten und seinen Anblick mit dem Bild vergleichen, das ich von ihm im Gedächtnis habe.

»Alison.« Sein Gesicht zeigt keine Regung, als er meinen Namen spricht. »Wie schön, dass du da bist. Gehen wir ein Stück.«

Das ist nicht die herzliche Begrüßung, die ich mir erhofft habe. Kein leidenschaftlicher Kuss, keine stürmische Umarmung, ja, nicht einmal ein Lächeln. Sieht er nicht, dass ich seinen Ring am Finger trage?

Panik wallt in mir auf. Ich denke an all die Male, an denen ich mich auf ein inniges Wiedersehen gefreut habe und enttäuscht wurde. In Frankreich hatte Gregor beschlossen, dass eine gemeinsame Zukunft für uns unmöglich ist. In Holland begegnete ich seiner Frau und erst später erfuhr ich, dass er sie nur aus Gründen der Vernunft geheiratet hatte. Und unsere Begegnung in Venedig war der letzte Schlag in mein Gesicht. Dort hatte Gregor sich als Casanova einen Namen gemacht.

Warum bloß habe ich geglaubt, es würde diesmal anders sein? Jedes Mal, wenn wir uns begegnen, scheinen wir wieder bei Null anzufangen.

Ich schlucke, zwinge mich, den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Dann soll es eben so sein. Ich bin bereit, den Kampf aufzunehmen.

»Komm! Die Gärten sind zu dieser Jahreszeit wunderschön. Es wird dir gefallen.«

Er erhebt sich von seinem Sessel und kehrt mir den Rücken zu. Die Bewegung hat etwas Unsicheres, als wüsste er selbst nicht genau, was er tut.

»Ich bin nicht wegen der Gärten gekommen.«

Es überrascht mich selbst, wie entschlossen ich klinge. Gregor hält inne.

»Bitte, Alison.«

Seine Stimme ist ganz leise, beinahe flehentlich. Ich trete neben ihn und nehme seine Hand in meine. Er soll den Ring spüren, der sich an seine warme Haut schmiegt – das Versprechen, das wir einander gegeben haben. Er soll wissen, dass ich ihn nicht so einfach aufgeben werde.

»Also gut, gehen wir.«

Er lässt meine Hand nicht los, aber ich spüre, wie er sich versteift. Ich spüre, dass etwas nicht stimmt, und es schnürt mir die Kehle zu. Ist es eine andere Frau? Ist ihm wieder einmal klar geworden, dass wir niemals miteinander glücklich werden können? Weil wir in getrennten Jahrhunderten leben? Weil er unsterblich ist und ich mit jedem Tag älter werde?

Gregors Antrag in Venedig klingt mir noch in den Ohren: Ich weiß, ich kann dir momentan nicht das Leben bieten, das du dir vorstellst. Nur ein Irgendwann und Irgendwo. Aber ich kann dir versprechen, dass ich dich immer lieben werde, egal, wie weit wir voneinander entfernt sind. Das waren keine leeren Worte. Da bin ich mir sicher.

Seite an Seite treten wir hinaus in die Sonne, laufen an einem Kräutergarten und Blumenbeeten vorbei, in denen die Bienen leise und melodisch summen. Mehrmals habe ich das Gefühl, Gregor möchte etwas sagen, aber jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, scheint er in seine eigenen Gedanken versunken. Seine dunkelblonden Locken fallen ihm in die Stirn und umrahmen sein markantes Gesicht. Seine grauen Augen sind stur geradeaus gerichtet.

»Gregor, ich …«

»Alison …«

Ich muss lachen, weil wir gleichzeitig zu sprechen beginnen. Vielleicht gibt es gar keinen Grund für mich, das Schlimmste zu befürchten. Vielleicht sind wir beide nur ein wenig angespannt.

Gregor bleibt ernst. Er wendet sich mir zu, aber er sieht mich nicht an. Seine Augen fixieren einen Punkt weit hinter mir.

»Ich bin froh, dass du hier bist und wir endlich alles klären können«, beginnt er.

Meine Finger wandern unwillkürlich zu meinem Verlobungsring, drehen an ihm. Das ist eine merkwürdige und seltsam unromantische Einleitung, um einen Heiratsantrag zu besprechen.

»Hat sich etwas verändert, seitdem ich dich in Venedig verlassen habe?«, frage ich und meine Stimme klingt erstickt.

»Das hat es.«

Sein Blick fällt auf den Ring, und ich spüre, wie mein Herz einen Hüpfer macht. Er schluckt.

»Es wäre das Beste, wenn wir uns in Zukunft nicht mehr sehen.«

»Wie meinst du das?« Ich versuche zu lachen, weil die Situation so absurd ist, aber es klingt einfach nur falsch. »Wir haben die Prophezeiung, um die wir uns kümmern müssen.«

Und du hast mich gebeten, dich zu heiraten, du verdammter Idiot. Willst du jetzt etwa einen Rückzieher machen?

»Ja … Es sind nur noch drei Daten. Es wäre wohl besser, wenn du allein weitermachst. Du weißt jetzt, was zu tun ist. – Um die Zeitreisende hier habe ich mich bereits gekümmert. Es tut also nicht Not, dass du länger verweilst.«

Ich fühle mich, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen. Benommen strecke ich eine Hand aus, um mich an einem Mäuerchen festzuhalten, das den Gemüsegarten begrenzt. Um mich herum scheint sich alles zu drehen.

Das ist nicht richtig. Vielleicht würde Gregor mich von sich stoßen, vielleicht würde er mir sagen, dass es für uns keine Zukunft gibt und ich mein Leben ohne ihn weiterleben soll. Doch er würde nie die Prophezeiung aus der Hand geben.

»Was ist los, Gregor? Sag es mir!«, flehe ich tonlos.

Meine Zunge liegt trocken und schwer in meinem Mund und hält mich davon ab zu schreien. Das muss ein Scherz sein. Ein sehr schlechter Scherz.

Du hast mir ein Happy End versprochen. Du hast es uns versprochen. Warum willst du nun alles zunichtemachen?

Gregors Hand ballt sich zur Faust, dann öffnet er sie wieder. Langsam, ganz langsam.

»Du willst wissen, was los ist? Ich habe mein ganzes Leben dieser Prophezeiung geopfert, und jetzt habe ich einfach keine Lust mehr.« Er wird immer lauter. Seine Worte kriechen mir unter die Haut und erschüttern mich im tiefsten Inneren. »Mir gefällt es hier in Cornwall. Ich habe es zu einigem Ansehen gebracht. Und ich will nicht mehr länger nur an die Zukunft denken müssen. 1888. 1910. 1944. Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie sehr mich diese Zahlen verfolgen? Kannst du begreifen, was es bedeutet, nicht im Hier und Jetzt leben zu können? – Nein, das kannst du nicht.«

Sein bitteres Lachen treibt mir die Tränen in die Augen. Weiß er, wie sehr er mich damit verletzt?

»Aber was ist mit uns?«, stoße ich hervor.

Er schnaubt.

»Du hast gefragt, ob sich etwas verändert hat, seitdem du Venedig verlassen hast. Ich habe mich verändert. Ich bin nicht mehr der, den du kanntest, so sehr du dir das auch wünschen magst.«

Die Wut, die sich in ihm aufgestaut hat, scheint mit einem Mal verraucht. Doch es ist noch nicht vorbei. Tief in mir drin weiß ich das. Er hat mein Herz mit wenigen Worten zertrümmert, doch offensichtlich befinde ich mich im Moment lediglich im Auge des Sturms.

Hier ist es ruhig.

Schrecklich ruhig.

»Ich habe versucht, an unseren gemeinsamen Erinnerungen festzuhalten, Alison. Wirklich. Ich habe es versucht. Aber sie sind mir einfach so entglitten – eine nach der anderen. Und am Ende war nicht mehr viel übrig.«

»Das heißt nicht …«

Ich breche ab, weil der Schmerz mir die Stimme raubt. Er hat mich vergessen. Das ist es, was er mir sagen will. Ich erinnere mich noch genau an jenen Augenblick, als wir in Venedig Seite an Seite im Bett lagen und er mir gestand, dass er nicht mehr von dem hellblauen Band wusste, das er mir in Frankreich als Liebesbeweis geschenkt hatte. Es tat so unglaublich weh. Doch es war nur ein Bruchteil unserer gemeinsamen Erinnerungen. Jetzt soll alles weg sein? Einfach so?

»Ich könnte dir von unserer gemeinsamen Zeit erzählen«, sage ich und klinge dabei furchtbar verzweifelt. »Vielleicht erinnerst du dich wieder. Vielleicht kommt all das Vergessene zurück, wenn du es nur hartnäckig genug versuchst.«

Er schüttelt den Kopf.

»Nein, ich will das nicht. Erst habe ich so verbissen daran festgehalten. Aber weißt du, wie ich mich gefühlt habe, als die Erinnerungen endlich verblasst waren? Es war eine Erlösung.«

Ein Schluchzen entweicht mir. Ich schlage eine Hand vor meinen Mund, schlinge die andere beschützend um mich. Das meint er nicht so. Das kann er unmöglich so meinen.

Gregor verschränkt die Hände vor der Brust.

»Behalte den Ring. Ich weiß noch, dass ich ihn dir geschenkt habe. Vielleicht bedeutet dir diese Erinnerung ja noch etwas. Mir ist sie gleichgültig.«

Er hat mir ein Messer ins Herz gestoßen, und nun treibt er die Klinge immer tiefer und tiefer. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, doch er weicht zurück. Sein Blick ist unerbittlich. Das bist doch nicht du, will ich sagen. Aber was weiß ich schon?

Ich bin nicht mehr der, den du kanntest, hat er gesagt und ich bin gewillt, ihm zu glauben. Der Gregor, den ich kannte, wäre niemals so grausam zu mir gewesen.

Seine Augen wandern zum Himmel.

»Es wäre besser, wenn du jetzt gehst. Es soll noch regnen, und du musst an den Ort zurück, an dem du in Zeit und Raum eingetreten bist.«

Er bietet nicht einmal an, mich zu begleiten oder mir eine Kutsche zur Verfügung zu stellen. Als ich zu ihm aufschaue, sind seine grauen Augen kalt und verschlossen. Du hast genügend meiner kostbaren Zeit beansprucht, scheinen sie zu sagen.

»Gregor …«

»Lebwohl, Alison.«

So sollte es nicht enden.

So darf es nicht enden.

Doch er wendet sich einfach ab und lässt mich inmitten des blühenden Gartens stehen. Über meinem Kopf ziehen sich bereits die ersten grauen Wolken zusammen.

2

CORNWALL, 1812 – GREGOR

Ein Teil von mir wünscht sich, dass sie mein Schauspiel durchschaut. Dass sie mir hinterherläuft und mich fragt, ob ich den Verstand verloren habe. Ich hasse mich für das, was ich getan habe. Für die Dinge, die ich zu ihr gesagt habe. Ich konnte dabei zusehen, wie jedes meiner Worte in ihr arbeitete und wie es sie zerbrach.

»Ist Euer Besuch schon fort, Herr?«, fragt meine Dienstmagd, als ich mich die Treppe von Longcliffe Park hinauf und zurück in die Bibliothek schleppe.

Mehr als ein knappes Nicken bringe ich nicht zustande.

»Braucht das gnädige Fräulein keine Kutsche, die sie zurückbringt?«

»Sie wird ihren Weg auch ohne unsere Hilfe finden«, erwidere ich barscher als beabsichtigt.

Das Mädchen knickst und verschwindet in einem der unzähligen Räume. Sie weiß, dass ich die meiste Zeit lieber für mich bin. Dass ich mich in der ständigen Gegenwart des Dienstpersonals unwohl fühle. Was sie nicht weiß, ist, wie viel Beherrschung es mich kostet, nicht vor ihr zusammenzubrechen. Am liebsten würde ich auf die Wand einprügeln, die Bücher aus den Regalen reißen, sie auf den Boden der Bibliothek werfen und darauf herumtrampeln.

Ich bin ein Monster. Das war ich schon immer. Selbstsüchtig, weil ich Alison für mich haben wollte, obwohl ich doch wusste, dass es nicht sein darf. Rücksichtslos, weil ich ihr Herz gebrochen habe. So viele Male. Grausam, weil ich sie glauben ließ, wir könnten für immer zusammen sein.

Und das schlimmste von alldem: Jetzt bin ich auch noch ein Lügner.

Ich habe ihr gesagt, ich würde mich nicht erinnern. Aber das stimmt nicht. Ich erinnere mich daran, wie ich in Irland um meine verstorbene Frau trauerte. Um das verlorene Leben, das nach und nach dem Vergessen anheimfiel. Ich erinnere mich, wie Alison ihre Hand tröstend in meine legte. Sie war so zierlich und zart, ihre Haut so weich, und ich hatte Angst, sie zu festzuhalten. Ich erinnere mich, wie stur sie in Frankreich darauf beharrte, dass wir zusammengehören. Wie sie in Holland, von Albträumen geplagt, zu mir fand und wir einander hielten. Wie ihre grünen Augen leuchteten, als ich ihr in Venedig den Heiratsantrag machte. Und ich werde mich immer an den heutigen Tag erinnern. Daran, wie das Leuchten in ihren Augen erstarb, als ich ihr sagte, sie solle gehen.

Es musste sein.

---ENDE DER LESEPROBE---