Gezeichnet – Die Zeitenwanderer-Chroniken - Karolyn Ciseau - E-Book

Gezeichnet – Die Zeitenwanderer-Chroniken E-Book

Karolyn Ciseau

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Beschreibung

Eine Liebe durch Raum und Zeit. Die Geschichte um Alison und Gregor geht weiter. Alisons Reise ins Holland des 17. Jahrhunderts beginnt dramatisch: Erst stürzt sie in eine Gracht und ertrinkt fast, und dann sieht sie sich auf einmal Gregors Ehefrau gegenüber. Hat ihre große Liebe sie etwa nach all den Jahren vergessen? Dass Alison nicht auf dem Absatz kehrtmacht und zurück in ihre Zeit reist, hat sie ihrer besten Freundin Melissa zu verdanken, die plötzlich vor Gregors Türschwelle auftaucht. Ihr ist es gelungen, Alison durch die Zeit zu folgen. Gemeinsam versuchen Alison, Gregor und Melissa die Prophezeiung zu verhindern und geraten dabei in ein Netz aus dunklen Geheimnissen, Kunstraub und Erpressung. Wer ist der mysteriöse Zeitreisende, der durch sein Eingreifen das Ende der Welt heraufbeschwören könnte? Und was hat Vermeers berühmtes Gemälde »Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge« mit all dem zu tun? Der vierte Teil der erfolgreichen Zeitenwanderer-Chroniken. Tauche ein in ein neues romantisches Zeitreise-Abenteuer.

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GEZEICHNET

DIE ZEITENWANDERER-CHRONIKEN

BUCH 4

KAROLYN CISEAU

INHALT

Die Prophezeiung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Gezeichnet

Die Zeitenwanderer-Chroniken

Copyright © 2018 von Karolyn Ciseau

Carola Meissl

Ilmenaugarten 115

21337 Lüneburg

[email protected]

www.karolynciseau.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat/ Korrektorat: Textwerkstatt Anne Paulsen

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Covermotiv: © Shutterstock

Tag der Veröffentlichung: 15.02.2018

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

DIE PROPHEZEIUNG

Es sind zehn an der Zahl. Sie werden kommen und die Zukunft verändern. Und ihr Eingreifen bedeutet das Ende von Raum und Zeit.

12 / 07 / 395

27 / 01 / 622

07 / 09 / 767

23 / 04 / 1558

20 / 10 / 1665

05 / 04 / 1754

22 / 09 / 1812

07 / 10 / 1888

10 / 07 / 1910

22 / 01 / 1944

1

Es gibt diesen Moment zwischen Schlafen und Wachen. Wenn der Fuß ins Leere tritt und es sich anfühlt, als würde man fallen, fallen, fallen. In ein schwarzes, bodenloses Nichts. Dann reißt es einen am ganzen Körper und man schreckt schweißgebadet hoch aus der schattenhaften Traumwelt. Aber ich wache nicht auf. Auch wenn meine Augen weit aufgerissen und meine Sinne scharf sind. Für mich gibt es kein Erwachen. Denn ich falle durch die Zeit.

Der Aufprall ist schmerzhaft. Das eiskalte Wasser bohrt sich wie tausend winzige Nadelstiche in meinen Rücken und nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich weiß, dass ich Luft in meine Lungen pumpen muss, solange mein Kopf noch über der Wasseroberfläche ist. Aber als ich meinem Körper befehle zu atmen, ist es bereits zu spät. Das Wasser schlägt über mir zusammen und meine Sicht verschwimmt. Ich rudere mit Armen und Beinen, verheddere mich dabei in den vielen Stofflagen meines Kleides, die gierig wie ein Schwamm das kalte Nass aufsaugen. Mein Herz wummert vor Panik. Ich unterdrücke den Impuls zu schreien, versuche mich zu beruhigen. Das Wasser kann nicht besonders tief sein, das rettende Ufer nicht weit entfernt. Aber oben und unten haben für mich jede Richtung verloren.

Ich kämpfe bis zur Erschöpfung, denke an Melissa, die mir jetzt hilflos aus dem Metaraum zusieht. Sie wollte mir nicht glauben, dass ich Zeit und Raum durchschreiten kann. Nicht nur als Beobachterin, wie wir es aus unserem Zeitreise-Studium gewohnt sind, sondern als jemand, der in die Zeit eingreifen, in ihr leben kann. Sie musste es mit eigenen Augen sehen. Und so haben wir Ben überredet, uns beide mit der Chronos, der Zeitreisemaschine unserer Universität, durch Zeit und Raum zu schicken.

Als ich aus dem Metaraum in das Jahr 1665 eingetreten bin, bin ich ein Teil dieser Zeit geworden. Außer Reichweite von Melissa, die mir keine rettende Hand entgegenstrecken kann. So sehr ich es mir auch wünsche, sie jetzt an meiner Seite zu haben, ich bin auf mich allein gestellt.

Mit dem Fuß trete ich gegen etwas Festes - endlich. Vielleicht ist es die Kaimauer.

Die Kälte ist in meine Glieder gefahren. Ich muss mich dazu zwingen, mich ihr nicht einfach zu ergeben. Mühsam kämpfe ich mit dem Stoff meines Kleides, um in die Richtung zu gelangen, in der ich das Ufer vermute. Meine Finger berühren eine steinige, unebene Fläche, versuchen Halt zu finden.

Dann werde ich plötzlich am Kragen gepackt und zurückgerissen. Etwas will mich in die Tiefe zerren, schießt es mir durch den Kopf. Wirre, vernebelte Gedanken, geboren aus der Panik, die mich wie eine schwarze Wolke umgibt. Ich schreie nun doch, atme Wasser, unterdrücke ein Husten. Atme noch mehr Wasser. Alles klingt dumpf und dröhnend – gefährlich. Meine Sinne schwinden. Ich kann spüren, wie sie mir langsam entgleiten. Feine Rauchschwaden, die sich in der Dunkelheit verirren.

Ein Ruck geht durch meinen Körper. Wieder durchdringe ich die Wasseroberfläche, aber diesmal ist es grelles Tageslicht, das mich umfängt. Ich werde auf einen schwankenden Untergrund aus Holz gezogen, rieche Fisch. Oder bilde ich mir das nur ein?

»Atmen! Ihr müsst atmen!«, befiehlt eine aufgeregte Stimme.

Meine Lunge brennt. Ich will Luft holen, muss husten, kämpfe gegen die Dunkelheit an, die an mir zieht. Es ist, als würde mich dort etwas rufen. Komm zu mir! Ruh dich aus!, lockt es mit sanfter Stimme.

»Gregor«, stoße ich zwischen zwei Atemzügen keuchend aus.

Dann folge ich der Stimme in die Dunkelheit.

»Sie muss in die Gracht gefallen sein, Mevrouw. Ich war gerade auf dem Weg in die Fischhalle, da sah ich sie im Kanal treiben, keine vierhundert Meter von Eurer Haustür entfernt. Sie hat nach Eurem Gatten gefragt, kurz bevor sie das Bewusstsein verlor.«

Ich blinzele benommen, versuche den Schleier der Dunkelheit abzuschütteln. Starke Arme halten mich ein bisschen zu fest, als hätten sie Angst, ich könnte ihnen entgleiten. Mein Kopf ist an eine Brust gelehnt, die sich zitternd vor Anstrengung hebt und senkt. Auch ich zittere. Aber nicht vor Anstrengung, sondern vor Kälte und Erschöpfung. Ich kann nicht lange ohnmächtig gewesen sein. Wahrscheinlich hat mich mein Retter aus dem Wasser in sein Boot gezogen und geradewegs hierher gebracht. Zu jenem Haus, das ich für Gregors hielt. Denn ich habe aus dem Metaraum heraus gesehen, wie er es verließ.

Aber es kann nicht sein. Mein Verstand klammert sich an dem Wort Gatten fest. Sie hat nach Eurem Gatten gefragt. Das hieße ja … Der Mann muss einen falschen Namen verstanden haben. Oder vielleicht gibt es noch einen anderen Gregor, der in dieser Straße lebt. Das ist kein besonders üblicher Name für die Niederlande, aber es wäre immerhin möglich.

Eine zarte, warme Hand legt sich auf meine Wange. Vermutlich gehört sie zu der Dame des Hauses. Unter den halbgeschlossenen Lidern erhasche ich einen Blick auf den schlichten, goldenen Ehering an ihrem Finger.

»Sie ist ja ganz durchgefroren. Das arme Mädchen! Sei so gut und bring sie in die Stube. Ich werde Grietje bitten, ihr ein Bad einzulassen.«

Die Schritte der Frau entfernen sich hastig. Mein Retter trägt mich ins Innere des Hauses. Ich kralle mich in seinem Gewand fest, weil ich Angst habe zu fallen, so sehr schwanken wir. Er wirkt ungelenk in seinen Bewegungen. Aber vielleicht ist er auch einfach erschöpft, weil er gerade eine ertrinkende, um sich schlagende Frau aus dem Wasser gezogen hat.

Die Holzdielen knarzen unter seinen Füßen, und mir weht der Geruch von Feuerholz entgegen. Dann werde ich auf weiche Polster und Kissen gelegt und mit einer schweren Wolldecke zugedeckt. Stöhnend will ich mich aufrichten, aber der Schwindel zwingt mich zurück in die Kissen, lässt mich die Augen fest zusammenpressen. Es fühlt sich an, als würde ich noch immer durch die Zeit fallen. Meine Glieder sind unendlich schwer.

Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen: Bevor ich in die Gracht gefallen bin, befand ich mich im Metaraum. Ich hatte nicht erwartet, dass ich es schaffen würde, ohne Gregors Hilfe aus diesem Raum zwischen den Zeiten ins Delft des 17. Jahrhunderts einzudringen. Bei meiner letzten Zeitreise nach Norwegen war mir das zwar schon einmal gelungen. Aber ich dachte, es sei ein glücklicher Zufall gewesen, nichts weiter. Als ich diesmal das warme Pulsieren wahrnahm, das die Brücke zwischen dem Metaraum und der Vergangenheit markiert, habe ich gehandelt. Ich bin darauf zugestürzt, ohne darüber nachzudenken, was mich auf der anderen Seite erwartet. Meine Leichtsinnigkeit werde ich nun vermutlich mit einer fiesen Erkältung bezahlen müssen, oder noch schlimmer, mit einer Lungenentzündung.

»Kann ich sonst noch etwas tun, Mevrouw?«

Er muss rufen, weil sie sich im Flur aufhält. Ich höre ihr Kleid rascheln, als sie ins Zimmer tritt.

»Das wäre alles. Hab Dank, Matthijs! Ohne dich wäre sie womöglich ertrunken.«

Ich will mich ihrem Dank anschließen, aber mein Kopf dröhnt, und ich bin unfähig, mich zu bewegen. Während Matthijs das Haus verlässt, kommt die Frau näher, zieht einen Stuhl zu mir heran. Obwohl ich die Augen geschlossen halte, kann ich spüren, dass sie mich betrachtet. Es ist mir unangenehm. Sie muss denken, dass ich schlafe oder bewusstlos bin, sonst würde sie mir nicht einfach eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen. Ihre Geste fühlt sich übergriffig an, viel zu vertraut.

»Ihr seid so schön wie auf seinen Zeichnungen. Er hat Euch gut getroffen.«

Wie meint sie das? Ich halte unbewusst die Luft an, warte dass sie weiterredet. Aber sie steht auf, läuft im Raum umher. Es hört sich an, als würde sie die Vorhänge neu ordnen. Ein leises Seufzen entfährt ihr.

»Ich wusste, dass Ihr eines Tages kommen würdet. Vielleicht ist es gut so. Ihr habt den rechten Zeitpunkt gewählt.«

»Mevrouw, das Bad ist so weit.«

Das muss Grietje sein. Vermutlich ist sie die Dienstmagd. Ihre Stimme ist ruhig und tief und ihr Gang lässt vermuten, dass sie etwas kräftiger gebaut ist. Die Schritte ihrer Herrin sind sehr viel anmutiger und leiser.

»Sieh zu, dass sie schnell ins heiße Wasser kommt! Und gib meinem Gatten Bescheid, sobald er zurückkehrt. Ich werde in der Stadt einige Besorgungen machen und Per mit mir nehmen.«

»Aber, Mevrouw, wer ist sie?«

»Bis auf Weiteres ist sie unser Gast, Grietje. Mehr musst du nicht wissen.«

Grietje scheint sich mit der Antwort zu begnügen. Ich blinzele. Während die Dame des Hauses in den Flur eilt, als könnte sie es nicht erwarten, möglichst viel Raum zwischen uns zu bringen, beugt sich die Dienstmagd über mich. Ihr Atem riecht nach Zwiebel.

»Ihr müsst mir helfen, Mädchen. Ich bin nicht so stark wie Matthijs.«

Ihr fester Griff und die rauen, aufgesprungenen Hände lassen etwas anderes vermuten. Sie legt meinen Arm um ihren Nacken, eine Hand an meine Hüfte und zieht mich auf die Beine. Wir taumeln leicht, und Grietje flucht. Ich habe kein Gefühl mehr in den Beinen. Die Kälte hat sie mir geraubt. Mittlerweile schlottere ich am ganzen Körper. Trotzdem schaffen wir es irgendwie über den langen, dunklen Flur, durch die Küche in die Waschküche. Immer wieder blinzele ich unter halbgeschlossenen Lidern hervor, aber ich bin der Bewusstlosigkeit immer noch so nah, dass ich es nicht schaffe, sie ganz zu öffnen.

»Wer ist sie, Mama?«, wispert eine neugierige Jungenstimme, als wir den Flur durchqueren.

»Komm jetzt, Per!«, höre ich die Frau sagen.

Dann wird die Eingangstür geöffnet und wieder geschlossen.

Grietje flucht erneut, als sie mir das nasse Kleid vom Leib zerrt. Ich lasse es willenlos geschehen. Nur beim Ausziehen meiner Stiefel lehne ich ihre Unterstützung ab.

Im Schaft habe ich meinen Reverser, der mich zurück in meine Zeit bringt, und eine Kopie von dem Foto des Zeitreisenden versteckt. Zum Glück ist der Reverser wasserdicht und das Bild habe ich in weiser Voraussicht eingeschweißt. Als ich das Original auf meiner Zeitreise nach Norwegen gefunden habe, sah es bereits ein wenig mitgenommen aus. Der tote Zeitreisende, der es bei sich trug, hatte es zusammengefaltet, und die geknickten Seiten waren leicht eingerissen. Ich wollte verhindern, dass die Kopie ebenfalls Schaden nimmt und dadurch für Gregor und mich unbrauchbar wird.

Dieses Foto ist unsere heißeste Spur, wenn es um die Verhinderung der Prophezeiung geht. Es zeigt drei Männer und zwei Frauen, die zu einem Team zu gehören scheinen. Einer von ihnen ist Anthony, der Zeitreisende, dem ich im 16. Jahrhundert am Französischen Hof begegnet bin. Ein anderer ist der Tote, bei dem ich das Foto gefunden habe. Vielleicht sind auch die übrigen drei Personen auf dem Bild Zeitreisende, die in die Prophezeiung verstrickt sind.

»Kein Wunder, dass Ihr fast ertrunken seid, bei all dem Stoff. – Schön vorsichtig! Das Wasser ist heiß.«

Ich klettere mit Grietjes Hilfe in den dampfenden Wasserbottich, habe das Gefühl, gleich wieder ohnmächtig zu werden. Es ist unerträglich heiß. Am liebsten würde ich schreiend herausspringen, doch ich beiße die Zähne zusammen und widerstehe dem Drang. Wenn mir dafür endlich wieder warm wird, ist es das wert.

Langsam, ganz langsam kehrt das Leben wieder in mich zurück. Ich öffne die Augen, betrachte meine krebsrote Haut, die in Flammen zu stehen scheint. Grietje hat den Raum verlassen. Vielleicht, um mir ein bisschen Privatsphäre zu geben. Vielleicht hat sie auch einfach beschlossen, dass ich versorgt bin und kümmert sich nun um andere Dinge.

Normalerweise wäre es mir unangenehm, dass mir eine andere Frau einfach so die Kleider vom Leib reißt, aber an Scham war bisher gar nicht zu denken. Viel zu sehr bin ich damit beschäftigt, wieder zu mir zu kommen und mir auf all das einen Reim zu machen.

Ist es möglich, dass ich tatsächlich in Gregors Haus gebracht wurde? Dass er Frau und Kind hat? Die Vorstellung versetzt mir einen Stich im Herzen. Nein, das darf einfach nicht sein. Nicht nach all dem, was wir gemeinsam durchgemacht haben.

Es ist wahr: In Frankreich haben wir beschlossen, dass wir getrennte Wege gehen, weil es keine Zukunft für uns gibt. Für Gregor war das unsere letzte Begegnung. Doch ich bin noch einmal zurückgereist, tiefer in seine Vergangenheit eingetaucht. Als ich ihm im 8. Jahrhundert in Norwegen begegnet bin, habe ich seine Verzweiflung und Mutlosigkeit erlebt. Er braucht mich. Vielleicht nicht als Geliebte, aber als Freundin, die ihm bei der Verhinderung der Prophezeiung zur Seite steht. Die dafür sorgt, dass er den Weg nicht verliert.

Ich tauche unter Wasser, lasse meine Haare sanft umspülen. Wenn ich den Kopf in den Nacken lege und die Augen öffne, kann ich die Wäsche sehen, die hoch über mir auf einer Leine aufgehängt ist. Weiße Taschentücher und Hemden, die durch das Wasser nur verschwommen zu erkennen sind. Ob sie Gregor gehören?

Wie er wohl in dieser Zeit sein wird? Aus dem Metaraum heraus konnte ich nur einen kurzen Blick auf ihn werfen. Er war zu schnell verschwunden, und dann fiel ich auch schon in die Gracht. Er sah gut aus in seinem dunkelblauen Gewand mit den vielen Knöpfen, den glänzend schwarzen Stiefeln und dem breiten Hut. Ganz so, als sei er ein wohlhabender Kaufmann. Ein Kaufmann mit Familie?

Prustend tauche ich auf, reibe mir das Wasser aus den Augen. Dass ich nicht mehr alleine bin, merke ich erst an dem Räuspern, das in der kargen Waschküche widerhallt. Graue Augen bohren sich in meine.

»Alison.«

Mein Name aus seinem Mund löst tausend verschiedene Empfindungen aus. Ich bin unendlich glücklich ihn wiederzusehen, zu wissen, dass er wohlauf ist. Und zugleich bin ich wie erstarrt. Wenn er hier ist, bedeutet das, dies ist sein Haus. Und seine Frau. Und sein Kind.

Ich bleibe stumm, sehe ihn nur an. Versuche zu ergründen, was er empfindet, was er denkt. Ist er froh, mich zu sehen oder hat er gehofft, mir nie wieder zu begegnen? Immerhin scheint er sich noch an mich zu erinnern.

»Was machst du hier? Wie bist du überhaupt …?«

Er bricht ab. Seine Fragen sind völlig berechtigt. Trotzdem sinkt mir das Herz in die Magengrube. Ich könnte sagen: Du kannst Unterstützung bei der Prophezeiung gebrauchen. Und ich habe einen Hinweis gefunden, der uns weiterhilft. Deshalb bin ich hier. Es wäre nur die halbe Wahrheit, die Hälfte, die ohne meine Gefühle für ihn auskommt, aber vielleicht würde er sich damit begnügen. Ich könnte aus dem Wasserbottich steigen und ihm das Foto der Zeitreisenden zeigen. Stattdessen sehe ich ihn nur an und ringe nach Worten.

Fast gleichzeitig werden wir uns meiner Nacktheit bewusst. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und ziehe die Knie eng an meinem Körper. Das Blut schießt mir in die Wangen. Gregor räuspert sich erneut, wendet sich ab. Er scheint unentschlossen, wie er reagieren soll. Eigentlich sind wir uns schon viel zu nahe gewesen, als dass wir uns schämen müssten. Aber für Gregor liegt unsere letzte Begegnung hundert Jahre zurück, und ich weiß nicht, wie wir zueinander stehen.

»Wir sprechen nachher«, sagt er mit rauer Stimme, die mir einen warmen Schauer über den Rücken jagt.

Und bevor ich etwas erwidern kann, hat er den Raum bereits verlassen. Ich bleibe zurück, lausche auf seine Schritte, die kurz innehalten und sich dann entfernen. Lausche auf die Tropfen, die von meinen nassen Haaren auf die Wasseroberfläche fallen.

2

Das Schuldbewusstsein zerrt und nagt an mir. Eigentlich gibt es dafür keinen Grund. Ich bin hier, um Gregor meine Hilfe bei der Verhinderung der Prophezeiung anzubieten. Um ihm im Kampf gegen etwas beizustehen, das größer ist als wir alle. Dennoch fühle ich mich wie ein Eindringling in sein häusliches Glück.

Grietje hat mir ein Leinentuch zum Abtrocknen, klobige Schuhe und ein schlichtes, dunkelbraunes Kleid gebracht, von dem ich vermute, dass es Gregors Frau gehört. Wir scheinen dieselbe Figur zu haben, denn es passt mir wie angegossen. Trotzdem fühlt es sich falsch an. Es ist gerade so, als würde ich in ihre Rolle schlüpfen wollen. Ihr den Platz an Gregors Seite streitig machen. Das will ich nicht – oder sollte es nicht wollen. Nicht, wenn Gregor glücklich ist.

Nachdem ich mich angezogen und den Reverser und das Foto in den neuen Schuhen verstaut habe, gehe ich durch die Küche in den schwarzweiß gefliesten Flur. Meine Schritte sind zögerlich. Ich mustere die Gemälde, die überall an den Wänden hängen. Ein Stillleben mit einem Karpfen auf einer silbernen Servierplatte und eine halb geschälte Zitrone. Das Gruppenporträt einer kleinen Gesellschaft, die musiziert. Eine Ansicht von Delft. Die Bilder sind entlang des schmalen Flures angeordnet. An der Garderobe neben der Eingangstür hängt eine braune Haube und darunter, auf einem Hocker, liegen eine kleine Ritterfigur und ein Pferd aus Holz. Sie gehören vermutlich dem Jungen. Per.

Gregor finde ich in der Stube links neben dem Eingang, in der ich vorhin darauf gewartet habe, dass das Badewasser warm wird. Er sitzt an einem Tisch und schreibt. Hinter ihm prasselt ein warmes Kaminfeuer. Als ich eintrete, schaut er auf. Eine Locke seines dunkelblonden Haares fällt ihm ins Gesicht. Der derzeitigen Mode entsprechend trägt er es kinnlang.

»Nun?«

Er klingt nicht unfreundlich, eher abwartend. Ich kann die Anspannung förmlich greifen. Mein Mund ist ganz trocken und meine Hände schweißnass.

Statt etwas zu sagen, hole ich das Foto hervor und halte es ihm hin. Als er danach greift, berühren sich für einen kurzen Augenblick unsere Hände. Seine Finger sind warm und ein bisschen rau. Sie rufen die Erinnerung an vergangene Berührungen wach. Ein Blitz durchzuckt mich von den Zehenspitzen bis zum Herzen. Nur mit Mühe widerstehe ich dem sehnsüchtigen Verlangen, das sich in meiner Brust ballt. Gregor schluckt. Ich frage mich, ob er es auch spürt. Er wirkt verunsichert, fängt sich aber gleich wieder.

»Was ist das?«

Er runzelt die Stirn. Seine Finger streichen über das Bild, als suchten sie etwas. Natürlich. Gregor hat noch nie ein Foto gesehen. Vermutlich hält er es für eine Zeichnung und versucht die Pinselstriche zu erfühlen.

»Eine Art Gemälde.«

»Es ist sehr detailliert.«

Ich muss über seine Verblüffung schmunzeln, trete neben ihn und schaue über seine Schulter.

»Erkennst du ihn?«

Mit dem Finger zeige ich auf eine der Personen auf dem Bild.

»Anthony!«

Gregor schaut überrascht zu mir auf. Ich nicke.

»Er ist nicht der einzige Zeitreisende auf dem Foto. Ich vermute, sie sind alle irgendwie in die Prophezeiung verstrickt.«

»Woher hast du das?«

Ich winde mich unter Gregors fragendem Blick. Wenn ich ihm sage, wo ich das Foto gefunden habe, muss ich ihm auch von meinem Ausflug in seine Vergangenheit erzählen. Eine Vergangenheit, an die er sich nicht mehr zu erinnern scheint. Zumindest hat er unsere Begegnung bei den Wikingern mit keinem Wort erwähnt, als ich das erste Mal im 14. Jahrhundert in Irland auf ihn traf. Und wenn da doch noch Erinnerungen sind, sind es keine angenehmen. Er war am Ende seiner Kräfte und dem Alkohol mehr zugetan als dem Leben. Ich kann mir gut vorstellen, dass er diese Zeit lieber verdrängt.

Noch ehe ich ihm alles erklären kann, werden wir von der Türglocke unterbrochen. Grietje stapft laut schnaufend über den Flur, als wäre es eine Frechheit, dass schon wieder jemand Eintritt verlangt. Sie reißt die Haustür auf. Der überraschte Ausruf, der darauf folgt, ist bis in die Stube zu hören.

»Mijnheer!«

Ihre Stimme klingt schrill, beinahe ängstlich. Gregor zieht die Augenbrauen hoch, sieht mich an, als wolle er fragen, ob wir noch Gäste erwarten. Ich zucke mit den Schultern. Woher soll ich wissen, wer oder was Grietje in solche Aufregung versetzt? Das ist sein Haus, nicht meins.

Neugierig bin ich schon. Doch ich folge Gregor nur mit Blicken, als er in den Flur tritt. Der unerwartete Besucher scheint auch ihn zu erstaunen. Er hält abrupt inne, bleibt zwischen Stube und Haustür stehen.

»Gregor, richtig? Ich bin auf der Suche nach Alison.«

Das ist nicht wahr! Jetzt bin ich viel zu überrascht, um länger an mich zu halten. Ich laufe in den Flur und fliege meiner besten Freundin geradezu in die Arme.

»Melissa, was machst du hier? Wie hast du es geschafft, mir zu folgen?«

»Gott sei Dank, es geht dir gut. Ich habe gesehen, dass du in die Gracht gefallen bist, und ich bin einfach hinterher. Keine Ahnung, wie das funktioniert hat. Vielleicht war das Tor zwischen dem Metaraum und dem 17. Jahrhundert noch offen, weil du hindurchgetreten bist. Ich habe es nicht geglaubt. Ich habe es einfach nicht geglaubt, aber jetzt bin ich hier und … Oh, mein Gott!«

Melissa fächelt sich Luft zu. Ihre Aufregung ist ansteckend. Ich würde am liebsten mit ihr gemeinsam durch den Flur hüpfen. Doch ein Seitenblick auf Grietje sorgt dafür, dass ich mich zusammenreiße. Die Dienstmagd sieht aus, als würde sie gleich ohnmächtig zusammenbrechen. Vermutlich öffnet sie nicht jeden Tag die Tür für ein Mädchen mit blonden, quirligen Locken, Jeans und einem geblümten Top. Melissa wirkt für diese Zeit reichlich unkonventionell.

Zum Glück versteht Grietje kein Wort von dem, was sie erzählt, denn Melissa macht sich nicht die Mühe, Niederländisch zu sprechen. Und ich weiß auch warum. Wir hatten gemeinsam einen Einführungskurs belegt, aber ihr Niederländisch ist grauenhaft. Stattdessen spricht sie Englisch, was nur Gregor und ich verstehen. Wenn wir länger hierbleiben, wird sie sich wohl anpassen müssen. Zumindest trägt sie, wie ich, einen Transmitter im Ohr, der die gesprochenen Worte übersetzt. Das erleichtert die Verständigung mit den Menschen hier ungemein.

Gregor räuspert sich.

»Warum gehen wir nicht in die Stube, meine Damen? Grietje, würdest du uns eine Kanne Tee zubereiten?«

Die Dienstmagd murmelt etwas und verschwindet schnell in der Küche. Ich glaube, das Wort Gesindel zu hören, aber ich bin mir nicht sicher. Gregor weist mit der Hand zur Stube, wartet, bis wir eingetreten sind, um uns dann zu folgen und die Tür hinter sich zuzuziehen. Er sieht ganz und gar nicht glücklich aus, aber Melissa schenkt dem keine Beachtung.

»Oh, Alison, das ist alles so unglaublich! Ich kann die Dinge nicht nur sehen, ich kann sie anfassen.«

Sie streicht über die dunkelgrünen Seidenvorhänge, den Holztisch, den braunen Lederstuhl, auf dem Gregor eben noch gesessen hat. Dann bleibt sie vor Gregor stehen, mustert ihn mit gekräuselter Nase und einem herausfordernden Grinsen.

»Er ist süß.«

Ich ersticke mein Lachen in einem vorgetäuschten Hustenanfall. Gregors Gesichtsausdruck ist unbezahlbar. Er sieht aus, als sei ihm gerade ein Geist erschienen. Ein sehr aufmüpfiger Geist. Statt auf Melissa zu reagieren, wendet er sich an mich.

»Wer ist sie?«

»Melissa, Gregor. Gregor, das ist meine beste Freundin Melissa. Ich habe dir schon einmal von ihr erzählt«, stelle ich die beiden einander vor.

Vor vielen Jahren. Vermutlich erinnert er sich nicht daran.

»Du hast nie erwähnt, dass er so breite Schultern hat«, sagt Melissa mit einem Augenzwinkern.

Die Röte schießt mir ins Gesicht. Gregors Augenbrauen wandern in ungeahnte Höhen. So wie Melissa ihn inspiziert, muss er denken, ich hätte sie absichtlich ins 17. Jahrhundert gebracht, um ihn wie einen Zuchtbullen vorzuführen. Dabei ist es mir selbst schleierhaft, wie sie mir durch die Zeit folgen konnte.

»Was ist dann passiert?«, versuche ich schnell das Thema zu wechseln.

»Was meinst du?«

Melissa sieht sich immer noch mit großen Augen im Zimmer um. Ihr Blick bleibt an dem fünfarmigen Kronleuchter hängen. Ich unterdrücke den Impuls, ungeduldig vor ihrem Gesicht herumzuschnipsen, damit sie mich ansieht.

»Du bist mir durch die Zeit gefolgt. Was ist dann passiert? Deine Klamotten sind trocken. Du bist also nicht wie ich in die Gracht gefallen.«

»Nein, ich hatte Glück. Ich bin auf dem Gehweg gelandet. Irgendwie muss ich bei dem Zeitsprung ein paar Minuten verloren haben, denn du warst schon weg. Erst dachte ich, du seist ertrunken. Ich war schon völlig panisch. Aber ein Junge konnte mich beruhigen, dass du gerettet wurdest und hat mich hierher geschickt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie die mich alle angestarrt haben – wegen der Klamotten, meine ich.«

»Die sind in der Tat unangebracht.«

Gregor mustert Melissa kopfschüttelnd von oben bis unten, als hätte er einen seltenen Paradiesvogel vor sich. Doch Melissa lässt sich davon nicht beirren. Sie plappert einfach weiter – wie ein Wasserfall.

»Und was ich alles schon gesehen habe auf dem Weg hierher. Die bunten Fassaden und die moosgrünen Grachten, in denen sich die Häuser spiegeln. Die Männer mit ihren breiten Hüten und den weißen Halskrausen, die Frauen mit ihren Hauben. Die Fuhrwerke, die über das Pflaster klappern. Und die ganze Zeit dachte ich, jetzt kann ich all das nicht nur beobachten, ich kann es sogar anfassen. Ich kann auch eine Haube tragen und auf einer Kutsche sitzen. Und vielleicht lerne ich ja sogar eine berühmte Persönlichkeit kennen – Rembrandt oder Descartes.«

»Ihr solltet Luft holen!«

»Wie?«

Gregor wirkt völlig erschöpft von Melissas Ausführungen. Er reibt sich die Schläfen. Dann sieht er mich vorwurfsvoll an.

»Das geht so nicht. Ihr beide könnt nicht …«

Bange warte ich darauf, dass er den Satz zu Ende bringt. Ihr beide könnt nicht bleiben. Ist es das, was er sagen will? Er wirkt gequält.

»Wir sollten über das Gemälde mit den Zeitreisenden sprechen, aber dann …«

Er zögert lange. Die Stille ist unerträglich. Sogar Melissa hängt mit neugierig aufgerissenen Augen an seinen Lippen.

»Meine Frau mag es nicht, unangekündigten Besuch im Haus zu haben.«

Seine Augen flehen um Verzeihung, aber seine Worte sind wie ein Schlag in meine Magengrube. Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht in Tränen auszubrechen, nicke stumm. Melissa sieht unschlüssig zu mir herüber. Sie würde mich am liebsten in die Arme nehmen, aber sie weiß, dass ich dann meine Fassung verliere. Und das will ich auf keinen Fall.

»Der Tee, Mijnheer.«

Grietje stellt das Tablett geräuschvoll auf dem Holztisch ab, wirft Melissa im Vorbeigehen einen misstrauischen Blick zu.

»Kann ich sonst noch etwas tun?«

»Danke, Grietje, das wäre alles.«

Wir stieren zu dritt auf die dampfenden weißen Teetassen mit den blauen Blumenmotiven. Ich wünschte, irgendwer würde etwas sagen, würde Gregors Worten damit die Schärfe nehmen. Es war dumm zu glauben, dass er noch Gefühle für mich hegt. Nach all den Jahren hat er längst damit abgeschlossen. Mir ist mit einem Mal wieder schrecklich kalt, und ich fühle mich schwach auf den Beinen. Am liebsten würde ich mich in mir selbst verkriechen. Aber weil das nicht geht, sinke ich auf einen der Lederstühle.

Draußen dämmert es bereits. Grietje kommt noch einmal in den Raum, um Feuerholz nachzulegen und die Kerzen des Kronleuchters anzuzünden.

Eigentlich müsste ich Gregor jetzt über das Foto Auskunft geben. Ihm erzählen, woher ich es habe und was ich darüber weiß. Aber mir fehlt die Kraft dazu, und Gregor fragt nicht nach. Er hat sich neben mich gesetzt, mustert betreten seine Teetasse.

»Und jetzt?«, will Melissa nach einiger Zeit wissen.

»Was meint Ihr?«, fragt Gregor.

Er wirkt erleichtert, dass sie das Wort ergriffen hat, auch wenn ihr Ton mehr als ungehalten ist.

»Soll Alison dir erzählen, was sie über die Prophezeiung herausgefunden hat und dann setzt du uns in der Dunkelheit vor die Tür?«

Melissas flapsige Ansprache sorgt bei Gregor für Stirnrunzeln. Als Kaufmann ist er bestimmt anderes gewohnt, aber Melissa schert es nicht, und er kommentiert es nicht weiter. Stattdessen scheint er sich plötzlich an seine Pflichten als Gastgeber zu erinnern.

»Grietje«, wendet er sich an die Dienstmagd, die mit dem Schürhaken im Kamin herumstochert, »mach den Damen doch bitte das Gästezimmer zurecht. Sie werden die Nacht hier verbringen.«

Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Einerseits bin ich froh, Gregor nicht gleich wieder verlassen zu müssen. Andererseits schmerzt seine Nähe, jetzt da ich weiß, dass es eine Frau und ein Kind in seinem Leben gibt. Und dass er mich nicht hier haben will.

Zum Glück begegne ich seiner Familie an diesem Abend nicht mehr. Ich höre ihre Stimmen im Flur, als sie zurückkommen. Kurz darauf tritt Grietje mit einem Krug und drei Bechern in die Stube.

»Die Herrin hat Kopfschmerzen und sich bereits auf ihr Zimmer zurückgezogen. Sie nimmt ihr Abendessen dort ein. Soll ich jetzt auftragen, Mijnheer?«

Gregor winkt sie zerstreut heran. Nach und nach füllt sich der Tisch vor uns mit einer duftenden Mahlzeit aus Bier, Koteletts, Rüben und Brot.

»Willst du dich nicht zu uns setzen?«, fragt Melissa Grietje in holprigem Niederländisch, als alles aufgedeckt ist.

Aber Grietje sieht sie nur entgeistert an und verlässt dann schnell das Zimmer. Melissa quittiert es mit einem Schulterzucken. Ihr muss klar sein, dass diese Frage höchst unkonventionell ist, aber ich glaube, sie hält diese ganze Zeitreise für ein großes Spiel.

Melissa greift zu, als hätte sie seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen. Aber ich kriege keinen Bissen herunter. Noch immer hallen Gregors Worte in meinem Kopf: Meine Frau mag es nicht, unangekündigten Besuch im Haus zu haben. Er mustert mich besorgt. Wahrscheinlich erinnert er sich daran, wie ich in Irland und Frankreich bei jeder Gelegenheit herzhaft zugeschlagen habe.

»Es geht ihr nicht gut, falls du dich das fragst«, sagt Melissa in bissigem Ton, als sie Gregors Blicke bemerkt.

»Melissa, bitte!«, flehe ich.

Ich weiß, es ist ihr Beschützerinstinkt, der mit ihr durchgeht. Doch ihr Tadel ist völlig unangebracht. Ich kann Gregor unmöglich vorwerfen, dass er sich nach unserer Trennung neu verliebt hat. Dass er geheiratet und ein neues Leben begonnen hat.

»Ich würde gerne aufs Zimmer gehen«, sage ich, weil ich die gedrückte Stimmung im Raum einfach nicht mehr ertrage.

Gregor schluckt und nickt. Ich habe das Gefühl, er möchte etwas sagen, aber dann steht er auf, um nach Grietje zu rufen.

Gemeinsam mit der Dienstmagd steigen Melissa und ich auf den Speicher, wo ein Bett steht, das gerade groß genug für uns beide ist. Eine in Tüchern eingewickelte Wärmepfanne sorgt dafür, dass uns nicht zu kalt wird. Die Laken sind frisch aufgezogen und zwei Nachthemden liegen auf den Kopfkissen. Vermutlich sind sie von Gregors Frau. Ich werde ihre Gegenwart selbst im Schlaf nicht abschütteln können.

Als wir in unseren weißen Nachthemden nebeneinander im Bett liegen, streicht mir Melissa sanft über das Haar. Mehr braucht es nicht, damit ich in Tränen ausbreche. Ich drücke meinen Kopf in das Kissen, versuche den jämmerlichen Laut, der meiner Kehle entflieht, zu ersticken.

»Er hat dich gar nicht verdient«, flüstert sie in mein Haar.

Ich bin froh, dass sie hier ist, auch wenn sie mir nur Trost spenden kann. Noch vor wenigen Wochen waren wir furchtbar zerstritten. Melissa konnte nicht verstehen, warum ich mich nicht auf eine Beziehung mit Ben einlassen wollte.

Ben – das fehlende Puzzleteil in unserem Dreiergespann, das dadurch zerbrochen ist. Ich vermisse ihn als meinen besten Freund. Aber so sehr ich es auch versucht habe und so sehr er es sich wünscht, ich kann für ihn nicht das Gleiche empfinden wie für Gregor. Melissa weiß das – jetzt –, und ich hoffe, sie hat mir verziehen. Genauso, wie sie mir vielleicht irgendwann verzeihen wird, dass ich ihr nichts von meinen Zeitreise-Abenteuern erzählt habe. Sie ist impulsiv und schnell eingeschnappt, aber sie schafft es nie, lange böse zu sein.

Der Gedanke, dass sich ihre Wut nun gegen Gregor richtet, macht mich noch trauriger. Denn er ist nicht der Schuldige. Schuld ist nur die Zeit, die uns trennt.

Ich wende ihr den Kopf zu, zucke hilflos mit den Schultern. Im Licht der Kerze, die auf einem Hocker neben unserem Bett steht, sehe ich ihre grünen Augen funkeln.

Es fühlt sich an wie früher, wenn wir zusammen mit meinem Kater Mr. Darcy zwischen uns im Bett lagen und Mädchengespräche führten. Als wir noch jünger waren, haben wir die Bettdecke über unsere Köpfe gezogen und im Schein der Taschenlampe gewispert. Später ist Melissa manchmal aus Gewohnheit zu mir ins Bett gekrochen, wenn sie reden wollte.

Seufzend schüttele ich den Kopf.

»Gregor und ich haben uns in Frankreich getrennt. Er ist unsterblich, und ich lebe in einer Zukunft, die für ihn noch weit entfernt liegt. Das sind doch keine Aussichten für eine Beziehung. Ich weiß nicht, was ich mir erhofft habe.«

»Vielleicht, dass er auf dich wartet?«

Melissa dreht sich auf den Rücken, starrt in das Dachgebälk, das weit über unseren Köpfen in der Dunkelheit versinkt. Der Raum ist hoch und zugig, und ich bin froh über die Wärmepfanne und die schwere Bettdecke, die uns wenigstens ein bisschen Wärme spenden.

»Aber wie lange?«, frage ich, »Hundert Jahre? Zweihundert? Fünfhundert?«

»Hast du mal versucht, ihn in unserer Zeit ausfindig zu machen? Ich meine, wenn er unsterblich ist, müsste er doch auch im Jahr 2063 noch leben? Dann könntet ihr dort zusammen sein.«

Sie kichert.

»Stell dir vor, wir würden mit ihm gemeinsam in die Mensa gehen.

---ENDE DER LESEPROBE---