Gefangen – Die Zeitenwanderer-Chroniken - Karolyn Ciseau - E-Book
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Gefangen – Die Zeitenwanderer-Chroniken E-Book

Karolyn Ciseau

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Beschreibung

Was, wenn deine Zukunft in der Vergangenheit liegt? Eine Liebesgeschichte durch Raum und Zeit. London, 2062. Zeitreise-Studentin Alison begibt sich ins mittelalterliche Irland. Doch etwas geht schief: Sie wird entdeckt und gefangen genommen - verschleppt in eine Welt der grünen Hügel, Schlösser und düsteren Wälder. Ihr Entführer mit den grauen Augen und dem spöttischen Zug um den Mund ist ebenso geheimnisvoll wie gefährlich. Und er will sie erst gehen lassen, wenn sie etwas für ihn getan hat … Kilkenny, 1324. Gregors Leben wird von einer mysteriösen Prophezeiung bestimmt, die er seit vielen Jahren mit sich herumträgt. Mit Alisons Hilfe hofft er, mehr über die Zukunft und die Schrecken, die sie für ihn bereithält, zu erfahren. Aber schon bald muss er erkennen, dass sein überstürztes Handeln Alison in Gefahr bringt. Wird er die widerspenstige, junge Frau beschützen können? LESEPROBE »Zeitreisen also. Und man lässt aufmüpfige Frauen wie Euch einfach durch die Weltgeschichte wandeln?« »In meiner Welt haben Frauen die gleichen Rechte wie Männer.« Er verschluckt sich an seinem Wein, muss geräuschvoll husten und stellt den Becher schwungvoll auf dem Hocker neben sich ab. »Ist das so?« Von seinem Plauderton ermutigt, ahme ich seinen entrüsteten Tonfall nach. »Ja, das ist so.« »Unglaublich.«

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GEFANGEN

DIE ZEITENWANDERER-CHRONIKEN

BUCH 1

KAROLYN CISEAU

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Gefangen

Die Zeitenwanderer-Chroniken

Copyright © 2017 von Karolyn Ciseau

Carola Meissl

Ilmenaugarten 115

21337 Lüneburg

[email protected]

www.karolynciseau.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat/ Korrektorat: Anne Paulsen

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer

Tag der Veröffentlichung: 23.02.2017

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1

Kaum habe ich die Wohnungstür hinter mir zugezogen, bereue ich es auch schon. Laut und hektisch bricht die Stadt über mich herein, bringt meinen Kopf mit ihrer unermüdlichen Geschäftigkeit zum Dröhnen.

Ich liebe London, das bunte Treiben auf den Straßen und die endlosen Möglichkeiten, sich in den grünen Parks, den zahlreichen Pubs, den digitalen Entertainment-Centern und den vielen Shoppingmalls zu amüsieren. Aber nicht an Tagen wie heute. Wenn man kaum Schlaf bekommen hat, weil einem die bevorstehenden Stunden schwer wie Blei im Magen liegen, ist die Stadt ein launenhaftes Ungeheuer, das einen zu verspeisen droht. Melissa sagt immer: »Die Stadt ist wie ein riesiges Kinderkarussell. Es macht Spaß, solange es sich nicht zu schnell dreht.«

Zu schnell kann es für Melissa eigentlich gar nicht gehen. Ich lächele bei dem Gedanken an meine quirlige Mitbewohnerin mit den blonden, lockigen Haaren, die an kaum einem Tag vor vier Uhr morgens nach Hause kommt. Meistens mit einem Mann im Schlepptau, der dem Cover irgendeines Liebesromans entsprungen sein könnte.

So ist das mit Melissa. Während ich meine Vorlesungen vorbereite, ist sie damit beschäftigt, neue Dates klar zu machen. Wenn ich abends im Pyjama durch die Wohnung schlurfe, macht sie sich gerade ausgehfertig. Und trotzdem hat sie ausgezeichnete Noten, ist nie diejenige von uns beiden, die den Abwasch in der Spüle stehen lässt oder den Putzplan für das Bad geflissentlich ignoriert.

Ich stöhne genervt, bei dem Gedanken an mein Frühstück, das ich auf dem Küchentisch vergessen habe. Ein Sandwich mit Putenbrust und Käse. Kurz überlege ich umzukehren, aber ich bin sowieso schon spät dran, wenn ich den Bus noch erwischen will.

Mr. Darcy wird sich freuen. Mein kleiner, grauer Kater mit den goldenen Augen und den schwarzen Ohren liebt Käse. Einmal hat er sogar Melissas Einkaufstüte durchwühlt, als sie gerade dabei war, ihre Nachrichten abzuhören, und nur den Käse rausstibitzt. Vermutlich liegt das Sandwich bei meiner Rückkehr auf dem Boden, vollkommen intakt, nur der Käse fehlt. Und Mr. Darcy, dieser hinterlistige Charmeur, wird mich aus weit aufgerissenen, treuen Augen ansehen, als könne er kein Wässerchen trüben.

Ich vergrabe die Hände in den Taschen meiner olivgrünen Jacke und laufe los. Heute Morgen ist es noch ziemlich frisch. Vielleicht hätte ich doch lieber meinen dicken Mantel nehmen sollen, aber wir haben Mitte September und ich weigere mich, schon jetzt den Herbst einzuläuten. Auch wenn die Blätter bereits von den Bäumen fallen und die Stadt immer häufiger in diesigen Nebel getaucht wird, will ich den Sommer noch nicht ziehen lassen.

An der Straßenecke stoppe ich bei Alfredos, lasse mir von dem süßen, blondhaarigen Typen hinter der Theke einen großen Cappuccino zaubern. Der aromatische Duft und die angenehme Wärme des Pappbechers sorgen dafür, dass ich mich gleich ein wenig wacher fühle. Das Dröhnen in meinem Kopf lässt nach.

Wenn ich in den Nächten vor meinen Zeitreisen bloß besser schlafen könnte. Ich weiß, mittlerweile sollte es für mich zu einer Gewohnheit geworden sein, durch die Geschichte zu reisen. Seit meinem ersten Semester an der Universität von London sind zwei Jahre vergangen. Zwei Jahre, in denen ich ausgiebig auf den Umgang mit der Chronos vorbereitet wurde. Durch Vorträge von älteren Semestern, Geschichtsstudenten wie ich, die für ihre Forschung täglich durch die Zeit reisen, manchmal einige Tage vor Ort bleiben.

Meine Reisen haben bisher immer nur ein paar Stunden gedauert. Und darüber bin ich ganz froh, denn die Zeitreisemaschine, die ein bisschen so aussieht wie ein riesiges, weißes MRT-Gerät, macht mir noch immer eine Heidenangst. Es ist nicht das klinische Weiß oder diese furchtbare Liege, auf die wir uns für die Reise legen müssen. Die mag ich auch nicht. Doch was mich wirklich um den Schlaf bringt, sind die Dinge, die ich sehen werde: die Grausamkeiten und Heldentaten, das finstere, raue Leben und das gänzlich andere Moralverständnis ferner Zeiten.

Natürlich ist es faszinierend, durch die Geschichte reisen zu können. Dinge zu sehen, die die Generationen vor uns nur aus Büchern und Erzählungen kennen. Aber all diese Ereignisse zu durchleben, kann ganz schön beängstigend sein.

Nachts liege ich wach, versuche mich darauf vorzubereiten, wie es sein wird. Mit geschlossenen Augen stelle ich mir vor, wie ich durch mittelalterliche Gassen gehe, und Menschen begegne, die ein ganz anderes Leben führen. Ich stelle mir die Gerüche vor, den Klang von Stimmen oder die Geräusche der Straße. Aber nie gelingt es mir, ein authentisches Bild wachzurufen, mich gegen die vielen Sinneseindrücke zu wappnen – fremd und doch vertraut.

Kurz vor dem Eintreffen des Busses erreiche ich die Haltestelle, und stürze meinen Cappuccino hinunter, um ihn nicht mit in das Innere der großen, roten Sardinenbüchse nehmen zu müssen. Ich hasse Busfahren. Dieses Geschaukel, bei dem man unvermeidbar gegen andere Menschen stößt, das ewige Warten, wenn der Londoner Verkehrsstau sich morgens die Ehre gibt. Das ist das einzige Manko unserer Studenten-WG: Sie ist mit ihrer Wohnküche, den zwei großen Zimmern und dem urigen Garten, den wir mitbenutzen dürfen, perfekt für Melissa und mich. Aber sie liegt weit entfernt von einer Station der London Underground.

Heute kann ich wenigstens einen Platz im Bus ergattern, gebe den Sitz neben mir nur widerwillig für einen älteren Herrn mit Hut und einem überdimensionierten Tablet frei, das wohl altersgerecht sein soll. Er ist einer jener Menschen, die sich ohne Rücksicht auf andere ausbreiten. Es dauert nicht lange, bis er mir die heutigen Schlagzeilen ganz unfreiwillig unter die Nase hält. Ich lese vom Regierungswechsel, von einer Demonstration gegen das Zeitreisegesetz, einer neuen Marsmission, den aktuellen Wetterbericht. Als mir langweilig wird, krame ich mein Handy und die Ohrstöpsel aus der Ledertasche hervor, und öffne meine Sprachlern-App.

Während mein Geschichtsstudium mir schon immer schwerfiel, ist die Linguistik meine wahre Liebe. In einer Welt, in der Transmitter jede Sprache in Echtzeit übersetzen können, scheint ein solches Studium brotlos. Nur wenige Linguisten werden heutzutage noch gebraucht. Computer haben ihre Aufgaben übernommen. Aber ich mag es, eine fremde Sprache zu lernen, ihre Eigenheiten zu kennen und mich auf diesem Weg in die Geschichte einzufühlen. Auch wenn wir es heute nicht mehr nötig haben, fremde Sprachen zu lernen, können wir auf diese Weise doch eine Menge über die Identität eines Landes oder einer bestimmten Zeit erfahren.

Ich erinnere mich noch genau an das Gespräch mit meinen Eltern, als ich ihnen meinen Herzenswunsch unterbreitete, Linguistik zu studieren. Meine Mom war aufgebracht. Sie redete ohne Unterlass auf mich ein, die Entscheidung noch einmal zu überdenken. Dad war ruhiger. Er glaubte wohl, die Zeit würde diese Flausen aus meinem Kopf vertreiben. Wir einigten uns darauf, dass ich ein zweites Fach wählen würde, das mehr den Wünschen meiner Eltern entspricht. Und so ließ ich mich schließlich auf ein Geschichtsstudium ein, das mir bis heute schlaflose Nächte, schlechte Noten und einige ratlose Stunden bereitet. Letzten Endes wird dieses Studium mir einen Job sichern. Die Geschichtsforschung boomt, seitdem es Zeitreisen gibt.

»Alison.«

Ich bin so vertieft in meine App, dass ich Ben erst bemerke, als er mir mit der Hand vor dem Gesicht herumfuchtelt. Mit der anderen hält er sich an der Haltestange fest, schaukelt gemeinsam mit dem Bus sanft von links nach rechts. Er beobachtet mich mit seinen tiefgrünen Augen belustigt, wartet, bis ich die Stöpsel aus den Ohren nehme.

»Am Sprachenlernen? Welche ist es diesmal?«

»Frühneuirisch. Ist gar nicht so schwer, wie ich dachte.«

»Als gäbe es eine Sprache, mit der du es noch nicht erfolgreich aufgenommen hast.«

Er lacht übermütig und fährt sich durch die verstrubbelten, schwarzen Haare. Ich weiß nicht recht, was ich erwidern soll. Seit ich Ben kennengelernt habe, macht er mir ein Kompliment nach dem anderen. Kann sein, dass er nur nett sein will, aber vielleicht flirtet er auch mit mir und ich bin nicht sicher, ob mir das gefällt.

Ben ist attraktiv, keine Frage. Er ist groß und schlank, trägt immer einen Dreitagebart. Und wenn er mich ansieht, fühlt es sich an, als könne er tief in mein Innerstes blicken. Trotzdem ist der Funke bisher nicht übergesprungen. Obwohl Melissa jede freie Minute damit verbringt, mir zu erzählen, warum er der perfekte Freund wäre.

Er ist gutmütig und hilfsbereit, er kann kochen – und zwar Gerichte aus aller Herren Länder, die er auf seiner Weltreise besucht hat. Wenn er bei uns in der WG ist, kocht er meist für uns drei. Thailändische Wok-Gerichte, orientalische Linsensuppe, Pasta mit Meeresfrüchten und allerlei Gerichte, von denen ich zuvor noch nie gehört habe. Und dabei merkt er gar nicht, wie sehr Melissa ihn anhimmelt.

Wir sind ein gutes Dreiergespann. Wir verbringen viele Abende damit, Serien zu schauen, unterstützen uns gegenseitig im Studium und wenn Melissa und ich uns auf den Keks gehen, kann ich in Bens Wohnheimzimmer auf der Couch schlafen. Ich will nicht, dass sich irgendwas zwischen uns ändert.

Ben legt den Kopf schief und sieht mich nachdenklich an.

»Du hast schon wieder nicht geschlafen, oder?«

Ich seufze. Mein Anblick muss schrecklich sein. Ein Blick in den Spiegel hat es mir heute Morgen verraten, aber ich war zu übermüdet, um etwas daran zu ändern. Meine grünen Augen sind umrandet von dunklen Schatten, die rotbraunen Haare fallen mir strähnig auf die Schultern. Und weil ich die halbe Nacht nervös an einer Haarsträhne geknabbert habe, sieht sie ganz ausgefranst aus.

»Ich werde diese Bilder nicht los. Alles, was ich über die Hexenverbrennung gelesen habe, ist für mich schon jetzt real. Ich weiß nicht, ob ich ertrage, so etwas Grausames mit eigenen Augen zu sehen.«

Er nickt mir aufmunternd zu.

»Du machst das schon. Ich bin ja bei dir.«

Ben ist studentische Hilfskraft in der Technik. Er betreut die Chronos, ist immer dabei, wenn ich auf Zeitreise gehe. Und er weiß genau, wie viel Muffensausen ich vor dem heutigen Tag habe.

Um das Thema zu wechseln, erinnere ich ihn wieder an Melissas Vorschlag.

»Also, heute Abend ins Claire’s?«

»Ach komm, du bist genauso scharf wie ich darauf, Melissa beim Männerfang zuzuschauen.«

»Wir könnten einfach ein paar Bier trinken und dann verschwinden. Sie möchte so gerne etwas mit uns zusammen machen. Ich war die letzten Wochen durch mein Praktikum eingespannt. Und jetzt sind die Semesterferien fast um.«

Es stimmt. In der letzten Zeit bin ich durch meine Arbeit im Museum of London so beschäftigt gewesen, dass Melissa und ich uns immer nur zwischen Tür und Angel, kurz vor dem Ins-Bett-Gehen oder morgens in der Küche, zu Gesicht bekommen haben.

Ben gibt ein widerwilliges Geräusch von sich und drückt den roten Halteknopf. Wir sind fast da.

»Bitte, Ben. Ich habe es ihr versprochen.«

Er seufzt.

»Na gut. Aber nur, weil du es bist.«

Als der Bus hält, quetschen wir uns gemeinsam auf den Ausgang zu. Ich weiche im letzten Moment einem Jungen mit einem Hamburger aus, frage mich, wer um diese Uhrzeit schon so etwas herunterkriegt.

Der Campus ist zum Glück relativ leer. Die Menschenmenge, die aus dem Bus gedrängt hat, verläuft sich auf dem großflächigen Areal. Wir schlendern über den Rasen, auf dem bereits die ersten Studenten in kleinen Gruppen zusammensitzen, und steuern auf das alte Backsteingebäude zu.

Damals, als ich mein Studium begann, war ich erstaunt über das historische Bauwerk mit seinen renovierungsbedürftig wirkenden Hörsälen. Ich hatte erwartet, ein Institut für Raum-Zeit-Forschung müsste irgendwie moderner aussehen. Aber das einzig Moderne hier ist die Chronos, die wie eine Raumkapsel aus einer anderen Zeit in den ansonsten unscheinbaren Räumen steht.

»Ich gehe schon mal und bereite alles vor«, sagt Ben, als wir den Haupteingang erreichen. »Wir sehen uns dann um neun.«

Mein Blick fällt auf meine Armbanduhr. Noch zehn Minuten. Mir ist schlecht vor Aufregung. Ich nutze die Zeit, um noch einmal auf die Toilette zu gehen, und mir am Waschbecken ein paar Spritzer Wasser ins Gesicht zu befördern. Dann gehe ich hinüber zur Cafeteria. Die Absätze meiner Stiefeletten hallen in dem hohen Gewölbe, sonst ist alles ruhig. Eigentlich ist mir nicht danach, etwas zu essen, aber vielleicht treffe ich auf einen meiner Kommilitonen. Ein bisschen Gesellschaft könnte mich jetzt von meiner bevorstehenden Reise ablenken.

Doch schon von weitem sehe ich, dass niemand von ihnen hier ist. Die Frau an der Kasse sitzt allein und trinkt aus einem Pappbecher Kaffee. Ich lasse mich auf eine der quietschroten Bänke fallen, die in unangenehmem Kontrast zu dem historischen Gebäude stehen, betrachte die Plastikblume auf dem runden Tisch vor mir. Sie sieht traurig aus in ihrer künstlichen Unsterblichkeit.

Das Herz in meiner Brust wummert. Ich atme in langen Zügen ein und aus, um mich zu beruhigen. Ob ich mich jemals an das Zeitreisen gewöhnen werde? Selten habe ich mich so allein gefühlt wie heute.

Normalerweise reisen wir zu zweit. Aufgrund des elektromagnetischen Impulses ist es uns nicht möglich, Bilder, Filme oder Tonaufnahmen aus der Vergangenheit mitzunehmen. Alle technischen Geräte werden beim Wiedereintritt in unsere Zeit zerstört. Deswegen ist es bei unseren Zeitreisen wichtig, dass wir uns voll und ganz auf unsere Sinne verlassen können. Das Vier-Augen-Prinzip sorgt für ein bestimmtes Maß an Kontrolle. Wenn wir an einen Moment in der Geschichte reisen, können wir unsere Ergebnisse nach unserer Rückkehr abgleichen. Auf diese Weise garantieren wir eine gewisse Objektivität.

Während unserer Reisen können wir uns nicht sehen. Wir sind beide nur stille Beobachter. Aber es hilft mir, dort noch jemanden zu wissen, der genau das Gleiche erlebt wie ich. Und ich bin froh, wenn ich nach meiner Reise mit jemanden reden und das Gesehene im gemeinsamen Gespräch verarbeiten kann.

Oft ist unsere Wahrnehmung der Geschehnisse ganz unterschiedlich. Während ich mich allzu häufig in den kleinen Details verstricke, nehmen meine Mitreisenden mehr das große Ganze wahr. So ergänzen wir uns.

Doch heute ist alles anders. Ich bin allein. Aufgrund der Semesterferien habe ich niemanden gefunden, der mitreisen könnte. Ich werde recherchieren, die Ergebnisse für meine Hausarbeit aber nicht verwerten können.

Diese Reisen sind dennoch sinnvoll, um neue Forschungsansätze zu entdecken oder einfach zu überprüfen, ob sich die Recherche in die richtige Richtung entwickelt. Ich wünschte nur, ich hätte mehr Zeit für meine Hausarbeit, wäre nicht gezwungen, heute allein ins 14. Jahrhundert zu reisen, um mit meinen Forschungen voranzukommen.

Als es zwei Minuten vor neun ist, schultere ich meine Tasche und laufe durch den Gang zurück, die Treppe hinauf. Vor Raum 261a bleibe ich stehen und atme kurz durch, bevor ich die Tür öffne.

Das Zimmer ist in grelles Neonlicht getaucht. Es hat sich einen muffigen Geruch über die Jahre bewahrt, der sich mit den Ausdünstungen von warmem Plastik der Chronos mischt. Neben der Chronos, die den größten Teil des Raums einnimmt, steht ein Schränkchen mit Desinfektionsspray und Tüchern. Schräg davor eine Zimmerpflanze, die wohl den Anschein von Wohnlichkeit vermitteln soll. Die Technik wurde extra in einen Nebenraum ausgelagert.

Die Studenten sollen sich bei ihrer Zeitreise wohlfühlen. Bei mir funktioniert es nicht. Der Raum erinnert mich an eine in die Jahre gekommene Arztpraxis. Passenderweise trägt Ben seinen weißen Forscherkittel. Er steht mit dem Rücken zu mir über sein Tablet gebeugt, auf dem er wohl gerade die letzten Zahlen eingibt.

»Da bin ich«, sage ich mit unsicherer Stimme.

Er dreht sich zu mir um und lächelt enthusiastisch.

»Na, dann kann es ja losgehen.«

Wenn Ben seinen Kittel anzieht, ist er ein vollkommen anderer Mensch. Noch immer höflich und zuvorkommend, aber ganz auf seine Arbeit konzentriert. Dass ich furchtbar nervös vor meiner Reise bin, hat er in diesem Moment ausgeblendet. Nun gibt es für ihn nur noch Zahlen und Berechnungen, elektromagnetische Impulse und Frequenzbereiche.

Er nickt in Richtung der Chronos, und ich gehe widerwillig auf die Liege zu, stecke mir als Erstes den Reverser in die Hosentasche – ein silbernes Gerät, groß wie ein Stift, mit einem einfachen Druckknopf. Mein Rettungsanker. Er kann mich jederzeit zurück in meine Gegenwart bringen.

»Handtasche und Schmuck ablegen«, erinnert Ben mich mit knappen Worten.

Das hätte ich fast vergessen. Ich lege meine Jacke und meine Ledertasche in den dafür vorgesehenen Korb am Eingang des Raumes, muss mir von Ben helfen lassen, weil meine Hand zu sehr zittert, um das goldene Armband abzunehmen, das meine Mom mir zum Schulabschluss geschenkt hat.

Dann lege ich mich auf die Liege und warte ab, bis Ben die Elektroden an meinen Schläfen befestigt hat. Meine Hand krampft sich um den Plastikrahmen der Liege. Gleich ist es soweit. Gleich werde ich zum ersten Mal im Irland des 14. Jahrhunderts sein. Bislang habe ich nur in Büchern über diese Zeit gelesen. Ich atme langsam und kontrolliert aus und versuche mich zu entspannen, aber es will mir einfach nicht gelingen.

»Bereit?«

Ben steht über mir, seine grünen Augen dringen in meine, sehen mich forschend an. Ich nicke.

»Ich schätze, ich muss da jetzt durch.«

»Du schaffst das schon.«

Ich lege meinen Kopf auf die Liege und schließe die Augen. Überall in meinem Körper pulsiert das Adrenalin. Es ist, als würde ich in tausend Teilchen zerspringen. Ben gibt auf seinem Tablet die Bestätigung, und als das helle Summen der Chronos ertönt, fühlt sich mein Körper einen Augenblick lang an, als würde er sich in seine Bestandteile zerlegen. Eine vertraute Empfindung, an die ich mich doch nie gewöhnen kann. Dann ist alles schwarz.

2

Momente vergehen, bis ich wieder deutlich sehen kann. Mir ist ein wenig schwindelig von dem plötzlichen Raum-Zeit-Wechsel. Sinneseindrücke prasseln auf mich ein wie dicke Regentropfen: der Geruch von strengem Schweiß, von Stroh und Vieh. Gemurmel und das Geräusch von Wind, der durch das Dach eines Gebäudes zieht. Ich blinzele benommen und schlucke zweimal, weil ich nicht sicher bin, ob ich mich übergeben muss. Heute Morgen hätte ich nicht nur Kaffee trinken, sondern auch etwas essen sollen.

Als mein Magen sich wieder beruhigt hat, mustere ich meine Umgebung. Diesiges Licht fällt auf Wände aus Lehm und Stroh und dicke Holzdielen, die an einigen Stellen bereits Löcher aufweisen. Vermutlich ist hier schon der eine oder andere durch den Boden gebrochen und hat mit einem Bein zwischen den Dielen gezappelt. Ich drehe mich ein Stück weiter, in Richtung der Stimmen, die nun immer lauter in mein Bewusstsein dringen.

Und dann sehe ich ihn. Mein Herzschlag setzt für einen Moment aus, denn ich bin überzeugt, ihn schon einmal getroffen zu haben. Viele hundert Jahre später, an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Seine dunkelblonden Locken sind zu einem strengen Zopf gebunden, statt des edlen Samtfracks trägt er eine schwere, braune Lederweste über einem beigen Hemd, das sich über den trainierten Oberarmen spannt. Seine veränderte Erscheinung gibt ihm eine einschüchternde, beinahe bedrohliche Aura. Aber er sieht dem Mann, den ich bei meiner ersten Zeitreise getroffen habe, zum Verwechseln ähnlich.

Ähnlich, ja, flüstert eine Stimme in meinem Kopf, aber es ist nicht derselbe Mann. Es kann nicht derselbe Mann sein. Dennoch überkommt mich ein Kribbeln bei seinem Anblick, als würde ich einen alten Schwarm wiedersehen. Den Jungen aus der Schule, in den ich viele Jahre verliebt war oder den Nachhilfelehrer, den ich die Aufgabe einmal mehr erklären ließ, nur um Zeit mit ihm zu verbringen.

Ich stehe schräg hinter ihm, im Eingang des Gerichtsgebäudes von Kilkenny, das abgesehen von der kleinen Bühne und den Holzbänken mehr einer Scheune gleicht. Die vorderen Reihen sind dicht belegt. Menschen drängen sich, die Luft ist stickig, beinahe beißend.

Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, kann ich die magere, rothaarige Frau sehen, die vorne, leicht abgewandt vom Richterpult steht, als ginge sie die ganze Verhandlung nichts an. Die Arme demonstrativ vor der Brust verschränkt, scheint sie das Spinnennetz am Deckenbalken des Gerichtsgebäudes zu mustern. Von dem wuchtigen Richterpult, das anklagend vor ihr aufragt, wirkt sie wenig beeindruckt. Ihre Gelassenheit ist gespielt, da bin ich mir sicher. Denn die junge Frau wird der Hexerei bezichtigt.

Ich habe viel über die Tage des ersten Hexenprozesses in Irland 1324 gelesen. Einer der ersten Prozesse überhaupt. Die Angeklagte, Lady Alice Kyteler, findet heute nicht den Tod, soviel weiß ich bereits. Die elegant gekleidete Dame, der vorgeworfen wird, mit dem Teufel im Bunde zu stehen und zwei ihrer insgesamt vier Ehemänner getötet zu haben, kennt einflussreiche Leute, die verhindern, dass man sie foltert, einsperrt, verbrennt. Die Verhandlungen werden sich hinziehen, bis der Aristokratin die Flucht nach England gelingt. Nur ihre Kammerzofe wird einige Zeit später bei einer Hexenverbrennung den Flammen zum Opfer fallen.

Im Gegensatz zu den vielen Gaffern, die in dem kleinen Gerichtsgebäude dicht an dicht stehen, bin ich nur hier, um für meine Hausarbeit zu recherchieren: Hexenprozesse im späten Mittelalter. Und dieses Mal muss es eine gute Note werden.

Bei meiner letzten Arbeit hat mir die nötige Distanz gefehlt. Ich habe mich in Details verloren und gewertet, statt zu beobachten. Ein fataler Fehler, wie mein Professor fand, der die Arbeit prompt mit einer Vier benotet hat.

Diesmal habe ich mich lange auf das Thema vorbereitet, viele Tage und Nächte in der Universitätsbibliothek recherchiert und Filme gesehen, ja, sogar Zeitberichte von anderen Studenten gelesen, um mich besser in die Zeit hineinversetzen zu können.

Trotzdem trifft mich die Anspannung des Augenblicks unvorbereitet, zieht mich in ihren Bann und sorgt dafür, dass ich mir auf die Lippe beiße. Der metallische Geschmack von Blut breitet sich langsam in meinem Mund aus.

Wenn ich durch Zeit und Raum reise, fühle ich mich mehr als Eindringling denn als Beobachter. Keiner der Beteiligten kann mich hören oder sehen. Und doch habe ich bei jeder meiner Reisen ein mulmiges Gefühl im Bauch. Das Geschehen mit allen Sinnen wahrzunehmen, es mit eigenen Augen zu sehen, zu hören, zu riechen – das ist etwas ganz anderes, als in alten Aufzeichnungen zu stöbern.

Ich trete ein paar Schritte weiter in den Raum hinein und beschließe, meinen mysteriösen Unbekannten, der mir so seltsam bekannt vorkommt, näher unter die Lupe zu nehmen.

Er steht etwas abseits von den Schaulustigen, an einen morschen Holzbalken gelehnt, unweit des Ausgangs. Mit lässig verschränkten Armen beobachtet er das Geschehen mit wachsamem Blick. Ich stelle mich neben ihn und mustere ihn eindringlich.

Auch das musste ich lernen: Menschen zu betrachten wie ein interessantes wissenschaftliches Artefakt, Details wahrzunehmen, jede Regung zu registrieren. Beim ersten Mal erforderte es beträchtlichen Mut. Ich wartete darauf, dass sie mich anblicken und plötzlich Buh brüllen würden. Aber das passierte natürlich nicht.

Auch er macht keine Anstalten, mich anzuschreien, lauscht konzentriert den Worten des Richters, der die Anklage verliest. Die Finger seiner rechten Hand trommeln auf seinem linken Oberarm. Eine Strähne seines dunkelblonden Haares hat sich aus dem Zopf gelöst. Sie fällt ihm in das markante Gesicht, das durch eine Narbe am Kinn einen leicht verschlagenen Eindruck erweckt.

Ich schätze ihn auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Er sieht gut aus, auf eine finstere, faszinierende Weise. Aber ich bin froh, ihm nicht leibhaftig gegenüberzustehen, denn irgendwie weckt er bei mir ein Gefühl der Unsicherheit. Ich spüre, wie Schüchternheit in mir aufkommt. Und das, obwohl er mich gar nicht sehen kann.

Jetzt, wo ich ihn genauer beobachte, wird es mir klar: Es sind seine grauen Augen und der leicht spöttische Zug um den Mund, die mich im ersten Moment glauben machten, ich wäre ihm schon einmal begegnet. Damals befand ich mich auf meiner allerersten Zeitreise in Venedig, Mitte des 18. Jahrhunderts. Ich war von den vielen neuen Eindrücken wohl ein bisschen durcheinander, denn für einen Augenblick glaubte ich, eben dieser Mann würde mich geradewegs anblicken und mir zuzwinkern.

Mehr als vierhundert Jahre liegen zwischen dem Ereignis und dem heutigen. Ein Urahn? Oder einfach nur eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen zwei Personen? Dass jener Mann, der hier vor mir steht, mir niemals vertraut zuzwinkern würde, dessen bin ich mir absolut sicher.

Was er wohl für ein Leben führt? Nach einem einfachen Bauern sieht er nicht aus. Vielleicht ist er ein Händler oder ein Ritter. Ich kann ihn mir gut als Kämpfer in einer Schlacht vorstellen. Nicht kraftstrotzend wie Herkules, aber trainiert und beharrlich, gezielt in seinen Angriffen. Seinen rissigen Händen nach zu urteilen ist er ein raues Dasein gewöhnt. Aber 1324 in Irland ist das nichts Ungewöhnliches.

Ich rufe mich innerlich zur Ordnung und wende mich wieder dem Hexenprozess zu, wegen dem ich schließlich hierher gereist bin. Aber meine Konzentration hält nicht lange an. Immer wieder wandern meine Blicke zu dem Mann neben mir.

»Ihr wisst schon, dass es äußert unhöflich ist, jemanden so ausgiebig zu mustern?«

Ich schrecke zusammen. Hat er mich angesprochen? Die dunkle, eindringliche Stimme gehört unbestreitbar zu dem Mann neben mir, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansieht. Mein erster Impuls ist, den Kopf wegzudrehen und einfach starr nach vorne zu schauen. Wenn ich tue, als würde ich ihn nicht sehen, sieht er mich vielleicht auch nicht. Ein kindischer Gedanke. Innerlich winde ich mich unter seinem Blick. Mein Herz schlägt schnell in meiner Brust.

Das ist nicht möglich. Zeitreisen ist wie auf einen Bildschirm zu schauen, auf dem sich das Geschehen abspielt. Ich bin nicht in der Geschichte, nicht wirklich. Mein Körper befindet sich im Metaraum, zwischen den Zeiten, während ich dem Geschehen nur als Beobachter beiwohne.

Aber diese Unmöglichkeit hält ihn nicht davon ab, meinen Oberarm zu packen, so fest, dass mir ein kleiner Aufschrei entweicht. Jetzt habe ich mich verraten, schießt es mir durch den Kopf. Und gleichzeitig ist es, als würde sich etwas zwischen uns entladen. Ein Kribbeln geht durch meinen ganzen Körper, und irgendwas ist anders als zuvor. Ich kann nicht genau sagen, was es ist, aber die Welt um mich herum fühlt sich plötzlich noch viel realer an. Die Farben und Gerüche sind intensiver, das Gemurmel der Menge so eindringlich, als habe jemand einen Schleier von mir genommen.

Ich taste mit meiner noch freien Hand nach dem Reverser in meiner Hosentasche. Wenn ich ihn betätige, wird mich die Chronos zurückbringen. Erleichterung überkommt mich, als ich den glatten, länglichen Gegenstand in meiner Hand fühle. Ich halte die Luft an, drücke einmal, zweimal, dann ein drittes Mal. Aber nichts passiert. Mein Unbekannter hält meinen Arm noch ein wenig fester und spricht mit gesenkter Stimme.

»Ihr seid nicht von hier.«

Keine Frage, eine Feststellung. Graue Augen bohren sich unnachgiebig in meine. Ich bin zu benommen, um etwas zu antworten. Nicht nur, dass er mich sieht, ich kann seine raue Hand durch den Stoff meiner Bluse fühlen. Dabei müsste seine Berührung durch mich hindurchgehen, wie durch eine Projektion.

Etwas läuft hier gewaltig schief. Kann es sein? Bin ich aus der Chronos ins mittelalterliche Irland geschleudert worden? Ich zwinge mich, seinem Blick standzuhalten, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen, obwohl sie in meinen Adern pulsiert, und meine Stimme schwanken lässt.

»Lasst sofort von meinem Arm ab! Es schickt sich nicht, eine Dame so zu behandeln.«

Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel, dass von meinem gebrochenen Frühneuirisch ein paar Worte zu ihm durchdringen und ich gestochen genug für eine Edeldame aus dem 14. Jahrhundert klinge. Mein Transmitter, ein kleiner Knopf in meinem Ohr, übersetzt seine Worte für mich, aber die Notwendigkeit selbst zu sprechen, bestand bisher nicht.

Er schnaubt spöttisch, lässt seinen Blick an mir hinunter und wieder hinauf gleiten. Offensichtlich strafen mich nicht nur meine gestammelten Sätze, sondern auch meine Aufmachung Lügen.

»Eine Dame würde ich tatsächlich nicht so behandeln, aber ich sehe hier weit und breit keine.«

Vorne am Richterpult bricht ein Tumult los. Zwei Männer stürzen auf Alice Kyteler zu und versuchen sie davon abzubringen, auf einen der Ankläger loszugehen. Sie wehrt sich, spuckt einem der Männer ins Gesicht und kratzt seinen Arm blutig. Bewegung kommt in die Menge, die in ihrer Neugier nach vorne drängt. Die Gaffer fangen an zu rufen und zu gestikulieren.

»Schnappt das Weibsbild!«

»Sie soll brennen!«

Mich überkommt eine plötzliche Entschlossenheit. Ich werde es der Frau dort vorne nachmachen, werde kratzen und beißen. Auf keinen Fall hält dieser ungehobelte Kerl mich gegen meinen Willen hier fest.

»Denkt nicht mal daran, Schätzchen.«

Als könne er meine Gedanken lesen, greift er sich auch meinen anderen Arm und zieht mich enger an sich. Meine Entschlossenheit löst sich so schnell in Luft auf, wie sie gekommen ist. Ich leiste wenig Gegenwehr, bin darüber selbst erstaunt. Aber noch immer kommt mir alles seltsam unwirklich vor.

Ich bin ihm so nah, dass meine Nasenspitze fast an seine Brust stößt, nehme einen herben männlichen Geruch wahr, vermischt mit etwas Würzigem. Tannennadeln.

»Gehen wir an einen anderen Ort.«

Er schiebt mich rückwärts Richtung Ausgang, grinst ein paar Männern zu, die sich von der Gerichtsverhandlung abgewendet haben und uns irritiert zusehen.

Ich werde gerade vor Publikum entführt, und keinen kümmert es. Ein Lob auf das Mittelalter und die Stellung der Frau. Ich überlege zu schreien, aber in meinem gar nicht mittelalterlichen Aufzug – schwarzen Jeans, hellblauer Bluse und roten Stiefeletten –, will ich nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen. Am Ende verbrennen sie mich auf dem Scheiterhaufen.

Draußen fällt leichter Nieselregen, aber die Laubbäume, die sich rund um das Gerichtsgebäude erstrecken, fangen das meiste ab. Das Rauschen der Blätter packt mich in Watte. Mein Verstand sollte in Alarmbereitschaft sein, aber ich weigere mich zu begreifen, was gerade geschieht.

Der Mann legt eine Hand auf meinen Rücken und zwingt mich mit einem präzisen Stoß zwischen meine Schulterblätter vorwärts zu gehen. Ich stolpere über nass-sandigen Boden.

»Das könnt Ihr nicht machen. Das ist Freiheitsberaubung«, protestiere ich halbherzig, entlocke ihm damit aber nur ein amüsiertes Schnauben.

Mit geschmeidigen Bewegungen dirigiert er mich zwischen zwei Holzhäusern hindurch, in den angrenzenden Wald hinein. Wie eine Wildkatze, die ihre Beute in die Enge treibt.

»Wohin gehen wir?«

Meine Stimme klingt belegt, als wäre alles Leben aus mir gewichen. Und ein bisschen fühle ich mich auch so.

»Das werdet Ihr noch früh genug erfahren.«

Er macht mir mit seiner beständigen Ruhe Angst. Gerade hat er eine Frau entführt, die ganz offensichtlich nicht hierher gehört und statt mich mit seinem Messer zu bedrohen – das er, wie ich deutlich sehen kann, an seinem Gürtel mit sich führt –, geht er langsamen Schrittes hinter mir, immer darauf bedacht, den gleichen Abstand zwischen uns zu halten.

Er läuft gerade schnell genug, dass er mich mit der Hand anstoßen kann, wenn ich stehen bleibe oder zu langsam laufe. Ich versuche, die Berührung zu vermeiden, drehe mich mehrmals zu ihm um, um die Möglichkeit zur Flucht abzupassen, aber sie ergibt sich nicht. Wenn er gerade nicht auf meine Hände schaut, greife ich in meine Hosentasche, betätige den Reverser und bin jedes Mal aufs Neue enttäuscht, wenn nichts passiert.

Eine Weile laufen wir schweigend. Neben uns ein kleiner Bach, der irgendwann vom Unterholz geschluckt wird. Eine verfallene Hütte hat den letzten Sturm nicht überlebt, dicke Baumzweige haben das Dach durchbohrt. Wie Krallen haben sie sich in das Holz geschlagen.

An einer Böschung verliere ich fast das Gleichgewicht, als ich versuche, auf dem matschigen Boden Halt zu finden. Kurz berührt er mich am Arm, bis er sicher ist, dass ich nicht falle. Ihm selbst scheint der unwegsame Pfad keine Mühe zu bereiten. Er folgt mir mit langen, gezielten Schritten.

»Wie heißt Ihr?«

»Wie?«

Ich glaube, ich habe mich verhört. In seinem Kopf müssen tausend Fragen spuken. Wer ich bin, woher ich komme, ob ich ihm vielleicht gefährlich werden könnte. Und das ist alles, was er wissen will?

Statt ihm zu antworten, konzentriere ich mich auf den Weg vor mir, der noch immer recht schlammig ist, das Rot meiner Stiefeletten in ein sattes Braun taucht.

»Euren Namen, Mädchen! Oder gibt es da, wo Ihr herkommt, keine?«

Seine Stimme ist nur ein Zischen, trotzdem zucke ich zusammen und verliere erneut fast den Halt. Da, wo Ihr herkommt. Die Worte hallen in meinem Kopf.

»Alison.«

»Alison«, wiederholt er, als würde ihm der Name zäh und klebrig auf der Zunge hängen.

»Nennt mich Gregor.«

Ich will ihn gar nicht nennen, will einfach nur hier weg, zurück zu Ben, zurück in meine Zeit. Das hätte nicht passieren dürfen. Das hätte, verdammt nochmal, nicht passieren dürfen.

Aber davonlaufen bringt nichts. Wo soll ich hin? Wenn ich jetzt anfange zu rennen, wird er mich sowieso einholen. Und vielleicht verwendet er dann sein Messer.

»Wo bringt Ihr mich hin?«, versuche ich es noch einmal, ohne mir große Hoffnung auf eine Antwort von ihm zu machen.

Die Bäume über uns reißen auf und geben den Blick auf einen düsteren Himmel frei. Der Regen fällt noch immer in dünnen Fäden, weicht jetzt, da wir nicht mehr im Schutz der Blätter gehen, langsam meine Kleidung durch.

Vor uns erstreckt sich ein grüner Hügel mit einem kleinen grauen Steinhaus, dessen Dach mit Reet gedeckt ist. Die Fenster und Türen sind schief. Eine hüfthohe Steinmauer begrenzt den vorderen Teil des Grundstücks, verdeckt einen Teil des Kräuter- und Gemüsegartens, der mit sorgfältiger Präzision angelegt wurde. Eine Holzbank und ein Wasserbottich stehen an der Hauswand. Sie erwecken den Eindruck, als wären sie schon sehr lange Zeit den Witterungsbedingungen ausgesetzt. Daneben befindet sich ein alter Holzverschlag, der sich beim Näherkommen als Stall entpuppt. Die Gegend sieht verlassen aus. Überhaupt ist kein Mensch weit und breit zu sehen.

»Wenn Ihr weniger Fragen stellen und stattdessen schneller laufen würdet, wüsstet Ihr es bereits«, sagt er und nickt in Richtung des kleinen Hauses, »Dort hinein!«

In meinem Magen zieht sich alles zusammen. Das Letzte, was ich will, ist mit diesem Kerl in einem geschlossenen Raum sein. Was hat er bloß mit mir vor? Warum entführt er mich? Und warum zum Teufel ist das überhaupt möglich? Er sollte mich nicht einmal sehen können.

»Nein, bitte – bitte lasst mich gehen!«, wimmere ich.

Ich weiche einen Schritt von der Tür zurück und stoße dabei gegen seinen Oberkörper. Ein Schauder überläuft mich, als ich seine harten Muskeln an meinem Rücken spüre. Es gibt kein Entkommen.

Die Holztür knarzt in den Scharnieren, als er sie mit einer Hand aufstößt, um mich mit der anderen unwirsch in das Innere des Hauses zu schieben. Hier sieht es weniger furchteinflößend aus, als ich es erwartet hatte. Irgendwie fühle ich mich an die Jagdhütte meines Onkels erinnert, in der ich einmal zusammen mit Melissa und Ben auf einem Wanderausflug übernachtet habe. Nur dass dieses Haus viel kleiner und rustikaler ist. Und dass es meinem Entführer gehört.

Meine Augen wandern durch den Raum, auf der Suche nach einem Fluchtweg oder einer Waffe. Neben dem Kamin, der einen großen Teil des Raumes einnimmt, steht ein gepolsterter Sessel, auf dessen Lehne ein Tierfell – vermutlich von einem Schaf – liegt. Schräg daneben ein kleiner Hocker, der offenbar als Ablage dient. Hinter dem Sessel grenzt eine verzierte Holztruhe an ein einfaches Bett mit einem Leinen-Betttuch, einem zweiten Tierfell und Kissen. In den Fenstern stehen massive Kerzenleuchter aus Silber. Ich überlege, ob ich einen von ihnen als Waffe einsetzen könnte.

»Setzt Euch dort hin!«

Ich wage nicht zu widersprechen, lasse mich vorsichtig auf dem Holzstuhl nieder, der an einem kleinen Tisch neben der Tür steht. Er lässt sich in den Sessel sinken, schlägt seine schwarzen Stiefel übereinander. Einen Moment lang herrscht Stille, in der ich weiter meine Umgebung mustere und er nachdenklich vor sich hin stiert. Immer wenn meine Augen zur Tür wandern, fängt er sie ein, zwingt mich mit unnachgiebigem Blick, sie zu senken.

Irgendwann – es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor – ergreift er mit dunkler Stimme das Wort: »Aus welcher Zeit stammt Ihr?«

Ich ziehe scharf die Luft ein.

3

»Wie meint Ihr das, aus welcher Zeit ich stamme?«

Dass ich mich dumm stelle, macht Gregor nur wütend. Ich beobachte, wie er eine Hand zur Faust ballt, sie langsam wieder entspannt, als würde er um seine Beherrschung ringen. Bei dieser Geste krampft sich alles in mir zusammen.

»Welches Jahr Ihr schreibt, will ich wissen!«

Er spricht die Worte langsam aus, bedrohlich.

»2062«, antworte ich kleinlaut, sicher, dass er mir das niemals glaubt.

»2062?«

Als hätten meine Worte irgendetwas ausgelöst, steht er ruckartig auf, holt einen Bogen Papier aus der Holztruhe und legt ihn vor mir auf den Tisch. Von einer Ablage über dem Kamin, greift er sich Feder und Tinte und beginnt mit kleiner, stechend scharfer Schrift zu schreiben.

»Was macht Ihr da?«

Er legt mir einen Zeigefinger auf den Mund, sieht mich sekundenlang an, bevor er sich wieder dem Papierbogen zuwendet.

---ENDE DER LESEPROBE---