Erzählweisen des Körpers - Kurt F. Richter - E-Book

Erzählweisen des Körpers E-Book

Kurt F. Richter

4,9

Beschreibung

Although the original edition of this volume appeared over 14 years ago, it has lost none of its usefulness and topicality. In the theory section it describes the most important humanistic, social and ethical tenets used in counselling, supervision and therapy to ensure a holistic view of the client: "Creative and cultural therapy not only strive [...] to obtain or maintain mental health, they also endeavour to secure and cultivate human relationships and the development of respect for all living beings and objects on earth."The basics of classical and integrative, creative gestalt therapy have been expanded to include cultural educative methods and expressive media. This textbook also contains a number of practical exercises that can be applied in various contexts depending on the job experience of the client. The theory section is coherently and clearly written without ignoring the deep intellectual background. The practical section, on the other hand, emphasises the usability and effectiveness of the exercises presented. In this volume, the original intention of gestalt therapy, namely, to empower people involved in a therapeutic process to become self-reliant, independent, and responsible persons, is combined with modern scientific results. It is a basic textbook, a coursebook and a handbook on the role of gestalt therapy in our knowledge, our behaviour and our feelings.

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Kurt F. Richter

Erzählweisen des Körpers

Kreative Gestaltarbeit in Therapie, Beratung, Supervision und Gruppenarbeit

Mit 8 Abbildungen und 11 Tabellen

2. Auflage

Aktualisiert, mit einem Vorwort versehen und ergänzt von Anke Kirchhof-Knoch

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-525-40176-7

ISBN 978-3-647-40176-8 (E-Book)

Umschlagabbildung: Albrecht Fietz, »Tanz«/Quelle PHOTOCASE

Die erste Auflage ist 1997 im Verlag Kallmeyer erschienen.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Printed in Germany.

Gesamtherstellung: Hubert & Co, Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort von Anke Kirchhof-Knoch

Einleitung

I. Das Konzept Kreativer Gestaltarbeit

Lebensbewältigung: Auf dem Wege zu einer Kreativitäts- und Kulturtherapie

Kreative Gestaltarbeit: Von den Phänomenen zu den Strukturen

Ziele, Wege und Wirkungsmöglichkeiten der Kreativen Gestaltarbeit

Ziele

Die fünf Wege der Entfaltung

Wirkungsfaktoren in Therapie und Beratung

II. Die Methoden Kreativer Gestaltarbeit

Grundlagen und Hintergründe

Persönlichkeitstheorie

Kommunikation und Beziehung

Entwicklungspsychologie

Gesundheit und Krankheit

Aspekte des Schöpferischen: Kreativität, Symbolisierung, Sphären des Analogen

Von den Methoden zu den Interventionen

Zur Praxeologie der Kreativen Gestaltarbeit

Diagnostik in der Kreativen Gestaltarbeit

Beziehungsgestaltung und Beziehungssystem

Prozess und Verlauf

Modalitäten der Gestaltarbeit

Vom Flächen und Tiefen zum Weiten

Gestaltarbeit in Gruppen

Intervenieren

Gestaltarbeit mit Polaritäten

Methodisches Konzept der Arbeit mit Polaritäten

Allgemeine Arbeitsschritte bei der Auswertung von Polaritätenübungen

III. Kreative Medien in der Gestaltarbeit

Was sind kreative Medien?

Medien wirken

Kreative Medien und die Sinne

Kreative Medien und Leiblichkeit

Kreative Medien und Entwicklungsphasen

Intermedialität

Kreative Medien und Kunst

Körperarbeit und Bewegungserfahrung

Der Körper, den ich habe, und der Leib, der ich bin

Methoden, Techniken und Experimente – Zugangsweisen zur Körperarbeit

Analoge Körperarbeit und symbolische Interaktion

Die leibzentrierte Fokussierung

Skulpturieren, Modellieren, Statuenarbeit

Imagination und Fantasie

Die Kraft der Vorstellung

Gestalt-Traumarbeit

Fantasiereisen

Übungen und Experimente

Gestalten im visuellen Raum

Bildnerisches Gestalten (Malen)

Collagen

Arbeiten mit Ton und Modelliermasse

Arbeiten mit verschiedenen Materialien

Maskenbau und Maskenspiel

Sprachgestalten: Arbeiten mit Texten und Poesie

Lebenstext

Techniken, Experimente, Übungen

Musik in der Kreativen Gestaltarbeit

Rituale und kreative Medien

IV. Neue Entwicklungen in der Gestaltarbeit

(Anke Kirchhof-Knoch)

Die Integration von Erfahrungswissen und Methoden indigener Heiler (Schamanen) in die Gestaltarbeit mit Trancezuständen

Die Integration von Methoden der systemischen Therapie in die Gestaltarbeit

Gestalttraumatherapie

Der aktuelle Stand der Gestalttherapie

Anhang: Übersicht über alle Übungen und Experimente

Literatur

»Ich bin die Summe all dessen, was vor mir geschah, all dessen, was unter meinen Augen getan wurde, all dessen, was mir angetan wurde. Ich bin alles, was geschieht, nachdem ich nicht mehr bin, und was nicht geschähe, wenn ich nicht gekommen wäre.« Salman Rushdie, Mitternachtskinder (8. Auflage, 2010, S. 610)

Vorwort

Der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht hat sich dankenswerterweise dazu entschlossen, das Buch »Erzählweisen des Körpers« neu herauszubringen, das bisher nur in einer einzigen Auflage aus dem Jahr 1997 vorlag. Damit entstand die Möglichkeit, dieses grundlegende Werk zu überarbeiten und zu aktualisieren. Leider ist es dem Autor Kurt F. Richter, anfänglich mein Lehrer für kreative Gestalttherapie und in späteren Jahren kollegialer Freund, nicht mehr möglich gewesen, dies selbst zu tun. Sein früher Tod im Juli 2009 hat verhindert, dass er die Überarbeitung dieses Buches selber durchführen konnte, obwohl er – wie ich von ihm wusste – sich eine Neuauflage sehr gewünscht hat. Eine Herzensangelegenheit war ihm auch die Arbeit an dem Buch »Coaching als kreativer Prozess«, das ebenfalls bei Vandenhoeck & Ruprecht 2009 in der ersten Auflage, 2010 bereits in der zweiten Auflage erschienen ist und das er kurz vor seinem Tod noch fertigstellen konnte. Weitere Projekte hatte Kurt F. Richter geplant. Gern hätte er ein weiteres Buch als theoretisches Kondensat seiner praktischen Erfahrungen mit dem Schamanismustransfer in die westliche Psychotherapie veröffentlicht, gemeinsam mit seiner in diesen Heilmethoden seit langem erfahrenen Frau Karin Richter.

Kurt F. Richter war schon in jungen Jahren ein politisch und philosophisch interessierter Mensch, er hat sich bereits im Studium in Frankfurt mit kritischen Fragestellungen beschäftigt, seine Lehrer waren unter anderem Alexander Mitscherlich, Theodor W. Adorno und Horst-Eberhard Richter. Da sein Hauptinteresse den Wechselwirkungen zwischen Umweltfaktoren, Lebensbedingungen und Individuum galt, war es nur konsequent, im Hauptfach Psychologie zu studieren. Ebenso folgerichtig war es, sich der Gestalttheorie als einer ganzheitlich orientierten theoretischen Richtung und der daraus in den 1950er Jahren entstandenen Gestalttherapie zuzuwenden und diese weiterzuentwickeln für eine Praxis von Pädagogik, Therapie, Supervision und Coaching, die den Wachstums- und Emanzipationsgedanken als Basis für ein gelingendes Leben zur Grundlage der (therapeutischen) Arbeit erklärt.

Die Weiterentwicklung zur Kreativen Gestaltarbeit durch die Integration kreativer, musischer, tanz- und körpertherapeutischer sowie imaginativer und tranceinduzierender Methoden war besonders gut möglich an der Akademie für musische Bildung und Medienerziehung in Remscheid, an der Kurt F. Richter als Fachbereichsleiter in der beruflichen Weiterbildung von Supervisoren, Pädagogen, Psychologen, Seelsorgern und Coaches tätig war, da hier die verschiedenen Fachrichtungen der Akademie in einen fruchtbaren Austausch treten konnten.

Unter diesen Voraussetzungen in der Atmosphäre, die in der Akademie Remscheid herrscht, in den 1990er Jahren eine Ausbildung zur Gestalttherapeutin gemacht haben zu können, kann bis heute als Glücksfall geschätzt werden. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ausbildung in Gestaltberatung, -supervision und -therapie konnten einen hohen beruflichen Nutzen aus dem tragfähigen und unverwechselbaren Arbeitskonzept ziehen, das Kurt F. Richter als allein verantwortlicher Dozent für den Fachbereich Sozialpsychologie und Beratung entwickelt und fach- und berufspolitisch abgesichert hatte. Für die Supervisionsausbildung hat er »zusammen mit einigen weiteren Bundesakademien im Rahmen der ›Konferenz zentraler Fortbildungsinstitutionen für Jugend- und Sozialarbeit‹ zur Entwicklung von Standards eine Fachkommission gegründet, aus der später die Deutsche Gesellschaft für Supervision als heute maßgebliche, standardsetzende Instanz in diesem Feld entstanden ist« (Nachruf der Akademie Remscheid, 2009).

Während meines Studiums der Psychologie an der Universität Bremen, unter anderem bei Michael Stadler, der etliche Veröffentlichungen im Bereich der Gestalttheorie, Gestalttherapie und der Neuropsychologie herausgegeben hat, hatte ich mich mit der Gestalttheorie vertraut gemacht, insbesondere mit dem Verhältnis der Gestaltpsychologie zur Tätigkeitstheorie und zur Individualpsychologie.

So begegnete mir mit Kurt F. Richter als Ausbilder ein Mensch, dessen Einstellungen und innere Haltung mir von Anfang an vertraut erschienen, auch wenn wir uns als konkrete Persönlichkeiten erst in den folgenden fast zwanzig Jahren zunehmend besser kennengelernt haben.

Welche Einstellungen und Haltungen sind spezifisch für die Gestalttherapie?

Die ganzheitliche Sichtweise, den Menschen als biopsychosoziales Wesen zu betrachten, steht im Gegensatz zu dem, was wir durch unsere jeweiligen Rollen am Arbeitsplatz, in der Freizeit, in Institutionen wie Schule, Krankenhaus etc. erleben. Die schädlichen Auswirkungen unserer Lebensstile in der kapitalistischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft auf das Individuum entstehen durch die Fragmentierung des Menschen, die zu einer zunehmenden Isolierung und Kontaktarmut führt, durch die Ausrichtung des Zusammenlebens an quantitativen Werten eines individuellen »Höher, Schneller, Weiter, Mehr«. Es entsteht ein Verlust an Lebensqualität, wie sie durch sinnliche Erfahrungen, Beziehungen, kreative Betätigung möglich wäre. Diese qualitativen Lebensinhalte brauchen Zeit, vermehren aber keine materiellen Werte und erfordern reale anstelle von virtuellen Begegnungen.

Bereits in den frühen 1970er Jahren – vor den Kursen in Gestaltberatung und Gestalttherapie – entwickelte Kurt F. Richter zusammen mit J. Kleindiek und H. G. Sievers das Konzept der Kommunikationsberatung. Schon in diesem Konzept wurde das Ziel emanzipatorisch definiert: »Kommunikation wurde bezeichnet als das Koordinationsmittel zur Kooperation. Kooperation stand für solidarisches, gemeinschaftliches Handeln von Menschen zur Verbesserung von Lebens- und Zusammenlebensformen« (Richter, 1990, S. 174). Bereits in diesem Konzept wurde Kommunikation über Sprache hinaus ausgeweitet auf die Verwendung verschiedener Ausdrucksmedien.

In der zunehmenden Reduzierung der Kontakt-, Begegnungs- und Beziehungsmöglichkeiten sah Kurt F. Richter die Gefahr der inneren Entleerung des Selbst. Durch die Kreative Gestaltarbeit, wie er zusammenfassend Gestaltberatung, -supervision, -therapie, -pädagogik und -kulturarbeit mit kreativen Medien bezeichnete, sah er die Chance gegeben, »Menschen [zu] ermöglichen, ihre eigene private, ihre zwischenmenschliche und gesellschaftliche Lebenspraxis wahrzunehmen« (1990, S. 175)

Bereits in der Einleitung und im Konzept Kreativer Gestaltarbeit, wie Kurt F. Richter es in diesem Buch ausführt, spiegelt sich das ganze Spektrum wider, in dem er als Gestalttherapeut individuelles »Da-Sein« und das sich bei vielen Menschen entwickelnde Leid eingebettet sah in die individuellen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen des Einzelnen.

Diese Erkenntnisse finden sich in »Erzählweisen des Körpers« unter der Überschrift »Gestaltarbeit in Gruppen« in die Praxis umgesetzt. Kurt F. Richter weist hier darauf hin, dass »die Gruppe ein guter Ort für die Arbeit an der Identität [ist]. Identität entwickelt sich in sozialen Bezügen und kann auch nur in solchen verändert werden« (S. 124).

In »Erzählweisen des Körpers« kristallisieren sich also in den theoretischen Erörterungen, aber vor allen Dingen im ausführlichen Methodenteil und den daraus abgeleiteten Übungen, die Erfahrungen aus therapeutischen Prozessen, in denen es um Heilung ging, aus Ausbildungsgruppen, in denen es um berufliche und persönliche Entwicklung, um Wachstum ging. Gleichermaßen sind das gesellschaftspolitische Interesse und die daraus erwachsenden Erkenntnisse eingeflossen, welche emanzipatorischen Kräfte die Gestaltpsychologie den Menschen im Sinne eines zutiefst humanistischen Menschenbildes erschließen kann.

»Die Veränderung von schädigenden Lebensbedingungen ist Prophylaxe« (Richter, 1986a, S. 40). Dieser Satz, den Kurt F. Richter bereits 1986 in einem Aufsatz schrieb, klingt wie ein Allgemeinplatz, denn man sollte meinen, diese Erkenntnis habe schon lange Einzug gehalten in den gesellschaftspolitischen Alltag unseres Landes. Aber diese Aussage hat als Postulat nichts von ihrer damaligen Aktualität verloren, denn wie sonst kann man darauf reagieren, dass Gelder für prophylaktische Arbeit im sucht- und gewaltpräventiven Bereich, in Projekten gegen die Anfälligkeit von Jugendlichen für die rechtsradikale Szene und in Projekten gegen die Entwicklung von Sozialhilfedynastien nicht im geringsten dem Bedarf entsprechend zur Verfügung stehen?

Die Verknüpfung von Therapie, Kunst und politischem Handeln bezeichnete Kurt F. Richter unter Bezugnahme auf Petzold et al. als eine »fruchtbare Wahlverwandtschaft« (Richter, 1986b, S. 142). Am Beispiel von Straßentheater mit suchtgefährdeten Jugendlichen, welches er in der Tradition des »Großen Theaters des Marco Cavallo« unter Leitung von Franco Basaglia in Triest als Leiter einer Selbsterfahrungsgruppe mit Jugendlichen in Remscheid initiierte, vermittelte er ihnen die Möglichkeit, aus ihrer Isolation herauszutreten. Die Jugendlichen konnten durch diese aktive nach außen gerichtete Darstellung ihrer Problematik eine klarere Bewusstheit ihrer Lage entwickeln und so aus resignativen Gefühlen herausfinden.

Diesen konzeptionellen Ansatz in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sah ich bestätigt durch meine eigenen beruflichen Erfahrungen, welche ich in einer Jugendhilfeeinrichtung machen konnte, die sich Mitte der 1970er Jahre von einer großen Traditionseinrichtung abgespalten und mit neuen pädagogischen Methoden auf den Weg gemacht hatte.

Das Ziel einer solchen Arbeit kann nur sein, den Jugendlichen (und in anderen Zusammenhängen auch erwachsenen Klienten) zu vermitteln, für ein nicht gelingendes Leben nicht subjektive Schuld bei sich zu suchen, wo doch gesellschaftliche Strukturen verändert werden müssen, damit die objektiven Voraussetzungen für ein gelingendes Leben vorhanden sind. Das trifft auch auf Therapeuten zu, die dem Patienten keinen Arbeitsplatz vermitteln, nicht die Pflege der Eltern finanzieren oder die Ausbildungsbedingungen seiner Kinder verbessern können. So ist die Zielsetzung der Therapie des Einzelnen immer eingebettet zu sehen in den Wirkungszusammenhang seiner Lebensumstände für sein Leid. Mit diesen Umständen einen anderen Umgang zu finden, schlimme Erinnerungen zu transformieren in einen Erfahrungsschatz, sich nicht hilflos ausgeliefert zu fühlen, sondern als autonomen, handlungsfähigen Menschen zu empfinden – das ist die Aufgabe, die der Therapeut als Begleiter mit dem Klienten erarbeitet.

In »Erzählweisen des Körpers« weist Kurt F. Richter darauf hin, dass die Karten hinsichtlich der Verantwortungsübernahme in unserer Gesellschaft gezinkt sind: »So müssen die Einzelnen die Verantwortung und die Konsequenzen für Risiken mittragen, die von einer unverantwortlichen Wirtschaft und Politik ›vergesellschaftet‹ wurden, zum Beispiel Umweltschäden, Luftverschmutzung, Unwirtlichkeit der Städte, atomare Risiken« (S. 26). Welch eine bedrückende Aktualität hat dieser Satz aus dem Jahr 1997 (der Erstausgabe dieses Buches) nach der Einrichtung eines Niedriglohnsektors und der Entwertung von Arbeit und Lebensleistung, dem immer stärkeren Rückzug des Staates aus der gesellschaftlichen Verantwortung im Sozial- und Gesundheitssektor, stattdessen der Einsatz immenser Beträge zum Ausgleich ebensolcher Verluste durch Spekulationen oder die zunehmende Beteiligung an militärischen Aktionen unter Gefährdung des Lebens und der Gesundheit von Beteiligten und Betroffenen, vorgeblich zum Schutz hoher Werte.

Wie ein roter Faden zieht sich diese Erkenntnis von der Entstehung individuellen Unglücks im Zusammenhang mit Umwelt- und Lebensbedingungen der Menschen durch Kurt F. Richters Veröffentlichungen.

»Es geschieht der Versuch einer gesellschaftlichen Verortung individuell erlebter Probleme« (Richter, 1986a, S. 42). Diese Differenzierungsleistung, für was ein Mensch Verantwortung übernehmen kann und für was er nicht verantwortlich ist, aber individuelle Ressourcen benötigt, um damit leben zu können, um das Leben bewältigen zu können, das ist die von Kurt F. Richter an seine Kursteilnehmer weitergegebene Berufsethik. Es geht im gemeinsamen Beratungs- und Therapieprozess darum, die Veränderungspotenziale von Einzelnen und ihren Gruppierungen zu aktivieren und Wandlung zu ermöglichen. Doch auch im Zusammenhang mit Veränderungspotenzialen war Kurt F. Richter Realist: »So wichtig es einerseits ist, dass Patienten aktiv an der Veränderung ihrer Lebensbedingungen arbeiten, so darf man sie andererseits auch nicht überfordern, indem man sozialpolitische Veränderungsarbeit von ihnen erwartet, die vitalere Bevölkerungsgruppen auch nicht schaffen« (Richter, 1986a, S. 44).

Im Jahresbericht der Akademie Remscheid von 2000 zum Beispiel beschäftigt sich Kurt F. Richter mit den »schlimmen Atmosphären«, in denen manche Kinder aufwachsen, die als »Ungeheuerlichkeiten« bezeichneten »Entwicklungsräume«, die Kindern und Jugendlichen zugemutet werden und gegen die sie sich nicht schützen können. Krankmachenden und entwicklungsfeindlichen Atmosphären sind aber auch erwachsene Menschen ausgeliefert, wenn sie zum Beispiel dem Widerspruch ausgesetzt sind, Entlassungen am Arbeitsplatz als »Innovation« und »Qualitätssicherung« verkauft zu bekommen und sich gleichzeitig Angst und Verzweiflung wegen der Undurchschaubarkeit der Vorgänge ausbreitet. Dieses »Atmosphärische«, das im Menschen gespeichert wird und sich zwischen dem Ich und dem Du ausbreitet, hat Kurt F. Richter als das Aufzuspürende, im diagnostischen Sinne zu Erfassende verstanden. Wenn der (therapeutische, pädagogische, coachende …) Begleiter das Atmosphärische erfasst hat und es ihm gelingt, damit zu arbeiten, um Entwicklungsprozesse in Gang setzen zu können, muss nicht jedes belastende Erlebnis im Einzelnen aufgearbeitet werden. Zum Aufspüren, aber auch zum Bearbeiten solcher im Laufe des Lebens in den Speichern unseres Körpers abgelagerter Atmosphären eignen sich kreative Medien besonders gut.

Allein die Tatsache, den Helfenden als »Begleiter« zu bezeichnen, deutet auf eine Haltung hin, die Kurt F. Richter seinen Klienten und Auszubildenden gegenüber hatte: Fürsorge, gepaart mit dem Vertrauen in die Kräfte und das intuitive Wissen des Klienten, was für ihn das Richtige ist. Jeden Menschen darin zu bestärken, sich etwas zu trauen, sich etwas zuzutrauen und daran zu wachsen war im Sinne von Bruno-Paul de Roeck die Haltung, die auch Kurt F. Richter vermittelt hat:

Werden kennt kein EndeDer Strom fließt weiterJeder Augenblick ist neuDer Schmerz des Wachsens:Der Mühen wert.

So geht der Begleitete aus dem Prozess hervor als jemand, der zu seinen Ressourcen, seiner Autonomie, seinem Erwachsensein gefunden hat, nicht als jemand, der klein und schwach ist und dem von einem großen, starken »Profi« geholfen wurde. Luise Reddemann beschreibt den so gewährleisteten Erhalt der Würde in der Psychotherapie mit der Vermeidung von »Mildtätigkeitswunden« auf der Seite des Klienten (Reddemann, 2008, S. 41).

Zur Kreativen Gestaltarbeit, wie sie in »Erzählweisen des Körpers« ausgearbeitet ist, passt auch die Einbeziehung systemischer Sicht- und Arbeitsweisen und die Integration schamanischer Heilmethoden. Beides waren Projekte, die Kurt F. Richter bereits begonnen hatte, aber die er leider nicht mehr weiterführen konnte.

Wie in der Gestaltarbeit findet sich die Einbeziehung ganzer sozialer Systeme in den therapeutischen Prozess auch in der systemischen Therapie wieder. Diese Therapierichtung hat etliche Erkenntnisse der Gestalttheorie, der Individualpsychologie (Alfred Adler) und moderner Systemwissenschaften wie der Kybernetik, der System- und Regelungstheorie, der Informations- und Kommunikationstheorie sowie der Spieltheorie miteinander verbunden.

Die Arbeit mit dem Familienbrett, die Aufstellung von Familienskulpturen nach Virginia Satir oder in der Supervision von Teamskulpturen, dies sind nur zwei Beispiele für Methoden aus der systemischen Therapie. Auch das zirkuläre Fragen, durchaus auch an eine nicht anwesende Person gerichtet (»Was würde die – inzwischen verstorbene – Großmutter zu diesem Familienproblem sagen …«), erinnert an die Methode, mit dem auf einem leeren Stuhl sitzenden Symptom in einen Dialog einzutreten, wie wir es aus der Gestaltarbeit kennen. Der wesentliche Unterschied zur Gestalttherapie liegt darin, dass sich die systemische Therapie und die damit eng verbundene Familientherapie nicht auf die Aufarbeitung des Problems, sondern auf die in der Zukunft liegende Lösung konzentrieren. Die systemische Therapie wird deshalb als Kurzzeittherapie durchgeführt. Diese Herangehensweise ist immer dann sinnvoll, wenn ein Klient sich in einer Umbruchsituation befindet, wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen oder einen Lebensstil zu verändern, und nicht die Notwendigkeit oder der zeitliche Rahmen vorhanden ist, um sich mit der Aufarbeitung von Problemen zu beschäftigen. Die Kunst des Therapeuten besteht darin, zu erkennen, wann eine lösungsorientierte Intervention nicht ausreichend ist, bzw. wenn dies ausdrücklich als einziges in Frage kommt, keine tiefer liegenden Themen anzurühren.

Die Hinwendung zu schamanischen Heilmethoden ist zurzeit ein Modethema, wie auch die Beschäftigung mit Spiritualität in der Therapie in den letzten Jahren überhaupt an Bedeutung zugenommen hat, was eine Vielzahl von Veranstaltungen zu dieser Thematik belegt. Allerdings ist Vorsicht geboten, dabei nicht dem Reiz des Exotischen zu erliegen, sondern Erfahrungen mit Wissen und Kompetenz zu verknüpfen, wie Kurt F. und Karin Richter es im Rahmen dieser Thematik gemeinsam begonnen haben.

1999 fand im Übersee-Museum Bremen eine sehr beeindruckende Ausstellung über »Schamanismus in Tuva« statt, die zur Beantwortung wichtiger Fragen anregte. Was ist ethnologisch interessant, was psychotherapeutisch nutzbar? Wo beginnt die esoterische, nicht ungefährliche Verstiegenheit selbsternannter Heiler und Schamanen, die in unserer oftmals kalten, westlichen Kultur das Bedürfnis unglücklicher oder kranker Menschen nach Alternativen zur Apparatemedizin ausnutzen, um sich zu erhöhen oder Geld damit zu verdienen?

Kurt F. Richter war zu bodenständig, um ins Esoterische abzuschweifen, und zu neugierig, sich die Möglichkeit der Einbeziehung dieser hocheffektiven Methoden entgehen zu lassen. Ihn hat fachlich nur interessiert, was therapeutisch nutzbar ist, aber natürlich hatte er auch eine große Freude an den Reisen in fremde Kulturen, um Feldforschung zu betreiben. Diesen Anteil an der Erkundung des Schamanismus hat er sehr genossen.

Die Teilnehmenden an der Ausbildung in Remscheid konnten bei Trommelmeditationen und in einem späteren Trance-Workshop zum Thema »Traumreisen« die Wirksamkeit der 210 Beats pro Minute auf das eigene Innenleben spüren. Ob dies nun einfach der tiefen Entspannung dient oder heilsame Wirkung entfacht, liegt sicher auch in der Person des Klienten. Den Klängen der Trommel und der Wirkungen auf das zentrale Nervensystem kann sich jedoch niemand widersetzen. »Jilek und Ormestad entdeckten, dass Trommelschlag-Frequenzen im Thetawellen-EEG-Frequenzbereich (vier bis sieben Hertz pro Sekunde) während Einweihungszeremonien vorherrschten, bei denen die Salish-Fell-Trommel benutzt wurde. Dies ist der Frequenzbereich, […] der als der wirksamste für die Hervorrufung von Trancezuständen betrachtet wird« (Harner, 1999, S. 83).

Nicht nur das Trommeln, sondern auch rituelle Körperhaltungen rufen entsprechende Veränderungen im Menschen hervor. Ohne darauf in diesem Kontext näher eingehen zu können, darf hier darauf hingewiesen werden, dass diese Methoden dazu dienen, autonome Körperreaktionen zu provozieren, die einen Zugang zu den Leibarchiven ermöglichen und dadurch früh erworbene physische Muster, die im Zusammenhang mit psychischen Phänomenen stehen, zu erkennen (z.B. Erröten als autonome Körperreaktion im Zusammenhang mit Schamgefühlen).

»Anzustreben ist, dass die Ritualgestaltung nicht von der Magie der Fremde lebt, sondern von der verständlichen Kraft der Rituale in unserer Kultur. Dies verstehen wir als Einladung zu einer Suche danach, was unsere Kultur an Ressourcen und Integrationsmöglichkeiten zu bieten hat« (K. u. K. F. Richter, 2007, S. 7).

Ein letztes Wort zum Begriff »Gestalt«: Gestalttherapie, Gestaltarbeit beziehen sich immer auf den Begriff »Gestalt« als Synonym für »sinnvoll organisiertes Ganzes« (Staemmler u. Bock, 1998, S. 29). Der Begriff gibt dieser Therapieform den Namen: das Ganze, das mehr ist, das eine andere Qualität hat als einfach nur die Summe seiner Teile. Damit ist die Betrachtung der Psyche oder Seele des Menschen nicht losgelöst von seinem Körper gemeint, die Betrachtung des Menschen nicht losgelöst von seiner organischen und soziokulturellen Lebenswelt, seinen individuellen, familiären Bedingungen und der politischen »Großwetterlage«, in der er sein Leben bewältigen muss.

Kurt F. Richter schreibt in diesem Buch: »Das stellt einige Anforderungen an die menschliche Integrität, Beziehungsfähigkeit und Selbstreflektiertheit des Begleiters; methodische Kompetenz und professionelle Haltung müssen authentisch wirken. Der Begleiter erwirbt sie in einem intensiven Selbsterfahrungsprozess und integriert sie in seine Persönlichkeit. Eine wesentliche Fähigkeit des Begleiters besteht darin, im Beratungs- bzw. Therapieprozess ausgesprochen präsent zu sein. Er ist dies nicht nur mit seinen Sinnen, sondern auch mit all seinem Wissen, seinen Erfahrungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten« (S. 92).

Diese Sichtweise hat Kurt F. Richter nicht im Rahmen seiner universitären Ausbildung gelernt, auch wenn dort Weichen für die spätere berufliche Laufbahn gestellt wurden. Die inhaltliche Kompetenz, das spezifisch professionelle Handeln mit der Einstellung zum Leben, mit der ethischen Haltung und der gesellschaftspolitischen Positionierung zu verknüpfen, stammt aus der »Universität« der Begegnungen und Beziehungen, in der Familie, im Freundeskreis, im Beruf.

Die Aufhebung der Fragmentierung des Menschen, das Erreichen des erfüllten Lebens als authentischer, mit sich zufriedener (nicht selbstzufriedener!) Mensch, der auch Fehler machen darf und dazu zu stehen kann, und dies alles an andere weiterzugeben im Sinne von Kulturpädagogik im eigentlichen Sinn des Wortes: Menschen zu lehren, eine Kultur des Miteinanders zu leben, die diesen Namen verdient hat, das war das Anliegen von Kurt F. Richter.

Diese Haltung können lernende Leser auch heute noch aus dem nun wieder erhältlichen Buch beziehen.

Bei der Überarbeitung des Buches habe ich mich auf redaktionelle Veränderungen und wenige, ergänzende Einfügungen beschränkt, um den Charakter des Ursprungswerkes zu erhalten. Neu habe ich das IV. Kapitel »Neue Entwicklungen in der Gestaltarbeit« hinzugefügt. Darin werden der Transfer schamanistischer Behandlungsweisen und die Einbeziehung systemischer Methoden und Sichtweisen beschrieben. Außerdem entspricht es der aktuellen Entwicklung, die Wirksamkeit der Gestalttherapie in der Behandlung traumatisierter Menschen zu würdigen. Eine Aktualisierung erfordert auch der Forschungsstand der Gestalttherapie. »Wie zwei große Blöcke bestimmen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse die therapeutische Szene hierzulande. Gestalttherapie ist als klinische Psychotherapie von den Kassen noch nicht anerkannt, da zu wenig bekannt bzw. weil die therapeutische Wirkung nicht ausreichend belegt erscheint« (Butollo et al., 1995, S. 1). Inzwischen gibt es aktuelle Forschungsbefunde, auf die im ergänzenden Kapitel eingegangen wird. Im März 2011 wurde der Antrag auf Anerkennung beim Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie vorgelegt. Die Anerkennung der Gestalttherapie durch die Kassen als wirksames Psychotherapieverfahren ist längst überfällig. Umso erfreulicher und wichtiger ist die Neuauflage dieses Buches, in dem die Wirksamkeit der Gestalttherapie auf so anschauliche Art und Weise dargestellt wird.

Anke Kirchhof-Knoch

Einleitung

Stellen Sie sich vor, Sie hören im Radio eine Melodie. Sie kommt Ihnen bekannt vor, Sie können sich aber nicht mehr an den Text erinnern. Deutlich spüren Sie, wie sich Ihre Stimmung wandelt. Eben noch müde und bedrückt, sind Sie jetzt heiter und beschwingt. Aber die Geschichte geht noch weiter: Erinnerungsbilder steigen in Ihnen auf, eine Szene, die Sie lange vergessen hatten, wird wieder lebendig. Sie können jetzt »sehen«, welche Erlebnisse sich mit der Melodie in den »Leibarchiven« ihres Gedächtnisses verbunden hatten.

Dies ist eine Alltagsgeschichte, wie sie häufig vorkommt. Mit solchen kleinen medialen Anstößen lassen sich dramatische Ereignisse der Vergessenheit entreißen. Der Erinnerungsprozess durchläuft dabei eine Reihe von unbewussten Stadien. In unserem Beispiel kommt es zu einer Veränderung der energetischen Grundbefindlichkeit des Körpers, der Stimmung und Gefühle. Es tauchen bildhafte Vorstellungen auf und erst aus dieser körpernahen Selbstwahrnehmung entsteht dann auch die sprachlich mitteilbare Erinnerung.

Unsere Gedächtnisarchive sind voll von solchen Beziehungserfahrungen, die keinen direkten Weg mehr zur sprachgebundenen Erinnerung haben. Viele dieser Erlebnisse hinterlassen ihre Spuren oder Eindrücke in unserem Erscheinungsbild, der Haltung, den Bewegungen, dem Gesichtsausdruck. So erzählt allein die Art eines Menschen, sich zu bewegen, von seinen Lebenserfahrungen.

Die innere Wirklichkeit drängt nach Ausdruck. Allerdings passiert nur ein kleiner Teil unserer Körperbotschaften das Nadelöhr zum Bewusstsein. Das Unbewusste bzw. Körper-Selbst ist ein halboffenes Informationssystem. Neben der inneren Kommunikation gibt es den lebhaften Austausch von Botschaften mit der Umwelt. Nur einige Informationen werden sprachlich codiert. Ich denke hier zum Beispiel an die komplizierte Wechselwirkung von sprachlichen Mitteilungen, teilbewussten emotionalen Reaktionen und ihre Korrespondenz mit biochemischen Vorgängen. So betrachtet, ist zum Beispiel ein Streitgespräch zwischen zwei Menschen ein hochkomplexes Ereignis. Auch Krankheiten sind Botschaft der Erkrankten an sich selbst und an andere.

Mit dem expressiven Gehalt, der mein Sprechen begleitet, teile ich dem Gegenüber mit, wie es mir geht, wie er meine Informationen zu verstehen hat und was ich von ihm möchte. Auf dieser Ebene wird die Beziehungsdynamik ausgehandelt. Oft sind es Bewegungen, Gesten, Tonfall, Wortwahl, Gerüche (Ausdünstungen) etc., über die sich die Innenwelt der Außenwelt mitteilt. Die Botschaften sind symbolisch verdichtet, metaphorisch verschlüsselt oder werden über ein körperfremdes Medium (z. B. Malen) vermittelt. Ich bezeichne diesen vorsprachlichen Ausdrucksbereich als analogen Raum. Aber auch die unbewusste Selbstkommunikation verwendet den analogen Raum. Man denke hier an die sogenannte Traumarbeit. Bei einer Fantasiereise, die im Zustand einer leichten Trance durchgeführt wird, kann die Selbstkommunikation eine Intensität und Tiefe erreichen, die es auch extrem bewusstseinsfernen Körpervorgängen ermöglicht, daran teilzunehmen. Sogar das Immunsystem des Menschen ist an dieses Kommunikationssystem angeschlossen. Hierdurch können Heilungsprozesse unterstützt, Kränkungen gebremst, Schmerzen gemildert werden usw.

Den expressiven Möglichkeiten kommt im Rahmen von Therapie und Beratung eine große Bedeutung zu. Sie sind nicht nur der »Königsweg zum Unbewussten«, sondern häufig der Schlüssel zu tiefgreifenden Veränderungen. Allerdings soll der Titel »Erzählweisen des Körpers« keine neue Körpertherapie anzeigen, sondern auf den Schwerpunkt des Buches verweisen: Kreative Gestaltarbeit mit nonverbalen bzw. subsprachlichen Ausdrucks- und Erlebnisformen. Es gibt bereits viele expressive Therapiemethoden. Sie stellen meist jedoch ein Ausdrucksmedium in den Mittelpunkt: reine Körpertherapien, Atemtherapien, Bewegungstherapien, Musik-, Mal-, Dramatherapie. Ich habe mich für einen sehr umfassenden, integrativen Ansatz entschieden, der auf dem Verfahren der Integrativen Gestalttherapie gründet, aber auch wichtige Elemente der Psychoanalyse, eine systemische Sichtweise und psychodramatische-, kunst-, bewegungs- und körpertherapeutische Arbeitsformen berücksichtigt.

Jeder Therapie- oder Beratungsansatz bezieht sich auf eine konkrete Gesellschaft, ihre sozialen, ökologischen und kulturellen Verhältnisse. Veränderungen im Mikrobereich des menschlichen Lebensraumes sind ohne die Wahrnehmung dieser umfassenden Kontexte kaum möglich. Im analogen, vorsprachlichen Raum spielt sich nicht nur ein großer Teil innerpsychischer Kommunikation und zwischenmenschlicher, symbolischer Interaktion ab, auch die größeren Systeme (z. B. Familie, Institutionen, Gemeinden, Industrie, Staat usw.) repräsentieren sich darin. Analoge Kommunikation geschieht in kleinen und großen Systemen. Sie ist eines der wichtigsten Bestandteile der Kultur. Aus diesem komplexen Zusammenhang heraus bezeichne ich das hier geschilderte Verfahren auch als eine Form der Kulturtherapie. Natürlich soll nicht die Kultur therapiert werden, wohl aber kann das Verfahren einen Beitrag dazu leisten, menschliches Zusammenleben zu kultivieren. Kulturelle Ausdrucksmittel, Traditionen (z.B. Rituale) werden in die Gestaltarbeit systematisch einbezogen.

Ich habe das Buch in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um die Darlegung der theoretischen Zusammenhänge und Hintergründe. Teil zwei befasst sich mit den Methoden der Gestaltarbeit. Ich habe die theoretischen und methodischen Erläuterungen bewusst kurz gehalten, um das Buch nicht zu überfrachten. Es empfiehlt sich deshalb, entlang der angegebenen Literaturempfehlungen sich weiter in die Sache zu vertiefen. Im dritten Teil, dem eigentlichen Hauptteil, stelle ich dann ausführlich die einzelnen »Erzählweisen« und Ausdrucksmittel (kreative Medien) vor, beschreibe Techniken und Praxisprobleme und beschließe jedes Kapitel mit einer Reihe von Übungen und Experimenten.

Das Buch hat mehrere Benutzungsmöglichkeiten:

‣  Es ist ein Lehrbuch für Kreative Gestaltarbeit.

‣  Es bietet einen umfassenden Überblick über die Arbeit mit den verschiedenen kreativen Medien.

‣  Es kann als Nachschlagewerk für Übungen und Experimente für die eigene Praxis verwendet werden. (Hier muss ich allerdings die Benutzerin/den Benutzer bitten, in einer kritischen Selbsteinschätzung zu überprüfen, ob er/sie über genügend Fachwissen und Erfahrung verfügt, diese Übungen auch durchzuführen. Es empfiehlt sich, diese Art der Arbeit zunächst in Form einer Selbsterfahrung hautnah kennen zu lernen.)

»Erzählweisen des Körpers« entstand auf der Grundlage meiner 25-jährigen therapeutischen und beraterischen Praxis und einer fast ebenso langen Tätigkeit als Dozent für Beratung und Sozialpsychologie an der Akademie Remscheid. Im Rahmen der kulturpädagogischen und kulturarbeiterischen Sichtweise der Akademie Remscheid habe ich Verfahren der Beratung, Therapie und Supervision entwickelt und in Kursen vermittelt. Ich begann Anfang der 1970er Jahre mit einem analytisch geprägten, gruppendynamischen Konzept. Mein übergeordnetes Ziel war die Verbesserung der Kommunikation als dem Koordinationsmittel zur Kooperation. Die Methode nannte ich Kommunikationsberatung. Sie war noch stark sprachzentriert. Natürlich war sie ein angemessener Ausdruck ihrer Zeit, in der man glaubte, durch Dialog, Diskurs etc. wesentliche Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens geradebiegen zu können.

Die Grenzen des sprachfixierten Ansatzes wurden mir jedoch immer klarer, besonders in der Zusammenarbeit mit meinen kunstpädagogischen Kolleginnen. Weiterbildung in Gestalttherapie (J. Brinley), Ausbildung in Integrativer Therapie (am Fritz-Perls-Institut) sowie zahlreiche zusätzliche Fortbildungen in körper- und kunsttherapeutischen Methoden führten zu nachhaltigen Veränderungen meines eigenen Ansatzes. An der Integrationsarbeit, die schließlich im Konzept der Kreativen Gestaltarbeit mündete, waren die Erfahrungen und Diskussionen mit den Kursteilnehmerinnen über all die Jahre maßgeblich beteiligt. Ich möchte mich deshalb für die vielen Anregungen und Erfahrungsbeiträge bedanken.

Erwähnen möchte ich auch meine gestalttherapeutischen Lehrer H. Petzold und I. Orth, denen ich neben einer fundierten Ausbildung in Integrativer Therapie wichtige theoretische Einsichten und methodische Anregungen aus dem Bereich der Kunst- und Kreativitätstherapie verdanke. Viele Übungen und Experimente, insbesondere aus dem Kapitel »Körperarbeit und Bewegungserfahrung«, sind das Resultat kreativer Zusammenarbeit mit H. Fallner in zwölf Jahren Supervisionsausbildungen an der Akademie Remscheid.

Zum Schluss noch einige Anmerkungen zum Sprachgebrauch in diesem Buch. Gestaltarbeit ist ein Verfahren, das von Therapeutinnen und Therapeuten, Beraterinnen und Beratern, Supervisorinnen und Supervisionisten, Pädagoginnen und Pädagogen, Kulturarbeiterinnen und Kulturarbeitern, Erwachsenenbildnerinnen und Erwachsenenbildnern usw. angewandt werden kann. Eine Aufzählung all der jeweils beteiligten Rollen würde die Lesbarkeit sprengen. Ich habe mich deshalb dazu entschlossen, all die Personen, die professionell Kreative Gestaltarbeit anwenden, als Begleiterinnen bzw. Begleiter zu bezeichnen. Den Klienten, die Klientin, auf ihren Problemlösungs-, Wachstums- oder Heilungsprozessen zu begleiten, ist eine der wichtigsten Funktionen sowohl von Therapeutinnen als auch Beraterinnen. Es ist eine Wegbegleitung – mal lässt er oder sie sich von der Klientin, dem Klienten führen (der Klient weiß am besten, was für ihn gut ist), mal übernimmt er die Führung, hilft über die Klippen der blinden Flecke etc. Die Begleitung ist in der Kreativen Gestaltarbeit eine sehr zentrale und komplexe, mitunter auch paradoxe Angelegenheit.

Außerdem habe ich mich zu einer zweiten Vereinfachung im Sinne der Lesbarkeit entschlossen. Wenn Sie die vorausgegangenen Zeilen gelesen haben, werden Sie sicher auch über die durch eine korrekte geschlechtsspezifische Anrede bedingten Reihungen gestolpert sein. Ich werde deshalb in meinem Buch nur eine Anredeform verwenden. Ich hoffe, dass sich trotzdem die Leserinnen ebenso angesprochen fühlen wie die Leser.

I.

Das Konzept Kreativer Gestaltarbeit

Lebensbewältigung: Auf dem Wege zu einer Kreativitäts- und Kulturtherapie

Der Mensch scheint heute mehr denn je an sich und seinen Artgenossen zu leiden. Dies zumindest suggeriert ein enorm expandierender Lebenshilfe-Markt. Er reicht von Ratgeberbüchern, Audio- und Videokassetten bzw. DVDs, Computerprogrammen bis zu Fernsehsendungen für alle Lebensprobleme. Flankiert wird dieser Markt von einer unübersehbaren Therapie- und Beratungskultur. Es zeichnet sich hier eine gewaltige Kompensationsbewegung ab, die die Schwäche der Institutionen ausgleicht, die traditionell Lebenshilfe und Orientierung boten, diese Aufgabe aber schon lange nicht mehr ausreichend bewältigen können (z. B. Kirche, Schule, Familie). Es lohnt sich deshalb, einen kurzen Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen individuellen Lebens zu werfen: Welche Formen der Unterstützung und Hilfe braucht der »postmoderne Individualist« und Konsument? Wie kann eine Beziehungskultur aussehen, in der Gegenseitigkeit und nicht Entfremdung und Gewalt herrschen? Wie kann Komplexität so reduziert werden, dass wieder Lebenssinn und Orientierung sichtbar werden?

Im Zusammenhang mit der weltweit zu beobachtenden Modernisierungsgeschwindigkeit kommt es auf vielen Gebieten menschlichen Lebens zu krisenhaften Entwicklungen. Krisenverdichtungen zeigen sich unter anderem in dem Verfall der Urbanität (Unregierbarkeit der Großstädte, Kriminalität usw.), in der eruptiven Entwicklung des multikulturellen Zusammenlebens (Fremdenhass usw.), der Globalisierung der Wirtschaft, der Zunahme von Arbeitslosigkeit und Armut und der Auflösung von Eindeutigkeit der Wirklichkeit durch die rasante Entwicklung der Medien. Als Damoklesschwert schwebt über der Welt die Selbstzerstörung (Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion, atomare Katastrophen, Ozonloch usw.). Diese Selbstbedrohung ist nach der Beendigung des Kalten Krieges nicht weniger, nur unübersichtlicher geworden.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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