»… es ging immer um Musik« - Nikolaus Harnoncourt - E-Book

»… es ging immer um Musik« E-Book

Nikolaus Harnoncourt

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Beschreibung

Musik schenkt Freude: Überzeugend und leidenschaftlich reflektiert Nikolaus Harnoncourt über sein Metier. Seine Texte, Reden und Gespräche entfalten das Lebensprogramm eines großen Künstlers, der auf sein eigenes Wirken und weit in die Musikgeschichte zurückblickt. Er befasst sich mit der Notwendigkeit der Kunst ebenso wie mit Haydn und einem "Krokodil namens Mozart", er macht sich Gedanken über romantische Einsichten und barocke Reminiszenzen. Harnoncourt blickt in die Abgründe einer unmoralischen Welt und lässt an Geschichten aus dem Musikverein teilhaben. Er erläutert, warum ein Künstler nicht lügen kann, warum die Zauberflöte ein ewiges Rätsel bleibt - und warum große Kunst letztlich aus Zweifeln entsteht.

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Nikolaus Harnoncourt

»… es ging immerum Musik«

Eine Rückschau in Gesprächen

Herausgegeben von Johanna Fürstauer

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2014 Residenz Verlag

im Niederösterreichischen Pressehaus

Druck- und Verlagsgesellschaft mbH

St. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN eBook:

978-3-7017-4490-9

ISBN Printausgabe:

978-3-7017-3343-9

Inhalt

Vorwort

Teil I

Kunst berührt

Musik entsteht überall, wo Menschen sind

Man darf nie glauben, die Wahrheit zu haben

Ich bin ein Pessimist mit Hoffnung

Der Goldene Saal als Musikinstrument

Alle Künstler sind gläubig

Der Angriff mit der Nebelmasse

Antipoden: Harnoncourt und Karajan

Schön durch Schmutz

Kunst ist immer oppositionell

Ehre?

Ich sehe das Schiff

Kunst ist …

Das Wissen um die Musik ist größer geworden

Die Abgründe und das Schöne

Der beste Vater

Der mißbrauchte Heimatbegriff

Teil II

Es gibt nur Wenige …

Monteverdis L’incoronazione di Poppea – Drama zwischen Macht und Moral

Über Bach kann man nicht lachen

Totaler Musenkuß

Bach im Humus der Zeiten

Haydn gehört zu den ganz Großen

Lauter Wölfe und Bestien

Wenn schon gescheitert werden muß …

Man sieht das Wirkliche

So viel Humus und Gewürm

Mozarts da Ponte-Opern konzertant – eine neue Hörerfahrung

Ein Lächeln hinter Tränen

Ein Spiegel von Abgründen

Neugier ist immer die Triebfeder

Amerikas Wozzeck: Gershwins Porgy and Bess

Teil III

Der fünfte Oberton

Ein Griffel in der Hand Gottes

Mozart – seine Handschrift Überlegungen zur Interpretation

Die klangliche Identität eines Orchesters

Der Wiener Bläserstil

Vorwort

»Wir alle brauchen die Musik; ohne sie können wir nicht leben.«

In diesem Satz faßte Nikolaus Harnoncourt in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Erasmuspreises im Jahre 1980 zusammen, was viele Jahrhunderte lang im kulturellen Bewußtsein Europas verankert war: Die Kunst im allgemeinen, vor allem aber die Musik als emotionellste aller Künste, ist lebensnotwendig für die Entfaltung jener moralischen und gesellschaftlichen Qualitäten, die das Menschsein im eigentlichen Sinn des Wortes erst ermöglichen. Am Wesen der Kunst stößt Darwins Evolutionsprinzip an seine Grenzen: Selbst unsere nächsten »Verwandten« aus dem Tierreich können nicht dichten, malen, komponieren.

Die Frage nach Ursprung und Wesen der Kunst hat die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt. Philosophen und Dichter, Naturwissenschaftler und Theologen haben ihre Vorstellungen dazu geäußert. Der Philosoph Pythagoras hat auf der Basis seines mathematisch-philosophischen Denkens ein ganzes Musiksystem begründet. In Goethes der Antike entnommenen Geschöpfen des Prometheus können dessen zunächst roboterhafte, gefühlsunfähige Kreaturen erst durch den Kuß der Musen, also durch die Begegnung mit den Künsten, zu einfühlsamen, liebenden Wesen werden, während der gleichfalls antike Orpheus-Mythos als eindrucksvolles Symbol für die Macht der Musik steht: der Sänger bezaubert Götter und Menschen, sein gefühlvoller Gesang bringt die Felsen zum Weinen und selbst die wilden Tiere zu gemeinsamem friedfertigem Lauschen.

Auch heute noch kann die Musik ihre Gemeinschaft stiftende Kraft beweisen – wenn man sie läßt: sie kann die Angehörigen verfeindeter Nationen zu einem Orchester vereinen und sie schenkt perspektivlosen Straßenkindern Hoffnung auf ein sinnvolles Leben.

Komponisten wie Monteverdi, Bach, Händel, Mozart oder Haydn sahen in ihrer Begabung ein Gottesgeschenk und waren sich darüber einig, daß diese Gabe aus Quellen gespeist wird, die weit über die bloße biologische Existenz hinausreichen.

Ob Gottesgeschenk oder »Musenkuß«, heute ist das Sensorium für die Wichtigkeit und Bedeutung der Kunst weitgehend aus dem gesellschaftlichen Konsens verschwunden. Kunst wird meist nicht mehr als eine sinnstiftende Kraft empfunden, sondern nur noch als ein mehr oder minder kostspieliges Ornament, das über den Verlust des kulturellen Bewußtseins hinwegtäuschen soll – wenn man denn überhaupt bereit ist, ihr noch irgendeine gesellschaftlich relevante Rolle zuzubilligen. Umso wichtiger ist es, immer wieder mit Nachdruck auf diese prekäre Situation und ihre absehbar verheerenden Folgen hinzuweisen und die Bedeutung der Kunst für die menschliche Existenz in Erinnerung zu rufen.

Nikolaus Harnoncourt ist hier ein leidenschaftlicher und tief besorgter Mahner. Im nunmehr vorliegenden dritten Band seiner Gespräche mit Kulturjournalisten geht es ihm immer wieder um das »Mensch-Sein durch den Musenkuß«, ohne den die Menschheit, getrieben vom bloßen Nützlichkeitsdenken, vollends zu einer Gesellschaft von egozentrischen und gefühlsunfähigen »Wölfen und Bestien« werden müßte. Er warnt nachdrücklich vor der Austrocknung des Phantastischen in den staatlichen Bildungssystemen, die der Erziehung zur Kunst kaum noch Raum geben und die musischen Begabungen unter einem Ballast »nützlichen« Wissens ersticken. In der Förderung von Kunstverständnis und Kunstempfinden in allen Gesellschaftsschichten sieht er eine der wichtigsten Aufgaben der Kulturpolitik, eine Aufgabe, deren Erfüllung er als Menschenrecht für alle einfordert.

In seinen Interpretationen geht es Nikolaus Harnoncourt immer um die ganze Musik; Spezialistentum lehnt er ab. Dabei betont er, daß jede Generation und jede Zeit die bedeutenden Schöpfungen der Kunst zur Entfaltung der eigenen kulturellen Identität braucht, als Anregung für immer neue Blickwinkel und Bezugspunkte der Phantasie und der emotionalen Entwicklung. Denn der geistige Gehalt von Meisterwerken kann – selbst im fruchtbarsten Zusammenwirken von Intuition und Wissen – immer nur in Annäherungen erkannt werden.

In diesem Sinne macht Nikolaus Harnoncourt in einem Rückblick auf sein Lebenswerk für Interpreten wie aufnahmebereite Hörer deutlich: nicht selbstzufriedenes Genießen, sondern lebenslange Arbeit ist notwendig, um auf die Frage nach dem Bleibenden in der Kunst mit Robert Musil antworten zu können: Wir, als Veränderte, bleiben.

J. F.

Teil I

Kunst berührt

Gesprächspartnerinnen: Helga Leiprecht und Camille Schlosser

Erstveröffentlichung: Kunstmagazin DU, Mai 2004

Herr Harnoncourt, welchen Stellenwert muß Kunst Ihrer Meinung nach haben?

Meiner Meinung nach ist es wichtig, ja lebenswichtig, daß sich alle Leute mit Kunst beschäftigen. Der Grund, warum einem das eine oder das andere Kunstwerk gefällt, ist oft schwer zu nennen. Wenn man über ein Werk etwas weiß, dann ist der Zugang leichter.

In der Musik kenne ich das Vokabular. Es ist mir klar, daß jede Kunst im Grunde eine Sprache ist. Bei der Musik ist die Sprachverwandtschaft am evidentesten. Man nimmt die Musik mit dem Ohr wahr, und die Ähnlichkeit geht bis in die Syntax, in die Grammatik. Aber auch ein Bild liest man. Es ist nur eine komplexere Art von Sprache. Wenn ich ein Bild vor mir habe, werde ich gezwungen, irgendwo anzufangen. Ein Rechtshänder beginnt ein Bild anders anzuschauen als ein Linkshänder. Weil er die Körperbewegung und die Augenbewegung anders koordiniert. Die Frage der Gleichzeitigkeit oder des Nacheinander-Abtastens stellt sich. Der Mensch ist ja kein Fotoapparat.

Wie betrachten Sie ein Kunstwerk? Gibt es da eine bestimmte Herangehensweise?

Ich habe zuerst einen allgemeinen Eindruck, und der bringt mich dazu, irgendwo anzufangen. Maler haben ihre Technik, bewußt oder intuitiv, um einen Betrachter durch das Bild zu führen. Ein Bild ist ein Labyrinth, durch das man mit großer Raffinesse geführt wird. Wenn ich bei Kunsthistorikern lese, in diesem Bild seien hier Diagonalen und da Dreiecke, bestätigt mich das in der Meinung, daß hinter allem, was schön ist, eine Struktur liegt.

Möglicherweise gilt das auch für die Betrachtung der Natur. Denn auch die Natur kann ich ja nur schön finden, wenn ich sie interpretiere. Die Natur als solche kann nie schön sein. Warum soll sie schön sein? Sie ist Chaos, sie ist wild, alles wächst da, wo es wachsen will. Erst einmal hat man Angst vor ihr, weil man sie nicht beherrschen kann. Die Kultur, die Zeit, in der man lebt, prägt den Zugang zur Natur.

Sie haben uns ja Kunstwerke aus verschiedenen Epochen als Ihre Lieblingswerke vorgeschlagen.

Heute blickt man in die Vergangenheit. Aber wer in der Zeit des Barock eine gotische Kirche angeschaut hat, hat sie furchtbar häßlich gefunden, und wahrscheinlich hat man nur zu wenig Geld gehabt, um sie abzureißen. Es war normal, das Vergangene abzulehnen. Warum hat man ganze Altstädte niedergerissen? Die Beschreibung der großen gotischen Bauwerke in der nachgotischen Zeit ist lange ausschließlich negativ. Der Rückblick ist das Spezifikum unserer Zeit. Wenn Sie eine Liste, wie sie Sie von mir erbeten haben, von einem Komponisten aus dem 16. Jahrhundert bekommen hätten, hätte der nur zeitgenössische Kunst genannt.

Sie haben nur klassische Kunst genannt.

Eine schrittweise Entwicklung führte zu dieser Umkehrung. Zur Zeit Mozarts hat man eigentlich nur zeitgenössische Musik gespielt. Händel war damals gerade zwanzig Jahre tot und kam den Zeitgenossen Mozarts uralt vor. Als Mozart Händel aufführte, hat er ihn zuerst umgeschrieben. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Händels Musik so aufzuführen, wie dieser sie geschrieben hatte. Man dachte, da gehört noch diese, da gehört noch jene Harmonie hinzu. Trotzdem war man der Meinung, Händel zu spielen.

Die Symphonien von Beethoven und ein paar Opern von Mozart waren die ersten Werke, die durchgehend bis heute gespielt wurden. Diese Musik war so offen, daß sie von jeder Generation neu gedeutet werden konnte. Mittlerweile hat sich die Einstellung zur Vergangenheit so stark verändert, daß ein zeitgenössisches Werk viel exotischer anmutet als ein älteres. Die Synchronizität von Kultur und Leben ist kaputt. Das ist ein Defekt. Das ist nicht natürlich. Die Kunst hat eine Seismographenaufgabe. Sie sagt, wie es heute ist. Seit einigen Generationen scheint die Bereitschaft, in den Spiegel zu schauen, immer geringer zu werden.

Sie haben als neuestes Werk ein Bild von Mark Rothko ausgewählt.

Ich stehe ja auch mitten in diesem Prozeß. Ich bin nicht in der Lage zu sagen, das sind die großen Künstler der Gegenwart. Möglicherweise könnte das ja auch ein Biochemiker sein. Aber ich bewundere Künstler, die, obwohl sie nicht wirklich akzeptiert sind, unbeirrt weitermachen. Wie wenn sie in den Nebel hinein eine Brücke bauen würden.

Wie kamen Sie auf Rothko?

Ich bin ein Kriegskind. Als der Krieg zu Ende war, war ich 15. Mir war klar, daß die Nazis die abstrakte Kunst abgelehnt hatten. Ich hatte eine Ahnung, daß es einen Picasso gibt, aber viel mehr als eine Ahnung war es nicht. Es gibt also eine große Lücke in meiner wichtigsten Entwicklungszeit. Aber ich hatte Glück. Der Bruder meines Vaters war einer der Gründer des Museum of Modern Art und später dort Direktor. 1956 ist er mit dem MoMA nach Wien gekommen. Mein Onkel schaute die Ausstellung mit mir an. Da war dieses eine riesige Bild von Rothko, schwarz, sechs Meter breit, drei, vier Meter hoch, ganz schwarz und ein ganz schmaler gelber Rand oben. Ich habe mir das Bild dann genauer angesehen und gesehen, das ist nicht schwarz. Schwarz ist nicht schwarz. Die totale Schwärze ist ja ein Loch. Das ist ja keine Wand. Später, bei anderen Bildern, habe ich dann gesehen, daß diese Bilder immer eine Annäherung an Farbe sind. An verschiedene Farben.

Bei dieser Ausstellung habe ich etwas gesehen, von dem ich nicht wußte, daß es das gab. Keines der Werke älter als zehn Jahre. Ich bin von einem Schrecken und einer Erschütterung und auch von einer freudigen Erregung in die andere gefallen. Rothko war eine Initialzündung nach dieser Zeit der Beengung, und die Begegnung war entsprechend stark.

Trotz der fehlenden Erziehung haben Sie die Kraft des Bildes gespürt.

Das habe ich meinem Onkel zu verdanken. Ich habe ihm vertraut und bin mit diesem Grundvertrauen in die Ausstellung gegangen.

Neben Rothko haben Sie Jan Breughel als einen Ihrer Lieblingskünstler genannt.

Breughel hat eine unglaubliche Bandbreite an Themen, und es gibt Bilder, bei denen sehr viele Elemente ineinandergreifen. Zum Beispiel eine Landschaft mit einer Figurengruppe – die Figuren hat oft jemand anderer gemalt, Breughel hat mit sehr guten anderen Malern zusammengearbeitet. Und dann hängen da ganz unrealistisch Blumengirlanden in den Bäumen. Die wären maßstäblich riesenhaft, zig Meter groß.

Wie Breughel Landschaft sieht, ist großartig – aber auch wie er einen Blumenstrauß malt. Jede Blume hat ihre Symbolik. Und wenn er Blumen zusammenbringt, die in der Wirklichkeit gar nicht in einem Strauß zusammengebunden sein können, weil sie zu verschiedenen Jahreszeiten wachsen, dann will er etwas ganz Bestimmtes sagen. Wir sehen das heute als Dekoration, wir sehen, daß das wunderbar gemalt ist. Aber es ist ja viel mehr. Er gibt ein großes Paket von Inhalten dazu. Ich kann das nicht konkretisieren. Aber ich spüre es, und im Einzelfall gehe ich dem nach. Ich spreche nicht als Kunsthistoriker, sondern als leidenschaftlicher Betrachter. Ich kann den Kunsthistoriker um Hilfe bitten, aber dann muß ich ihn wieder wegschicken, weil er mir das Bild zu sehr seziert.

Ich glaube, der Künstler versucht, den Betrachter zu erschüttern, zu bewegen, aus der Ruhe zu bringen. Die Frage, was ist modern, erübrigt sich dann, denn große Kunst ist immer modern. Sie trifft das Problem, um das es geht, und die Dinge, um die die Menschen ringen, scheinen sich über die Jahrtausende nicht so sehr zu verändern.

Aber um das zu erkennen, braucht man Werkzeuge.

Ja, und es ist unzumutbar, daß jeder Mensch sie sich selbst erwerben muß. Das Schulsystem muß so sein, daß mindestens die Hälfte auf Sprache und Empfindung ausgelegt sein muß. Unser Schulsystem ist ein Ausbildungssystem, wo nützliche Werktätige herangebildet werden. Ein so großer Naturwissenschaftler wie Blaise Pascal hat gesagt, es gibt zwei Arten des Denkens, la raison arithmetique, das logische Denken, und la raison du cœur, das Denken des Herzens. Beide müssen in einem Menschen gleich ausgebildet sein, und die Sprache der raison du cœur ist die Kunst.

Und wo in Ihrem Herzen trifft Sie Piero della Francesca?

Piero della Francesca ist, wie in der Musik Bruckner, mit nichts zu vergleichen. Ich kann nicht sagen, Piero della Francesca führt zu Caravaggio oder er kommt von den Brüdern van Eyck. Ich weiß nicht, wo er herkommt, und ich weiß nicht, wo er hingeht. Ein Engel muß ihm den Pinsel geführt haben. Breughel kann ich situieren, es gibt Parallelkünstler, die ähnlich gearbeitet haben. Aber bei Piero della Francesca kenne ich keine Parallelen, von der Porträtkunst angefangen. Seine Porträts sind gleichzeitig leblos und doch unglaublich real, man will ihnen die Schuppen von der Haut kratzen. Und gleichzeitig sind sie völlig unpersönlich. Da ist nicht mehr der Herr Soundso und nur er, sondern dieser konkrete Mensch ist zugleich eine Symbolfigur. Das gilt auch für den Raum, er ist realistisch und gleichzeitig künstlicher als alles andere. Das kann ich nicht erklären.

Aber es berührt Sie?

Es drückt mich. Jan Breughel berührt mich im Herzen. Aber Piero della Francesca ist ein Donnerschlag. Das, was wir unter Herz verstehen, ist nicht das, was ich hier meine. Die Kunst geht uns unter die Haut, sie trifft uns auf jeder empfänglichen Stelle, und er trifft eine ganz andere Stelle als Breughel.

Und in welchem Verhältnis dazu steht Caspar David Friedrich für Sie?

In meiner Familie wurde viel über Biedermeier gesprochen, und ich sehe meine Großmutter an einem Schreibtisch, natürlich ist das ein Biedermeierschreibtisch. Sofort habe ich das Gefühl, es ist 1830, es gibt lauter nette Familien und viele Kinder. Dann lese ich E. T. A. Hoffmann, das ist auch Biedermeier, und ich lese Theaterstücke über die Genoveva von Tieck und von Hebbel, Biedermeiertheater. Da ändert sich das Bild. Das Biedermeier wird komplexer. Niemand traute sich, diese Stücke aufzuführen. Man spielte immer nur den Kater Murr. Der exemplarische Maler des Biedermeier ist Caspar David Friedrich. In der Schule, mit 16, 17 Jahren hatte ich einen Religionslehrer, der immer Eins-zu-Eins-Reproduktionen in den Unterricht brachte. Wenn er Bilder von Caspar David Friedrich gebracht hat, dann waren das gar keine lieblichen Bilder.

Meine persönliche Auseinandersetzung mit dem Biedermeier hat mir gezeigt, daß es alles ist, nur nicht Bieder und Meier. Das sogenannte Biedermeier, das ist vorweggenommener Freud, beziehungsweise ist Freud verspätetes Biedermeier, denn er beschreibt etwas, was wir 80 Jahre vorher hätten verstehen müssen. Ich würde mir gerne ein Biedermeierzimmer einrichten, mit lauter Möbeln, von denen man nicht weiß, wo oben und unten ist, und mit Sesseln, die Schlangenfüße haben. Das Biedermeier hat immer einen doppelten Boden. Sogar einen zweiten Namen haben sich die Menschen gegeben. Sie waren alle Doppelgänger von sich selbst.

Der letzte Künstler, den Sie nennen, ist Bernini.

Alles, was Bernini gemacht hat, ist sehr interessant, angefangen bei seinen eßbaren Tischskulpturen. Das waren seine kühnsten Skulpturen. Er hat sie aus Gelatine und Marzipan entworfen, Skulpturen, die er aus Stein nie hätte realisieren können. Er ist technisch immer über die Grenzen des Machbaren hinausgegangen. Das ist für mich Barock. Wenn ich Bernini sehe, dann sehe ich Skulpturen, für die man heute Millionenbeträge ausgeben würde. Damals sagte man: »toll« – und man hat sie aufgegessen. Aber es gibt ja Gott sei Dank auch genügend Sachen, die man nicht aufessen konnte. Hören Sie dazu den alten Corelli und den jungen Händel. Das paßt zwar nicht ganz genau zur Zeit, aber es geht ums gleiche. Das ist für mich heiße mediterrane Katholizität. Ganz unaggressiv. Da sind wir nördlichen Menschen alle nur neidisch.

Musik entsteht überall, wo Menschen sind

Gesprächspartner: Mathias Plüss

Erstveröffentlichung: Das Magazin Nr. 7, Februar 2014

Herr Harnoncourt, Sie machen seit achtzig Jahren Musik. Was ist Musik?

Über diese Frage habe ich ein Leben lang nachgedacht. Und bin zu keinem Resultat gekommen. Musik ist, wie jede Kunst, für mich ein unerklärbares Rätsel.

Warum?

Es beginnt schon damit, daß es keine Kultur ohne Musik gibt – von den Eskimos bis zu den heißesten Gegenden Afrikas. Auch sehr isolierte Völker haben Musik. Das heißt, Musik entsteht überall, wo Menschen sind. Das ist doch ziemlich rätselhaft. Es gibt auch keine Kultur ohne Dichtung. Und es gibt keine Kultur ohne Bildende Kunst.

Aber eine Besonderheit hat die Musik: Sie kann unglaublich emotional wirken.

Das ist schon merkwürdig. Vielleicht kennen Sie diese Situation: ein Todesfall in der Familie. Bei der Trauerfeier sind alle beherrscht, weil man in unserer Kultur nicht öffentlich weint.

Es ziemt sich nicht.

Meine Mutter hat einmal in der Kirche zu einem meiner Brüder gesagt, der weinen mußte: »Disziplin, mein Bub!« Auf einer Trauerfeier! Also stellen Sie sich eine Gruppe Trauernder vor, sehr gefaßt, man spricht über den Toten, was für ein wunderbarer Zeitgenosse er war, und dann setzt Musik ein, vielleicht ein Streichquartett oder ein kleiner Chor. Es geht keine zwei Takte, und mit der Beherrschung ist es vorbei, alle beginnen zu weinen. Das kann nur Musik.

Wieso kann sie es?

Offenbar hat sie direkten Zugang zu den Emotionen, sie öffnet die Schleusen. Aber es bleibt ein Rätsel.

Gibt es Musik auch bei den Tieren?

Nein. Tiere haben keine Kunst – das ist gerade der entscheidende Unterschied zwischen dem Menschen und jeder anderen Kreatur. Die Kunst macht uns von reinen Zweckwesen zu empfindenden Geschöpfen.

Was ist mit dem Gesang der Vögel? Ist das keine Kunst?

Die Forscher versuchen immer wieder, irgendwelche tierischen Laute in die Nähe von menschlichen Äußerungen zu rücken. Da ist aber immer ein Pferdefuß drin. Ich habe noch nie eine überzeugende Begründung einer nichtmenschlichen Kunsterzeugung gehört. Das Vogelgezwitscher oder das Schmücken eines Tieres, das ist Balzverhalten. Das hat einen Zweck.

Und die Kunst hat keinen Zweck?

Nein. Die Kunst ist der Gegenpol zur Ratio. Es gibt keine rationale Begründung, warum wir singen, malen, dichten. Würde ich etwa sagen »Hol mir eine Semmel!« – das hätte einen Zweck, das kann auch ein Affe. Wenn ich aber sage »Über allen Gipfeln ist Ruh«, dann ist das vollkommen zwecklos. Dafür gibt mir niemand etwas. Und es ist auch kein Balzruf. Aber es drückt etwas aus, das ich immer gefühlt haben könnte.

Ist es etwas Übernatürliches?

Ich habe es einmal so formuliert: Die Kunst ist die Sprache des Unsagbaren. Sie ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet.

Aber die Kunst ist auch etwas Menschliches.

Die Kunst ist eine unverzichtbare Säule des Menschseins. Die zweite Säule, die auch dazugehört, ist die Ratio. Es braucht beides. Am besten hat es für mich der Philosoph Blaise Pascal ausgedrückt: Er sprach von der raison arithmétique, also dem logischen Denken, dem er die raison du cœur gegenüberstellte, das Denken des Herzens.

Das Herz kann denken?

Dieses Denken überspringt die Stufen der Logik – da kommt das Resultat manchmal vor der Kette, die zu ihm hinführt. Ich verwende gern noch ein anderes Bild: der Hammer und die Geige. Der Hammer ist das Gerät, mit dem ich eine Nuß aufknacke. Das ist zweckhaft, das kann auch ein Tier. Für mich ist letztlich auch der Computer nichts anderes als ein Hammer. Und die Geige steht für das Künstlerische, für das Phantastische, für das Emotionale. Ich bin überzeugt, daß für den Menschen beide Ausdrucksweisen gleich wichtig sind. Doch in unserer Zeit wird alles weggeschoben, was nicht zweckhaft ist. Es dominiert der Hammer. So wird der Mensch zu einem rein biologischen Wesen degradiert.

Woran machen Sie das fest?

An den Lehrplänen etwa. Da werden die Fächer auf ihre Verwertbarkeit hin abgeklopft, und alles Zwecklose gilt als unnötiger Zierat. Die Schulen setzen auf Ausbildung statt auf Bildung. Für mich ist es absolut notwendig, daß jeder Mensch von klein auf mit Musik und mit Bildender Kunst vertraut gemacht wird.

Der Musikunterricht erlebt doch gerade einen Boom. In der Schweiz steht die Jugendmusikförderung seit kurzem sogar in der Verfassung.

Wissen Sie, warum? Weil es heißt, wer Musik gut lernt, ist besser in Mathematik. Der Grund für das Musikmachen ist die Mathematik! Das finde ich wirklich schlimm, das ist zum Weinen!

Hat die Musik, neben dem Emotionalen, nicht auch eine rationale Seite?

Gewiß. Einer der Ursprünge der Musik ist die Kriegsmusik, und die will zwei Dinge: den Kämpfer ermutigen und den Gegner erschrecken. Ihre Stilmittel kommen auch in der normalen Musik zum Einsatz. Zum Beispiel als Triumphmusik, wenn der Sturz eines Tyrannen dargestellt wird.

Spielen Sie jetzt auf Beethovens berühmte 5. Symphonie an? Sie haben deren Botschaft einmal als »Überwindung von Knechtschaft« gedeutet.

Man findet in diesem Werk tatsächlich diese Stilmittel: Ermutigung und Erschreckung. Und es ist schon sehr auffällig, daß die Symphonie, die ja eigentlich in c-Moll komponiert ist, in einem so strahlenden C-Dur endet.

Auch das unzimperliche Anfangsmotiv der Symphonie (»Tata-ta-tooo!«) ist sehr auffällig. Es gibt zahlreiche Deutungen dafür – vom Schicksal, das an die Türe pocht, bis zu Beethovens Haushälterin, die von nebenan mit dem Besenstiel an die Wand klopft.

Ich sehe es als Körpergeste: der Versklavte, der an seinen Ketten rüttelt.

Kann man das so konkret sagen?

In diesem Fall ist es für mich zwingend, weil Beethoven einen ganzen Satz darauf aufbaut, mit immer neuen Reaktionen auf dieses Rütteln. Aber Sie haben schon recht, im allgemeinen ist es gefährlich, wenn man in textlose Musik zu viel hineindeutet. Das Unerklärliche soll unerklärlich bleiben. Bis auf einige Dinge, die unmißverständlich sind.

Was zum Beispiel?

Strenge ist unmißverständlich. Trauer ist unmißverständlich. Vielleicht noch ein bißchen mehr: Jetzt geht es um Leben und Tod. Oder: Jetzt würgt es einen am Hals. Das sind uralte Gefühlsmuster. Es ist interessant, daß die großen, entscheidenden Emotionen über die Jahrtausende dieselben geblieben sind.

Und trotzdem hat sich die Kunst, die diese Emotionen ausdrückt, ständig gewandelt.

Jede Zeichensprache nützt sich ab. Hierin ist die Kunst ähnlich wie die Mode. Der Rhythmus der Veränderung ist ungefähr der Generationenwechsel, und oft gehen die Ausschläge pendelartig hin und wieder zurück. Ich erinnere mich, daß meine Eltern alles verkehrt und komisch gefunden haben, was dreißig Jahre früher war. Und mir ist völlig klar, daß die Leute in dreißig Jahren lächerlich finden werden, was ich heute mache.

Warum ist das so?

Es muß immer wieder alles neu gesagt werden. Ein Wort, so entscheidend es ist, verliert seine Würze, wenn es zu oft wiederholt wird, es packt nicht mehr. Beethoven wurde noch das ganze 19. Jahrhundert als Wilder gesehen, als Zerstörer des Bisherigen. Er war eine Explosion. Ich habe als Cellist im Orchester zahlreiche Beethoven-Zyklen gespielt, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, und es war praktisch nichts mehr davon zu spüren. Das Wilde war zum Erhabenen geworden, das Explosive wurde glattgebügelt. Das heißt, man hat Beethoven total verfälscht. Man hört ihn sich jetzt an.

Und das ist schlecht?

Wenn ich einer Musik zum ersten Mal begegne, dann höre ich sie mir doch nicht an, sondern sie bricht über mich herein! Beethoven ist zum Kulturbesitz geworden. Und wenn eine Musik sich durchsetzt, dann hat sie nichts mehr zu sagen.

Kann man denn der Musik ihre ursprüngliche Wirkung zurückgeben?

Das versuche ich ja. Ich habe kürzlich in Wien zwei Beethoven-Symphonien aufgeführt, zum ersten Mal mit meinem Ensemble Concentus Musicus.

Mit historischen Instrumenten?

Ja. Die modernen Instrumente haben ja viel zu dieser Glättung beigetragen – darum nehme ich Instrumente, wie Beethoven sie hatte. Und vor dem Konzert habe ich ein paar Worte ans Publikum gerichtet. Ich habe gesagt, ich möchte nicht die Bemühungen der anderen schlechtmachen. Aber ich möchte darauf hinweisen, daß diese Musik eine Explosion war. Und ich habe nichts dagegen, wenn man sie jetzt wieder so empfindet und sie gar nicht nur positiv sieht.

Sie haben auch mal gesagt, wenn man am Bügeln ist, und eine Aufnahme von Ihnen kommt im Radio, dann muß das Bügeleisen die Kleider durchbrennen.

Man soll ruhig einen Schrecken davon bekommen.

Ist es nicht trotzdem etwas seltsam, die Musik einer längst vergangenen Zeit aufzuführen?

Das ist ja mein großes Problem. Das Normale ist, daß man die Kunst der Vergangenheit vergangen sein läßt. Man hat das Neue stets für wichtiger befunden als das Alte. Beethoven war der erste Komponist, der durchgehend aufgeführt wurde. Trotzdem war auch Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Bruckner-Symphonie wichtiger als die Wiederholung einer Beethoven-Symphonie. Aber heute ist die Wiederholung eines Werks von Mozart hundertmal wichtiger als ein soeben komponiertes Stück. Wir sind nicht mehr synchron mit dem, was produziert wird.

Wie ist es dazu gekommen?

Das ist eine ganz komplizierte Frage. Die Antwort hat, glaube ich, mit der Reformation zu tun.

Mit der Reformation? Die war im 16. Jahrhundert. Und bis ins 19. Jahrhundert hat man noch aktuelle Musik gespielt.

Es ging nicht auf einen Schlag, das war ein Millimetervorgang. Namhafte Kulturhistoriker wie Egon Friedell haben für mich plausibel erklärt, daß durch die Reformation nach und nach das rationale Denken, ja der Geschäftsgeist immer breiteren Raum einnahmen und das Phantastische verdrängten. Die zunehmende Ungleichgewichtung der beiden Pascal’schen Denkweisen sehe ich als schleichende Krankheit, die erst im 19. und 20. Jahrhundert so richtig zum Ausdruck gekommen ist. Und die Kunst ist ja stets ein Spiegel der geistigen Entwicklung. Daß die neueste klassische Musik mich nicht umtreibt, ist für mich ein Symptom dieser Krankheit.

Würden Sie heute aktuelle Musik spielen, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre?

Natürlich. Meine Grenze liegt leider ungefähr bei 1935, bei Gershwin, Strawinsky, Bartók, Alban Berg. Ich wäre nicht in der Lage, Musik von 1980 zu spielen. Das kann man mir zum Vorwurf machen, und ich kann mich nicht dagegen wehren. Aber ich betrachte das, was ich tue, als meine Aufgabe.

Warum gibt es eigentlich so große Unterschiede in der Komponistendichte? Die Schweiz hat keinen einzigen wirklich großen Komponisten hervorgebracht. Hat das etwa auch mit der Reformation zu tun?

Es wäre zumindest denkbar. Es fällt zum Beispiel auf, daß Holland bis ins 16. Jahrhundert tolle Komponisten gehabt hat und nachher nicht mehr. Auch England hatte unglaubliche Komponisten, aber dann wurden alle umgebracht oder verjagt, die nicht Anglikaner werden wollten. Mit Ausnahme von Henry Purcell war England ab Mitte des 16. Jahrhunderts richtig ausgetrocknet. Darum haben sie sich dann den Händel geholt und später den Haydn und den Weber.

Umgekehrt gab es Orte mit unerklärlich vielen guten Komponisten, beispielsweise Wien.

Gut, aber das hängt damit zusammen, daß Wien ein richtiger Schmelztiegel war. Die Monarchie ging ja weit in den Süden und in den Osten hinein. Sehr viele sind von auswärts gekommen, Italiener, Kroaten, Slowenen, Tschechen, Ukrainer, Ostjuden, Ungarn, das hat sich gegenseitig wahnsinnig befruchtet.

Auch in Ihrer Familie gab es diese verschiedenen Stränge.

Ich hatte eine tschechische und eine ungarische Großmutter. Mein Vater hat genauso gut Tschechisch gesprochen wie Deutsch. Und meine Mutter hat so gut Ungarisch gesprochen wie Deutsch. Es war für sie selbstverständlich, daß sie auf Ungarisch betete.

Sie haben vorhin von der allerneusten Musik gesprochen. Sind nicht der Jazz und der Pop die Musik unserer Zeit?

Das ist eine viel zu enge Sicht. Wenn wir von Jazzmusik sprechen, dann sind wir in den Südstaaten der USA, und es geht um die Sklavenbefreiung. Es ist, wie wenn ich im verbalen Bereich sagte: Diese Bewegungen der jungen Menschen (Anm.: Er wischt mit dem Zeigefinger wie auf einem Smartphone), das ist die Sprache unserer Zeit.

Das ist sie vielleicht auch.

Vielleicht. Es ist jedenfalls eine Sprache, mit der wir aus der Zeit gefallenen Menschen nichts mehr anfangen können. Ich habe Enkelkinder und auch schon Urenkel, und wenn ich mit denen spreche, sind sie oft sehr überrascht über meine Denk- und Lebensweise.

Und was ist Ihre Denk- und Lebensweise?

Das kann ich gar nicht sagen, ich kann ja nicht aus meinen Schuhen heraus. Ich bin 1929 geboren, und wahrscheinlich bin ich geprägt durch die Nazizeit und den Krieg. Und vom Sich-daraus-befreien-Müssen. Die ganze zweite Jahrhunderthälfte ist für mich eine Befreiung. Schon für meine Kinder ist das fast nicht mehr existent, für die Enkel überhaupt nicht.

Sie haben sich jetzt als »aus der Zeit gefallen« bezeichnet. Aber umgekehrt, was das Musikalische betrifft, die Aufführungspraxis, da waren und sind Sie ja an der Spitze der Entwicklung dabei und haben sehr viel angestoßen.

Ich weiß nicht, was das ist: Ich werde nicht alt! Das ist mein Gefühl. Eigentlich gehöre ich ja ins Altenteil. Ein Bauer würde sagen: So, jetzt will ich den Hof übernehmen, und der Vater soll ins Nebengebäude ziehen, wir versorgen ihn gut.

Ins Stöckli, wie man in der Schweiz sagt.

Ja genau, ins Stöckli. Aber ich gehöre nicht dorthin. Und ich werde von den Jungen nicht dorthin gestellt. Ich habe auch nicht das Gefühl: So, und jetzt macht ihr weiter! Sondern ich habe das Gefühl: Wieso macht ihr nicht weiter? Und ich selber bin eigentlich immer noch nur an dem interessiert, was ich noch nicht gemacht habe.

Es ist schon paradox: Ein 84-Jähriger zeigt den Leuten, wie wild Alte Musik sein kann. Sie wirken auch immer noch fast jugendlich bei Ihren Auftritten.

Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich bin zugleich auch ganz müde.

Machen Sie noch viele Konzerte?

Ich habe viel abgebaut. Gerade jetzt, wo wir sprechen, müßte ich in Berlin sein. Bei meinem letzten Konzert mit den Berliner Philharmonikern, wo ihnen klar war, es würde das letzte sein, sind nachher die Musiker einzeln zu mir gekommen und haben gesagt, ich solle wiederkommen. Das war so rührend, daß ich zugesagt habe. Dann habe ich gemerkt, es ist zu viel, die Konzerte in Wien und dann gleich nach Berlin, das schaff’ ich nicht.

Eines verstehe ich nicht: Sie haben mit Ihrer Art und mit Ihrem Zugang zur Musik ungeheuren Erfolg. Und das in einer Gesellschaft, um die es aus Ihrer Sicht schlecht bestellt ist. Wie bringen Sie das zusammen?

Das bringe ich sehr schwer zusammen. Ich habe meiner Frau immer gesagt, ich empfinde mich als den meistüberschätzten Musiker überhaupt.

Alice Harnoncourt: Ich widerspreche!

Nikolaus Harnoncourt: Daß ich das gesagt habe?

Alice Harnoncourt: Nein, der Aussage. Du bist nicht überschätzt.

Nikolaus Harnoncourt: Ich sage das, weil ich es viel lieber hätte, wenn es einen ganzen Strom gäbe, der in die gleiche Richtung geht wie ich.

Aber in einem großen Strom würden Sie nicht mehr so auffallen.

Eben. Darum sage ich, ich sei überschätzt.

Es ist schwer vorstellbar, daß ein Nikolaus Harnoncourt in einem Strom mitschwämme.

Ob ich dann nicht vielleicht doch wieder in eine andere Richtung ginge? Ich weiß es nicht.

1969 haben Sie Ihre Stelle als Cellist bei den Wiener Symphonikern aufgegeben, die Sie siebzehn Jahre innegehabt hatten. Aus Protest gegen die Art und Weise, wie die g-Moll-Symphonie von Mozart gespielt wurde.

Das war der letzte Schubs, ja.

Was hat Sie an den Aufführungen gestört?

Das ist eine Todesmusik, g-Moll ist die Todestonart. Zu Mozarts Zeit galt diese Musik noch als unzumutbar, weil zu aufwühlend.

Und zu Ihrer Zeit gab es diese »leicht schlürfbaren« Aufführungen, wie Sie einmal gesagt haben.

Das Schlimmste war das Publikum. Der Dirigent gibt den Einsatz, darali-darali-diradadam, und schon beginnen die Leute selig zu lächeln und wiegen noch mit dem Kopf dazu. Da spielen wir ein Todesstück, und das Publikum lächelt, als würde es eine Schokoladencreme serviert bekommen. Ein paar Jahre lang konnte ich das noch entschuldigen, weil die Leute nach dem Krieg ein Bedürfnis nach Harmonie und Schönheit hatten. Die gingen über Berge von Ruinen zu den Konzerten und mußten dauernd Menschen in die Augen schauen, die schrecklichste Untaten begangen hatten. Da gab es diese Haltung: Der Mozart kommt aus dem Himmel und schreibt göttliche Musik, um uns zu trösten. Das kann ich verstehen. Aber irgendwann habe ich’s nicht mehr ausgehalten.

Sie selber hatten das Bedürfnis nach Harmonie nicht?

Ich hatte vor allem das Bedürfnis nach Klarheit. Die Nachkriegszeit habe ich als eine große Verschleierung erlebt. Ich war von vielen Leuten umgeben, die vielleicht nur zwei Jahre älter waren und denen ich nicht die Hand geben konnte. Das allgemeine Bestreben war, alles möglichst ungeschehen zu machen.

1945 waren Sie fünfzehn. Sie haben auch Glück gehabt.

Nicht nur. Das Ausseerland, wo ich im letzten Kriegsjahr lebte, war eine Hochburg der SS. Da hätte mir alles Mögliche drohen können. Weil ich auf keinen Fall zur SS wollte, habe ich mich freiwillig zur Marine gemeldet. So konnte ich im Notfall meine abgestempelte freiwillige Meldung vorweisen.

Sie haben immer betont, Sie seien kein Rebell gewesen, auch in der Musik nicht. Ich finde aber, das Widerständische ist schon ein Persönlichkeitszug von Ihnen. Sie sind von Anfang an Ihren sehr eigenen Weg gegangen.

Ich habe immer alles angezweifelt, schon als Kind. Ich konnte nicht »Jawoll« sagen, wenn es die Nazis verlangten. Meine Mutter erzählte, mein erstes Wort sei »Nein« gewesen. Und zwar so (wendet den Kopf hin und her): »Nein-nein, Nein-nein«, das habe ich vor mich hingesungen. Das war schon ein charakterisierender Akkord für mein künftiges Wesen.

Später haben Sie sich, es ist schwer zu glauben, den Kniereflex abtrainiert. Wie ging das?

Das war keine Absicht. Absicht war, den Zorn wegzukriegen.

Den Zorn?

Den habe ich von meiner Mutter. Sie muß ein Wahnsinnskind gewesen sein. Wenn sie von ihrem Vater geprügelt wurde, hat sie nur gelacht. Als einmal die Klavierlehrerin kam, die sie nicht mochte, hat sie sich im zweiten Stock ins Fenster gestellt und gesagt: Wenn ich das jetzt spielen muß, dann springe ich da runter.

Und Sie waren auch so?

Ich hatte das Gefühl, ich werde auch so. Ich habe brüllen können vor Zorn. Mit neun oder zehn Jahren bekam ich Angst, ich würde im Zorn etwas tun, was ich nachher bereue, wie ein Betrunkener. Ich habe dann ein Buch entdeckt von einem ungarischen Erziehungswissenschaftler, da war eine beinharte Selbsterziehung drin. Und das habe ich tatsächlich gemacht.

Eine Art Selbstdisziplinierung?

Ja. Und ich hatte das Gefühl, das verändert mich wirklich. Als ich zwölf oder dreizehn war, hat mich ein homöopathischer Arzt untersucht. Er hat mit dem Silberhämmerchen auf meine Knie geklopft und festgestellt, daß ich keinen Reflex habe. Er hat es auf diese Selbsterziehung zurückgeführt. Und es ist heute noch so: Sie können draufklopfen, so viel Sie wollen, da tut sich nichts.

Und der Zorn?

Ich kann mich beherrschen. Aber drei unserer Kinder sind zornig, das haben sie von mir.

Spüren Sie Ihren Zorn manchmal noch, oder ist er weg?

Er wird schon noch da sein. Aber er äußert sich als Leidenschaft.

Ihre Neigung zum Opponieren hat Sie später einmal um eine Stelle gebracht.

Als ich vom Orchester wegging, war ich an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien als Lehrer im Gespräch. Aber bei der Sitzung hat ein Professor einen Zeitungsartikel herausgezogen mit einem Interview mit mir, wo ich sage, das Wichtigste sei, daß man immer alles anzweifle. Und der Professor sagte, einem Menschen, der immer alles anzweifelt, können wir doch unsere Jugend nicht anvertrauen. Aber ein wenig später wurde ich dann nach Salzburg berufen. Die haben für mich sogar eine eigene Lehrkanzel geschaffen, obwohl ich nicht einmal ein abgeschlossenes Studium habe. Und dort bin ich zwanzig Jahre geblieben.

Sie sind immer Ihren eigenen Weg gegangen und trotzdem ganz oben angekommen.

Ich habe nie einen Promotor oder Manager gehabt. Niemand hat mich je angeboten. Ich habe nie einen Bewerbungsbrief geschrieben. Nie.

Und wieso hat es funktioniert?

Das ist mir einfach zugefallen. Als wir unser Ensemble gründeten, haben wir zuerst ein paar Jahre nur für uns geprobt. Dann haben andere Musiker gesagt, ihr müßt an die Öffentlichkeit gehen. Bald haben sich fast alle größeren Schallplattengesellschaften um uns gerissen. Und heute gibt es etwa fünfhundert Aufnahmen von uns. Das ist alles ohne mein Dazutun entstanden. Allerdings haben wir nie weniger als hundert Stunden die Woche gearbeitet.

Heute sind Sie ein Weltstar, und Sie leben hier fast ein wenig wie ein Aussteiger.

Dieses Haus haben wir vor vierzig Jahren erworben, als ich in Salzburg zu unterrichten begann. Ich habe eigentlich nur ein Zimmer gesucht, und dann hat’s geheißen, der alte Pfarrhof hier sei zu verkaufen. Ich bin hereingekommen und habe sofort gesagt: Das ist genau der Ort! Das hat Atmosphäre! Dann habe ich mir eine Luftmatratze besorgt und meine Frau angerufen, die in Wien war mit den Kindern. Ich habe ihr gesagt: Ich bleibe hier, ich komme nicht mehr nach Wien.

Auch die Gegend soll ja – man sieht sie (Anm.: wegen Nebel) im Moment leider kaum – sehr eindrücklich sein.

Das Besondere ist, daß der See direkt ins Hochgebirge reingeht, in eine der schroffsten Gegenden Österreichs. Ich liebe auch den Nebel, den wir hier im Herbst immer haben. Da ist man von allem abgeschlossen.

Das mögen Sie?

Ich finde es eine ganz wunderbare Sache, wenn ich aus dem Fenster schaue – und ich sehe überhaupt nichts. Ich bin ja ein Pessimist. Ich verstehe gar nicht, wie man etwas anderes als Pessimist sein kann. Und meine Frau ist eine genuine Optimistin. Nicht?

Alice Harnoncourt: Ja!

Und Sie mögen den Nebel nicht, Frau Harnoncourt?

Alice Harnoncourt: Nicht so. Ich habe gern Sonne.

Sie haben letztes Jahr Ihren 60. Hochzeitstag gefeiert.

Richtig. Am 27. Juni.

Diamantene Hochzeit – das ist doch eine Seltenheit. Sie waren praktisch nie getrennt in dieser Zeit. Auf Deutsch gibt es ja zwei Sprichwörter: Gleich und gleich gesellt sich gern. Und: Gegensätze ziehen sich an.

Alice Harnoncourt: Wir sind schon eher die Gegensätze.

Nikolaus Harnoncourt: Ob das gegangen wäre, wenn ich auch ein Optimist wäre oder wenn sie auch eine Pessimistin wäre – ich kann es mir nur schwer vorstellen.

Alice Harnoncourt: Etwas Wichtiges für uns war das gleiche berufliche Interesse, das hat sehr viel ausgemacht.

Gegensatz im Charakter, Gleichheit im Interesse?

Jemand, der überhaupt nicht an Musik interessiert ist, wäre von vornherein nicht in Frage gekommen. Ich kann mich erinnern, als wir geheiratet haben, war sie der Meinung, sie werde nicht mehr professionell Geige spielen. Sie war, wie zu jener Zeit üblich, darauf eingestellt, von nun an für Familie und Kinder da zu sein. Und nach einem Monat oder sechs Wochen mußte ich sie bitten, die Geige wieder hervorzuholen.

Wie gingen Sie mit Konflikten um?

Ein entscheidender Punkt war, daß es nie einen Zweifel gab: Wir wollen zusammenbleiben, es kommt gar nichts anderes in Frage. Nicht?

Alice Harnoncourt: Ja. Die Idee, uns scheiden zu lassen, war nie existent.

Nikolaus Harnoncourt: In unserer Verwandtschaft gab es so unglaublich viele Scheidungen nach relativ kurzer Zeit, da bekommt man den Eindruck, die Bewältigung eines Konfliktes sei gar nicht erstrebenswert. Für mich ist Streit nicht grundsätzlich etwas Negatives, sondern eine geistige Auseinandersetzung.

Auf dem Umschlag Ihrer Biographie gibt es ein Bild von Ihnen, wo Sie sich an einen Baum lehnen. Freunde von Ihnen sollen gesagt haben: Der Baum, das ist Alice.

Alice Harnoncourt: Ich habe schon früh versucht, ihm das Alltägliche wegzunehmen. Damit er sich auf die Musik konzentrieren kann. Darum bin ich für das Praktische zuständig.

Nikolaus Harnoncourt: Das hat bei mir teilweise zu vollkommener Hilflosigkeit geführt. Als Student war ich selbständig. Heute weiß ich nicht mal, wie viel ein Taxifahrer bekommt. Ich weiß auch nicht, wie viel ich für ein Konzert bekomme.

Ich habe mal gehört, Sie hätten gar nie Geld dabei?

Nein, ich habe kein Geld.

Alice Harnoncourt: Wenn wir uns einmal trennen, dann muß ich ihm sein Geld geben.

Sie sind aber noch nie verlorengegangen deswegen?

Nein, also verblödet bin ich noch nicht. Und wenn ich etwas Schönes gerne hätte, dann frage ich meine Frau, ob wir es uns leisten können.

Alice Harnoncourt: Wir würden nie Schulden machen. Die Art, wie heute auf Kredit gelebt wird, verstehen wir nicht.

Nikolaus Harnoncourt: Ich habe in meinem Leben ein einziges Mal Schulden gemacht, Anfang der Fünfzigerjahre. Da habe ich ein einmaliges Musikinstrument gefunden, einen Vorfahren von Cello und Gambe aus dem Jahr 1557. Das mußte ich haben. Aber es war teuer. Ich fragte bei meinen wohlhabenderen Verwandten, aber meine Eltern sagten ihnen: »Der spinnt, gebt ihm kein Geld, der ist verrückt nach Instrumenten und läßt Frau und Kinder verhungern.« Doch eine Tante hat es mir dann doch geliehen, von dem Gartengeld, über das sie verfügen konnte. Kurz darauf habe ich meinen ersten Schallplattenvertrag bekommen, und ein halbes Jahr später habe ich die Schulden zurückbezahlt.

Sie haben immer extrem sparsam gelebt. Die Kleider ausgetragen, bis es nicht mehr ging, alte Saiten als Schnürsenkel benutzt.

Ich bin immer noch sparsam. Das ist die Prägung durch den Krieg. Wir waren sieben Geschwister, und es gab sogar einen Zyklus, wann einer die Kochtöpfe ausschlecken durfte. Und als Student hatte ich so wenig Geld, daß ich davon nicht wirklich leben konnte. Ich habe die wertvolleren Teile meiner Lebensmittelkarten verkauft, bis mir die Zähne zu wackeln begannen – Skorbut. Ein Onkel von mir, der holländischer Botschafter in Wien war, hat dann jede Woche seinen Fahrer mit einem Sack voller Zitronen in meine Studentenbude geschickt.

Sie haben einmal gesagt, in einer Familie sollte man die Eheleute ins Zentrum stellen, nicht die Kinder. Wieso?

Das kommt von meiner Mutter. Sie hat gemeint, eine gluckenhafte Betreuung sei nicht gut für die Kinder. Starke körperliche Zärtlichkeit hat sie abgelehnt und als »Schmieren« bezeichnet.

Alice Harnoncourt: Und heute ist es üblich, das Kuscheln.

Nikolaus Harnoncourt: Meine Mutter fand, eine gewisse Härte müsse sein. Ich habe mir ständig etwas gebrochen als Kind. Weil ich auf Bäume gestiegen und aus Fenstern gesprungen bin. Wenn die Hitlerjugend Mutproben verlangte, habe ich gesagt, ich traue mich nicht. Aber alleine habe ich es dauernd gemacht. Die ersten Male ist meine Mutter noch mitgekommen ins Kinderspital, aber ab etwa acht Jahren bin ich da selbständig hingegangen und habe nach der Schwester Walfrieda oder nach dem Doktor Schäfer verlangt, und bin dann mit einem Gips nach Hause gekommen.

Alice Harnoncourt: Aber die Erziehungsmethoden wandeln sich auch stark. Ein Beispiel: Wir sind viel gewandert und haben unseren Kindern verboten, unterwegs aus Quellen zu trinken. Das war damals die Empfehlung des Alpenvereins, es sei gesundheitsschädlich. Heute sieht man das ganz anders.

Nikolaus Harnoncourt: Wozu ist eine Quelle da? Um nicht zu trinken! Diesen Satz werfen uns die Kinder heute noch vor.

Finden Sie es denn falsch, die Kinder ins Zentrum zu stellen, wie es heute vielerorts üblich ist?

Wir sind weit davon entfernt zu sagen, wir hätten alles richtig gemacht. Wir waren einfach der Meinung, die Familie könne nur funktionieren, wenn wir als Paar funktionieren.

Alice Harnoncourt: Die Kinder sind ja dann auch einmal relativ rasch weg. Wir haben Eltern erlebt, die plötzlich ziemlich verloren dastanden, als die Kinder aus dem Haus waren.

Werden Dirigenten eigentlich im Alter besser?

Man braucht länger, um ein Werk zu verstehen. Das ist immer eine sehr große geistige Anstrengung. Aber ich habe das Gefühl, solange ich dabei etwas erfahre, was ich vorher nicht gewußt habe, solange müßte ich besser werden.

Gibt es Altersweisheit?

Ich glaube schon. Da ist etwas, das sich stapelt im Verlaufe eines langen Lebens.

Alice Harnoncourt: Es muß ein Äquivalent geben für die Altersbeschwerden.

Nikolaus Harnoncourt: Es ist ja auch kein Zufall, daß die Leute früher immer den Rat der Alten gesucht haben. Daß sie von ihrer Weisheit profitieren wollten. Heute ist es ja das Gegenteil. Da heißt es, der alte Depp soll endlich Ruhe geben.

Verspüren Sie so etwas wie Gelassenheit?

Bei mir ist Gelassenheit noch nicht anzutreffen. Oder?

Alice Harnoncourt: Nein.

Nikolaus Harnoncourt: Ich bin genauso leicht zu Verzweiflung und Begeisterung zu bringen wie früher. Gelassen bin ich erst im Sarg.

Man darf nie glauben, die Wahrheit zu haben

Gesprächspartner: Daniel Ender

Erstveröffentlichung: Österreichische Musikzeitschrift, April 2012, Nr. 2

Herr Harnoncourt, 1969 schrieben Sie in der ÖMZ, man müsse endlich »von dieser zweifach verlogenen Aufführungspraxis – Musik des 18. Jahrhunderts im Klanggewand des 19. Jahrhunderts erklingt im 20. Jahrhundert – wegkommen«. Sind inzwischen nicht entscheidende Schritte in diese Richtung gesetzt worden?

Schon. Es ist aber auch so, wenn etwas so institutionalisiert wird, wie es bei der Szene der Alten Musik bereits geschehen ist, dann bestehen gleich wieder große Gefahren. Dann braucht man wieder irgendwelche Aufrührer, Umrührer. Für mich war es ganz am Anfang entscheidend, daß in der Zeit um 1950 niemand die Beschreibungen der Quellen gekannt hat. Es gibt ja nicht viele Quellen, die sind ja begrenzt. Was im 16., 17., 18. Jahrhundert über Musik geschrieben wurde, liegt in Bibliotheken, da wird nichts Neues entdeckt. Das wurde im 19. Jahrhundert fast alles von den damaligen Musikwissenschaftlern herausgegeben, die übrigens sehr gescheite Leute waren. Aber es ist immer die Frage, was davon auch für heute gilt: Was hat eine Interpretation von Musik um 1700 für Hörer von heute – damals waren die Aufreger Strawinsky und Bartók – zu sagen? Wenn man das so interpretiert, wie wir glauben, wie die es damals gemacht haben, dann ist das vielleicht so wie ein Spaziergang ins Kunsthistorische Museum, wo man sagt: »Die haben damals so gemalt.« Selbst das war mir nicht klar, ob das richtig ist. Ich muß sagen, ich selbst habe darauf bestanden, daß man die Quellen kennt, aber ich habe nicht darauf bestanden, daß die Forderungen der Quellen erfüllt werden, weil ich mich immer gefragt habe: Sagt diese Quelle etwas für uns, oder sagt sie nur etwas für die Interpreten von damals? Ich wollte die Musik für heute machen und nicht nur als eine Fliege, die an der Wand sitzt beim Bach in Köthen und sagt: »Aha, so haben die damals gespielt.« Das würde ich als museal und utopisch bezeichnen.

Eine solche Konsolidierung und Institutionalisierung der »historischen Aufführungspraxis« hat in den 1970er Jahren einen ersten Höhepunkt erreicht. Wie haben Sie diese Entwicklung erlebt?

Unsere Nachfolger haben sich eher in die Richtung der Quellenausführung bewegt und die Quellen als Dogmen gelesen. Ein Beispiel: Ich war um 1975 zu einem Kongreß der Lautenisten in Holland eingeladen. Da waren damals so ungefähr alle Lautenisten der Welt anwesend. Ich habe da gleich makabre Ideen gehabt: Was wäre, wenn man Gift in die Wasserleitung gäbe – dann gibt es plötzlich keine Lautenisten mehr auf der Welt. Es war eine sogenannte Lautenwoche, da waren die Japaner da und die Besten aus Basel usw. Sie wollten Stellungnahmen von einem Nicht-Lautenisten zum Lautenspiel. Die Situation war so, daß sie sich bereits in zwei Parteien geteilt hatten, die nicht mehr miteinander geredet haben, und zwar ging es darum, ob man den kleinen Finger an der Deckenverzierung der Laute aufstützt oder nicht. Es gab fast nur Aufstütz-Vertreter und Vertreter des Nicht-Aufstützens. Dann gab es zwei oder drei, die ungefähr so gedacht haben wie ich und gesagt haben, das ist wurscht, ich muß es wissen, und dann muß ich gut spielen können. Es war unmöglich, diese zwei Lager zusammenzubringen, und ich finde das wirklich exemplarisch für die Entwicklung dieser Szene: Weil einer konstatiert, daß die Geiger auf alten Porträts den Hals nicht auf der Geige haben, sagt man, daß Barockgeige so gespielt werden muß. Und alle glauben, es sei ganz falsch, wenn man das Kinn aufstützt. Warum ist dann bei praktisch jeder Geige, die seit der Zeit von Joseph II. nie mehr gespielt wurde – da gab es zum Beispiel in einem aufgelassenen Kloster in einem verborgenen Schrank fünf Geigen, die seither dort vergessen wurden –, an der Stelle, wo der Hals und wo das Kinn ist, der ganze Lack weggeschwitzt und nur mehr das blanke Holz da?

Spezialisierung führt zu Blindheit?

Das könnte man so sagen. Es hat sich sehr bald eine Gruppe von Musikern entwickelt, die nur mehr Alte Musik gespielt hat – und überhaupt nichts anderes. Die waren spezialisiert auf das 17. Jahrhundert oder vielleicht auf die ganze Barockmusik, aber für die war Beethoven schon indiskutabel und das 20. Jahrhundert sowieso. Die Frage, ob Spezialisierung dieser Art überhaupt einen Sinn hat in einer Jahrhunderte später liegenden Zeit – ich habe sie so beantwortet, daß sie keinen Sinn hat, daß man zuerst fragen muß, warum man diese Musik heute überhaupt spielt. Ich habe zwanzig Jahre unterrichtet in Salzburg und ich habe jeden Tag gesagt: Wenn ihr jetzt nur mehr Barockgeige oder Zink oder Blockflöte studiert, dann geht doch gleich zurück ins 17. Jahrhundert und lebt im 17. Jahrhundert! Man kann ja nicht nur Geige spielen wie im 17. Jahrhundert und dann mit dem Flugzeug fliegen. Das paßt nicht zusammen.

Kehren wir zurück zu Ihren Anfängen, in denen Sie sich von der romantisierenden Aufführungstradition abgesetzt haben …

Romantisierend, ja, denn das hat ja nichts mit der wirklichen Romantik zu tun! Was man nachher als Romantik verstanden hat, war, daß man über das Ganze eine Glasur oder einen Schleim oder einen Sirup geschüttet hat. Es wurde alles nivelliert und egalisiert, und man konnte mit wiegendem Kopf süßlich lächelnd eine tragische Mozart-Symphonie hören.

Der alltägliche Musikkonsum hat sehr stark darauf beruht und beruht immer noch sehr stark darauf, in welcher Stimmung das Publikum sein will. Was Sie gemacht haben, hat, vor allem am Beginn, da natürlich empfindlich gestört …

Ich erinnere mich an Buh-Rufe nach dem 5. Brandenburgischen Konzert