Es ist ein Fulltime-Job, sich selbst zu lieben - Jessamyn Stanley - E-Book

Es ist ein Fulltime-Job, sich selbst zu lieben E-Book

Jessamyn Stanley

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Beschreibung

Revolutionäre Selbstfürsorge: Wie man durch Yoga lernt, sich selbst zu akzeptieren In dieser Sammlung autobiografischer Essays erzählt Jessamyn Stanley ihre Geschichte. Die Geschichte einer Schwarzen, fetten, queeren Femme, aufgewachsen in einer Vorstadt in den Südstaaten der USA mit mehrheitlich weißer Bevölkerung. Eine Geschichte der Segregation, eine Geschichte von Kapitalismus und Schönheitsidealen. Aber auch eine Geschichte über den eigenen Körper, davon, wie es ist, eigene Grenzen zu sprengen, sich selbst zu hinterfragen und schlussendlich gefestigt und weniger selbstkritisch mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Jessamyn Stanley schreibt darüber, wie sie es mithilfe von Yoga geschafft hat, sich selbst zu akzeptieren, in einer Gesellschaft, die von Bodymaßindex und Normschönheit geprägt ist. "Mein Yoga mag mit dem Praktizieren von Posen begonnen haben, aber mit meinem mentalen und emotionalen Gepäck umzugehen, ist das echte Yoga." Ungeschönt ehrlich: eine Geschichte der Auflösung von vermeintlichen Idealbildern Scharfsinnig und ehrlich reflektiert Jessamyn Stanley ihre Geschichte: Sie erforscht sich selbst, vom Impostor-Syndrom über das Aufwachsen in einer streng gläubigen Familie und ihre Homosexualität bis hin zu der Frage, warum es ein Vollzeitjob ist, sich selbst zu lieben. Aber sie kritisiert auch eine oberflächliche, weiße Yogaindustrie, die lieber über die neuesten Styletrends diskutiert, als sich ihr überbordendes Weißsein einzugestehen. Eine Welt, in der Yoga mit Kapitalismus gleichgesetzt ist, die ihre eigenen Fehler (Stichwort: kulturelle Aneignung) und vor allem auch die (spirituellen) Traditionen des Yoga gekonnt ignoriert. Empowerment über die Matte hinaus Jessamyn Stanley hat sich von der Last der Körperlichkeit befreit und ihr Yoga des Alltags entdeckt. Denn: Im Yoga geht es nicht darum, den herabschauenden Hund zu perfektionieren, sondern die harten Lektionen, die man auf der Matte lernt, auf das noch härtere tägliche Projekt "Leben" anzuwenden. Ein konfliktreicher Prozess, bei dem sie ihre Verbindung zwischen Körper, Geist und Seele gefunden hat In ihrem Buch zeigt Jessamyn Stanley, wie dieser Weg der Selbstfürsorge für alle möglich ist. • Weg mit Schönheitsidealen und Bodymaßindexen: Witzig, laut, ehrlich und scharfsinnig zeigt die Autorin in 13 autobiografischen Essays wie sie durch Yoga gelernt hat, ihren Körper zu akzeptieren und sich selbst bewusster wahrzunehmen. • Yoga ist viel mehr als ein Workout: Jessamyn Stanley beschreibt in ihrem Buch die Geschichte einer Schwarzen, fetten, queeren Frau, die sich Stereotypen und gesellschaftspolitischen Konventionen widersetzt, und durch die Yogapraxis ihren eigenen Weg gefunden hat. • Das zweite Buch der Erfolgsautorin und Yoga-Influencerin: Jessamyn Stanley ist international bekannt, nicht nur aufgrund ihres Body-Neutrality-Aktionismus, sondern auch, weil sie Gesicht zahlreicher Werbekampagnen (z. B. für Amazon und adidas) war und immer wieder Cover bekannter Zeitungen und Zeitschriften ziert. Außerdem kann sie mittlerweile auf knapp 600.000 Follower*innen auf Social Media blicken.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 199

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für jede*n, der ging, damit ich laufen kann,besonders für Tangela Michelle.

Inhalt

Vorwort

Yolk

Ich bin nicht Ich

Der Hierophant

Posen

Wohlstand und andere amerikanische Werte

Rituale

Kulturelle Aneignung ist amerikanischer als Apple Pie

Atmen

Weiße Schuld

Meditation

Es ist ein Fulltime-Job, sich selbst zu lieben

Sakrale Musik und Pflanzenmedizin

Mama sagte immer: Trau keinem weißen Jungen

Danksagung

Vorwort

Ich habe die meisten Essays in diesem Buch vor 2020 geschrieben, vor Covid-19, als Breonna Taylor und George Floyd noch am Leben waren.

Jeden Tag zerbröckelt mehr von dem, was wir kennen. Der Traum von Amerika brennt.

Jede Person fürchtet sich vor dem, was als Nächstes passieren wird. Niemand ist vor der Angst gefeit. Und jede Angst ist berechtigt.

Nimm Platz. Hier ist deine Angst willkommen. Du bist hier willkommen, genauso wie du bist. Du musst nichts ändern oder anders machen. Du musst nichts verstecken oder so tun, als ob es nicht da wäre. All deine Trauer, all deine Wut, alle deine Zweifel, all deine Frustration, all deine Verwirrung – all das ist hier willkommen. Alles von dir ist hier willkommen.

Der Moment, wo es unangenehm wird. Der Moment, wo du dich schämst. Der Moment, wo du etwas Falsches sagst und jemandem auf den Sack gehst. Der Moment, wo du irgendwo feststeckst und nicht weißt, was du als Nächstes machen sollst.

Das Universum zwingt uns, mit diesem Mist aufzuhören und einander zu zeigen, wie wir uns wirklich fühlen. Sobald du den Gestank verzeihst und die Hässlichkeit all dessen akzeptierst, findest du das Darunter ebenso schön wie alles andere. Ebenso schön wie eine welkende Blume, eine Rose an den letzten Tagen ihres Lebens.

Setz Hoffnung in dich selbst, in deine Familie und in deine Kinder. Wir haben Schlimmeres als das gesehen. Wir werden Schlimmeres als das sehen. Es gibt immer Hoffnung, auch wenn Schlimmeres kommen mag.

Yolk

1.2 – „Das Zügeln der Veränderungen des Geistes ist Yoga.“ (Satchidananda, 3)1

1.14 – „Die Praxis wird fest verankert, wenn sie über eine längere Zeit ohne Unterbrechung und mit aller Ernsthaftigkeit gut gepflegt wird.“ (Satchidananda, 19)

1.13 – „Das heißt, du wirst ewiglich wachsam und prüfst jeden Gedanken, jedes Wort und jede Handlung.“ (Satchidananda, 18)

Okay, es ist also nach Mitternacht. Einige Monate sind seit der Veröffentlichung von Every Body Yoga, meinem ersten Buch, vergangen. Ich sitze hellwach in meinem Homeoffice und stecke knietief im Wikipedia-Wurmloch, als eine Gmail-Nachricht aufploppt.

Um es klarzustellen, ich hasse Push-Nachrichten. Sie nerven voll. Manchmal sind sie hilfreich, aber das sind Mansplainer2 auch. Und so wie Mansplainer neigen Push-Nachrichten dazu, dir deinen Tag unwiderruflich zu verderben.

Die besagte Nachricht kam jedenfalls von einer Person, die Every Body Yoga gelesen hat und so tief davon berührt war, dass sie das Gefühl hatte, mir eine E-Mail schreiben zu müssen. Mitten in der Nacht. Eine wildfremde Person sandte mir mitten in der Nacht eine E-Mail.

Seufz.

Meiner Erfahrung nach brachten ungebetene, spätnächtliche Gespräche mit wildfremden Personen selten was Gutes. Wenn man eine fette3, Schwarze, queere Yogalehrerin in einer mehrheitlich dünnen, weißen und sehr heterosexuellen Yogaindustrie ist, kommt mit dem Kleingedruckten, dass es genauso viele Menschen gibt, die von dir inspiriert sind, wie solche, die unbedingt wollen, dass du das Maul hältst. Ich faltete meine Hände und hoffte das Beste.

Offensichtlich kam die Nachricht von einer freien Lektorin, die mir ihre Dienste für mein nächstes literarisches Projekt anbot, nachdem sie als Yogapraktizierende schockiert von einem bestimmten Tippfehler in Every Body Yoga gewesen sei.

Oh, oh.

Ich griff nach meinem Exemplar von Every Body Yoga und schnitt mich fast am Papier auf der Suche nach der Seite, auf die sie sich bezog. Mein Herz stoppte. Genau dort, auf der verdammten Seite 29, umschrieb ich den Sanskrit-Begriff Yoga unabsichtlich als „yolken“4.

Mich haute es fast um.

Ich HATTE das Wort Yoke verwenden wollen, das so viel bedeutete wie verbinden. Yoga bedeutete, zu yoken5, wie in: das Helle und das Dunkle des Lebens, das Gute und das Schlechte zu verbinden. Yoken wie in: Lasst uns die Rinder zusammenspannen! Yoken heißt, Atem, Gedanken und Bewegung zu vermählen, um Körper, Geist und Seele zu verbinden. Yoken meint, die Bedeutung vom Gleichgewicht zu erkunden.

Diese Definition steht im starken Gegensatz zur Definition von Yolk, was so viel bedeutet wie: der gelbe Nahrungsspeicherbereich, der den wesentlichen Teil des Inneren eines Eies ausmacht. Das war ein unübersehbarer Tippfehler und jeder Kritik wert. Ich konnte nicht glauben, dass ich nach Dutzenden von Entwürfen und Runden über Runden von Korrekturgängen diesen offensichtlichen Fehler nicht bemerkt hatte.

Hier will ich mit dir ehrlich sein, vor allem wenn du und ich eine echte Beziehung zueinander aufbauen und nicht nur Dummheiten machen wollen. Ganz ehrlich, meine reflexartige Reaktion auf die E-Mail war, diese Bitch abzuschießen. Wie kam sie dazu, mich auf den Fehler hinzuweisen? Und das auch noch als wildfremde Person in einer passiv-aggressiven, nachmitternächtlichen E-Mail! Falls sie wirklich eine Lektorin war (und nicht nur ein gelangweilter, einsamer Internet-Troll, der seine Vendetta nährte, wie ich insgeheim vermutete), dann musste sie wissen, dass Tippfehler in jeder Arbeit von nennenswertem Umfang zu erwarten waren. Schon bald redete ich Scheiße über sie und kickte diese Bitch verbal in die nächste Woche.

Als aber mein Mars im Krebs das Feld räumte, verebbte meine Wut in rot-heißer Scham. Mich packte der Wunsch, meinen Lektor aufzuwecken und mit ihm alle Möglichkeiten zur Schadensminimierung durchzugehen – vielleicht durch den Neudruck der gesamten Auflage von Every Body Yoga.

Stattdessen machte ich etwas, das mit der Zeit zu meiner pawlowschen Antwort auf Stress und Angst geworden ist. Ich seufzte, schloss meine Augen, ging zu meiner Yogamatte und rollte sie mitten in meinem Büro aus.

Ich fing nicht an, einen Handstand oder ähnlich akrobatisches Zeug zu praktizieren. Ich setzte mich nur hin und schloss die Augen.

Ich sagte mir nicht: „Zeit zu meditieren!“ Ich stellte keinen Timer und machte auch keine bestimmte Atemübung. Ich setzte mich nur hin und lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Versuch, zu atmen. Gleichmäßig ein und aus durch die Nase.

Ich hörte nicht auf, über das nachzudenken, was mich stresste. Ich machte sogar das genaue Gegenteil. Ich ließ meinem Jungfrau-Aszendenten freien Lauf und erlaubte mir selbst, jeden Winkel und jede Ritze meiner Angst zu betrachten. Anstatt zu versuchen meine innere Kritikerin rauszuschmeißen, machte ich ihr Platz am Tisch. Und während der ganzen Zeit, in der mein Verstand meine Angst über glühende Kohlen wälzte, versuchte ich nur zu atmen.

Anfangs kam mein Atem flach und furchtsam, gefärbt von Unsicherheit. Aber als sich mein Körper seiner Laune hingab, richtete sich mein Atem auf und rollte seine Schultern zurück. Er begann, sich selbst ernst zu nehmen und an sich zu glauben. Mein Atem pfiff durch die Zweige meiner Angst und ich spürte, wie ich weicher – wie vergessene Butter – wurde. Und nach und nach begann ich die Oberfläche dessen zu sehen, was mich wirklich auf die Palme brachte.

Es war nicht der Tippfehler.

Es war nicht die E-Mail oder die Absenderin.

Es war mein Impostor-Syndrom6. Das Impostor-Syndrom, das ich spürte, seitdem ich mein erstes Yogafoto auf Instagram gepostet hatte. Das Gefühl, dass ich nicht genug über Yoga wusste, um mich an vorherrschenden Gesprächen darüber zu beteiligen. Das Gefühl, dass ich niemals genug Bücher lesen, dass ich niemals genug Stunden nehmen, dass ich niemals hart genug an den Haltungen arbeiten konnte. Ich hatte es vor meinem dreißigsten Geburtstag geschafft, ein ganzes Buch über Yoga zu veröffentlichen, und unterbewusst glaubte ich, dass jede yogapraktizierende Person wusste, wie unqualifiziert ich für diese Aufgabe war. Ich zweifelte an meinen Fähigkeiten und nahm an, dass auch alle anderen das taten.

Als Influencerin und gleichzeitig Yogalehrende auf Social Media täuschte ich regelmäßig Selbstbewusstsein vor. Sosehr ich auch versuchte dagegen anzukämpfen, Selbstbewusstsein zu projizieren ist Teil des Jobprofils von Influencer*innen. Dennoch brauchte es nur eine lockerzüngige E-Mail von einer wildfremden Person über einen einzigen Tippfehler, um meine Projektion des Selbstbewusstseins zu brechen.

Von meiner Scham und Unzulänglichkeit in die Ecke gedrängt, sah ich, wie ich die meisten meiner Tage und sehr viel von meiner Energie verzweifelt darauf verwendete, vor dieser Wahrheit davonzulaufen. Auf meiner Yogamatte, verloren in meiner Krebs-Schale und erschöpft von der Jagd, hörte ich auf zu rennen. Stattdessen umarmte ich meine Angst vor mir selbst und begann die Wunden, die ich, solang ich denken kann, trug, offenzulegen.

Alle Wunden müssen atmen, egal wie schmerzhaft oder stinkig sie sind. Selbst die Wunden, die du lieber versteckt halten würdest.

Yoga verbindet die tiefsten und konfliktreichsten Aspekte deiner selbst. Das Helle und das Dunkle. Das Schlechte und das Gute. Die Höhen und die Tiefen. Yoga ist sowohl ein Prozess als auch ein Ziel, sowohl eine Frage als auch eine Antwort.

Ich bin im Sommer 2012 fünfundzwanzig geworden und habe einen Monat vor meinem Geburtstag mein Masterstudium in Kulturmanagement abgebrochen – eine Entscheidung, die mir eine Scheißangst eingejagt hatte. Ich brauchte Veränderung und eine neue Stadt schien mir ein guter Ort, um sie zu finden. Also belud ich mein Auto und zog von Winston-Salem nach Durham im selben Bundesstaat North Carolina. Meine neue Partnerin S war gerade nach Durham gezogen, und wir spürten zwar beide, dass es zu früh war, um zusammenzuziehen, aber niemand von uns konnte es sich leisten, alleine zu wohnen. Dazu kam, dass wir außer uns keinen Freundeskreis in Durham hatten. So waren wir uns einig: Bleib lieber beim Übel, das du kennst.

Ganz am Anfang teilten S und ich uns ein winziges Einzelbett in einer noch winzigeren Wohnung, die zwei co-abhängigen Schwarzen Lesben mittleren Alters, denen wir die Decknamen Big Bear und little bear gaben, gehörte. Während Big B und lil b nebenan im Doppelbett löffelten, schliefen S und ich wie eine Robbenkolonie in einem Bett, das für Teenager gebaut worden war. Zwei erwachsene Dicke in einem Einzelbett – selbst ein XLEinzelbett wäre für uns keine langfristige Lösung gewesen. Und schon gar nicht in einer schlecht klimatisierten Wohnung in North Carolina kurz vorm Hochsommer.

S und ich brachten zusammen fast zwanzig Jahre lesbische Co-Abhängigkeit in unsere Beziehung mit. Nichts davon, nicht ein beschissenes Jahr, hatte uns angemessen auf die hässliche Realität vorbereitet, wenn man sich ein winzig kleines Bett teilte. Nicht einmal meine besonders lesbischen Erfahrungen im Internat hatten mich ordentlich darauf trainiert. Nach einer Weile wechselten wir uns also damit ab, dass eine am Boden schlief, während die andere sich wie ein Seestern im Bett ausbreitete. Was Lagerraum anging, war mein Auto mein Schrank – und ich nur einen Autoklau vom Verlust meiner ganzen weltlichen Habe entfernt.

Als S und ich uns dann aber in einer Wohnung niederließen, die zu unseren Körpern und Geldbörsen passte, beschäftigten uns größere Sorgen als begrenzter Schrankraum. Innerhalb des rund einen Jahres, in dem wir zusammenlebten, waren der Bruder von S – Richard –, meine Tante Tiriah und meine Oma Marvella alle verstorben.

Zuerst Tante Tiriah, die Tante, die mir beigebracht hatte, wie ich mich selbst bade, und die mich dabei erwischte, wie ich mit dem Nachbarsjungen rummachte. Tante Tiriah hatte mich immer verstanden, besonders dann, wenn es meine Mutter nicht tat.

Vielleicht glaubst du nicht daran, dass Menschen an einem gebrochenen Herzen sterben können, aber ich denke, dass die Trauer meiner Großmutter über Tante Tiriahs plötzliches Ableben ihr den eigenen Tod brachte. Der Diabetes, den sie erfolgreich seit mindestens einem Jahrzehnt im Griff hatte, wurde irgendwie unkontrollierbar, nachdem Tante Tiriah verstorben war.

Und nur wenige Monate nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag starb Richard bei einem Autounfall mit Fahrerflucht. S und ich hatten ihn gerade erst gesehen – ich schwöre, er war bei uns zu Hause gewesen, ganz wenige Wochen, bevor wir den Anruf erhielten. Sein Tod war von der Sorte, die Menschen krank im Kopf macht, denn was kann man sagen, wenn ein intelligenter, schöner, geistreicher, kreativer und unglaublich gutherziger Mensch, der gerade einundzwanzig wurde, sinnlos und viel zu früh stirbt?

Ihr Tod hinterließ eine Lücke, die S und ich nicht zu füllen wussten. Ich dachte, Gott sei vielleicht die Antwort, aber ich hatte meine Zweifel. Ich war in einem gläubigen Bahá’í-Haushalt7 groß geworden, war aber von der Religiosität aus meiner Kindheit abgekommen. Jetzt – im Angesicht des Todes – in ihre vertrackte Umarmung zurückzukehren, fühlte sich unaufrichtig für mich an. Ich ließ mich treiben und wusste nicht, wohin oder wie ich einlenken konnte.

Bevor ich nach Durham zog, hatte ich für gut ein Jahr regelmäßig Bikram-Yoga praktiziert – und es hatte meiner mentalen Gesundheit drastisch geholfen, als alles in meinem Masterprogramm auseinanderfiel. Mein Budget war viel zu knapp für die Drop-in-Preise in meinem lokalen Studio gewesen, aber ich hatte an einem Programm zum Arbeiten und Lernen teilnehmen können, das mir erlaubte, beim Betrieb des Studios zu helfen und im Austausch kostenlose Yogastunden zu bekommen.

Gleich nachdem ich mich in Durham niedergelassen hatte, graste ich jedes Yogastudio, das ich finden konnte, nach ähnlichen Möglichkeiten zum Arbeiten und Lernen ab. Ich war enttäuscht, zu sehen, dass die Yogaszene in Durham viel überrannter und härter umkämpft war als die in Winston-Salem. Die meisten Studios, denen ich meine Dienste anbot, hatten überhaupt keine Programme zum Arbeiten und Lernen. Jene, die welche hatten, führten ausufernde Wartelisten. Ich fügte also meinen Namen hinzu, hatte aber wenig Hoffnung.

Für mehrere Wochen praktizierte ich überhaupt kein Yoga und vermisste es auch kein bisschen. Ich nahm an, dass es nur ein weiteres Hobby war, das ich am Wegrand liegen lassen konnte. Wie im Sommer, in dem ich mich in Ölmalerei versucht hatte, oder in den Jahren, die ich aufgewendet hatte, um Vintage-Töpfe und frühe Ausgaben von The Joy of Cooking zu sammeln. Ich scherte mich noch nicht um die Verbindung zwischen Geist, Körper, Seele. Ich hatte die Verbindung zwischen Yoga und meiner verbesserten mentalen Gesundheit noch nicht gezogen, also schätzte ich den wahren Nutzen seiner Anwesenheit in meinem Leben noch nicht wirklich. Ich dachte, Unzufriedenheit sei ein Markenzeichen des Lebens und Yoga, bestenfalls, eine Ablenkung von der Wirklichkeit.

Dann, eines Tages, rollte ich aus heiterem Himmel meine Yogamatte auf dem einzigen Streifen leeren Hartholzbodens in unserem überfüllten Wohnzimmer aus. Die Matte hatte mir mein Vater vererbt. Er war schon lange verrückt nach Pilates und hatte mir seine alte Matte gegeben, als ich mit Yogastunden begann. Seine Muskeln hatten sich in das PVC eingegraben, das nach dem Schweiß von uns beiden stank. Es mag nicht viel mehr als ein Volant zwischen mir und den Holzdielen gewesen sein, aber zumindest war es ein kleines Polster beim Hochdrücken.

Am Anfang saß ich nur drauf auf meiner Matte, unsicher, wie ich, ohne eine Lehrperson, weitermachen sollte. Ich war es gewohnt, der Führung von Yogageneralitäten zu folgen. Ohne Lehrende, denen ich folgen konnte, war ich vor Versagensangst paralysiert.

Ich fragte mich: „Darf ich überhaupt Yoga ohne Supervision praktizieren?“

„Natürlich“, sagte eine Stimme.

Ich wusste nicht, woher die Stimme kam, aber sie klang sehr sicher und solide, wie eine zutiefst zuversichtliche Version meiner selbst. Und sie klang viel zu selbstbewusst, um ihr zu widersprechen.

Ich stand auf und ging zum vorderen Ende meiner Matte. Ich rollte meine Schultern zurück, verschränkte die Finger unter meinem Kinn und begann mit der ikonischen Atemübung aus dem Bikram-Yoga. Es fühlte sich etwas seltsam an, ohne Supervision zu praktizieren. Ein wenig befreiend, ein wenig gruselig. Wie das Überqueren einer Straße, ohne die Hand meiner Mutter zu halten, oder Fahrradfahren ohne Stützräder. Während ich mich auf den Weg machte, merkte ich, wie ich auf weitere Anleitungen wartete.

Wie gerufen, begann die Stimme jede Haltung, die ich gedanklich in den Bikram-Sequenzen abgespeichert hatte, zu wiederholen. Die Stimme konnte sich nicht an jeden einzelnen Hinweis zur Ausrichtung erinnern, den mir meine Bikram-Lehrenden gegeben hatten, aber sie erinnerte sich an genug.

Mit sanftem, aber bestimmtem Wohlwollen erinnerte mich die Stimme daran, meine Finger verschränkt zu halten und meine Daumen gegen die dünne Haut, die meinen Hals schützte, zu lehnen. Sie erinnerte mich daran, den hinteren Teil meiner Speiseröhre zu entspannen und mit jedem nachfolgenden Atemzug tiefer ein- und auszuatmen. Die Stimme erinnerte mich daran, jeden Atemzug wie meinen letzten zu behandeln.

Ich war so erleichtert, die Stimme zu hören.

Ich ging Hand in Hand mit der Stimme und erlaubte ihr, meinen Körper ins Tun zu führen. Die Stimme erinnerte mich an jede Yogapose, die ich in der Bikram-Sequenz genossen hatte, selbst an jene, die ich gehasst hatte. In der Privatsphäre unserer winzigen Wohnung, die mit den Haaren unserer Katze und unseren Komplikationen ausgestattet war, rollte und wand und beugte ich mich in Formen, die ich mich nicht getraut hatte auszuprobieren, als ich von anderen Praktizierenden umgeben war. Und ich merkte, wie ich tiefer in diese Haltungen hinein und weiter ging, als ich es jemals zuvor gemacht hatte.

Ich begann den Unterschied zu erkennen zwischen der Person, die ich in der Privatsphäre meiner eigenen Identität war, und jener, die ich wählte vor anderen Menschen zu sein. Ich habe immer Angst, andere Leute zu beleidigen oder zu groß zu sein, zu viel Platz einzunehmen, zu viel Lärm zu machen, zu schwierig zu sein oder zu viel zu sein, um mich im Zaum zu halten. Ich begann zu sehen, wie sehr ich mich in der Öffentlichkeit zurückhielt, mich klein machte und versuchte nicht bemerkt zu werden. Aber zu Hause verrenkte ich mich und gab Geräusche von mir, für die ich in der Öffentlichkeit niemals das Selbstbewusstsein gehabt hätte. Ich hörte auf, mich dafür zu entschuldigen, laut zu sein, und gab mir selbst die Erlaubnis, Raum einzunehmen.

Zu Hause lag alles auf dem Tisch. Ich konnte meine Unterwäsche tragen, Gras rauchen und meditative Atemzüge mit meiner Katze teilen. Es spielte keine Rolle, dass ich nur wenige Posen kannte. Anstatt in meine üblichen Gewohnheiten zu verfallen und allem nachzujagen, was ich nicht wusste, lenkte ich meine ganze Energie auf die acht bis zehn Posen, die ich kannte. Anstatt zu versuchen, alles zu wissen, ließ ich mich einfach das wissen, was ich wusste.

Fast zehn Jahre sind vergangen und aus meiner Praxis in meinem Wohnzimmer ist eine Praxis in Werbekampagnen für Marken wie Adidas und Amazon geworden. Der Übergang von einer Yogapraktizierenden zum Yogaprofi hat einen starken Konflikt in mir ausgelöst. Er hat mich dazu gebracht, kritisch zu hinterfragen und zu analysieren, warum ich überhaupt mit Yoga angefangen hatte. Als ich begann, Yoga zu praktizieren, herrschte mein physischer Körper weit über meinen feinstofflichen oder spirituellen Körper. Mein Yoga mag mit dem Praktizieren von Posen begonnen haben, aber mit meinem mentalen und emotionalen Gepäck umzugehen, ist das echte Yoga.

Klassische Yogaschriften wie Hatha-Yoga Pradipikâ behandeln gar kaum die Körperübungen, weil die Posen nur ein kleiner Bestandteil der Yogapraxis sind. Die Posen, die für das amerikanische Yoga symbolisch geworden sind, sind in Wirklichkeit eine Verschmelzung der klassischen Yogahaltungen, die mit europäischen Fitnessübungen, indischem Gewichtheben und anderen Formen von kinästhetischen Bewegungen verknüpft wurden – und viele davon wurden im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt und verbreitet.

Es gibt einige wesentliche Unterschiede zwischen klassischem Yoga und amerikanischem Yoga. Klassisches Yoga lässt sich in den Ursprüngen von Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und zahlreichen anderen spirituellen und kulturellen Praktiken finden. Es wurde über Tausende von Jahren praktiziert, wohingegen es das amerikanische Yoga erst seit der Wende zum 20. Jahrhundert gibt, als Lehrende wie Swami Vivekananda von Indien in die USA reisten, um die Yogapraxis zu verbreiten. Im nachfolgenden Jahrhundert haben sich Richtungen des amerikanischen Yoga über den ganzen Globus ausgebreitet.

Inzwischen lassen sich amerikanische Yogastudios, Yogastunden und Yogalehrende in fast allen Winkeln dieser Welt finden. Mich würde es nicht überraschen zu hören, dass jemand Yoga auf Forschungsschiffen in der Antarktis unterrichtet. Wenn ich meine Augen schließe, kann ich es förmlich vor mir sehen: Eine Horde Wissenschaftler*innen, geschmückt mit dem Monogramm Patagoniens, taucht auf verschneiten Schiffsdecks durch den Herabschauenden Hund, während Kolonien von amüsierten Seelöwen und Pinguinen von ihren Eisplatten aufschauen und versuchen zu verstehen, warum genau der Homo sapiens immer bis zum Äußersten gehen muss.

Es gibt fast genauso viele Stile des amerikanischen Yoga, wie es Praktizierende auf diesem Planeten gibt – und die meisten von ihnen betonen die Körperübungen stärker als die spirituelle Praxis. Wie ich beten die meisten amerikanischen Yogapraktizierenden in der Lululemon8-Kirche, anstatt sich mit der tieferen yogischen Erforschung des feinstofflichen Körpers zu beschäftigen. Und wenn amerikanische Yogapraktizierende dann doch versuchen, sich auf einer tieferen Ebene damit auseinanderzusetzen, kommt eine Aneignung südasiatischer Ikonografie und Symbologie dabei raus und in der Regel blamieren sich am Ende alle.

Du musst dir nicht die südasiatische Kultur aneignen, um deine Yogapraxis zu vertiefen. Alles, was du machen musst, ist, die Stunden und Techniken, die du auf deiner Yogamatte gelernt hast, auf dein tägliches Projekt des Lebens zu übertragen. Ich nenne es das Yoga des Alltagslebens.

In der Stuhl-Pose senkst du nicht nur deine Hüften und hoffst das Beste. Du musst alle Teile deines Körpers aktivieren, um da reinzukommen. Du musst dich in deinen Füßen verwurzeln, in deiner Mitte graben, deine Oberschenkel einsetzen und deine Zehen aufwecken. Du musst versuchen rückwärts nach hinten zu fallen, während du aufrecht bleibst. Du musst lernen, dich zu beugen, um nicht zu brechen.

Im Yoga des Alltagslebens ist es das Gleiche. Es geht darum, in den beschissensten Momenten im Leben die gleiche Flexibilität, Stärke, erdende Kraft und das Bewusstsein über die eigene Mitte zu finden, die du in der Gestreckte-Hand-zum-großen-Zeh-Pose oder im Kopfstand findest. Das ist Yoga ohne Accessoires, ein Yoga, das du praktizieren kannst, ohne jemals eine Matte betreten zu haben.

Wenn dich jemand im Verkehr schneidet und du dem Drang widerstehst, dich über die Person aufzuregen? Das ist Yoga. Selbst wenn du dich über die Person auslässt, ist es Yoga.

Wenn sich das Elternteil, mit dem du dich zerstritten hast, nach vielen Jahren der Funkstille plötzlich wieder in deinem Leben meldet und du gezwungen bist, dich mit Jahrzehnten von Trauma auseinanderzusetzen, ist es Yoga.

Wenn jemand, den du liebst, stirbt und du einen Weg findest, (irgendwie) den Kopf über Wasser zu halten, ist es Yoga.

Wenn du einen Menschen zur Welt bringst und diesen für den Rest deines Lebens erziehst, ist es Yoga.

Der Tag, an dem dich dein Kind inmitten des überfüllten Einkaufszentrums eine Bitch nennt und du dem Drang widerstehst, es an Ort und Stelle stehenzulassen? Das ist Yoga.

Wenn du deine Fehler und die Fehler anderer akzeptierst, ist es Yoga.

Yoga ist yoken. Du yokst, wenn du einen Grund findest, in der Früh aufzustehen. Du yokst, wenn du dich vom Straßenpflaster schälst, nachdem dir dein Herz (wieder) gebrochen wurde. Du yokst, wenn du es schaffst, in Bewegung zu bleiben, obwohl du komplett überwältigt bist. Du yokst immer, zu jeder Zeit.

Mein Yoking dreht sich um niemand anderen außer mich selbst und ich kann nicht länger unter meinem Impostor-Syndrom eingehen, bis mir andere Menschen meinen Selbstwert bestätigen. Ich kann nur versuchen, mich besser zu kennen und für meine eigene Göttlichkeit da zu sein. Ich bin die einzige Person, die mich jemals kennen wird, und ich bin genug. Das Impostor-Syndrom ist eine Ablenkung von der anstehenden Arbeit.

Mein Yoga hat viele Verzweigungen und Ecken, weil ich mich, wie das Universum, immer weiter entfalte. Mein Yoga dreht sich darum, zu verstehen, was es heißt, eine Schwarze queere Frau in einer Welt zu sein, die nicht will, dass ich bin. Es geht darum, den Raum zu halten für die Momente, in denen ich angegriffen wurde, selbst wenn ich meinen Schmerz lieber auf dem Grund einer Flasche oder einer Box verbergen würde. Es ist, meine Suche nach Macht zu hinterfragen. Es ist, meinen Frieden mit einem Gott nach meinem eigenen Verständnis zu machen, nicht einem Gott, der für mich ausgewählt wurde.

Mein Yoga wird dich wahrscheinlich verärgern. Ich meine, es hat mich verärgert.

Aber beim Yoga geht es nicht darum, nur schöne Emotionen zu haben. Es geht darum, alle



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