Europas zweite Renaissance - Wolfgang-Andreas Schultz - E-Book

Europas zweite Renaissance E-Book

Wolfgang-Andreas Schultz

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Beschreibung

Europas zweite Renaissance wird keine Renaissance der ersten sein, sondern deren Korrektur. In der (ersten) Renaissance begann im Abendland eine Entwicklung, die von der Trennung des Menschen von der Natur, der Trennung Gottes von seiner Schöpfung und der Trennung des Ichs vom Anderen bestimmt war. Die Schattenseiten dieser Entwicklung werden jetzt sichtbar – in ihr liegen die gemeinsamen Wurzeln der ökologischen Krise und der künstlerischen Krisen der Moderne. Die erste Renaissance verdankt sich der Wiederbegegnung mit der Antike – aber was wurde seitdem alles vergessen? Europa kappte Wurzeln, mit denen es sich wieder verbinden muss, um lebendig und kreativ zu bleiben. Wenn es seine innere Vielstimmigkeit wiederentdeckt, wird Europa seine einseitige Entwicklung und sein unvollständiges Selbstbild korrigieren können. Wolfgang-Andreas Schultz legt den Grundstein für eine ökologisch inspirierte Ästhetik und zeigt, welche Chance für die Zukunft Europas in einer zweiten Renaissance liegt – wenn Europa die Trennung des Menschen von der Natur und vom Anderen überwindet und es schafft, verlorene und verdrängte Bereich wieder zu integrieren.

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Wolfgang-Andreas Schultz

EUROPAS

ZWEITERENAISSANCE

Mensch, Natur und Kunstim Anthropozän

1. eBook-Ausgabe 2022

© 2022 Europa Verlag in der Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung und Motiv:

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Redaktion: Franz Leipold

Layout & Satz: Robert Gigler

Gesetzt aus der Minion Pro

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-413-2

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

INHALT

VORWORT

EUROPAS ZWEITE RENAISSANCE

Vor den Göttern

Die Welt der vielen Götter

Der eine Gott

Die All-Einheit-Lehre

Die Gesichter des Christentums

Das Mittelalter

Die Gesichter der Renaissance

Der Kosmotheismus des 18. Jahrhunderts

Individualität und innere Welt

Theorien der Bewusstseinsevolution

Gesichter einer zweiten Renaissance

MENSCH, NATUR UND KUNST IM ANTHROPOZÄN

Kunst der Moderne – weg von der Natur?

Luziferische Baumeister

Rebellen

Die Faszination des Bösen

Märchen

Das kulturelle Unbewusste

Noch einmal: Moderne – gegen die Natur?

Der Mythos der Befreiung

Der Mythos vom Ursprung

Ästhetische Transformation

Verweigerte Verwandlung

Von realer Gegenwart

Abendländisches Lied

NACHWORT

PERSONENREGISTER

Wo das Negative hegemonial wird,da ist die Zuversicht plötzlich subversiv.

Bernd Ulrich(aus: Guten Morgen, Abendland)

VORWORT

Europas zweite Renaissance wird keine Renaissance der ersten sein, sondern eher deren Korrektur. Es könnte nämlich sein, dass die Wurzeln vieler Probleme der Gegenwart in die Renaissance zurückreichen, von Problemen, die sich in der ökologischen Krise und der Krise der modernen Kunst manifestieren.

Zwei große Themenbereiche werden die Diskussion im 21. Jahrhundert bestimmen: erstens die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Natur und zweitens die Frage nach der Beziehung des Ichs zu den Anderen. Das 21. Jahrhundert muss neue Antworten geben, und die werden nicht ohne Einfluss auf die Künste bleiben.

Viele Menschen haben den Eindruck (auch wenn es nicht alle auszusprechen wagen), dass die große Zeit der europäischen Kunst, besonders was die bildende Kunst und die Musik betrifft, hinter uns liegt. Gewiss – die zeitgenössische Kunst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bietet viel Neues und Interessantes, das man nicht gering schätzen sollte, aber reicht es aus, neu und interessant zu sein, zumal das Neue und Interessante der Abnutzung unterliegt? Welche Dimensionen fehlen, sind verloren gegangen? Soll man mit dem Ende der großen europäischen Kultur seinen Frieden machen und all den Stimmen glauben, die behaupten: »Man kann heute nicht mehr …«? Wo könnten die Gründe dafür liegen?

Für mögliche Antworten muss man weit ausholen, tief in die Geschichte zurückgehen, zu Fragen nach Gottesbildern, nach dem Verhältnis von Gott und Natur – und von Mensch und Natur.

Zeitgenössische Kunst hat vielfach ein gebrochenes Verhältnis zur eigenen Tradition und breitet sich als »Moderne« oder »Avantgarde« über weite Gebiete der Welt aus. Die Studie versucht, die spezifisch europäischen Wurzeln der Moderne und der modernen Kunst herauszuarbeiten mit doppeltem Ziel: für Europa die Tür zu öffnen, in kritischer Selbstkorrektur wieder an seine großen Traditionen anschließen zu können und zugleich andere Kulturen zu ermutigen, sich von der europäisch-westlichen Dominanz zu befreien und eigene Wege zu gehen.

Wenn Europa sich an seine verdrängten und vergessenen Traditionen erinnert und dieses Erbe annimmt, könnte es sein, dass der Gegensatz vom europäischen Denken und dem anderer Kulturen zwar nicht verschwindet, so doch sich spürbar mildert. Das »Fremde« als vergessenes Eigenes zu entdecken kann Brücken bauen.

Der Text schließt in mancher Hinsicht an mein Buch Die Heilung des verlorenen Ichs – Kunst und Musik in Europa im 21. Jahrhundert an, besonders im Hinblick auf die Frage, wie sich das Ich konstituieren kann. Dabei sei betont, dass ein Plädoyer für eine »Individualität in Verbundenheit« und gegen eine »Individualität in Abgrenzung« kein Plädoyer für Kollektivismus oder Anpassung ist. Es gibt sogar Rebellion im Namen der Verbundenheit – man könnte das Buch so lesen.

Auch richtet sich ein Plädoyer für einen anderen Zugang zur Natur keineswegs gegen die Wissenschaft, auf die wir nicht verzichten können und dürfen und die sich ja auch ständig weiterentwickelt.

Wo es um Kunst geht, steht öfter die Musik im Mittelpunkt, nicht nur, weil ich dort als Komponist tiefere Einblicke habe als in andere Künste, sondern auch, weil sich am Beispiel der Musik besser das Verhältnis zur Natur an künstlerischen Verfahrensweisen darstellen lässt, anstatt nur auf die Thematik zu schauen. Blicke auf andere Künste versuchen zu skizzieren, wie dort vergleichbare Überlegungen aussehen könnten.

Die europäische Kultur hat auf dem Weg in die Moderne viel ausgegrenzt. Eine Kultur nach der Moderne sollte nicht den Fehler machen, ihrerseits die Erfahrungen der Moderne auszugrenzen. Es geht darum, über die Moderne hinaus zu denken, deshalb versucht das Buch eine Kritik der Moderne, nicht konservativ von der Vergangenheit her, sondern von einer denkbaren und wünschenswerten Zukunft aus. Es legt eine Erzählung vor, die Baustein einer neuen europäischen Identität werden könnte, nicht in Abgrenzung von anderen Kulturen, sondern eine Identität in Beziehungen zur eigenen Vergangenheit und zu all den Kulturen, die Europa beeinflusst und mitgestaltet haben.

Fast kommt es mir vermessen vor, ein solch großes Thema wie das der Möglichkeit einer zweiten Renaissance – und damit das Thema der Beziehung von Gott, Mensch und Kunst zur Natur – in einem gedrängten Essay zu behandeln. Ich bin aber dankbar, dass mein Verleger Christian Strasser mich nach der Lektüre meines Buches Die Heilung des verlorenen Ichs, in dem die Idee einer »zweiten Renaissance« kurz anklingt, ermutigt hat, dieses Thema weiter auszuführen. So hoffe ich, dieses Buch möge zum Weiterdenken anregen und zum Anlass für fruchtbare Diskussionen über Europas Selbstverständnis werden.

Wolfgang-Andreas Schultz, im November 2021

EUROPAS ZWEITE RENAISSANCE

»Welches lange Mittelalter verlassen wir gerade? Die Moderne.« So beginnt Régis Debray seinen Essay »Das Grüne Zeitalter«1, in dem er der Frage nachgeht, ob unsere Annahme der Unabhängigkeit von der Natur nicht vielleicht genauso illusionär ist wie vieles, was wir als mittelalterlichen Aberglauben belächeln.

Schon einige Jahrzehnte vorher konnte man bei Norbert Elias lesen: »Die Selbsterfahrung der eigenen Vereinzelung, der unsichtbaren Mauer, die das eigene ›Innen‹ von allen Menschen und Dingen ›draußen‹ absperrt, gewinnt im Laufe der Neuzeit für eine große Anzahl von Menschen die gleiche unmittelbare Überzeugungskraft, die im Mittelalter die Bewegung der Sonne um die Erde als Mittelpunkt der Welt besaß.«2 Der auch hier verwendete Vergleich der Moderne mit dem Mittelalter könnte die Idee einer zweiten Renaissance suggerieren, die uns aus dem Moderne-Mittelalter herausführen möge.

In der Tat ist die Idee einer »zweiten Renaissance« nicht ganz neu. Francisco Varela und Evan Thompson schrieben schon 1991: »Wir sind überzeugt, dass die Wiederentdeckung der asiatischen Philosophie, besonders der buddhistischen Tradition, für die westliche Kulturgeschichte einer ›zweiten Renaissance‹ entspricht und ein ebenso großes kreatives Potenzial birgt wie einst die Renaissance des griechischen Denkens für Europa.«3 Zwar sollte man den Wert und die Bedeutung, die der Einfluss der fernöstlichen Kulturen besitzt, nicht unterschätzen, dennoch liegt der Vergleich schief, denn die »erste Renaissance« brachte neu zu Bewusstsein, was schon Teil der abendländischen Kultur gewesen, im Mittelalter aber weitgehend in Vergessenheit geraten war. Von einer Renaissance sollte deshalb nur gesprochen werden, wenn es darum geht, Vergessenes, in der eigenen Kultur Schlummerndes wieder zu erinnern, Verdrängtes neu ins Bewusstsein zu heben.

Jede Erfolgsgeschichte ist fast immer auch eine Verlustgeschichte. Die »erste Renaissance« wird zu Recht als Ursprung des modernen Europas verstanden, aber welchen Preis hatte dieser Erfolg? Die Trennung des Menschen von der Natur und vom Anderen zeigt inzwischen deutlich ihre dunklen Seiten – in der Zerstörung der Natur und in der von Elias angesprochenen Vereinzelung. Es lohnt sich, nach den entscheidenden Wendepunkten für diese Entwicklung zu fragen.

Da Geschichte ja immer von den Siegern geschrieben wird, sollte man genauer hinschauen, was alles auch zur europäischen Kultur gehört, was aber vergessen und verdrängt wurde oder sich gar nicht entfalten konnte und was deshalb im Selbstbild Europas fehlt. Dass abgespaltene und unterdrückte Bereiche eines Menschen zu Problemen führen, ist bekannt – sollte das auch für eine gesamte Kultur gelten?

Auf der Suche nach den Wendepunkten müssen wir weit zurückgehen. In der »ersten Renaissance« werden die Bruchstellen gut sichtbar, aber wesentliche Ursachen liegen viel früher. Außerdem sollte der entscheidende Punkt, nämlich das Verhältnis des Menschen zur Natur, nicht isoliert betrachtet werden, sondern bedarf des Kontextes im Hinblick auf Religion und Gottesvorstellungen, auf Prozesse der Individualisierung, der Trennung der inneren Welt von der äußeren und gelegentlich auch auf Ethik, Recht und Opferrituale. Dabei sollten wir nicht den Fehler machen, Phänomene, die wissenschaftlich (nach Maßgabe des westlichen Denkens) nicht oder noch nicht erklärbar sind, zu leugnen und für nicht existent zu erklären. Das wäre nicht nur überheblich gegenüber anderen Kulturen, die solche Phänomene kennen, sondern auch gegenüber unserer eigenen Vergangenheit.

Vor den Göttern

In der Verbundenheit mit der Natur zu leben ist das eine, sich dessen bewusst zu sein das andere, weil dies die Erfahrung des Getrenntseins voraussetzt. Da liegen die Schwierigkeiten, sich einer Lebensweise zu nähern, sich in sie einzufühlen, in der sich das Bewusstsein überhaupt erst entfalten musste, die eine Unterscheidung von »Innen« und »Außen« noch kaum kannte. Jean Gebser nannte diese Lebensform die »archaische Bewusstseinsebene«.4

Über die später auftretende Lebensform, die sich der Magie bedient, lassen sich anhand von Statuetten, Höhlenzeichnungen und anderen Funden schon genauere Vorstellungen bilden, auch wenn uns das »magische Denken« sehr fremd ist. Nun gibt es allerdings Menschen, die noch heute im magischen Denken leben, und so lassen sich dank guter ethnologischer Forschung folgende Charakteristika nennen:

Es gibt zwar noch keine Götter, wohl aber Geister, die oft in Bäumen wohnen, der Natur zugeordnet werden, ja deren Lebendigkeit »verkörpern«. Die Natur wird als lebendig und beseelt vorgestellt und erfahren – dafür hat sich der Begriff »Animismus« eingebürgert. Die Geister werden weniger verehrt, als dass sie respektiert werden müssen. Insgesamt herrscht anderen Lebewesen gegenüber ein Verhältnis von Geben und Nehmen, was Opfergaben und entsprechende Rituale einschließt. Dank der Verbundenheit von allem mit allem kann auch auf nicht materielle Weise Einfluss ausgeübt werden. Die Einflussnahme bedient sich oft eines Teils, aber auch eines Bildes oder Symbols des zu beeinflussenden Menschen oder Tieres. Auf diesem Weg kann durch Magie geheilt, aber auch Schaden angerichtet werden. Die Ethnologin Godula Kosack nennt Menschen mit solchen Fähigkeiten »Kraftbegabte«: »Damit meine ich Frauen und Männer, die in der Lage sind, ihre mentale Kraft im Sinne mentaler Fremdeinwirkung zum Wohl oder Wehe anderer einzusetzen.« Das kann so weit gehen, Tiere oder sogar Menschen (vor allem Kinder) durch den »Verzehr von Lebenskraft«5 zu töten.

Für Angehörige einer westlichen Kultur sind das unerklärliche Vorgänge. Inzwischen gibt es jedoch zahlreiche wissenschaftlich dokumentierte Berichte über schamanische Heilungen, Schadenszauber und außerkörperliche Erfahrungen, sodass man nicht umhin kann zuzugeben: Vieles spricht für die Wirksamkeit von Magie.6

Einen Teil für das Ganze zu nehmen, das »Pars pro Toto«, macht sich die »schwarze Magie«, der »Schadenszauber« zunutze: »[…] der Zauberer muss im Besitz von etwas sein, das mit dem Körper des Opfers in Berührung war (Fingernägel, Haare, Schweiß, Urin, Kot).«7 Die westliche Erklärung als Placeboeffekt, Suggestion oder Projektion ist unzureichend, denn »der Schadenszauber an Tieren und Feldfrüchten, der immer wieder bezeugt wurde, kann nicht mit psychologischen Argumenten weg erklärt werden«.8 Auch Menschen werden Opfer, ohne dass sie etwas von dem Angriff wissen und ohne gewarnt worden zu sein.

Die große Frage, die uns die Magie stellt, lautet: Haben wir es mit einem grundsätzlich anderen Weltbild und Weltverständnis zu tun als im Westen? Interessant ist eine Antwort aus dem Westen selbst, die des Renaissance-Philosophen Marsilio Ficino: »Gerade wie das Zupfen einer Lyra-Saite eine zweite Saite in Schwingung bringt, sind auch die anderen Dinge des Universums in einem harmonischen Rhythmus miteinander verbunden. Das befähigt den Magier, der die richtigen Handlungen kennt, die Kräfte der himmlischen Körper einzusetzen.«9 Ficino geht von einer universalen Verbundenheit und einem durch sie wirkenden Resonanzprinzip aus.

Doch auch über Bilder kann die Verbindung etwa zu einem zu jagenden Tier hergestellt werden – darin vermutet man den Sinn vieler Höhlenzeichnungen.10 Im Hinblick auf die nicht materielle Verbindung von Bild und Dargestelltem spricht man heute vom »analogisierenden«11 oder »bildhaftsymbolischen« Denken.

Belegt sind auch außerkörperliche Erfahrungen, wenn beispielsweise ein Schamane in Trance mit der Seele in eine jenseitige Welt reist, oft in die Welt der Toten. Doch auch Kraftbegabte »verlassen nachts […] als Feuer ihren Körper […]. Die bösen Kraftbegabten sind nachts unterwegs, um Menschen zu verzehren. Sie lassen ihren Körper leblos auf dem Bett zurück und fahren in Gestalt eines Feuers hinaus […].«12

Die Fähigkeit zum Schadenszauber ist die dunkle Seite des magischen Bewusstseins. Die von Godula Kosack in Afrika erforschten Mafa leben in ständiger Angst, denn »mentale Fremdeinwirkung« ist die übelste Form eines Angriffs, weil er anonym erfolgt – nur durch Befragung eines Orakels kann der Täter gefunden werden, und wehren kann man sich nur durch Gegenzauber.

Was können die Motive für einen Schadenszauber sein? Kosack nennt Erbstreitigkeiten (oft um Landbesitz – sonst gibt es dort noch wenig Privateigentum), Neid auf Reichtum und Erfolg, Kränkungen und Rivalitäten. »Deshalb sind alle Leute allen gegenüber argwöhnisch.«13 Das deutet darauf hin, dass die Gemeinschaft nicht die überragende Bedeutung hat, wie oft vermutet wird. Andererseits sollte man in Betracht ziehen, dass ein reich Gewordener nur deshalb ermordet wird, um die Balance, die Egalität und Harmonie der Gemeinschaft wiederherzustellen.

Von Individualität im Sinne westlicher Gesellschaften kann bei den Mafa nicht gesprochen werden, weil der Einzelne noch ganz an die Gruppe bzw. an den Stamm gebunden ist (»Gruppen-Ich« bzw. »Stammesbewusstsein«). So etwas wie eine Ethik gibt es dort nicht – Gebser schreibt, »dass die magische Welt eine Welt ohne Werte ist«14 – und es gibt auch nicht das Bewusstsein einer persönlichen Verantwortung, obwohl persönliche Interessen offenbar durchaus schon eine Rolle spielen.

Nun leben unter den Mafas auch Christen. Auf die Frage, »ob es wirklich möglich wäre, dass eine Person eine andere verzehren könne«, hatte eine junge Christin geantwortet: »Aber natürlich, nur die Christen tun das nicht mehr.«15 Ein anderes Mal erhielt die Frage: »Bist du als Katholikin mehr oder weniger geschützt vor Krankheit oder Unglück als eine Heidin?«, die Antwort: »Als Heidin wäre ich besser dran, denn dann könnte ich durch das Orakel herausfinden, wer das Kind verzehrt, und ich könnte die anderen durch Zeremonien schützen lassen.«16

Natürlich lassen sich die Verhältnisse in Afrika heute nicht eins zu eins auf Europas vorgermanische Zeit übertragen, dennoch sind sie eine Warnung vor romantischer Verklärung der magischen Epoche und eines Lebens in Einklang mit der Natur, bevor sich Rationalität und eine universalistische Ethik entfaltet haben – eine Ethik, die alle Menschen gleichermaßen einschließt, nicht nur die Mitglieder des eigenen Volkes oder Stammes.

Die Welt der vielen Götter

Können Gottesbilder wahr oder falsch sein? Oder geht es nicht vielmehr darum, wie vollständig oder wie einseitig ein Gottesbild ist? Die Aspekte, die in einem Gottesbild bzw. in den Gottesbildern hervorgehoben werden, und diejenigen, die zurücktreten, sagen mehr aus über die Menschen als über Gott, vor allem auch über das Verhältnis der Menschen zur Natur.

Wie werden aus Geistern, die im Wasser, in Bäumen und anderen Pflanzen leben, nun Götter? »Für frühe Stufen der mythischen Weltauffassung besteht noch nirgends ein scharfer Schnitt, der den Menschen von der Gesamtheit des Lebendigen, von der Tier- und Pflanzenwelt abscheidet«,17 heißt es bei Ernst Cassirer. Der Schritt zu den Göttern bezeichnet ein erstes Heraustreten aus der unmittelbaren Einheit mit der Natur, eine gewisse Abstraktion, weil die Götter in der Regel für Kräfte stehen, die in der Natur und im Menschen wirksam sind, und weniger für konkrete Erscheinungen wie bestimmte Bäume, Berge oder Seen. Mit den Göttern entstehen nun auch Mythen, Erzählungen über ihre Eigenarten und ihre Geschichten. Damit beginnt eine innere Welt, die der Sprache und der Erzählung bedarf, sich von der sichtbaren Außenwelt zu trennen. Doch sind die Grenzen zwischen »innen« und »außen«, zwischen Ich und der äußeren Wirklichkeit zunächst noch durchlässig und verändern sich im Laufe der Entwicklung der Götterbilder.

»In der ägyptischen Kunst finden wir noch durchweg die Doppel- und Mischformen, die den Gott schon in menschlicher Bildung, aber mit einem Tierkopf, mit dem Haupt einer Schlange, eines Frosches oder Sperbers zeigen, während auf anderen der Leib tierisch gebildet ist, das Antlitz aber menschliche Züge trägt.«18 Es gibt viele Erzählungen über die Verwandlung der Götter in Tiere, wie auch von Menschen in Pflanzen, in Tiere und umgekehrt.19 »[…] selbst dort, wo die Götter bereits in klarer menschlicher Bildung vor uns stehen, pflegt sich ihre Verwandtschaft mit der tierischen Natur in ihrer fast unbegrenzten Verwandlungsfähigkeit auszusprechen.«20

Allgemein lässt sich sagen: Je mehr sich in den Götterbildern Tiere und Menschen mischen, desto näher waren sich noch Menschen und Tiere; und rein menschlich dargestellte Götter verweisen auf eine stärkere Trennung von Mensch und Natur. Im Zusammenhang mit der Abstraktion der Gottesvorstellungen von der konkreten Naturerscheinung ändert sich auch der Ort der Kulte: Nicht mehr in der Natur, in heiligen Hainen wird der Kult gefeiert, sondern es werden Tempel gebaut mit Statuen und Bildern, in denen die Götter verehrt werden.

Ein weiterer wichtiger Schritt innerhalb der mythischen Welt wird getan, »wenn die Seele, statt als bloßer Träger oder als Ursache der Lebenserscheinungen gedacht zu werden, vielmehr als Subjekt des sittlichen Bewusstseins gefasst wird«.21 In Ägypten entstand die Idee des Weiterlebens nach dem Tod, zuerst noch ganz so, dass die jenseitige Welt nach dem Vorbild der diesseitigen vorgestellt wurde, was man an der Wahl der Grabbeigaben erkennen kann: praktische Gegenstände und Tierplastiken »zum Zweck einer Jagdmagie, der Vorstellung folgend, dass der Besitz eines Bildes Macht über das Dargestellte«22 verleiht.

Später entstand die Vorstellung eines Totengerichts, das der Gott Osiris abhält: »Erst nachdem sein (des Menschen) Herz auf der Waage, die vor dem Gotte steht, gewogen und als schuldlos befunden ist, geht er ins Reich der Seeligen ein. Nicht seine Macht und Vornehmheit auf Erden, nicht seine magische Kunst, sondern seine Gerechtigkeit und seine Schuldlosigkeit entscheiden jetzt darüber, ob er im Tode obsiegt.«23

Zusammen mit dem Abstraktionsprozess in der Entstehung von Göttern und Mythen löst sich der Mensch bereits aus der Bindung an den Stamm und die Gemeinschaft ein wenig heraus, indem so etwas wie persönliche Verantwortung eine Rolle zu spielen beginnt. Für Ägypten war die Göttin »Ma’at« als Göttin der Gerechtigkeit eine zentrale Gestalt. Der Mensch lebt »nicht mehr ausschließlich im Außen seiner sozialen Einbindung […]. Vielmehr entsteht jetzt ein neues Bild vom Menschen, in dem sich ›Außen‹ und ›Innen‹ die Waage halten.«24 Gleichwohl erfuhren die Menschen sich noch im Bewusstsein einer »allumfassenden Verflechtung, die alle Erscheinungsformen des diesseitigen Lebens bedingten und erfassten«.25 Allerdings lebten in der Volksreligion auch die Geister und die Magie noch weiter.

Die Götterwelt der Griechen erlaubt uns Einblicke in Veränderungen und Entwicklungen innerhalb der polytheistischen mythischen Welt. Auch die Griechen feierten ihre Kulte in der frühen Zeit »noch in heiligen Hainen ohne Tempel und Götterbilder«.26 Aber auch da gab es eine dunkle Seite: die Menschenopfer. Die Geschichte der Iphigenie, die geopfert werden sollte, damit die Flotte der Griechen nach Troja auslaufen konnte, aber von der Göttin Artemis durch eine Hirschkuh ersetzt und auf die Insel Tauris versetzt wurde (wo aber auch noch alle Fremden der Artemis geopfert werden mussten), zeigt den Übergang vom Menschen- zum Tieropfer.

Bereits bei Homer werden Tempel »als Häuser der Götter«27 erwähnt. Und mit den Tempeln entstanden Götterbilder, Kunstwerke von großer ästhetischer Vollkommenheit, rein menschlich dargestellte Götter. »Die griechische Plastik […] vollzieht hier den scharfen Schnitt: sie dringt in der Formung der reinen Menschengestalt zu einer neuen Form des Göttlichen selbst und seines Verhältnisses zum Menschlichen durch.«28 Cassirer spricht von einem »Prozess der Vermenschlichung und Individualisierung«.29 Wie kam es dazu?

Hesiod erzählt in seiner Theogonie die Geschichten der alten Götter, von denen »die meisten kaum personifizierte Naturphänomene gewesen zu sein scheinen«,30 von den Titanen, von denen allerdings nur »ein paar deutlicher personifiziert wurden«, von der Abfolge der jeweils herrschenden Gottheiten von Uranos bis Zeus und von den Kämpfen der olympischen Götter gegen die Titanen.31 »Nach einem zehnjährigen Krieg wurden die Titanen in den Tartaros geworfen …«32 Auch wenn Zwittergestalten aus Tier und Mensch (Pan, die Satyrn, die Kentauren) auf die unterste Ebene der Götter-Hierarchie verbannt waren, so behielten doch auch die siegreichen olympischen Götter weiterhin einen Bezug zu Naturphänomenen: Apollo ist noch Sonnengott und steht zugleich für die abstraktere Idee von Verstand, geistiger Klarheit und Wissen; Diana/Artemis ist Göttin der Jagd, Archetypus der selbstständigen Frau und zugleich auch Mutter der Natur (so wird sie uns im Mittelalter und in der Renaissance wieder begegnen); bei Aphrodite »kehrt sich die geistig individuellere Seite des Liebreizes, der Anmut, der Liebe heraus, der es jedoch an einer Naturgrundlage keineswegs fehlt«,33 so Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Schließlich ist auch Zeus als Blitze schleudernder Gott, obwohl oberster der Olympier, noch mit dem Naturphänomen Gewitter verbunden.

Parallel dazu vollzieht sich der Übergang zu Sittlichkeit und Recht, ähnlich wie in Ägypten. Das »Sittliche, Rechtliche hat Prometheus den Menschen nicht gegeben, sondern nur die List gelehrt, die Naturdinge zu besiegen und zum Mittel menschlicher Befriedigung zu gebrauchen«.34 Er gehört zu den Titanen, und deshalb hat Zeus ihn »vom Olympos herabgeschleudert«.35 Wie sich die Konflikte des Übergangs von Rache zu Recht darstellen, zwischen den Forderungen der alten Götter und den Regeln der Gesetze, all das wird in den Tragödien behandelt, besonders in der Orestie des Aischylos. In deren letztem Teil verkündet Athene »die Stiftung eines Gerichtshofs, der für alle Zeiten das Recht bei Bluttaten verwalten soll in Ablösung der alten Gerichtsbarkeit der Blutrache«.36

Waren die Helden Homers schon auf dem Weg zur Individualität, zu einem stabilen Ich und zu einer kohärenten Persönlichkeit (Homers Odyssee erzählt davon37), so entsteht, »indem die Tragödie, im Gegensatz zum Epos, das Zentrum des Geschehens von außen nach innen verlegt, […] eine neue Form ethischen Selbstbewusstseins, durch die nunmehr auch das Wesen und die Gestalt der Götter verwandelt wird«.38 Jetzt erst, mit der Entstehung individualisierter Gottheiten, »empfängt auch der Einzelne gegenüber dem Leben der Gattung sein selbstständiges Gepräge und gleichsam sein persönliches Gesicht«.39

Eng miteinander verbunden sind also drei Prozesse: das Hervortreten menschlicher und individualisierter Götter, die Entstehung von Ethik, Sittlichkeit und Recht und eine Individualisierung der Menschen. Ein Heraustreten aus der gleichsam unbewussten Naturverbundenheit ist dafür Voraussetzung, ja eine gewisse Entsakralisierung – auch wenn ältere naturreligiöse Kulte noch lange neben den olympischen Göttern gepflegt wurden.

Die Balance zwischen der Individualität der Götter, ihren sehr menschlichen Verhaltensweisen (bis hin zu den amourösen Abenteuern des Zeus und anderer Olympier) einerseits und ihrer übermenschlichen Erhabenheit andererseits war prekär. Und so benutzten Philosophen wie Sokrates und Platon immer wieder die Formulierung »der Gott«, also kein bestimmter, individualisierter. So begann auch in Griechenland die Vorstellung eines einzigen Gottes, noch neben den vielen Göttern.

Der eine Gott

Viele Jahrhunderte bevor die griechischen Philosophen von Gott statt von den Göttern zu sprechen begannen, gab es in Ägypten eine kurze Episode, in der ein radikaler Monotheismus »von oben« verordnet wurde. Amenophis IV., der sich später Echnaton nannte und wahrscheinlich ungefähr von 1370 bis 1350 v. Chr. regierte, ging so weit, diesen einen Gott »nicht einfach über alle anderen« zu stellen, sondern ihn »an ihre Stelle«40 zu setzen. Es kam zur Zerstörung aller Heiligtümer der alten Götter, und an ihre Stelle trat der Sonnengott »Aton«, sichtbar als Sonnenscheibe, also einem Naturphänomen verbunden. Diese Religion war extrem einseitig, weil es keine Pole mehr gab, keine Spannungen und Wechselwirkungen zwischen ihnen. Der Gott, die Sonne, war nachts einfach nur abwesend, unternahm keine Nachtfahrt in die Unterwelt, um am Morgen neugeboren wieder aufzusteigen, wie der Mythos erzählte. Es ging um »die Wahrheit der sichtbaren Wirklichkeit« und um »die Unwahrheit der mythischen Bilder und Erzählungen«41