Die Heilung des verlorenen Ichs - Wolfgang-Andreas Schultz - E-Book

Die Heilung des verlorenen Ichs E-Book

Wolfgang-Andreas Schultz

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Beschreibung

In keinem Bereich wird so deutlich wie in der Musik, in welch hohem Maß Europa kulturell von seiner Substanz lebt. Die Hoffnung, die Neuerungen des 20. Jahrhunderts würden bald genauso akzeptiert werden wie vormals die von Beethoven und Wagner, hat sich nicht erfüllt, und immer noch wird als neu bzw. als "Avantgarde" gefeiert, was mittlerweile oft schon 50 oder gar 100 Jahre alt ist. Ist Europa erschöpft, müde geworden? In seinem Buch geht der Komponist und Philosoph Wolfgang-Andreas Schultz den tieferen Ursachen für diese Stagnation nach. Sie reichen weit zurück bis in eine Zeit, als in Europa bestimmte Weichenstellungen erfolgten, die das Verhältnis des Ich zum Anderen und zur Natur festlegten. Mit Bezug auf Gottfried Benns Gedicht "Verlorenes Ich", das die prägenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck bringt, zeigt Schultz, wie die Vorstellung eines isolierten, vom Anderen und von der Natur getrennten Ichs zur Krise der modernen Kunst führt, legt aber auch dar, dass Europa in eigenen, teilweise vergessenen Traditionen die Ressourcen finden kann, um kulturell lebendig zu bleiben. Dazu muss Europa sein Selbstbild kritisch befragen, es braucht eine neue Lesart seiner eigenen Geschichte, gerade auch der Musikgeschichte der letzten Jahrhunderte. Für die Musik bedeutet das, nicht länger auszugrenzen, sondern innerhalb der abendländischen Tradition wie auch in der Begegnung mit anderen Kulturen die Vielfalt in einer verschiedene Zeiten und Stile umfassenden, gleichwohl persönlichen Musiksprache zu vereinen – das könnte die Utopie für eine Musik des 21. Jahrhunderts sein.

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Wolfgang-Andreas Schultz

DIE HEILUNGDESVERLORENENICHS

Kunst und Musik in Europaim 21. Jahrhundert

1. eBook-Ausgabe 2018© 2018 Europa Verlag GmbH & Co. KG, MünchenUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung eines Manuskripts und eines Fotosvon © Wolfgang-Andreas SchultzSatz: Danai Afrati & Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-222-0

ePDF-ISBN: 978-3-95890-223-7

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

INHALT

VORWORT

EUROPAS VERGESSENE SEITEN –

Eine Einladung zur Spurensuche

DIE HEILUNG DES VERLORENEN ICHS –

Abendländische Subjektkonstitution und die Krise der modernen Kunst

GLOBALISIERUNG UND KULTURELLE IDENTITÄT –

Über den schöpferischen Umgang mit der Musik anderer Kulturen

KLANG – DAS ANDERE DER EUROPÄISCHEN MUSIK? –

Über das Subjekt in der Kunst

INTEGRALE KUNST –

Versuch einer Konkretisierung am Beispiel der Musik

EIN NEUES NARRATIV? –

Ein Versuch, die Musikgeschichte anders zu erzählen

PARADIGMEN VON INNOVATION –

Neu über das Neue nachdenken

AVANTGARDE –

Zur Archäologie eines historischen Phänomens

VERUNTREUTE GEGENWART –

Welche Musik wird wahrgenommen?

NACHWORT

QUELLENNACHWEIS

VORWORT

Eine Revolte gegen die Resignation – so könnte man den Tenor dieser Texte beschreiben. »Man kann heute nicht mehr …« oder » … ist unwiderruflich verloren« – in solchen Sätzen, in die man einfügen könnte »persönliche Gotteserfahrung machen« oder »die Natur als beseelt erleben« oder »ein harmonisches Kunstwerk schaffen«, in solchen Sätzen also zeigt sich das Bewusstsein des Verlusts existenziell wichtiger Bereiche, den die meisten als unabänderlich hinnehmen.

Die Frage, wie es dazu kommen konnte, führt – was die Künste betrifft – zu zwei Problemfeldern: erstens zur Frage nach den Auswirkungen der Kriegstraumata des 20. Jahrhunderts auf die Künste (sie ist der Kern meines vorausgehenden Buches »Avantgarde.Trauma.Spiritualität – Vorstudien zu einer neuen Musikästhetik«) und zweitens zur Frage nach einer spezifisch westlichen Subjekt-Konstitution, die den Kern des vorliegenden Buches bildet, letztlich zur Frage nach der Idee eines isolierten, sich abgrenzenden Ichs – deswegen durchzieht auch das Gedicht »Verlorenes Ich« von Gottfried Benn leitmotivartig das Buch. Diese Idee wird nicht nur von anderen Kulturen, besonders von buddhistisch geprägten, kritisch hinterfragt, sondern hat sich im Abendland erst allmählich herausgebildet, gegen andere Konzepte, gegen andere Traditionsstränge.

Diesen nachzuspüren könnte der allgemein akzeptierten Erzählung ihre Zwangsläufigkeit nehmen im Bewusstsein anderer Entwicklungsmöglichkeiten, ohne deshalb die Moderne des 20. Jahrhunderts ausgrenzen zu müssen. Trotz aller vermeintlichen Brüche (wie um 1910 und 1950) die Einheit der abendländischen Kultur sehen zu können, ihre Kontinuität, ihre Beziehungen zu anderen Kulturen, ihre neuen Entwicklungschancen – das ist die hinter den Texten in diesem Buch stehende Utopie. Was alles an vermeintlich unwiederbringlich Verlorenem noch oder wieder möglich ist, muss dann allerdings in der künstlerischen Praxis erprobt werden.

Die Texte sind einzeln entstanden – einige wurden bereits veröffentlicht – und sollten einzeln verständlich sein. Deshalb bitte ich meine Leserinnen und Leser, gelegentliche Wiederholung bestimmter Grundgedanken zu entschuldigen. Besonderer Dank gilt dem Europa-Verlag für die Veröffentlichung des Buches, aber auch zwei Menschen, ohne die es das Buch nicht geben würde: Barbara von Meibom und Rüdiger Sünner. Dessen neustes Buch »Geheimes Europa« bietet in den Kapiteln über die Aktualität der Romantik (»Geheimes Deutschland: Spirituelle Elemente der Frühromantik«) und über die Alchemie (»Nachtmeerfahrten: Mythos und Schattenarbeit bei C.G. Jung«) willkommene Ergänzungen zum ersten Text des vorliegenden Buches.

Wolfgang-Andreas Schultz

Im Januar 2018

EUROPAS VERGESSENE SEITEN –

Eine Einladung zur Spurensuche

I.

Die weit verbreitete Selbstbeschreibung Europas erzählt dessen Geistesgeschichte in der Regel anhand zweier Entwicklungslinien – zum einen der Religion und zum anderen der Wissenschaft –, von ihren Konflikten und auch von Versuchen, sie zusammenzubringen.

Das jähe Erstaunen beim Anblick einer Zeichnung aus dem Jahre 1779, die den Menschen in seinen kosmischen Bezügen derart darstellt, dass die Planeten-Archetypen den Stellen zugeordnet sind, wo sich nach indischer Lehre die Chakren befinden1, sollte Zweifel an dem europäischen Selbstbild wecken. Woher kommt das? Nicht aus der Religion, zumindest nicht, wie sie in Europa verstanden und praktiziert wird. Und aus der Wissenschaft auch nicht …

Was hat das Abendland gewusst, aber offenbar vergessen? Werden wir heute durch die Begegnung mit asiatischen Kulturen auf eigene unentdeckte Ressourcen gestoßen? Ist die christliche Mystik nur ein etwas unorthodoxes Anhängsel an die institutionalisierte Religion, wie sie von den Kirchen vertreten wird? War Giordano Bruno ein Naturwissenschaftler, der nur den Schritt zur mathematisierten Naturwissenschaft noch nicht geschafft hat? Oder gibt es in der europäischen Geistesgeschichte noch eine dritte Entwicklungslinie? Gerade das Dreieck Kirche – Galilei – Bruno könnte eine Erzählung in drei Linien plausibel machen: einerseits die Kirche, die beide als Ketzer verbrennen wollte, Galilei, der eine mathematisierte materialistische Naturwissenschaft anstrebte und damit im Gegensatz stand zu Bruno, der die Welt als lebendigen, beseelten Kosmos auffasste – also drei überaus konträre Positionen.

II.

Eine reduzierte Selbstwahrnehmung bringt in der Regel ein entsprechend unvollständiges Bild anderer Kulturen hervor. Die vom Islam geprägten Kulturen kennen nicht nur den Gesetzes-Islam in seinen verschiedenen Richtungen (darunter eben auch die fundamentalistischen, auf den Wahabismus zurückgehenden), eine Zeit des Rationalismus und der Aufklärung2 mit einem Aufblühen der Wissenschaft in den Jahrhunderten um die erste Jahrtausendwende, sondern auch den Sufismus, eine auf vorislamische Traditionen aufbauende Mystik, die Gott im Herzen eines jeden Menschen sucht. Der Sufismus, dessen bekannteste Vertreter Dschelaleddin Rumi und Ibn Arabi waren (beides Mystiker, Dichter und Philosophen zugleich), befand sich oft im Konflikt mit dem Gesetzes-Islam: Viele Mystiker wurden verfolgt und sogar hingerichtet – andererseits waren die Sufis Vertreter einer die Rationalität übersteigenden Spiritualität.

Auch heute gibt es vielerorts diese drei Linien: eine am Westen, an Rationalität und Aufklärung orientierte Oberschicht, den Gesetzes-Islam und den in der Bevölkerung sehr beliebten Sufismus mit Heiligen-Verehrung, Volksfesten und einer großen Toleranz für andere Religionen.

Es ist eine Tragödie, dass gerade in Ländern wie Pakistan und Afghanistan heute der Sufismus von fundamentalistischen Strömungen wie den Taliban erbittert bekämpft wird; sie »versuchen, diese äußerst tolerante, synkretistische Verkörperung des Islam zu zersetzen, obwohl gerade heute ein solches Gesicht des Islam dringend gebraucht wird, um die wachsende Kluft zwischen dieser und anderen Religionen zu überbrücken«, schreibt William Dalrymple3, der sogar von einem »Kampf der Kulturen« spricht, »nicht zwischen dem Osten und dem Westen, sondern innerhalb des Islam«.

Die andere Tragödie ist, dass der Westen diesen Kulturkampf nicht wahrgenommen hat, weil er nur in den beiden Linien Religion und Glaube einerseits und Wissenschaft und Rationalität andererseits denkt.

III.

Wie sieht es nun in der abendländischen Kultur aus, in Europa? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit4 soll der Blick auf einige Aspekte der abendländischen Geschichte versuchen, die Frage nach dem möglicherweise unvollständigen Selbstbild zu beantworten.

Unbestritten ist, dass die Entwicklung der Philosophie von den Vorsokratikern bis zu Platon und Aristoteles zu den ganz großen Leistungen der griechischen Antike gehört, und ebenso unbestritten scheint die Vorstellung, im Bereich der Religion habe das Christentum den verblassenden antiken Götterhimmel beerbt. Aber welche Rolle spielen die dabei oft übersehenen Mysterien-Religionen?

»Offenbar vermochte der allgemeine Kult, also die von Homer geprägte olympische Götterwelt, die religiösen Bedürfnisse auf Dauer nicht zu befriedigen. (…) Die althergebrachte Religion (…) gab keine befriedigende Antwort auf die Frage des Individuums: Woher komme ich? Wohin gehe ich?«5 Die Suche »nach einer religiösen Bindung, die sich auf die persönliche Existenz bezog«6, fand ihr Ziel in den Einweihungsritualen der Mysterien, die sich zunächst noch mit den olympischen Göttern verbinden ließen, auch wenn von Anfang an Einflüsse aus Ägypten und dem Orient bestimmend waren. Auffällig ist, dass in vielen Mysterien eine Göttin im Zentrum steht und dass sie eng mit den Rhythmen der Natur verwoben sind. »Als Herrin der Natur ist die Göttin mit dem Wachsen, Blühen und Vergehen der Vegetation verbunden (…) Die aufblühende, sterbende und wiedererstehende Vegetation wird im Bild des blühenden junges Heros gesehen, der von der Allmutter geliebt, aber auch geopfert wird und der wieder neu, aber verwandelt aufersteht: der Mythos vom sterbenden und wiedererstehenden Gott.«7

Pythagoras war wahrscheinlich in die ägyptischen Mysterien eingeweiht, wie Platon in die eleusinischen. Dieser ägyptisch-orientalische Anteil der griechischen Antike darf nicht unterschätzt werden, zumal sich in ihm zwei entscheidende Elemente finden, die die Mysterien in Gegensatz zur antiken Götterreligion treten lassen: die persönliche Erfahrung in der Einweihung und die Heiligkeit der Natur mit einer Göttin im Zentrum als Gegengewicht zu dem von männlichen Göttern dominierten Olymp.

Der Gegensatz zu diesen Göttern verschärfte sich von der Zeit an, als im Hellenismus mit dem Isis-Kult eine ägyptische Göttin in den Mittelpunkt rückte. »Isis war (…) keine nationalrömische Göttin geworden wie die Mater Magna Kybele; ihr Kult hatte mit großen Widerständen, ja mit Verfolgung und Vertreibung zu kämpfen.«8 Osiris, der Gemahl der Isis, durchlief, wie symbolisch auch jeder Eingeweihte, das Schicksal von Tod und Wiedergeburt, ebenso wie – nach ägyptischer Vorstellung – die Sonne auf ihrer Nachtfahrt. Im Roman »Der goldenen Esel« von Apuleius ist ein Bericht über die Einweihung in die Isis-Mysterien zu finden. Isis wurde in der Spätantike zur Universalgöttin, »die Eine, die alles in einem ist«.9 »Die Übereinstimmungen mit dem Christentum sind deutlich, doch ist keine Abhängigkeit zu konstatieren. Der Weg zur universellen Gottheit war vorgezeichnet.«10

IV.

Jede Erzählung von Geschichte ist eine Konstruktion und beruht auf subjektiven Entscheidungen, so auch der Versuch, die europäische Geschichte durch drei Entwicklungslinien zu beschreiben. Wie sinnvoll ein solches Unterfangen ist, bemisst sich daran, ob es zu tieferem Verständnis beiträgt – letztlich eine Frage der Evidenz. Dabei hilft es, sich von traditionellen Polaritäten zu lösen und multipolar zu denken.

Die drei Entwicklungslinien darf man sich nicht strikt getrennt vorstellen; sie können einander in vielfältiger Weise berühren, ja mitunter sogar verschmelzen oder sich feindlich gegenüberstehen. In den verschiedenen Ländern Europas hat es zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Ausprägungen der drei Linien in unterschiedlichsten Konstellationen gegeben – man könnte versucht sein, so etwas wie nationale Eigenheiten der europäischen Länder u.a. durch die jeweilige Erscheinungsform und Konstellation der drei Entwicklungslinien zu beschreiben.

V.

Monotheistische Religionen der Art eines Glaubens an einen außer- oder überweltlichen Gott neigen dazu, da die Welt jetzt »nur« noch als Gottes Schöpfung, aber nicht mehr als seine Manifestation gesehen wird, die Natur zu entwerten; das konnte im Christentum des Westens durch den Einfluss von Neuplatonismus und Manichäismus bis zu einem extremen Dualismus gehen, der in der Welt und der Natur etwas Gegengöttliches sah.

Andererseits sollte man die polytheistischen Naturreligionen, gegen die sich die monotheistischen durchsetzen mussten, nicht verklären. Die monotheistischen Religionen brachten eine neue Geistigkeit, die Würde des Einzelnen und eine allgemeingültige Ethik, was gegenüber den meisten polytheistischen Naturreligionen einen Fortschritt, in gewisser Weise sogar eine Befreiung darstellte, deren dunkle Seiten ja das Menschenopfer war – eine Praxis, die sowohl für die germanische als auch für die keltische und sogar für die ältere Zeit der griechischen Religion belegt ist.11 Die dunkle Seite des Christentums allerdings ist der gnadenlose Kampf gegen das Heidentum und gegen jegliche Naturverehrung. Weil der eine Gott letztlich doch männlich gedacht war, lud er dazu ein, bis hin zur Hexenverbrennung alle Spuren weiblicher Naturverbundenheit zu tilgen.

Und dennoch zeigte sich, meist im Geheimen oder im offenen Konflikt mit der Kirche, dass sowohl der Gedanke der Heiligkeit der Natur als auch der einer persönlichen Gotteserfahrung überlebten.

»Irland war (…) eine Entdeckung, weil ich dort auf eine Unterströmung des Christentums traf, die vieles davon besaß, was mir die Kirche nie hatte bieten können: Magie, Poesie, Naturverbundenheit, archaische Kraft (…)«12 Im keltischen Christentum in Irland scheinen also christlicher Monotheismus und die Heiligkeit der Natur eine glückliche Verbindung eingegangen zu sein, so lange, bis der Papst mithilfe des englischen Militärs die Iren auf seine Linie brachte.

Große Vorsicht mussten die Theologen und Philosophen der Schule von Chartres walten lassen, denn sie begriffen »den Kosmos als ein lebendiges Wesen«.13 »Das intensive Erleben der ›Natur‹ war in Chartres seit Urzeiten lebendig. Die Schule von Chartres lebte in dieser Tradition und erweiterte sie, indem sie jetzt einerseits zum bloßen Erleben der Natur deren denkerisches Erkennen hinzufügte und andererseits den Einklang mit dem Mikrokosmos, dem Menschen, erkannte.«14 Einklang von Makrokosmos und Mikrokosmos – das wäre die Tradition der hellenistischen Mysterien, und tatsächlich scheint es in Chartres einen Schulungsweg gegeben zu haben, der in mancher Hinsicht den Mysterien der Antike ähnelt. Man fühlte sich »mit Ägypten und der ägyptischen Weisheit verbunden, ihre Bilder waren bekannt, ihre Inhalte präsent (…)«15

Die Möglichkeit persönlicher Gotteserfahrung blühte auf in der Mystik des Mittelalters, deren wichtigste Vertreter Meister Eckhart und Hildegard von Bingen sind. Gerade Eckhart hatte heftige Probleme mit der Kirche und der Inquisition – die Verdammungsbulle trifft aber erst nach seinem Tod ein. In der Tat gibt es gewichtige Unterschiede zur Lehre der Kirche, etwa in der Interpretation der Menschwerdung Gottes: für die Kirche ein einmaliges historisches Ereignis in Jesus Christus, für den Mystiker etwas, das sich in jedem Menschen vollzieht, so zu verstehen, »dass ein jeder Mensch ein einiger Sohn ist, den der Vater ewiglich geboren hat«.16 Das Bewusstsein der Gottessohnschaft hebt die Trennung von Gott und Mensch auf: Gott wird in der Seele eines jeden Einzelnen geboren und dadurch Mensch.

VI.

Die Renaissance hat nicht nur die griechische Antike wiederentdeckt (deren Philosophie teilweise bereits durch die Vermittlung der Araber bekannt war), sondern auch Hermes Trismegistos. Dessen »Corpus Hermeticum« galt lange Zeit als Weisheitstext des alten Ägypten, stammt aber aus der Spätantike und wurde 1471 von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzt17 – mit beträchtlichen Folgen, besonders im Kreise der Alchemisten.

Allenthalben führen Spuren nach Ägypten, denn die Alchemie war »größtenteils ägyptischen Ursprungs«18 und müsste bereits im 11./12. Jahrhundert über die Araber in den westlich-abendländischen Kulturkreis gelangt sein.19 »Die Alchemie bildet etwas wie eine Unterströmung zu dem die Oberfläche beherrschenden Christentum. Sie verhält sich zu diesem wie der Traum zum Bewusstsein.«20 Tatsächlich geht es um die »Projektion seelischer Inhalte in die Materie«,21 und bei dem »alchemistischen Opus handelt es sich zum größten Teil nicht nur um chemische Experimente allein, sondern auch um etwas wie psychische Vorgänge, die in pseudochemischer Sprache ausgedrückt werden.22 (…) alles Unbewusste war, sofern aktiviert, ins Stoffliche projiziert, das heißt, es trat dem Menschen von außen entgegen.«23 Die Alchemie war von der Kirche verboten und doch auch von der gleichzeitig sich entwickelnden materialistisch ansetzenden Naturwissenschaft weit entfernt. C.G. Jung betont in seinem Resümee, »bis zu welchem Grade die Alchemie eine religiös-philosophische oder ›mystische‹ Bewegung war. Sie erreichte wohl ihren Gipfel in der Gestaltung von Goethes religiöser Weltanschauung, wie sie uns im ›Faust‹ erscheint.«24

So lebte die seelische Symbolwelt lange weiter, auch als sich die Alchemie längst gespalten hatte in die Naturwissenschaft (Paracelsus) einerseits und die christliche Mystik (Jakob Böhme) andererseits25 – Letzterer wurde von der Romantik hoch verehrt, heißt es bei ihm doch: »Wir zeigen Euch die Offenbarung der Gottheit in der Natur.«26 Hier finden wir sie wieder, die Verbindung von Mystik als persönlicher Gotteserfahrung mit dem Gedanken der Göttlichkeit und Heiligkeit der Natur.

Das Corpus Hermeticum wurde auch später, bei Ralph Cudworth (1671/78), so gelesen, dass es »auf eine Theologie der All-Einheit hinausläuft«.27 Und George Berkeley fasst 1744 zusammen: »Platon und Aristoteles betrachteten Gott als abstrahiert oder geschieden von der natürlichen Welt. Die Ägypter (und damit bezieht er sich auf Hermes Trismegistos) aber betrachteten Gott und Natur als Einheit. (…) Damit schlossen sie den verstehenden Geist nicht aus, sondern betrachteten ihn als den umfassenden Raum aller Dinge.«28 Diese Theologie »bestand in der Gleichsetzung von Gott und Natur, und zwar so, dass nicht Gott auf die Natur reduziert, sondern die Natur als allumfassende Gottheit verstanden wurde«.29

Diese Überlegungen führen ins Zentrum einer Debatte, die zur Zeit der Aufklärung und der Klassik geführt wurde und bei der es vordergründig um die ägyptischen Wurzeln von Moses und der monotheistischen Religion ging, in Wahrheit aber um die hermetische Tradition und um die Auffassung des Kosmos als stufenweise Manifestation Gottes, um den »Kosmotheismus«, wie Jan Assmann diese Anschauung nannte, um die Tradition der Sicht des Kosmos als lebendiges, beseeltes Ganzes von Hermes Trismegistos über Giordano Bruno und Baruch de Spinoza.

VII.

Die eben zitierten Formulierungen sollten eigentlich die Lesart ausschließen, der Kosmotheismus sei eine Wiederkehr des Polytheismus. Eine Wiederkehr des Gedankens der Göttlichkeit der Natur allerdings, aber keiner wäre zur Zeit der Aufklärung und der Klassik auf die Idee verfallen, antike Götter ernsthaft als Gegenstand der Anbetung neu zu inthronisieren. Vielmehr geschah das alles in einem Raum, in dem ein undogmatisches Christentum genauso Platz fand wie die Idee der Heiligkeit der Natur – das zeigen die Dichtungen von Hölderlin und Novalis (der ja nicht nur das geniale naturphilosophische Romanfragment »Die Lehrlinge zu Sais« dichtete, sondern auch geistliche Lieder) ebenso wie die Schriften von Lessing und Schiller.

Der Kosmotheismus war zur Zeit der Klassik und der frühen Romantik die in den gebildeten Schichten vorherrschende Weltanschauung; sie ging einher mit einer Ägyptenmode, deren schönstes Resultat »Die Zauberflöte« von Mozart wurde. Darin stand das Einweihungsritual in die ägyptischen Mysterien im Zentrum, so wie man sie sich in den Kreisen der Freimaurer damals vorstellte. Aber auch die Legende vom verschleierten Bild zu Sais (hinter dem sich die Göttin Isis oder »die Natur« – im umfassenden Sinne – verbarg) hat die Dichter beschäftigt, dessen Inschrift lautete: »Ich bin, was da ist, was da war und was da sein wird. Meinen Schleier hat niemand gelüftet.«30 Von Novalis gibt es ein Epigramm: »Einem gelang es – er hob den Schleier der Göttin zu Sais – / Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – sich selbst.«31 Hier wird die Brücke geschlagen zwischen dem Kosmos und dem einzelnen Menschen, zwischen der Göttlichkeit der Natur und der persönlichen Erfahrung des Göttlichen im eigenen Inneren, in der hermetischen Tradition der Harmonie von Makrokosmos, dem Universum, und Mikrokosmos, dem Menschen.

Philosophisch konzentrierte sich der Kosmotheismus in der von Lessing in die Diskussion gebrachten Formel »hen kai pan« – das Eine in allem, das »All-Eine«.32 Sie wies zurück auf Spinoza und Bruno und letztlich auf das, was man für altägyptische Weisheit hielt.

Die Aufklärung, die Klassik und die frühe Romantik hatten also durchaus eine spirituelle Seite, allerdings stand diese im Gegensatz zu den Dogmen der Kirchen.33 Im Hinblick auf die Sicht der Natur gab es aber ebenso Konflikte mit der mathematisierten und damit letztlich materialistischen Naturwissenschaft – die Auseinandersetzung von Goethe mit Newton über die Natur des Lichts und der Farben zeugt davon (dabei ist es nicht ohne Ironie, dass Newton zugleich einer der letzten Alchemisten war). Der Kosmotheismus war also keineswegs nur eine Frage der Religion, sondern betraf genauso das Verhältnis zur Natur und das Konzept von Wissenschaft. Auch hier findet man wieder das Dreieck einer dritten Entwicklungslinie in Konflikt mit der ersten (Kirchen) und der zweiten (materialistische Naturwissenschaft).

Die Idee einer Evolution des Gottesbildes war der Aufklärung nicht fremd – Lessing vertritt sie in seiner Schrift »Die Erziehung des Menschengeschlechts«. Der Grundgedanke, dass Menschen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen unterschiedliche Gottesvorstellungen haben,34 findet sich schon bei Maimonides und in der Renaissance bei Pico della Mirandola, wenn dieser von den »geheimen Mysterien, die sich unter der Schale des Gesetzes und unter dem groben Mantel der Worte verbargen«35 spricht, und wurde in der Aufklärung unter dem Begriff »religio duplex« benutzt, um die Vereinbarkeit von »offenbarter und natürlicher Religion« zu begründen, also vom Christentum der Kirchen und vom Kosmotheismus. Auch der Begriff »Monotheismus« hat ja einen Bedeutungswandel durchgemacht: War der eine Gott im Alten Testament noch der eifersüchtig über die Treue seines auserwählten Volkes wachende Gott Israels, so wurde er später (im Judentum wie im Christentum) zum universalen Gott aller Menschen. Wenn ein Theologe die kirchlich-christliche Gottesvorstellung so beschreibt: »Es gibt einen allmächtigen und allwissenden Gott, der die Welt geschaffen hat und dieser Welt gegenübersteht und auf sie einwirken kann«,36 dann ließe sich einwenden: Solange es neben Gott noch ein Anderes gibt, und sei es auch nur die eigene Schöpfung (oder gar so etwas wie der Teufel …), kann von einem reifen Monotheismus noch nicht die Rede sein. Indien kennt den Begriff »Advaita« – Nicht-Zweiheit; Vivekananda schreibt: »Der Dualist glaubt, dass Gott sich außerhalb des Universums befindet, der Advaitist dagegen, dass Er seine eigene Seele ist.«37

So lassen sich unter dem Begriff eines reifen Monotheismus bzw. »Advaita« die beiden Erscheinungsweisen der dritten Entwicklungslinie zusammenfassen als »Immanenz Gottes«: Gott in der eigenen Seele erfahren in der Tradition der Mystik, und im beseelten Kosmos in der Tradition von der Hermetik bis zum Kosmotheismus. Die Idee der Manifestation Gottes in der unbelebten und belebten Natur bis hinauf zur mystischen Erfahrung schließt die Kluft zwischen Gott und Welt, zwischen Gott und Mensch. »Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier und wacht auf im Menschen.«38

VIII.

In der dritten Entwicklungslinie finden sich Vorstellungen über seelisches Wachsen und über persönliche Weiterentwicklung, wie sie weder Kirche noch Wissenschaft liefern können, in der Mystik bei Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz, bei Lessing, Karl Philipp Moritz und Goethe, und es ist tragisch, dass diese Linie im Lauf des 19. Jahrhunderts so dramatisch an Bedeutung verlor. Die Ursachen dürften einerseits darin liegen, dass der Kosmotheismus auf keine Tradition spiritueller Praxis zurückgreifen konnte, um den »Gott der Philosophen« in der Erfahrung und im Herzen zu verankern, andererseits in dem Siegeszug der materialistischen Naturwissenschaften, gegen den sich die Romantiker (besonders Novalis und Schelling) vergeblich zu stemmen versuchten.