Faded - Wenn alles stillsteht - Julie Johnson - E-Book

Faded - Wenn alles stillsteht E-Book

Julie Johnson

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Beschreibung

Ihre Liebe ist der Traum, den sie nicht mehr zu träumen wagten ...

Zwei Jahre ist es her, dass Felicity ihre Band Wild Wood kurz vor der großen Tournee im Stich ließ und abtauchte. Zwei Jahre, seit sie die Liebe ihres Lebens, den Rockstar Ryder Woods, ohne ein Wort des Abschieds verlassen hat. Zwei Jahre, seit ihr Herz brach und immer noch in tausend Scherben liegt. Doch nun hat ihre Plattenfirma Felicity gefunden und fordert die Einhaltung des Vertrags: Sie muss mit der Band auf Tour gehen oder wird alles verlieren, was sie auf dieser Welt noch besitzt. Doch wie soll Felicity es schaffen, je wieder neben Ryder auf einer Bühne zu stehen, ohne dabei ihr Herz erneut aufs Spiel zu setzen und ihr größtes Geheimnis zu enthüllen?

"Dieses Buch, dieses Duett hat meine Seele aufgewühlt. Ich. Fühlte. Alles." INKED AVENUE BOOK BLOG

Abschlussband der FADED-Dilogie von PUBLISHERS-WEEKLY-Bestseller-Autorin Julie Johnson

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Danksagung

Playlist

Komplette Liedtexte

Die Autorin

Die Romane von Julie Johnson bei LYX

Impressum

JULIE JOHNSON

Faded

WENN ALLES STILLSTEHT

Roman

Ins Deutsche übertragen von Anika Klüver

Zu diesem Buch

Zwei Jahre ist es her, dass Felicity Wilde ihre Band Wild Wood kurz vor der großen Tournee im Stich ließ und abtauchte. Zwei Jahre, seit sie die Liebe ihres Lebens, den Rockstar Ryder Woods, ohne ein Wort des Abschieds verlassen hat. Zwei Jahre, seit ihr Herz brach und immer noch in tausend Scherben liegt. In dieser Zeit hat sie sich versteckt gehalten und ein ruhiges Leben geführt. Ohne Musik, ohne ihre Freunde – und ohne Ryder. Doch die Gefühle, die er in ihr auslöst, hat sie nie vergessen können. Genauso wenig wie seine gebrochenen Versprechen, die sie irgendwann nicht mehr ertragen konnte. Das Leben in L. A. und die glückliche Zeit mit Ryder kommen ihr schon wie ein langsam verblassender Traum vor. Aber nun ist es ihrer Plattenfirma gelungen, sie zu finden, und ihre Managerin fordert die Einhaltung des Vertrags ein: Felicity muss mit ihrer Band auf Tournee gehen, oder sie wird alles verlieren, was sie auf dieser Welt noch besitzt. Doch wie soll sie es schaffen, je wieder mit Ryder auf einer Bühne zu stehen, ohne dabei ihr Herz erneut aufs Spiel zu setzen und ihr größtes Geheimnis zu enthüllen?

Für die Sterne, die trotz der Dunkelheit weiterscheinen.Verblasst niemals.

WO VERSTECKT SICH FELICITY WILDE

TNZ EXCLUSIVE

10. Dezember 2018

LOS ANGELES – Zwei Monate sind vergangen, seit Wildwood, Amerikas neue Lieblingsband aus Nashville, ihr Debütalbum veröffentlichte, das sofort die Charts stürmte und sich seitdem über zwei Millionen Mal verkauft hat.

Während ihre Bandkollegen – Ryder Woods, Lincoln Travers und Aiden Hill – regelmäßig von Paparazzi aufgestöbert wurden, scheint Wildwoods Leadsängerin von der Bildfläche verschwunden zu sein. Zuletzt wurde sie Anfang September auf der Präsentationsparty gesehen. Seitdem hat Wilde an keiner weiteren Presseveranstaltung mehr teilgenommen, um das Album, das mit Doppel-Platin ausgezeichnet wurde, zu promoten.

Insidern zufolge liegen die Pläne für die mit Spannung erwartete Welttournee von Wildwood derzeit auf Eis.

Route 66 Records war hierzu zu keiner Stellungnahme bereit.

SKANDALUMWITTERTER WILDWOOD-­STAR WEGEN TRUNKENHEIT AM STEUER ­VERHAFTET

L. A. Chronicle

1. Januar 2019

LOS ANGELES – Ryder Woods, Frontmann der Kultband Wildwood, wurde nach einem Autounfall in der Silvesternacht von der Polizei in Gewahrsam genommen, nachdem sein Wagen mit einem Telefonmast in der Innenstadt kollidierte, was einen Stromausfall in mehreren Häuserblocks zur Folge hatte. Woods wurde leicht verletzt und in der Notaufnahme des Los Angeles County behandelt, bevor man ihn wegen rücksichtslosen Fahrens, Trunkenheit am Steuer und Zerstörung öffentlichen Eigentums in Untersuchungshaft nahm.

Dies ist das dritte Vergehen des Musikers innerhalb von sechs Monaten, nachdem er letzten Herbst wegen Kokainbesitzes vor dem Viper Room in West Hollywood und am Weihnachtsabend wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit festgenommen wurde. In beiden Fällen kam es nicht zu einer offiziellen Anklage. Nun soll er am Montagmorgen vor Gericht erscheinen.

Woods, der ursprünglich aus Nashville stammt, steht noch nicht allzu lange im Rampenlicht, machte sich nach dem Erfolg des Debütalbums seiner Band aber schnell einen Namen. Aktuellen Schätzungen zufolge hat es sich im Inland über drei Millionen und im Ausland etwa eine Million Mal verkauft.

Zwar wurde von offizieller Seite hierzu noch keine Stellung bezogen, doch Fans spekulieren, dass der Absturz des Sängers durch das plötzliche Abtauchen seiner Gesangspartnerin – und angeblichen Freundin – Felicity Wilde ausgelöst wurde. Bislang wurden keine offiziellen Pläne für eine Tournee verkündet. Auch gibt es keine Hinweise auf ein weiteres Album der Band.

Fortsetzung folgt.

LESERKOMMENTARE:

EMMA M.: Hast du das gesehen, @MaxineL? Ryder ist total neben der Spur.

MAXINE L.: Ich weiß, @EmmaM. Das ist SO traurig … Denkst du, ich sollte anbieten, ihn zu retten?;) Jetzt, da Felicity nicht mehr da ist …

TORI E.: Felicity ist so ein Miststück. Wie konnte sie Ryder nur einfach so verlassen? #Felicitysucks

TAMMY Q.: OMG! Habt ihr die neuesten Bilder von ihm gesehen? Er sieht furchtbar aus!

CANDY C.: Du hast recht, @TammyQ, er sieht schlimm aus … Ich würde ihn aber trotzdem nicht von der Bettkante stoßen.

[MEHR KOMMENTARE LADEN]

PRESSEERKLÄRUNG

Route 66 Records

25. September 2019

Dies dient als offizielle Bekanntmachung, dass der Aufenthaltsort von FELICITY WILDE, vormals wohnhaft in Nashville und Los Angeles, ausfindig gemacht werden soll.

Gegen sie wurden gerichtliche Schritte eingeleitet.

Wenn Sie irgendwelche Informationen über ihren Verbleib haben, kontaktieren Sie bitte das Büro von FRANCESCA FOSTER bei Route 66 Records.

TOD EINER LEGENDE: FANS TRAUERN UM COUNTRYSTAR BETHANY HAYES

Nachruf

14. Juni 2020

NASHVILLE – Die Sängerin Bethany Hayes aus Nashville verstarb am vergangenen Sonntag im Alter von zweiundneunzig Jahren. Hayes, bestens bekannt für Hits wie »Stay by My Side« und »Cry Me a River«, war zweimalige Grammy-Gewinnerin und Mitglied der Country Music Hall of Fame. Nach ihrem kometenhaften Aufstieg in den 1960ern erfreute sich Hayes einer langen Karriere und produzierte bis weit in ihre Siebziger hinein ausgesprochen erfolgreiche Schallplatten. Sie hinterlässt zwei Töchter, zwei Enkelinnen und Millionen Fans weltweit.

Hayes’ musikalisches Erbe lebt in ihrer Enkelin Felicity Wilde weiter, der ehemaligen Leadsängerin der bekannten Band Wildwood. Vor zwei Jahren gab Wilde ihr Debüt mit einer Duettversion einer Liebesballade ihrer Großmutter: »Faded«, die sie zusammen mit Ryder Woods aufnahm. Die von der Kritik gefeierte Coverversion beherrschte monatelang die Charts und brachte Hayes’ Musik einer ganz neuen Generation von Fans näher. So wurdem dem unleugbaren Talent dieser Ausnahmekünstlerin ein neues Denkmal gesetzt.

Ihre Angehörigen bitten um Wahrung der Privatsphäre, um den Verlust zu betrauern. Anstelle von Blumen spenden Sie bitte an eine Wohltätigkeitsorganisation Ihrer Wahl.

Eine Trauerfeier im engsten Familienkreis wird nächste Woche in Nashville abgehalten werden.

1. KAPITEL

Felicity

Mit trockenen Augen und leerem Herzen sehe ich zu, wie sie den Sarg in die Erde hinunterlassen. Ich habe all meine Tränen bereits letzte Woche vergossen, als ich vom Tod meiner Großmutter erfuhr – ich habe so viel und so lange geweint, dass ich das Gefühl hatte, dass nicht nur meine geschwollenen roten Augen irgendwann ausgetrocknet waren, sondern auch meine Seele, als die Tränen schließlich versiegten.

Ich mache einen Schritt nach vorn und Schmerz rauscht durch meinen Körper – von meinen verkrampften Zehen bis in mein gepeinigtes Herz. Die offenen schwarzen Pumps an meinen Füßen sind eine halbe Nummer zu klein, aber es sind die einzigen, die ich im Schrank hatte.

Schwarz ist nie wirklich meine Farbe gewesen.

Ich beuge mich vor und greife mir eine Handvoll Erde von dem kleinen Haufen neben dem Grab. Ich mache mir nicht die Mühe, die Schaufel zu benutzen. Die Erde fühlt sich in meiner Handfläche körnig und kalt an, während ich am Rand des perfekt ausgehobenen Lochs stehe und zwei Meter in die Tiefe starre, wo das einzige Mitglied meiner Familie liegt, dem ich je etwas bedeutet habe.

»Leb wohl, Oma«, flüstere ich, und meine Stimme bricht vor Trauer.

Ich werfe die Erde auf ihren Sarg und verunstalte damit sofort die glänzende, weiß lackierte Oberfläche. Obwohl ich dachte, dass ich nicht mehr weinen könnte, rinnt eine einzelne Träne über meine rechte Wange und sammelt sich in meinem Mundwinkel. Meine Lippen sind knallrot geschminkt. Für eine Beerdigung mag das vielleicht ein bisschen zu auffällig sein, aber es war Omas Erkennungsmerkmal. Irgendwo da oben lächelt sie anerkennend.

Nichts erscheint mehr so schlimm, wenn man erst mal eine frische Schicht Lippenstift aufgelegt hat, Schätzchen.

Ich nicke dem Bestatter dankend zu, drehe mich um und mache mich auf den Weg zu dem unauffälligen Mietwagen, den ich mir heute Morgen am Flughafen ausgesucht habe. Nun, da ich meiner Großmutter die letzte Ehre erwiesen habe, will ich nur noch weg von hier. In den Schatten lauern zu viele Geister, die mich bedrängen – und ich rede nicht von den toten Bewohnern von Nashville unter meinen Füßen.

Ich habe die Arme fest um meinen Körper geschlungen, als könnte ich auf diese Weise meine Trauer in mir halten, während ich in Richtung des staubigen Kieswegs trotte. Die warme Juniluft, die ich stoßartig einatme, klebt schwer in meiner Lunge. Die Absätze meiner Schuhe versinken bei jedem Schritt im Gras und hinterlassen eine Spur aus Löchern. Ich mache mir nicht die Mühe, mich umzusehen – hier ist sonst niemand. Nicht mehr.

Ich habe extra gewartet, bis auch die letzten Nachzügler verschwunden sind, bevor ich die Sicherheit des Autos verlassen habe. Ein frischer Hundertdollarschein reichte aus, um den Bestatter davon zu überzeugen, seine Arbeit lange genug hinauszuzögern, um mir die Gelegenheit zu geben, mich von meiner Großmutter zu verabschieden.

Es fühlte sich feige und falsch an – ihre eigene Enkelin versteckte sich im Auto, während vollkommen Fremde an der Zeremonie teilnahmen –, aber ich hatte keine andere Wahl. Wenn ich mich bemerkbar gemacht hätte, wären die sensationslüsternen Paparazzi, die am Haupttor des Friedhofs herumlungerten, zweifellos vollkommen ausgerastet, weil sie nach all der Zeit unbedingt ein Foto von Felicity Wilde in freier Wildbahn hätten schießen wollen. Ich kann die Schlagzeilen förmlich vor mir sehen.

VERMISSTE SÄNGERIN AUF BEERDIGUNG IHRER KÜRZLICH VERSTORBENEN GROSSMUTTER GESICHTET! WO IST SIE DIE GANZE ZEIT UNTERGETAUCHT – UND WARUM IN ALLER WELT HAT SIE SICH DIE HAARE BLOND GEFÄRBT? LESEN SIE DIE GANZE GESCHICHTE AUF SEITE SECHS!

Ich schüttle den Kopf und seufze tief beim Gedanken an den Mediensturm, dem ich knapp entkommen bin. Die spärliche Anonymität, die ich mir in den vergangenen zwei Jahren erarbeitet habe, ist gefährlich dünn. Sie hätte mir komplett durch die Finger gleiten können, wenn mich jemand hinter den dunkel getönten Scheiben meiner Limousine oder an den Sicherheitskontrollen am Flughafen erkannt hätte.

Gott segne die Sicherheitsbeamtin, die mit weit aufgerissenen Augen den Namen auf meinem Ausweis las, mich aber ohne Aufhebens passieren ließ. Sie hätte problemlos einen Mob auf den Plan rufen können. Stattdessen legte sie mir gegenüber Mitgefühl an den Tag.

Ich war ein großer Fan von Bethany Hayes. Mein aufrichtiges Beileid, Miss Wilde. Gehen Sie weiter.

Es ist zwei Jahre her, aber die Geschichte meines Verschwindens aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit macht immer noch regelmäßig die Runde und taucht in Blogs über Verschwörungstheorien und Fanforen auf. Nach wie vor bin ich jedes Mal überrumpelt, wenn ich sehe, wie mein Gesicht in einer der Boulevardsendungen auftaucht, die auf den Fernsehbildschirmen in dem Café laufen, in dem ich mir morgens meinen Kaffee hole. Das Gleiche gilt für die Titelseiten der Klatschpresse, obwohl ich mir angewöhnt habe, nicht zu genau hinzusehen, wenn ich im Lebensmittelgeschäft an der Kasse anstehe.

FELICITY WILDE IN MELBOURNE GESICHTET … MIT BABY UND EHEMANN!

FELICITY WILDE UND LINCOLN TRAVERS: DIE AFFÄRE, WEGEN DER SICH DIE BAND AUFLÖSTE

FELICITY WILDE UND RYDER WOODS: WIEDERVERSÖHNUNG WÄHREND GEHEIMER REISE NACH BALI … DIE GANZEN HEISSEN DETAILS AUF SEITE ZWÖLF

Ich frage mich, wer sich all diese Geschichten ausdenkt – Geschichten, die einfach so aus der Luft gegriffen sind und in Artikel verwandelt werden, die auf keinerlei Tatsachen beruhen. Sie enthalten nie auch nur ein Körnchen Wahrheit. Andererseits bezweifle ich, dass diese Klatschreporter meine wahre Geschichte erzählen würden, selbst wenn sie ihnen bekannt wäre. Mit dem, was mir wirklich passiert ist, würde man nicht halb so viele Schlagzeilen machen wie mit einer geheimen Liebesaffäre oder einem romantisch-kitschigen Techtelmechtel im Südpazifik.

Aber die Tatsachen sind nie so faszinierend oder dramatisch wie die erfundenen Stories, die sie auf ihren Titelseiten ankündigen und neben überholten Fotos von mir drucken. Und diese Frau auf den Titelseiten, die mit dem langen dunklen Zopf und diesen Augen voller Hoffnung, die auf den Mann an ihrer Seite gerichtet sind, als wäre er derjenige, um den sich ihre ganze Welt dreht …

Sie könnte ebenso gut eine Fremde sein.

Denn mittlerweile lautet mein Name Joy Winters.

Diese ruhige blonde Frau, die am Stadtrand wohnt.

Sie hält sich meistens für sich. Man sieht sie nie lächeln.

Unterzutauchen ist schwieriger, als man denken sollte, vor allem mit einem Namen, den jeder im Land kennt, und mit einem Album, das vermutlich jeder in seiner iTunes-Bibliothek hat. Als ich Los Angeles hinter mir ließ, konnte ich mir nicht einfach einen Fleck auf der Landkarte aussuchen und mir irgendwo anders eine neue Existenz aufbauen. Zuerst musste ich meine Identität auslöschen. Ich musste jemand anders werden. Jemand, den man nicht erkennen würde.

Zwei Jahre unter dem Radar und außerhalb des Rampenlichts.

Zwei Jahre, in denen ich den Kopf eingezogen und den Blick abgewendet habe.

Zwei Jahre, in denen ich mir immer wieder die Haare blond gefärbt und braune Kontaktlinsen getragen habe.

Zwei Jahre, in denen ich Joy gewesen bin, aber keinerlei Freude verspürt habe.

Ich nehme die Zeit wie ein Gefangener im Todestrakt wahr – alle noch verbliebenen Berufungen sind ausgelaufen, jegliche Hoffnung auf Strafmilderung wurde ausgelöscht. Ich werde nicht wegen guter Führung früher entlassen werden. Am Ende dieses Tunnels gibt es kein Licht. Ich sitze eine lebenslange Gefängnisstrafe ab. Vielleicht ist es eine, die ich selbst gewählt habe, aber das macht es nicht leichter.

Los Angeles zu verlassen war schwer genug. Von der Bildfläche verschwunden zu bleiben ist sehr viel schwieriger gewesen, als ich es mir je hätte vorstellen können. Mein neues Leben, das Leben, das ich mir so weit wie möglich von den Lichtern Hollywoods entfernt aufgebaut habe, ohne internationale Grenzen oder gewaltige Ozeane zu überqueren, ist weder glamourös noch aufregend. Niemand bittet mich um ein Autogramm oder ruft auf der Straße meinen Namen. In den Büschen vor meinem Haus verstecken sich keine Paparazzi und niemand verfolgt mich, um heimlich Fotos zu schießen, wenn ich meinen morgendlichen Spaziergang zum Strand mache und meine Füße während der wenigen warmen Sommermonate, die Neuengland erlebt, in das kühle Wasser des Atlantiks tauche.

In meinem Herzen ist keine Musik. In meinem Kopf sind keine Texte. In meiner Seele regt sich keine Liebe.

Ich wache auf. Ich atme. Ich gehe schlafen.

Ich bin der Geist einer Frau.

Ich führe kein richtiges Leben – ich existiere nur. Und doch ist diese Existenz als ein Niemand immer noch weniger erschreckend als meine Rückkehr nach Nashville. Ich habe mich so lange in den Schatten versteckt, dass mir die Welt vor meinen Augen blendend grell erscheint. Ich gehe schneller, als ich mich der Reihe aus hoch aufragenden Eichen nähere, neben der ich mein Auto abgestellt habe. Ich will dringend in mein kleines Haus an der Küste von Cape Cod zurück, wo die Erinnerungen nicht so heftig an mir zerren. Ich kann hier nicht sein, ich kann nicht in dieser Stadt sein, ohne an …

Ihn zu denken.

Ich lasse nicht zu, dass ich seinen Namen ausspreche. Ich lasse nicht zu, dass ich mich an seine raue Stimme oder seine kantigen Gesichtszüge oder das Gefühl seiner Hände auf meiner Haut erinnere. Und dennoch … ist er überall. Hinter jeder Kurve, in der Luft, mit der ich meine schmerzende Lunge fülle. Auch nach zwei Jahren hat der Schmerz in meiner Brust nicht nachgelassen. Auch nach zwei Jahren, in denen ich seinen Namen verflucht, ihn aus meinen Gedanken verdrängt und mein Herz zusammen mit meinen Erinnerungen weggesperrt habe … ist er immer noch da. Sein Name liegt mir auf den Lippen wie der Text eines Lieds, das ich nicht aus dem Kopf bekomme.

Er ist nicht zur Beerdigung gekommen.

Nicht dass ich das erwartet hätte – er ist meiner Großmutter nur einmal begegnet, und das ist Jahre her. Das war lange bevor alles den Bach runterging. Lange bevor die Sache mit uns zerbrach. Trotzdem suchte ich die Menge vorhin ein wenig zu intensiv nach ihm ab, während ich aus meinem Mietwagen mit den getönten Scheiben heraus zusah, wie sich der Zug aus Trauernden einen Weg über den Friedhof bahnte.

Wie dumm von mir.

Warum hätte er kommen sollen? Ich habe keine Ahnung, wie er seine Tage mittlerweile verbringt. Wie sein Leben aussieht, nun, da ich nicht länger ein Teil davon bin. Diesen Teil von mir habe ich abgeschnitten, als ich die Grenze von Los Angeles County überquerte und nach Osten fuhr … Ich fuhr, bis mir auf dem Weg nach Cape Cod buchstäblich das Land ausging und ich in einer kleinen Stadt landete, die so ruhig ist, dass der Strandhafer, der auf den Dünen im Wind weht, dort über viele Kilometer hinweg das lauteste Geräusch ist.

Doch ich war immer noch nicht weit genug gefahren, um meinen Erinnerungen zu entkommen.

Vorhin kam ganz Nashville zusammen, um sich von der großen Bethany Hayes zu verabschieden – zumindest diejenigen unter den Bewohnern, die singen können oder etwas von Musik verstehen. Alte Freunde, treue Fans. Musiker und Barbesitzer und Ikonen der Musikindustrie. Mein Herz verkrampfte sich, als ich Isaac entdeckte, den Besitzer des Nightingale, der mal für eine Weile mein Chef gewesen war. Er schien sich in seinem Anzug absolut unwohl zu fühlen und drückte sich am Rand der Menge herum, während er darauf wartete, dass der Priester mit der Zeremonie anfing. Carly, meine Freundin und ehemalige Kollegin, sah in ihrem ärmellosen dunkelgrauen Kleid ernst und blass aus, als sie sich hinter ihn stellte.

Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie sich der kleine Bereich mit Klappstühlen langsam mit Verwandten füllte, die ich vor vielen Jahren kennengelernt hatte, bevor meine Großmutter krank geworden war und meine Eltern alle Verbindungen zum Rest der Familie abgebrochen hatten. Ich stellte fest, dass ich darauf wartete, dass zwei mir vertraute Gestalten mittleren Alters unter den versammelten Trauergästen auftauchen würden.

DaistmeineTanteKimmitihremneuenMann …DaistmeineCousineDevynmitihrerFreundin …einpaarFamilienmitglieder,anderenNamenichmichnichterinnernkann …diefrühereHaushälterin meiner Großmutter … ihr langjähriger Anwalt Jerry …

Aber sie waren nicht da.

Die zwei Menschen, die mich großgezogen haben, sind nicht aufgetaucht.

Vielleicht ist »großgezogen« nicht gerade die passende Bezeichnung. Sie haben mich nicht großgezogen. Sie haben mich geschmiedet, wie Feuer eine Stahlklinge schmiedet. Meine Kindheit war ein einziges Höllenfeuer, das mich trotz größter Bemühungen, mich zu Asche und Knochen zu verbrennen, stärker machte.

Die Tatsache, dass sie nicht aufgetaucht sind, hat mich überrascht. Mehr als sie es gesollt hätte. Meine Eltern haben nie viel von Familienbande gehalten – wie man unschwer daran erkennen konnte, wie sie jeden ihrer Angehörigen eiskalt übergehen wollten, als sie mit blinder Besessenheit darauf aus waren, das Vermögen meiner Großmutter unter ihre Kontrolle zu bringen, nachdem bei ihr Demenz diagnostiziert worden war.

Es ist besser, dass sie nicht gekommen sind. Ich habe sie seit meiner Abreise aus Hawkins zwei Tage nach meinem achtzehnten Geburtstag nicht mehr gesehen. Damals stieg ich in einen Bus, der nach Nashville fuhr, und die Wut, die ich in diesem Haus erfahren hatte, steckte mir immer noch in den Knochen. Abgesehen von einem einzigen Anruf, mit dem mich mein Vater im Nightingale überraschte und mir somit auf bedrohliche Weise vor Augen führte, dass er mich immer finden würde, egal wie weit ich davonlaufe –, hatten wir keinerlei Kontakt.

Und genau dabei sollte es meiner Meinung nach auch bleiben.

Als ich endlich das Auto erreiche, strecke ich eine Hand nach dem Türgriff aus und bin in Gedanken bereits damit beschäftigt, wie lange ich brauchen werde, um zurück zum Flughafen zu fahren. Jerry Perry, der langjährige Anwalt meiner Großmutter, hat mich gebeten, in seiner Kanzlei vorbeizuschauen, bevor ich die Stadt verlasse. Ich hoffe, dass das, was er mit mir besprechen will, nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Mein Flug zurück nach Boston geht in sechs Stunden. Wenn ich ihn verpasse, werde ich hier bis morgen früh festsitzen.

Meine Finger verharren am Türgriff, als ich das unverkennbare Geräusch von Schritten höre, die sich knirschend über den Kiesweg bewegen, und jemand hinter der Baumreihe hervortritt und um den Kofferraum meines Autos herumgeht. Ein Schatten fällt auf meinen Rücken. Sofort stehen mir sämtliche Haare zu Berge, während mein Verstand alle Möglichkeiten durchgeht, wer dort hinter mir stehen könnte …

»Felicity?«

Das Herz klopft mir bis zum Hals, als ich herumwirbele. Ich habe die Finger bereits um meinen Schlüsselbund gelegt und bereite mich auf einen blitzschnellen Schlag auf die Augen oder einen kräftigen Hieb in den Magen vor. Ich erstarre, als ich sehe, dass es weder ein Paparazzo, der mir eine Kamera ins Gesicht hält, noch eine ähnlich unangenehme Alternative ist. Vor mir steht ein Fremder in einem marineblauen Anzug – er ist Anfang dreißig, schlank gebaut und trägt eine Drahtgestellbrille. Sein Blick ist rasiermesserscharf, als er mein Gesicht, mein Haar und meine Augen mustert, die hinter einer großen dunklen Sonnenbrille verborgen sind.

»Felicity Wilde?«

Ich antworte nicht – ich stehe da wie angewurzelt und fühle mich vollkommen entblößt. Er wertet mein Schweigen offenbar als eine Art unausgesprochene Bestätigung, denn er zieht blitzschnell einen großen weißen Umschlag aus seiner Aktentasche und drückt ihn mir in die Hand.

»Das Schreiben wurde hiermit offiziell zugestellt«, sagt er unverblümt und macht auf dem Absatz kehrt, noch bevor die Worte seinen Mund vollständig verlassen haben. Er geht ein paar Schritte, bleibt aber noch einmal stehen und schaut zurück, um mich von Kopf bis Fuß zu mustern. Er betrachtet mein schwarzes Kleid und mein verweintes Gesicht.

»Und … mein Beileid«, fügt er hinzu, als wäre ihm gerade erst aufgefallen, dass es unangemessen sein könnte, jemandem auf einem Friedhof offiziell Dokumente zu übergeben.

Anwälte. Was für ein gefühlskalter Haufen.

Ohne ein weiteres Wort der Erklärung verschwindet er über die staubige Straße in Richtung des schmiedeeisernen Tors, wo ein schwarzes Auto halb verdeckt in den länger werdenden Nachmittagsschatten steht. Halb gelähmt vor Fassungslosigkeit schaue ich auf den Umschlag in meinen Händen. Sofort erkenne ich das Logo in der rechten Ecke sowie den Namen auf dem Absenderaufkleber.

Francesca Foster

Seniorpartner

Route 66 Records

Meine Plattenfirma verklagt mich.

Und da dachte ich tatsächlich, dass dieser Tag nicht noch schlimmer werden könnte …

2. KAPITEL

Ryder

Meine Arme teilen das Wasser mit geübten Bewegungen und tragen mich über die Wellen hinweg. Hier draußen ist das weiße sandige Ufer fast nicht mehr zu erkennen, und das tosende Meer schlägt hohe Wellen. Manche von ihnen sind über drei Meter hoch oder sogar noch höher, wenn mehr Wind aufkommt.

Ich erwische ein paar Wellen und paddele wieder zurück aufs Meer hinaus. Jedes Mal wage ich mich weiter und weiter vor und hoffe halb, dass mich eine kräftige Strömung packen und unter die Wasseroberfläche ziehen wird. Ich lasse den Blick über den Horizont schweifen, über diese endlose Weite des Pazifiks, den ich die vergangenen sechs Monate über mit trostlosen Augen angestarrt habe. Die Sonne ist ein Feuerball, der immer tiefer am Himmel sinkt und das Meer in einen rot-orange glühenden Spiegel verwandelt. Hinter mir ragen nebelverhangene Klippen in den Himmel auf wie gezackte grüne Messer.

Man muss schon zugeben, dass das die schönste Tageszeit zum Surfen ist – und auch die gefährlichste. Mehr als einmal habe ich glatte graue Rückenflossen erblickt, die um das Riff herum ihre tödlichen Runden drehen, während ich in der Dämmerung auf Wellen warte.

Essenszeit.

Die meisten anderen Surfer waren klug genug, bereits wieder an Land zu paddeln, ich jedoch mache keinerlei Anstalten, ihnen zu folgen. Vielleicht gefällt einem Teil von mir der Gedanke, dass der Tod langsame Kreise um mich zieht, während ich hier auf der Oberfläche treibe. Vielleicht ist das das Einzige, was in letzter Zeit noch dafür sorgen kann, dass ich etwas empfinde. Denn obwohl das Wasser über fünfundzwanzig Grad warm ist, obwohl meine Tage voller Sonnenschein und meine Nächte heiß wie die Hölle sind … ist dieser Eisklotz, der seit fast zwei Jahren in meiner Brust feststeckt, nicht geschmolzen. Nicht mal ein kleines bisschen.

Hinter mir ertönt ein Plätschern im Wasser – eine Delfinschule durchbricht die Wasseroberfläche. Ich mache mir nicht die Mühe, mich herumzudrehen, um sie mir anzuschauen. Diese großen Tümmler sind nie weit entfernt, und ihre fröhlichen Gesichter und verspielten Luftsprünge stellen einen krassen Gegensatz zu dem gottverdammten Elend dar, das mich auffrisst. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, dass sie nur als glücklich verliebte Paare umherschwimmen und ihre Babys wie graue Blitze hinter ihnen hersausen. Ich bin schon seit so vielen Stunden hier draußen, dass meine Finger ganz schrumplig sind und meine Lippen vor Flüssigkeitsmangel aufplatzen. Ich weiß, dass ich zurück zum Strand paddeln sollte, aber das kann ich nicht. Nicht bis ich so erschöpft bin, dass ich auf meinem Bett zusammenbrechen und in einen traumlosen Schlaf fallen werde, der so tief ist, dass mich sogar meine Erinnerungen nicht wachrütteln können. Bis ich so viel Energie verloren habe, dass mein Verstand nicht mehr in der Lage ist, den Geist heraufzubeschwören, der mich jede Nacht heimsucht – ihr Gesicht neben meinem auf dem Kissen, ihr Haar, das sich im Mondlicht ausbreitet. Funkelnde goldfarbene Augen und ein vorsichtiges Halblächeln.

Ob ich nun schlafe oder wach bin, es gibt keine Erholung. Ich sehe ihre Schönheit in jedem Sonnenaufgang, ich höre ihre Stimme im Wind, der in den Bäumen raschelt. Ich werde von einem Traum heimgesucht, den ich nie wieder besitzen werde.

Ich lebe in einem Albtraum, dem ich nie entrinnen werde.

Als meine Arme wie tote Last an meinen Seiten hängen und vom stundenlangen Paddeln brennen, nutze ich noch eine letzte Welle. Die perfekte Pipeline umgibt mich wie ein Wassertunnel, während ich die Welle bis in die Untiefen reite. Als ich den Strand erreiche, ist die Sonne beinahe untergegangen. Ich löse die Klettverschlussleine von meinem Knöchel und klemme mir das Surfbrett unter den Arm.

Überrascht stelle ich fest, dass auf dem nicht asphaltierten Standstreifen ein weiteres Auto neben dem aufgebockten Jeep Wrangler geparkt hat, der zu dem Haus gehört, in dem ich wohne. Diese Bucht ist ziemlich abgelegen, ein unverdorbener Zufluchtsort für Einheimische, die den Strandliegen und Sandburgen, den Bierkühlern und Ghettoblastern, aus denen schlechte Musik dröhnt und die die beliebteren sandigen Abschnitte an der Küste ruiniert haben, entkommen wollen.

Als ich näher komme, steigen zwei Teenagerinnen aus der blauen Hecktüröffnung und machen sich daran, Fotos vom Sonnenuntergang über dem Wasser zu schießen, während ihre Mutter am Steuer wartet und die frische Klimaanlagenluft sowie vermutlich die Pause von dem ständigen Geplapper ihrer Töchter genießt. Ihrem starken Akzent, der auf eine Herkunft aus dem mittleren Westen schließen lässt, sowie der sonnenverbrannten Haut nach zu urteilen, sind sie Touristen, die Urlaub auf Hawaii machen. Ich frage mich, wie sie diesen Strand gefunden haben. Die meisten Besucher bleiben in der belebten Umgebung von Waikiki und verlaufen sich nie in die vom Tourismus unberührten Ecken von Oahu.

Ich werde mir eine neue Stelle suchen müssen, wenn diese hier plötzlich beliebt wird.

Verdammte Touristen.

Ich stelle keinen Augenkontakt her, als ich mein Surfbrett auf den Rücksitz des Jeeps werfe und mir ganz unten aus dem Kofferraum ein ausgeblichenes T-Shirt schnappe. Es riecht nach Salz und Schweiß, aber ich ziehe es mir trotzdem über den feuchten Oberkörper. Dann schüttele ich mir das Wasser aus meinen zu langen Haaren wie ein Hund nach einem Bad. Ich habe mir seit einem halben Jahr nicht mehr die Mühe gemacht, es zu schneiden – die Spitzen streifen in der Ozeanbrise meine Schultern.

Ich sehe absolut nicht wie ich selbst aus. Nichts an mir gleicht dem Mann, der ich einst war, als mein Gesicht noch auf jeder Klatschzeitschrift abgebildet war und meine Eskapaden in betrunkenem Zustand die Polizeiakten füllten. Deswegen bin ich auch so überrascht, als mir die beiden Teenagerinnen plötzlich den Weg versperren. Sie haben ihre strahlenden Augen fest auf mein bärtiges Gesicht gerichtet und wirken gleichermaßen neugierig und aufgeregt.

»Oh mein Gott«, keucht die rechte. »Du bist … Bist du …?«

Ich verspüre einen Anflug von Verärgerung. Sofort weiche ich den beiden aus und schwinge mich mit einer Hand an der oberen Querstrebe auf den türlosen Fahrersitz. Ich fische den Schlüssel aus dem Handschuhfach und stecke ihn hastig ins Zündschloss.

»Hey! Bist du nicht der Typ von …?«

»Nein.« Mit einem Brummen lasse ich den Motor an, damit sie die Frage nicht beenden können. »Ich bin niemand.«

»Warte! Du bist …«

Ich habe kaum den Gang eingelegt, da fahre ich auch schon von dem staubigen Standstreifen auf die schmale Straße und lasse die Mädchen mit verblüfften Mienen auf den noch unschuldigen Gesichtern zurück. Meine eigenen Worte verfolgen mich auf dem gesamten Rückweg quer über die Insel zu der Villa auf den Klippen, in der ich die letzten sechs Monate damit verbracht habe, mich vor meinem Leben zu verstecken. Ich hatte die vergebliche Hoffnung, dass ich vollkommen von der Bildfläche verschwinden würde, wenn ich nur lange genug fortbleibe.

Ich bin niemand.

Nicht mehr.

3. KAPITEL

Felicity

Jerry Perry sitzt hinter einem riesigen Mahagonischreibtisch in einem Büro, das stark nach Pfeifentabak und Leder riecht.

Er trägt immer noch den Anzug, den er auf der Beerdigung anhatte, und gibt darin ein Musterbeispiel an altem Südstaatencharme ab mit seinem langsam grau werdenden Schnurrbart, dem dunkelgrau karierten Jackett und der knallroten Fliege. Er erhebt sich, als mich seine Sekretärin in sein Büro führt. Auf seinen runden, freundlichen Zügen breitet sich ein Lächeln aus.

»Felicity!« Er umfasst meine Hand mit einem warmen, beruhigenden Griff. »Es tut mir so leid, Schätzchen. Ihre Oma …« Er schüttelt den Kopf. »Menschen wie Bethany gibt es heute nicht mehr. Sie hatte einfach Klasse. Die Welt ist ohne sie ärmer geworden.«

»Danke, Jerry.« Meine Augen brennen. Dieser Mann hat mit meiner Familie zu tun, solange ich mich erinnern kann. Meine Großmutter vertraute nur ihm, wenn es um die Verwaltung ihrer Finanzen ging – selbst nachdem sie krank geworden war.

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich.« Er deutet auf den gepolsterten Lehnstuhl, der ihm gegenübersteht, und nimmt selbst an seinem Schreibtisch Platz. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie vorbeigekommen sind. Ich weiß, dass sie am Telefon sagten, dass sie nur für ein paar Stunden in der Stadt sein würden.«

»Mein Flug geht um zwanzig Uhr.«

»Dann werde ich direkt zum Punkt kommen.« Seine hellblauen Augen schimmern im dämmrigen Licht. »Sicher fragen Sie sich, warum ich Sie hergebeten habe.«

»Wenn es um die Beerdigungskosten geht …« Meine Wangen werden plötzlich ganz heiß. »Ich habe nicht viel gespart, aber ich werde helfen, so gut ich kann. Vielleicht kann ich das Geld in Raten bezahlen oder …«

Er schüttelt den Kopf. »Nein, nein, darum geht es gar nicht! Das ist alles bereits erledigt. Ihre Großmutter und ich haben schon vor Jahren Geld beiseitegelegt, um diese Kosten abzudecken.«

»Oh.« Ich atme erleichtert aus. In letzter Zeit verdiene ich kaum genug, um ausreichend Geld für Lebensmittel zu haben. Das finanzielle Polster, das ich hatte, als ich L. A. verließ – der ursprüngliche Vorschuss, den ich von Route 66 erhielt –, ist so gut wie aufgebraucht, denn davon habe ich mir das Haus auf Cape Cod gekauft und den ganzen Betrag auf einmal bezahlt. Der Teilzeitjob, den ich ergattert habe – ich sortiere dreimal die Woche Bücher in der örtlichen Bücherei –, hilft mir dabei, über die Runden zu kommen. Aber so bald werde ich nicht auf der Liste der reichsten Leute unter dreißig stehen.

Da ist allerdings noch etwas anderes, das dafür sorgen könnte, dass du doch noch auf dieser Liste landest, meldet sich eine nagende Stimme in meinem Hinterkopf zu Wort. Diese ganzen Wildwood-Tantiemen liegen einfach so auf einem Bankkonto von Route 66 herum und warten auf dich … Wenn du sie nur anrufen würdest … um sie wissen zu lassen, wohin sie das Geld überweisen sollen.

Ich schüttle den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Dieses Geld ist an ganz konkrete Bedingungen geknüpft. Und wenn man den bösen Brief vom Anwalt bedenkt, der gerade ein Loch durch meine Handtasche brennt, vermute ich, dass mir die Plattenfirma das Geld nicht so einfach aushändigen und mich ungeschoren davonkommen lassen wird.

Jerry räuspert sich und blättert durch ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch. »Wie dem auch sei … Wie Sie zweifellos wissen, hat Ihre Großmutter einen Großteil des Sachvermögens bei dem Brand vor zehn Jahren verloren.«

Ich nicke.

»Zum Glück blieb ihr Bankkonto von einen solchen Schicksalsschlag verschont.« Er lacht und schüttelt ungläubig den Kopf. »Bethany gab kaum einen Penny von ihren Tantiemenzahlungen aus, abgesehen von dem Geld, das sie benötigte, um für ihre medizinische Versorgung aufzukommen. Deswegen gab es in den letzten paar Jahren, wie Sie sicher wissen, einige interne Streitigkeiten innerhalb Ihrer Familie. Es ging darum, wer im Fall ihres Todes die Kontrolle über ihr Vermögen erhalten sollte.«

Ich verziehe das Gesicht zu einer Grimasse. Interne Streitigkeiten. Das ist zweifellos ein Euphemismus für den offen geführten blutigen Krieg, der seit Großmutters Diagnose entfacht ist. Und meine Eltern sind an vorderster Front, während meine Tante mit ihrem Mann im gegenüberliegenden Schützengraben liegt. Und ich gehe in Deckung vor den schlimmsten Beschüssen, denn ich befinde mich mitten in einem Kampf, an dem ich nie teilnehmen wollte.

Jerry seufzt. »Leider sind Situationen wie diese nicht unüblich, wenn ein Verwandter mit Berühmtheitsstatus im Spiel ist. Die Leute …«

Werden zu gierigen, geldsüchtigen Geiern.

»… entwickeln ein übermäßiges Interesse«, sagt er taktvoll.

Ich starre ihn an. »Mr Perry, es tut mir leid, aber ich verstehe wirklich nicht, was das mit mir zu tun hat. Meiner Tante Kim wurde vor vielen Jahren die Vollmacht über das Vermögen meiner Großmutter erteilt … Falls es ein Problem gibt, denke ich, dass Sie am besten mit ihr darüber sprechen sollten …«

»Felicity, meine Liebe. Es gibt kein Problem.« Er lacht. »Sie haben recht damit, dass das Gericht Ihrer Tante die Vollmacht über die Pflege und die medizinischen Entscheidungen in Bezug auf Ihre Großmutter erteilt hat. Aber der Rest ihres Vermögens – ihr beträchtlicher Besitz – wurde auf ein Treuhandkonto eingezahlt.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch.

»Trotz der Krankheit, die ihr ihre Erinnerungen raubte, bekam Ihre Großmutter zumindest teilweise noch mit, was für ein, sagen wir, frostiges Klima zwischen ihren zwei Töchtern herrschte. Deswegen bat sie mich, den Inhalt ihres Testaments bis zu ihrem Ableben unter Verschluss zu halten.« Sein starker Südstaatenakzent verkümmert zu einem leichten Murmeln. »Wenn Sie gestatten, würde ich Ihnen diesen Inhalt nun gerne zur Kenntnis bringen.«

Beim Gedanken daran, Worte zu hören, die meine Großmutter zu Papier gebracht hat – selbst wenn es nur Rechtsjargon ist, – schlägt mein Puls schneller. Unfähig etwas zu sagen, nicke ich nur.

Jerry schiebt sich eine breitrandige Lesebrille auf die Nase und nimmt ein Blatt Papier vom Schreibtisch. Seine Stimme klingt warm, als er vorliest, was darauf geschrieben steht.

Ich, Bethany Hayes, wohnhaft in Tennessee, verkünde hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und Erinnerungsfähigkeit, dass dies mein letzter Wille und mein Testament sein soll.

Meiner Enkelin Devyn Hayes hinterlasse ich eine Summe in Höhe von fünfzigtausend Dollar, die der Finanzierung ihrer Hochschulausbildung dienen soll, die sie dringend nötig hat, denn Bloggen ist kein Beruf, was auch immer sie mir weiszumachen versucht.

Meinen Töchtern Kim Hayes und Kandace Wilde hinterlasse ich den sehnlichen Wunsch, dass ihr eines Tages in der Lage sein werdet, mir meine Fehler zu vergeben – und dass ihr einander trotz eurer eigenen Fehler lieben werdet.

Meinem Schwiegersohn Terrence Wilde hinterlasse ich absolut gar nichts, denn er hat meiner Familie bereits viel zu viel genommen.

Und schließlich hinterlasse ich meiner Enkelin Felicity Wilde mein gesamtes restliches Vermögen, einschließlich jeglicher zukünftiger Tantiemenzahlungen sowie sämtliche Bankkonten. Dazu kommen die vierzig Morgen Land, auf denen einst mein Haus stand, sowie alle verbliebenen persönlichen Gegenstände, die immer noch als Staubfänger in irgendeinem Lager stehen – unter der Bedingung, dass sie diese alte Gitarre wegwirft, die sie ständig mit sich herumschleppt, und sich ein anständiges Instrument zulegt, um darauf zu spielen. Ich denke, dass sich meine blaue Gibson gut dafür eignen sollte.

Sing weiter, Felicity. Du bist ein Licht in der Dunkelheit.

Hiermit unterzeichne ich dieses Dokument mit all meiner Liebe,

Bethany Hayes

Jerry legt das Blatt Papier zur Seite und sieht mich über den Rand seiner Lesebrille hinweg an. Ein gedankenverlorenes Lächeln lässt seinen Schnurrbart zucken. Ich sitze stocksteif da, unfähig, die Worte, die er gerade vorgelesen hat, zu verar­beiten.

»Ihre Großmutter hatte schon immer einen Hang zur Theatralik.« Er zuckt leicht mit den Schultern. »Haben Sie irgendwelche Fragen an mich?«

Ich stoße einen erstickten Laut aus. Mein Atem scheint in meiner Lunge festgefroren zu sein.

»Mary!«, ruft Jerry seiner Sekretärin zu. »Könnten Sie Miss Wilde bitte ein Glas Wasser bringen? Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment umkippen.«

Er hat nicht ganz unrecht.

Einen kurzen Moment später, nachdem ich einen Schluck Wasser getrunken und mich gesammelt habe, bin ich endlich in der Lage, einen ordentlichen Satz zu bilden.

»Sie hat mir alles hinterlassen?«

Er nickt. »Abgesehen von dem Collegefonds für Devyn, der jedoch kaum zu Buche schlägt. Und da wir gerade von Beträgen reden …« Seine Augen leuchten auf, als er einen Blick auf einen Kontoauszug wirft. Als er die achtstellige Zahl vor der Kommastelle vorliest, rutscht mir das Glas aus den Händen, prallt am Teppichboden ab und spritzt Wasser auf meine zu engen Pumps.

Ach du meine Güte.

Jerry verbringt die nächste halbe Stunde damit, mir die Einzelheiten meiner Erbschaft zu erläutern – es ist ein endloser Strom aus Bankkonten, Bankleitzahlen, Bestandslisten und Landflächen. Ich versuche, meine ganze Aufmerksamkeit darauf zu richten, aber mein Verstand fühlt sich zu träge an, um diese überraschende Wendung zu verarbeiten.

Ich bin wohlhabend.

Mehr als wohlhabend – ich bin außerordentlich, beinahe auf anstößige Weise reich.

Und all diese Geier, die in den letzten zehn Jahren über Omas Kopf gekreist sind in der Hoffnung, dass sie ihr Leben bald aushauchen wird, damit sie sich endlich auf sie stürzen und sich ihren Anteil an der Beute sichern können … Die haben nichts bekommen.

Nichts.

Trotz ihrer lautstarken Auseinandersetzungen und Kämpfe vor Gericht, trotz ihrer Manipulationen und bissigen Worte … wurden meine Eltern, meine Tante und all die anderen Verwandten, die aus ihren Löchern gekrochen sind wie giftiger Schimmel, als sie die Chance witterten, eine kranke alte Frau auszunehmen …

Übergangen.

Aus dem Testament gestrichen.

Ich frage mich, ob sie überhaupt je dringestanden haben.

»Oh, sie standen im Testament«, sagt Jerry, und ich zucke zusammen, denn mir war gar nicht klar, dass ich die Frage laut ausgesprochen hatte. »Ihre Großmutter ließ sie daraus streichen, als sie ins Pflegeheim kam. Sie wusste, dass es um ihre Gesundheit nicht gut bestellt war, und auch wenn ihre Töchter versuchten, ihre schlimmsten Streitereien vor ihr zu verbergen, war Bethany vollkommen klar, wie sehr sie sich das Leben gegenseitig zur Hölle machten.« Er hält inne. »Und damit auch Ihnen.«

Plötzlich brennen meine Augen wieder.

»Falls es Sie tröstet, Felicity, Ihre Großmutter war eine meiner liebsten Mandantinnen. Eine Freundin. Und ich weiß, wie sehr sie darunter litt, Sie schutzlos in diesem Haus zurückzulassen. Ich denke, dass das hier vielleicht … ihre Art ist, diese Schuld bei Ihnen wiedergutzumachen – auf die einzige Weise, die ihr möglich war.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe und konzentriere mich auf den Schmerz, während ich darum ringe, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ich werde später zusammenbrechen. Wenn ich allein bin. Wenn niemand da ist, um Zeuge der heftigen Qual zu werden, die in mir tobt.

Jerry räuspert sich erneut. »Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich immer für Sie da bin, wenn Sie Hilfe brauchen – ob bei rechtlichen Angelegenheiten oder was auch immer.«

Seine Freundlichkeit gibt mir fast den Rest. Ich wende den Blick von seinem Gesicht ab und klammere mich verzweifelt an meinen letzten Fetzen Haltung. Mit schimmernden Augen starre ich auf meine Handtasche – und auf den weißen Umschlag, der daraus hervorlugt.

»Eigentlich …« Meine Finger zittern, als ich sie um das Schreiben von Route 66 lege. »Gibt es da tatsächlich etwas, wobei ich Hilfe gebrauchen könnte …«

Jerry schaut sich das mehrseitige Schreiben sorgfältig an. Während er die Seiten durchgeht, wird die Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen immer tiefer. Ich rutsche unruhig auf meinem Stuhl hin und her, während ich auf das Urteil warte, und werde mit jeder Minute, die vergeht, angespannter.

Als er endlich bei der letzten Seite angekommen ist, seufzt er und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Er zwickt sich in den Nasenrücken, als würde sich bei ihm eine Migräne ankündigen.

»Und?«, frage ich zaghaft, da ich nicht länger in der Lage bin, mich zurückzuhalten. »Wie schlimm ist es?«

»Hätten Sie gern die verharmlosende Variante oder die kalten, harten Fakten?«

»Ich brauche keine Verharmlosung.«

»Sie sind genau wie ihre Großmutter.« Sein Lächeln wirkt ein wenig traurig. »Route 66 verklagt Sie wegen Vertragsbruchs.«

»Aus welchem Grund? Ich habe ihnen das Album geliefert wie versprochen.«

»Das Album, ja. Allerdings haben Sie sich laut diesem Dokument zu noch sehr viel mehr verpflichtet.« Als ich nichts erwidere, wird seine Stimme sanft. »Um genau zu sein, zu einer sechsmonatigen Welttournee mit Wildwood.«

»Aber das ist … Ich dachte nicht … Nein.« Ich schlucke. »Nein, das kann nicht sein. Sie können auf keinen Fall von mir erwarten, dass ich auf Tournee gehe! Nicht nach allem …«

»Hören Sie, Felicity … Ich weiß nicht, was Sie dazu veranlasst hat, dieses Leben hinter sich zu lassen. Ich weiß nicht, warum Sie sich die letzten zwei Jahre vor der Öffentlichkeit versteckt haben oder wovor Sie weggelaufen sind. Ich weiß nur das, was in diesem Vertrag steht, und welche finanziellen Auswirkungen das hat.«

»Und wie genau sehen die aus?«

»Letztendlich läuft es auf Folgendes hinaus: Die Plattenfirma hat Ihre Unterschrift, mit der Sie zugestimmt haben, nach der Fertigstellung des Albums mit der Band auf Welttournee zu gehen. Dieser Teil der Abmachung wurde nicht eingehalten, also pochen sie jetzt auf ihr Recht – mit beträchtlichem Nachdruck, wie es scheint.« Er mustert mich vorsichtig. »Plattenfirmen wie Route 66 verfügen über eine Menge Geld, und sie mögen es nicht, auch nur einen Penny davon zu verlieren, wenn sie es verhindern können. Deswegen sind Sie ihnen ein Dorn im Auge, weil Sie einfach gegangen sind und damit ihre Pläne für eine enorm lukrative Reihe von Auftritten überall auf der Welt zunichtegemacht haben.«

»Ich verstehe das nicht … Wie können Sie mich für eine Tournee verantwortlich machen, die nie stattgefunden hat? Sie haben meinetwegen doch kein Geld verloren! Sie mussten keine Veranstalter entschädigen und auch keine Roadies feuern …«

»Das spielt keine Rolle. Es geht nur um den potenziellen Gewinn, den Sie ihnen hätten bringen können – Gewinn, den sie zu verbuchen hofften und der sich stattdessen in Luft auflöste, als Sie ihnen den Rücken zukehrten. Wenn man die Kartenverkäufe, das Merchandising und die Einnahmen durch die zusätzliche Werbung für das Album in Betracht zieht … haben sie über zehn Millionen Dollar Verlust gemacht. Und ihrer Ansicht nach, tragen Sie die Schuld daran.«

Sämtliches Blut weicht aus meinem Gesicht. »Wie sehen meine Optionen aus?«

»Sie können sich entweder vor Gericht mit ihnen anlegen und hoffen und beten, dass ein mitfühlender Richter in Ihrem Sinne entscheidet, nachdem er sich beide Seiten der Geschichte angehört hat … Oder Sie können zurückgehen.«

»Zurückgehen?«, Meine Stimme bricht.

»Nach Los Angeles.«

»Sie meinen … Ich soll einwilligen, auf diese Tournee zu gehen?«

Er nickt. »Oder zumindest sollten Sie mit den Leuten von der Plattenfirma reden. Um herauszufinden, ob Sie sich irgendwie einigen können, bevor alles den Bach runtergeht. Ich werde Sie gerne vertreten und Sie vor Gericht verteidigen, falls es dazu kommen sollte. Aber an Ihrer Stelle würde ich erst einmal alle anderen Optionen in Erwägung ziehen. Meiner Erfahrung nach lassen sich die meisten Gerichtsverfahren und Rechtsstreitigkeiten vermeiden, wenn beide Seiten ein wenig Kompromissbereitschaft zeigen. Sie würden staunen, wie viel Boden man sich mit offener Kommunikation zurückerobern kann.«

Ich schweige. Zeige keinerlei Regung. Es ist erstaunlich, wie ruhig ich nach außen bin, wenn man bedenkt, dass die Welt um mich herum gerade zusammenbricht.

Wieder einmal.

»Die Tournee dauert nur sechs Monate«, gibt Jerry sanft zu bedenken. »Vielleicht könnten Sie sogar einen kürzeren Zeitraum aushandeln. Und sobald Sie Ihre vertraglichen Verpflichtungen erfüllt haben, können Sie der Plattenfirma den Rücken kehren – dieses Mal für immer. Denn es wird keine weiteren Gründe geben, Sie zu behelligen.«

Das kann doch wohl nicht wahr sein.

Mein Kopf schmerzt, und mein Puls pocht. Das ist zu viel, um es alles auf einmal zu verarbeiten. Ich versuche, etwas von der eisigen Ruhe heraufzubeschwören, die ich in den vergangenen zwei Jahren so effektiv um mein Herz gelegt habe. Doch das Eis zerbricht mit jedem heftigen Schlag gegen meinen Brustkorb ein wenig mehr. Mein Herz ist wie ein Tier, das sich nach einem langen, betäubenden Winterschlaf von seinen eisigen Ketten befreien will.

»Nein«, keuche ich kaum hörbar. »Ich werde nicht dorthin zurückgehen. Ich kann nicht zurückgehen.«

Nicht zu der Plattenfirma. Nicht zu diesem Leben. Nicht zu ihm.

»Sollten Sie sich entscheiden, gegen die Klage anzugehen, werde ich mein Bestes tun, um Sie zu vertreten. Aber als Ihr Anwalt möchte ich es nicht versäumen zu erwähnen, dass ich Ihnen davon abraten würde, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, wie solche Fälle normalerweise ausgehen.« Er rutscht auf seinem gepolsterten Lehnstuhl herum. »Ich kann sehen, wie sehr Ihnen die Vorstellung, nach Los Angeles zurückzukehren, zu schaffen macht, Felicity. Aber Sie haben einen unanfechtbaren Vertrag unterschrieben. Vor Gericht dagegen anzugehen wird nicht nur unschön und in aller Öffentlichkeit ausgefochten … es wird auch sehr viel Geld kosten. Am Ende könnten Sie alles verlieren, weil Sie es der Plattenfirma als Entschädigung zahlen müssen.«

Mein Mund klappt auf, und ich mache Anstalten, ihm mitzuteilen, dass ich nichts Wertvolles habe, das man mir nehmen könnte … Doch die Worte lösen sich auf meiner Zunge in Nichts auf. Vor einer Stunde stimmte das noch. Ich hatte nichts, abgesehen von einem kleinen Haus mit nur einem Schlafzimmer an einem Küstenort. Und dieses Haus ist so heruntergekommen, dass selbst der geizigste Tourist die Finger davon lassen würde. Aber nun habe ich mein Erbe …

Ich würde nicht die ärmlichen Ersparnisse auf meinem Girokonto verlieren. Ich würde das Vermögen verlieren, das mir meine Großmutter hinterlassen hat. Nicht nur ihr Geld, sondern auch ihr Land. Ihre Gitarrensammlung. Und vor allem ihre Hoffungen und Träume, dass ich dieses Geld für etwas Besseres verwenden würde als Gerichtsverhandlungen und Rechtsstreitigkeiten. Wenn Sie gewollt hätte, dass ihr Lebenswerk in den Taschen von Anwälten landet, hätte sie zugelassen, dass sich ihre Töchter bis aufs Blut um den letzten Penny streiten.

Mein Magen wird bleibschwer, als mir klar wird, dass ich keine Wahl habe. Ich wurde in eine Ecke gedrängt, überlistet und überwältigt, und zwar von Leuten, die sehr viel geschickter darin sind, die Figuren auf diesem speziellen Schachbrett zu bewegen. Jerry sieht mir offenbar an, dass ich den Mut verliere, denn er beugt sich vor und drückt sanft meine Hand.

»Sie sind Bethany Hayes’ Enkelin. Sie können das schaffen. Sie können alles schaffen.«

Ich sage kein Wort. Ich klammere mich einfach nur an seine Finger, als wären sie das Einzige, was mich noch auf der Erde hält.

»Nur ein paar Monate«, murmelt er. »Dann werden Sie ihre Freiheit wiederhaben. Für immer.«

Als wäre das ein Trost.

Als ich diese Stadt das letzte Mal betreten habe, reichten »ein paar Monate« für Los Angeles vollkommen aus, um alles zu zerstören, was mir lieb war. Beim letzten Mal genügten »ein paar Monate«, um meine Welt aus den Angeln zu heben und dafür zu sorgen, dass ich die Kontrolle über das Leben verlor, das ich mir Stück für Stück auf dem Fundament einer jungen Liebe und blauäugiger Naivität aufgebaut hatte.

Ich will weinen.

Ich will schreien.

Ich will gegen das Schicksal wettern, das mich verhöhnt, während es mich zu den Scherben jenes zerbrochenen Traums zurückzerrt – zu den Scherben, die sich bereits in das Fleisch des verletzten Organs gebohrt haben, das viel zu schnell in meiner Brust schlägt, und es zum Bluten bringen.

Doch ich tue nichts davon.

Ich bin Bethany Hayes’ Enkelin.

Ich werde ihr Erbe nicht entehren.

Mein knallroter Lippenstift ist immer noch makellos. Ich straffe sie Schultern und schaue Jerry direkt in die Augen. »Darf ich mal Ihr Telefon benutzen? Ich muss die Fluggesellschaft anrufen und meinen Flug umbuchen.«

4. KAPITEL

Felicity

Francesca Foster ist selten überrumpelt.

Sie ist ein absoluter Kontrollfreak mit einer Vorliebe für Zahlen und dem Ruf, in der Musikindustrie erfolgreich zu sein. Sie war auch die treibende Kraft hinter Wildwoods erstem Album. Sie ist Anfang dreißig, wirkt meistens jedoch sehr viel älter, weil sie dem Leben und seinen zahlreichen Problemen mit einem hohen Maß an Ernsthaftigkeit und kühlem Verstand entgegentritt. Seit unserer ersten Begegnung habe ich noch nie erlebt, dass auch nur eine Strähne ihres rotbraunen glatten, asymmetrischen Bobs aus der Reihe tanzt oder ihre Miene etwas anderes als kühle, unerschütterliche Gelassenheit widerspiegelt.

… Bis zu dem Augenblick, in dem sie ihr gläsernes Eckbüro betritt und mich, mit den Füßen auf ihrem tadellos geordneten Schreibtisch, auf ihrem Stuhl sitzen sieht.

»Felicity!« Schockiert mustert sie mich mit weit aufgerissenen Augen. Sie hat tatsächlich eine Hand an ihre Brust gehoben, so als hätte ich ihr beinahe einen Herzinfarkt beschert. »Was in aller Welt machen Sie hier?«

Betont langsam nehme ich die Füße vom Schreibtisch, lehne mich auf ihrem Stuhl zurück und fixiere sie mit einem distinguierten Blick.

»Was ich hier mache, Francesca? Soll das Ihr Ernst sein? Sie besitzen die Dreistigkeit, mich das zu fragen?« Meine Stimme ist kalt. Beinahe nicht wiederzuerkennen.

»Sie haben Ihren Lakaien zur Beerdigung meiner Großmutter geschickt, damit er mir eine Gerichtsklage überreicht.«

»Das war keine böse Absicht, was auch immer Sie denken mögen.« Sie seufzt tief, und eine Sorgenfalte ruiniert die glatte Haut zwischen ihren perfekt gezupften Augenbrauen. »Ich bedaure das Timing, aber Sie ließen mir kaum eine andere Wahl.«

»Ich vermute, dass ich dankbar sein sollte, dass Sie ihn dreißig Sekunden lang warten ließen, bis sie unter der Erde war, anstatt ihn direkt am offenen Grab in meinen letzten Abschied platzen zu lassen, was?« Mein Lachen klingt höhnisch. »Das war ausgesprochen rücksichtsvoll von Ihnen.«

Langsam durchquert sie das Büro und lässt sich mir gegenüber mit einer eleganten Bewegung auf den Stuhl vor dem Schreibtisch sinken. In ihrem maßgeschneiderten petrolfarbenen Kleid sieht sie unglaublich mondän aus. »Wie ich bereits sagte, bedaure ich das Timing. Aber die gestrige Beerdigung war das erste Mal in zwei Jahren, dass ich mit absoluter Sicherheit wusste, wo Sie sich aufhalten würden – wenn man bedenkt, dass Sie einfach so ohne ein Wort verschwunden sind und uns nicht mal eine Nachsendeadresse hinterlassen haben.«