We don’t talk anymore - Julie Johnson - E-Book

We don’t talk anymore E-Book

Julie Johnson

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Beschreibung

Wenn dein Herz in tausend Scherben liegt ...

Josephine Valentine und Archer Reyes sind seit ihrer Kindheit unzertrennlich, obwohl sie doch unterschiedlicher nicht sein könnten: Zwar besuchen beide die elitäre Exeter Academy, aber während Josephine als Tochter reicher Eltern mit Privilegien und Erwartungen aufwächst, muss Archer für seine Chancen und Erfolge kämpfen. Doch als sie bemerken, dass aus ihrer Freundschaft Liebe wird, ändert sich alles zwischen ihnen. Aus Angst, ihre Gefühle könnten nicht erwidert werden, halten Archer und Josephine ihre neuen Empfindungen verborgen. Zu groß ist ihre Sorge, den einen Menschen zu verlieren, der sie vervollständigt. Und dann ist da noch ein dunkler Schatten in Archers Umfeld, von dem Josephine nichts weiß und der all ihre geheimen Träume und Hoffnungen zerstören könnte

"Julie Johnsons Geschichten sind voller wundervoller, atemberaubender und teils auch schockierender Momente, in die sie viel Liebe und Weisheit gesteckt hat." @CHAPTERSABOUTISY

Erster Band des ANYMORE-Duetts

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Seitenzahl: 476

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Playlist

Die Autorin

Die Romane von Julie Johnson bei LYX

Impressum

Julie Johnson

We don’t talk anymore

Roman

Ins Deutsche übertragen von Anika Klüver

Zu diesem Buch

Josephine Valentine und Archer Reyes sind seit ihrer Kindheit unzertrennlich, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Josephine wuchs als Tochter reicher Eltern mit Privilegien und Erwartungen auf – Archer musste stets für seine Chancen und Erfolge kämpfen. Beide besuchen die elitäre Exeter Academy, an der sich Archer zum bewunderten Golden Boy der Baseball-Mannschaft hochgearbeitet hat. Während er im Rampenlicht steht, hält sich Josephine lieber im Hintergrund und setzt alles daran, den Wunsch ihrer Eltern zu erfüllen, den Abschluss als Jahrgangsbeste zu schaffen. Doch im letzten Sommer an der Exeter Academy ändert sich alles – aus ihrer tiefen Freundschaft wird die große Liebe. Aber Josephine und Archer trauen sich nicht, ihre Gefühle zu offenbaren: Beide befürchten, eigentlich nicht gut genug zu sein und vielleicht den einen Menschen zu verlieren, der ihnen einfach alles bedeutet – für den sie alles aufgeben würden. Und während all das Ungesagte zwischen ihnen langsam dazu führt, dass sie sich immer weiter voneinander entfernen, lauert ein dunkler Schatten in Archers Umfeld, der all ihre geheimen Träume zerstören könnte …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Du weißt, wer du bist.

1. KAPITEL

Josephine

Ich starre zur Decke des Zimmers im Sommerhaus hinauf und wünsche, dass ich mich in Luft auflösen könnte. Im Zimmer über mir kann ich die verräterische Symphonie von Archer und Sienna hören – diese regelmäßigen Stöhnlaute, das gleichmäßige Pochen des Kopfteils und die quietschenden Federn in der Matratze.

Sie treiben es miteinander. Was für ein merkwürdiger Ausdruck das ist. Als wären ihre Körper Geräte, die man aus irgendeiner triebhaften Werkzeugkiste geholt und dann eher aus Notwendigkeit als aus Zuneigung miteinander verkeilt hat. Das verpasst dem Ganzen einen mechanischen Anstrich. Eine Art lästige Pflicht. Als würde man ein IKEA-Regal aufbauen und nicht Liebe machen.

Liebe machen.

Igitt. Das ist meiner unmaßgeblichen Meinung nach irgendwie noch schlimmer als es miteinander treiben. Nicht dass meine unmaßgebliche Meinung von Bedeutung wäre, wenn es um Sex geht, wenn man bedenkt, dass ich noch Jungfrau bin.

Davon abgesehen bin ich »Valentine«. (Das ist mein Nachname und hat nichts mit dem Valentinstag zu tun.) Als Spitzname ist er nicht wirklich schrecklich, wenn auch nicht unbedingt einer, den ich für mich selbst ausgewählt hätte. Aber auf einer Party vor sechs Monaten sagte eine der Baseballsportskanonen: »Hey, Valentine! Reich mir mal das Bier da, ja?« Und ich schätze, dass der Name einfach hängen blieb, denn jetzt nennt mich jeder in der Schule so. Das könnte durchaus daran liegen, dass sie sich nie die Mühe gemacht haben, sich während der sechs gemeinsam verbrachten Schuljahre meinen Vornamen zu merken.

Nun ja … das gilt für alle außer Archer. Aber das liegt nur daran, dass wir schon beste Freunde sind, seit wir alt genug waren, um uns mit irgendetwas anderem anzusprechen als diesem sinnfreien Gebrabbel, das sabbernde, zahnlose, grinsende Babys in der Kindertagesstätte von sich geben. Er nennt mich Josephine – alias Jo, alias JoJo, alias Joe Shmoe –, was der Name ist, den meine Mutter auf meine Geburtsurkunde kritzelte, nachdem sie mich in dem Sommer, in dem die Wallflowers das Lied mit dem gleichen Namen während einer Hitzewelle Mitte der Neunziger herausgebracht hatten, zur Welt gebracht hatte. (Mein Vater wollte mich ursprünglich Maude nennen, nach seiner geliebten verstorbenen Großtante. Ich werde den Göttern des angstbehafteten Alternative Rock auf ewig dankbar sein, dass sie ihn umstimmten.)

Das also bin ich. Josephine Valentine. Ein Mädchen, das nach einem Lied benannt wurde, das niemand in meinem Alter je gehört hat. Was ehrlich gesagt eine ziemlich passende Auslegung meiner gesamten bisherigen Highschoolerfahrung ist.

Seit ich alt genug bin, um derartige Dinge zu bemerken, habe ich mich immer wieder am Rand wiedergefunden. Ich bin zu künstlerisch angehaucht, um mich wie selbstverständlich unter die angesagten Leute zu mischen, zu eigensinnig, um mich wie jemand zu verhalten, den sie an ihren Tischen, an denen sie in den Mittagspausen in Cliquen zusammenhocken, als angenehm empfinden würden. So wie eine Cheerleaderin. Oder eine Schulsprecherin. Oder ein Partygirl.

Ihnen wäre vermutlich alles lieber als das, was ich bin – ein ohne jeden Zweifel introvertierter Mensch, der seine Zeit lieber mit Segeln oder in irgendeiner stillen Ecke mit einem guten Fantasyroman verbringen würde, anstatt sich am Singing Beach zu präsentieren und mit Mädchen zu tratschen, die mich, zugegebenermaßen mehr als nur ein wenig einschüchtern. Und sei es auch nur zum Teil deshalb, weil sie ihre Bikinioberteile so gut ausfüllen, während mein eigener Oberkörper flacher als ein Surfbrett ist. (Ich glaube, dass der Begriff »Spätentwicklerin« irgendwo in meiner DNA verankert ist.)

Ähnlich wie die Möwen, die auf der Jagd nach unbeaufsichtigten Snacks unerschrocken zwischen sandigen Handtüchern umherstreifen, scheinen die beliebten Mädchen immer in Rudeln aufzutauchen und in dem Augenblick zuzuschlagen, in dem man ihnen den Rücken zukehrt. Wie Raubtiere mit prunkvollen Federn lächeln sie voller Anmut, während sie insgeheim Pläne schmieden, wie sie dich vernichten können.

Damit will ich nichts zu tun haben.

Ehrlich, wenn Archer nicht wäre, wäre ich nicht mal hier auf dieser dämlichen Party. Er hat mich mitgeschleppt und darauf beharrt, dass es mehr Spaß machen würde, als am letzten Abend der Frühjahrsferien alleine zu Hause zu sitzen, eine weitere Staffel von The Great British Bake Off zu schauen und dabei Unmengen von massenproduzierten (vermutlich krebserregenden) sauren Gummiwürmern in mich hineinzustopfen, während ich mich über die stümperhafte Art aufrege, wie die Teilnehmer mit dem Fondant umgehen.

»Das ist unser letztes Schuljahr, Jo«, rief er mir ins Gedächtnis und grinste dabei auf diese Weise, die dafür sorgt, dass meine Knie weicher als Buttercreme werden. »Das ist unsere letzte Chance, es vor dem Abschluss noch einmal so richtig krachen zu lassen.«

»Ich verzichte.«

»Komm schon! Lass nicht zu, dass ich mich dieser Horde von Zombies allein stellen muss.« Er zog an einer Locke meines Haars und wickelte sie sich geistesabwesend um einen Finger. Sein Blick war fest auf die Strähnen gerichtet, auf der das schwächer werdende Licht des Nachmittags tanzte. Wir saßen an unserem Platz oben in den Dachsparren des Bootshauses – unser liebstes Versteck vor dem Rest der Welt – und blickten auf den Ozean hinaus. Unter uns plätscherten die Wellen sanft gegen die Seiten des marineblauen Hinckley-Ausflugsboots, für das mein Vater ein Vermögen ausgegeben hatte (obwohl er so gut wie nie da ist, um es zu benutzen), und dahinter sank die Sonne langsam in Richtung des Horizonts.

Wir hatten hier oben Tausende solcher Abende verbracht – mit fest aneinandergepressten Schultern teilten wir Geheimnisse in der Dunkelheit. Doch dieses Mal fühlte es sich anders an. Archer räusperte sich und wirkte ungewöhnlich nervös.

»Wenn du nicht mit zu dieser Party kommst, wer wird sich dann im Stillen mit mir über all die anderen lustig machen? Ich brauche dich, Jo. Ich bin mir nicht einmal zu schade, dich anzubetteln …«

Ich knickte schneller ein als ein verdammter Klappstuhl.

Was soll ich sagen? Ich bin machtlos gegenüber diesem überzeugenden Lächeln. Von dem sanften Ziehen an meinen Haaren und diesen strahlenden karamellbraunen Augen, die er schelmisch auf meine gerichtet hatte, ganz zu schweigen.

Außerdem muss ich zugeben, dass Archer vermutlich recht hat. Das ist wirklich meine letzte Chance, es vor dem Abschluss »noch einmal so richtig krachen zu lassen«, wie er es ausdrückte. In Anbetracht des bevorstehenden Abschlussballs und der Abschlussfeier nimmt unser Leben eindeutig an Fahrt ab. Die letzte Filmrolle wurde in den Projektor eingelegt. Der Vorhang ist kurz davor, sich zu schließen.

Fin.

Ende.

Hasta la vista, baby.

Es ist beinahe greifbar. Man spürt es förmlich. Es liegt etwas in der Luft. Klar, das könnte auch einfach nur der schwach wahrnehmbare Marihuanadunst sein oder der Rauch von der Feuerstelle, der durch die offenen Fenster hereinweht … aber ich denke, dass es mehr als das ist. Wir spüren es alle. Dieses Gefühl der Anspannung, dass ein wichtiges Ereignis bevorsteht, hat sich in unser Leben geschlichen. Wir müssen Verantwortung für unser Leben übernehmen, uns für ein Studienfach, ein College oder einen Beruf entscheiden, und all das stürmt mit voller Wucht auf uns zu. In ein paar Wochen werden wir über eine Bühne schreiten, Direktor Lawrence die Hand schütteln, unsere Abschlusszeugnisse in Empfang nehmen und uns von der Highschool verabschieden.

Wir werden uns von unserer Kindheit verabschieden.

Aber heute Abend … sind wir immer noch siebzehn, sorglos und verrückt, trinken billiges Bier aus angezapften Fässern, tanzen im Mondlicht, baden nackt im Meer und wünschen uns einen Sommer, der nie zu Ende gehen möge. (Oder … in meinem Fall … nun ja, ich verstecke mich in einem Gästeschlafzimmer und höre durch die Bodenbretter des Zimmers über mir zu, wie mein bester Freund seine Jungfräulichkeit verliert …)

Gott, Jo.

Du bist wirklich erbärmlich.

Über mir stößt Sienna ein Stöhnen aus, das laut genug ist, um einen Pornostar die Augen verdrehen zu lassen. Ich schätze, dass Archer ihre Erwartungen tatsächlich voll und ganz erfüllt – und umgekehrt, da die Quietschgeräusche der Matratze nun immer heftiger werden und sich in kreischender Harmonie mit dem dumpfen Pochen meines panischen Pulsschlags verbinden.

Komm doch endlich zum Ende, will ich meinem besten Freund zuschreien und spüre, wie sich mein Herz überraschend schmerzhaft zusammenzieht. Sollten Jungfrauen nicht eigentlich nur ungefähr dreißig Sekunden lang durchhalten? Versuchst du da oben irgendeine Art von Rekord aufzustellen?

Ich ziehe ein Kissen über meinen Kopf, um die Geräusche der beiden zu dämpfen, und wünsche mir zum hundertsten Mal, dass ich irgendeinen Ausweg aus dieser entsetzlichen Situation finden könnte. Wenn ich gewusst hätte, dass sich mein Abend so entwickeln würde, hätte ich niemals eingewilligt mitzukommen. Ich hätte ganz sicher niemals zugelassen, dass Archer uns fährt, weil ich nun keine realistische Fluchtmöglichkeit habe.

»Oh, Archer!«, schreit Sienna mit einer Stimme, die vor Leidenschaft ganz atemlos klingt.

»Ja! Ja! Ja!«

Ich sage mir, dass ich aufstehen muss. Dass ich dieses Zimmer verlassen und zurück zur Party gehen muss, wo die scheußliche Popmusik, die auf volle Lautstärke aufgedreht ist, selbst Siennas bombastischste falsche Stöhnlaute übertönen würde. Aber ich bin wie gelähmt. Ich bin stocksteif und zu Stein erstarrt.

Und was noch schrecklicher ist … hinter meinen Augen baut sich ein unerwarteter und unwillkommener Druck auf.

Warum zum Teufel weine ich?

Wenn ich ehrlich bin, dachte vielleicht tief in meinem Unterbewusstsein irgendein verblendeter Teil von mir, dass Archer und ich unsere Jungfräulichkeit eines Tages gemeinsam verlieren würden. Genau wie wir im Grunde genommen alles in unserem Leben gemeinsam gemacht haben, vom Schwimmunterricht mit fünf über die Segelrennen mit zehn und unsere ersten verbotenen Biere mit vierzehn bis hin zu unseren vorläufigen Führerscheinen für Sechzehnjährige.

Doch wenn man das dreieinhalbminütige Gerammel bedenkt, das sich gerade über mir abspielt, scheint es so, als würde mein bester Freund seine Jungfräulichkeit lieber mit der Anführerin der Cheerleadertruppe verlieren. Es wäre erschütternd, wenn es nicht so absolut vorhersehbar wäre.

Okay.

Meinetwegen.

Es ist ziemlich erschütternd. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht auch ein Klischee ist, das geradewegs aus einem Film aus den Achtzigern stammt, in dem es nur so von Highschoolstereotypen wimmelt.

Ein ehemaliger Schwächling durchlebt im Sommer vor dem letzten Schuljahr einen Testosteronschub, wird in die Baseballmannschaft aufgenommen, verwandelt sich in einen kantigen Mädchenschwarm und gewinnt das Herz der Highschoolkönigin.

Nein, nicht der Königin.

Der Highschoolzicke, denn genau das ist Sienna Sullivan bereits seit ihrem neunten Lebensjahr, als sie auf eine alles andere als nette Weise dafür eintrat, dass ich aus der Jugendfußballmannschaft austreten solle, weil meine regelmäßigen Asthmaanfälle ihre Chance auf einen Pokal gefährdeten.

Großer Gott!

(Im Ernst. Würde mir mal jemand mein Asthmaspray reichen? Dieser letzte offensive Spielzug hat mir wirklich den Atem verschlagen.)

Ich höre ein Stöhnen durch die Bodenbretter. Es klingt tief, kehlig und männlich. Selbst wenn ich nicht gesehen hätte, wie ihn Sienna in dieses Schlafzimmer führte, würde ich wissen, dass es Archer war. Ich kenne all seine Geräusche. Seine Art zu lachen, wenn er etwas wirklich witzig findet, richtig witzig, und nicht nur versucht, meinen Eltern gegenüber höflich zu wirken. Seine Art zu seufzen, wenn ich ihn zum Verzweifeln bringe. Das Stocken in seiner Kehle, wenn er aufgebracht ist und gegen das leichte Stottern ankämpft, unter dem er als kleines Kind litt.

Ich drücke mir das Kissen fester aufs Gesicht und schreie hinein – ein richtig langer Schrei –, bis mir die Luft ausgeht. In Filmen machen die Leute das immer, als würde das irgendwie dabei helfen, die Wut rauszulassen, die sich im Inneren angestaut hat. Doch es führt nur dazu, dass ich das Gefühl habe zu ersticken.

Ich weiß selbst nicht so genau, warum ich solche Qualen leide. Es ist schließlich nicht so, als hätte ich nicht gewusst, dass das irgendwann passieren würde. Was habe ich erwartet? Dass er für immer Jungfrau bleiben würde? Dass er in ein Kloster eintreten, Priester werden oder nie eine andere Frau mit Verlangen angucken würde?

Irgendwann musste Archer schließlich diesen vielgepriesenen Übergang vom Jungen zum Mann durchleben. Die meisten Jungs in der Baseballmannschaft sind bereits auf dem besten Weg, ein halbes Dutzend Eroberungen vorweisen zu können – wenn nicht mehr. Das ist alles, worüber sie reden. Welche Mädchen sie flachgelegt haben, welche sie noch nageln wollen, wie heftig sie es ihnen besorgen werden, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen.

Wer hätte gedacht, dass Sex ein solcher Wettstreit ist?

Ich will damit auf Folgendes hinaus: Alle (mich definitiv ausgenommen) tun es. Da ist es nur natürlich, dass Archer es auch irgendwann tun würde. Mir war nur nicht klar, dass es heute Abend passieren würde. Ich war nicht darauf vorbereitet. Ich hatte keine Zeit, mich für diese neue Realität zu wappnen. Das ist der einzige Grund, warum ich so aufgewühlt bin.

Oder?

Ich sollte froh sein, dass Archer zum Zug kommt. Eine beste Freundin würde sich für ihn freuen. Ihm leicht auf den Arm klopfen, ihm meine kumpelhafte Wertschätzung zukommen lassen und dann die Augen verdrehen, während er in die Detailschilderung geht. Ihm aufmerksam zuhören wie eine gute Kameradin.

Seine beste Freundin.

Seine Kumpeline.

Seine Busenfreundin.

Doch während ich hier liege, die Tränen wegblinzle, die Hände zu Fäusten balle und mein Herz doppelt so schnell schlägt wie normal … weiß ich nur, dass meine Rippen vermutlich unter der Anspannung zerbrechen werden, wenn die beiden noch lange so weitermachen.

»Gott! Ja! Oh, Archer!«

Quietsch.

Quietsch.

Quietsch.

»Ja!«

Eine Träne tropft auf das Kissen.

Was zum Teufel ist nur mit mir los?

Das Geräusch der aufschwingenden Tür lässt mich hochschrecken. Ich zerre das Kissen gerade noch rechtzeitig von meinem Gesicht, um ein Paar zu sehen, das in das Schlafzimmer getorkelt kommt, in dem ich Zuflucht vor der Party gesucht habe, die draußen immer noch tobt. Sie sind ein verschwommener Fleck aus forschenden Händen und ungestümen Küssen. Ihre Münder sind ebenso fest miteinander verschmolzen wie ihre Körper, als sie über die Schwelle stolpern. Sie haben schon beinahe das Bett erreicht, als ihnen klar wird, dass sie nicht allein sind.

Ich schaue dem Mädchen in die Augen und spüre, wie Hitze in meine Wangen steigt. Sie wirkt jedoch kein bisschen verlegen – verärgert würde die Sache schon viel eher treffen.

»Ähm, Verzeihung?«, blöke ich. »Dieses Zimmer ist besetzt.«

Sie seufzt, als wäre ich die größte Zumutung aller Zeiten. Ich erkenne sie als eine aus der Cheerleadertruppe. Candi Ciccirelli. Als sie letzten Sommer in meinem Jahrbuch unterschrieb, malte sie über jedes kleine I ein lächerliches Herzchen.

»Kannst du nicht einfach irgendwo anders hingehen, um …« Sie deutet vage in meine Richtung und wirft dann ihre schimmernde rabenschwarze Mähne über eine gebräunte Schulter. »… diesen wie auch immer gearteten emotionalen Zusammenbruch, den du gerade durchmachst, auszuleben?«

Ein klein wenig beschämt wische ich mir die Tränen mit dem Ärmel meines Pullovers aus dem Gesicht und lasse mich vom Bett gleiten. Flucht ist nicht die schlechteste Idee. Hierzubleiben und den Geräuschen zu lauschen, die Archer und Sienna bei ihrem letzten Akt von sich geben, klingt in etwa so verlockend wie eine Wurzelbehandlung.

Ich schnappe mir mein iPhone vom Nachttisch und gehe zur Tür. Während ich das Zimmer verlasse, achte ich sorgsam darauf, jeglichen Blickkontakt mit dem Paar zu vermeiden. Nicht dass sie es überhaupt bemerken würden – sie haben bereits wieder nur Augen füreinander.

Dreißig Sekunden hitziger, von übermäßigem Alkoholgenuss befeuerter Sex beginnt in fünf … vier … drei … zwei … eins …

Ich seufze tief und trete in den Flur hinaus.

2. KAPITEL

Archer

»Oh, Archer!«

Acrylfingernägel kratzen über meine Brust. Blondgefärbte Haare, in denen so viele Stylingprodukte kleben, dass sie ganz steif sind, fallen wie ein Vorhang über meine nackten Oberschenkel – eine kratzige Ablenkung von der Arbeit, die ihr Mund verrichtet.

»Du bist so groß«, stöhnt sie. Es klingt wie eine Textzeile, die sie direkt aus einem Porno übernommen hat. Ihr Umgang mit dem Thema Sex ist so übermäßig aufgeblasen – Wortspiel beabsichtigt –, dass ich nicht überrascht wäre, wenn ich beim Aufschauen ein Produktionsteam vorfinden würde, das seine Kameras auf uns gerichtet hat.

Zweiter Take! Dieses Mal mit mehr falschem Gestöhne, okay? Und … Action!

So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Sex meine ich. Vielleicht liegt das daran, dass ich ihn mir immer mit einem anderen Mädchen vorgestellt habe. Mit …

Nein.

Ich verdränge diesen Gedanken mit aller Gewalt aus meinem Kopf und lasse ein Metalltor herunterrattern, um ihn dauerhaft auszusperren. Ich werde nicht an Jo denken. Nicht jetzt, nicht hier, nicht während … dieser Sache. Wenn ich zulasse, dass ich mich an diesen Ausdruck in ihren Augen erinnere, als sie mich mit Sienna nach oben gehen sah – dieses untröstliche Bewusstsein, diesen überrumpelten Schock –, werde ich niemals in der Lage sein, das hier durchzuziehen.

Sienna leckt an meinem Schwanz, als wäre er eine Eiswaffel am heißesten Tag des Sommers.

»Das gefällt dir, nicht wahr?«

Ihre falschen Nägel kratzen über empfindliche Haut und ich zucke auf eine Art zusammen, von der ich sicher bin, dass sie nicht der Lust geschuldet ist.

»Ich werde dafür sorgen, dass du so heftig kommst, dass du denkst, du wärst im siebten Himmel …«

Wäre es unhöflich, wenn ich mir meine Kopfhörer in die Ohren stecken würde, so wie ich es beim Zahnarzt mache, wenn ich die Geräusche des Bohrers in meinem Mund nicht hören will?

Mit angespanntem Kiefer starre ich zur Decke hinauf. Ich balle die Hände zu Fäusten und packe damit die Laken, als sie das Tempo erhöht. Sie nimmt mich bis zum Anschlag in den Mund, bis ich an ihren Rachen stoße.

Großer Gott.

Es fühlt sich gut an, versteht mich nicht falsch. Nicht toll, aber … gut. So wie die Jungs in der Umkleide immer über Blowjobs reden, sollte man meinen, dass ich mittlerweile in purer Ekstase über dem Bett schweben müsste. Verdammt, vielleicht sollte ich das. Sienna ist heiß und weiß eindeutig, was sie tut. Doch jegliche Lust, die sie in mir weckt, kämpft gegen die Schuldgefühle und den Schmerz und das Bedauern an, die wie Blei auf meiner Brust lasten.

Konzentrier dich, du Idiot, rufe ich mich zur Ordnung. Sonst wird das hier ewig dauern.

Ich knurre, als sie den Mund schneller bewegt. Das Gefühl lässt sich nur schwer beschreiben. Warm, feucht. Anders als ich gedacht hätte. Als hätte man Sex mit einem Pfirsich, der einfach nicht aufhört, theatralisch zu stöhnen.

»Bist du kurz davor?«, keucht sie und zieht sich mit einem schlürfenden Geräusch zurück. Sie ist ein wenig außer Atem.

Bin ich kurz davor?

Nicht mal ansatzweise.

»Ja«, lüge ich und erkenne meine eigene Stimme kaum wieder. »Ich bin kurz davor.«

Ich zwinge mich, nach unten zu schauen, während sie fortfährt. Ihre Augen sind braun. Sie wären hübsch, wenn sie nicht durch so viel Make-up verfälscht wären. Jedes Mal, wenn sie mit diesen falschen Wimpern blinzelt, muss ich an Raupen denken, die über ihr Gesicht kriechen – was für meine Leistung nicht besonders förderlich ist.

Könnte ich ein noch größeres Arschloch sein?

Dieses Mädchen bearbeitet mich mit der Überschwänglichkeit eines Hochleistungsstaubsaugers, und mein einziger Gedanke ist, wie viel länger es noch dauern wird, bis ich dieses Zimmer verlassen kann, um ihr zu entkommen. Um mir selbst zu entkommen. Um diesem ganzen verdammten Abend zu entkommen.

Bis dahin wird der Schaden bereits angerichtet sein. Ich werde meine Mission erfüllt und die einzige Person von mir gestoßen haben, die ich je auch nur ansatzweise …

Nein.

Ich verstärke die mentale Barrikade, die mein Hirn umgibt, mit neuen Riegeln und eisernen Ketten, damit sich die Gedanken nicht hineinschleichen können. Damit sie sich nicht hineinschleichen kann. Ich zwinge mich, an nichts zu denken und mich einzig und allein auf die Empfindungen zu konzentrieren.

Siennas Mund.

Mein Schwanz.

Aber es funktioniert nicht. Fünf weitere Minuten vergehen und ich scheine immer noch nicht kommen zu können. Trotz ihrer ganzen vorgetäuschten Begeisterung weiß Sienna das ebenfalls, da sie von mir ablässt. Sie setzt sich zwischen meinen Beinen auf. Mein immer noch harter Schwanz reckt sich in ihre Richtung wie ein Soldat in Habachtstellung, der auf seine Befehle wartet.

»Das funktioniert nicht«, meint Sienna schmollend. Die Frustration in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Ich verstehe sie gut. Vermutlich musste sie sich für etwas so Einfaches wie einen Blowjob noch nie so ins Zeug legen, dafür ist sie einfach zu heiß.

Und männliche Jungfrauen im Teenageralter sind nicht unbedingt für ihr Durchhaltevermögen bekannt.

Sie betrachtet mich mit gerunzelter Stirn, als hätte ich irgendein anatomisches Problem. Ich kann die Gedanken hören, die ihr in diesem Moment durch den Kopf kreisen.

Zu viel Alkohol?

Mutterkomplex?

Heimlich schwul?

Sienna ist stolz darauf, das heißeste Flittchen an der Exeter Academy zu sein. Ich weiß, dass das abwertend klingt, aber sie hat sich diesen Titel selbst verliehen. Sie ist mächtig stolz auf ihre sogenannte »Opferliste« von Jungs, die sie entjungfert hat, und prahlt oft genug damit, dass sie es beinahe auf eine ganze Fußballmannschaft bringt.

Sie krallt ihre Fingernägel wie Klauen in meine Haut, während sie an meinem Körper entlang nach oben kriecht und sich rittlings auf mich setzt. Unsere Gesichter sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und mir fällt auf, dass ihre Lippen von ihren Anstrengungen geschwollen und gerötet sind. Sie beugt sich vor, um damit mein Ohr zu streifen, und flüstert heiser.

»Warum vögelst du mich stattdessen nicht einfach?«

Ihr Haar kratzt an meiner Wange – es fühlt sich an wie Stroh und riecht nach künstlichen Erdbeeren –, und ich versuche, nicht das Gesicht zu verziehen. Mittlerweile will ich es in etwa so gerne mit ihr treiben, wie ich meinen Schwanz in der nächstbesten Tür einklemmen will, aber ich protestiere nicht, als sie sich in eine bessere Position bringt.

Sie sieht mir in die Augen, während sie ihren orangefarbenen Stretch-Rock langsam nach oben bis zu ihrer Taille zieht. Sie trägt keine Unterwäsche, was normalerweise eine aufregende Enthüllung wäre, aber irgendwie scheine ich nichts mehr spüren zu können. Ich bin nicht erregt, nicht auf Touren, empfinde nichts und fühle mich einfach nur …

falsch.

Alles hieran ist falsch.

Der falsche Zeitpunkt, der falsche Ort, das falsche Mädchen.

»Archer?« Sienna legt den Kopf schief. Sie sieht auf eine Weise auf mich herunter, die sie zweifellos für sexy hält – schmollende Lippen, gesenkte Lider –, und wartet auf meine Erwiderung. Als ich nicht sofort reagiere, nimmt sie meinen Schwanz in beide Hände und bearbeitet ihn mit der Fingerfertigkeit einer Person, die so etwas beruflich macht. »Sei nicht schüchtern. Ich weiß, dass du mich vögeln willst …«

Ihre Stimme lässt keinen Raum für Zweifel. Warum sollte sie auch? Sie hat es mit jedem Kerl in der Baseballmannschaft getrieben. Das ist im Grunde genommen ein Initiationsritus.

Trink ein Bier auf dem Schlagmal, dann renn einmal an jeder Base vorbei.

Bewirf Coach Hamms Haus vor dem ersten Spiel mit Klopapier.

Spiel der gegnerischen Mannschaft aus der Nachbarstadt einen Streich.

Lass dich auf einer Party auf Sienna Sullivan ein.

»Klar«, höre ich mich selbst mit toter Stimme sagen und zwinge meine Arme dazu, sich von der Matratze zu heben. Sie sind steif – als wäre ich ein Roboter, der per Fernbedienung gesteuert wird, als läge meine Entscheidung in den Händen einer anderen Person –, während ich nach dem Kondom auf dem Nachttisch greife.

Reiß die Folie auf.

Streif es über.

Greif nach ihr.

Ich hasse mich.

»Lass es uns tun.«

3. KAPITEL

Josephine

Das Haus sieht wie der Tatort eines Mehrfachmordes aus. Überall liegen Körper herum. Jason Samborn ist bewusstlos auf dem Billardtisch zusammengesackt. Auf dem grünen Filz unter ihm bildet sich eine Pfütze aus Speichel. Mehrere Paare machen in aller Öffentlichkeit miteinander rum – sie drücken sich gegen Wände oder sind in halbdunklen Ecken eng aneinandergepresst und haben es zu eilig, um darauf zu warten, dass eins der Schlafzimmer für sie frei wird und sie an der Reihe sind. Oder zu betrunken, um sich darum zu scheren.

Ich folge dem donnernden Bass und bahne mir einen Weg in den hinteren Teil des Sommerhauses, wo ein offener Bereich aus Küche und Wohnzimmer eine Aussicht auf die zerklüftete Atlantikküste bietet. Das Wasser ragt düster und drohend in der Ferne auf und schlägt mit aller Gewalt gegen die Felsen direkt hinter der terrassenartig angelegten Rasenfläche.

Für ein Sommerhaus ist dieses Anwesen riesig – größer als die normalen Häuser der meisten Menschen. Aber Lee Parks Familie ist alles andere als normal. Seinem Großvater gehört halb Singapur sowie eine Menge anderer Anwesen, die überall auf der Welt verteilt sind. (Was ihn zum drittreichsten Schüler in meiner Abschlussklasse macht. Vor ihm rangieren nur noch Eva Ulrich, deren Urururgroßvater sich die Sportsocke patentieren ließ, und Carl McDonald, der Erbe eines mehrere Milliarden Dollar schweren Fast-Food-Imperiums.)

Ich trete zögernd in den tiefer liegenden Wohnbereich hinein. Die Zwillingsschwestern Ophelia und Odette Wadell schnupfen Linien aus Adderall von dem gläsernen Wohnzimmertisch. Ihre platinblonden Bobs wirbeln um ihre Gesichter herum, als sie jeweils ein Schnapsglas mit gekühltem Grey-Goose-Wodka hinterherkippen. Jemand, den ich nicht erkenne, liegt mit dem Gesicht nach unten auf der anderen Hälfte der Sofagarnitur und hält immer noch einen Jelly Shot umklammert.

Das hat Stil.

In der Küche hat sich die halbe Baseballmannschaft um die Kücheninsel versammelt und spielt Bierpong mit roten Plastikbechern. Ein Bierfass steht bereit. Wann immer ein Ball im Ziel landet, bricht eine neue Runde Jubel und Gegröle aus.

In dem ganzen Trubel entdeckt mich einer von ihnen. Ryan Snyder, der First Basemann der Schulmannschaft. Er ist vermutlich der netteste Kerl der gesamten Mannschaft – was bedeutet, dass er meine Anwesenheit auf ihren Partys nicht komplett ignoriert. Er winkt mir immer zu, wenn ich nach der Schule auf der Tribüne herumhänge und darauf warte, dass Archer sein Training beendet, damit er mich mit nach Hause nehmen kann.

Ryan ist auf diese typisch amerikanische Weise attraktiv und sieht ein bisschen wie ein Abercrombie & Fitch-Model aus – groß, sandblondes Haar und ein Sixpack, das man gerade ungehindert begutachten kann. Seine rote Badehose ist noch feucht vom Pool und sitzt tief auf seinen Hüften, und obwohl der Sommer kaum angefangen hat, ist seine Haut gebräunt. Man kann kaum glauben, dass die Sonne Neuenglands kräftig genug ist, um im Mai einen so intensiven Bronzeton hervorzubringen.

»Hey! Valentine!«, ruft er über das Lied von Drake hinweg, das aus den Lautsprechern dröhnt. Ich halte mitten in meiner Bewegung inne. »Wo hast du dich versteckt? Komm hier rüber und mach einen Promishot für mich. Mein Partner ist verschwunden.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Einen was?«

»Einen Prominentenshot.« Er hält einen weißen Tischtennisball aus Plastik hoch und grinst breit. »Komm her, ich werde es dir zeigen.«

Ich trete näher und hoffe, dass das gedimmte Licht jegliche Spuren meiner Tränen verbirgt. »Ich will keinen Shot haben, Ryan. Ich trinke keinen Alkohol.«

»Ich rede nicht von einem Shot Alkohol, Witzbold. Ich rede davon, dass du einen Wurf für mein Team machen sollst.« Er tut so, als würde er den Ball in einen Becher werfen und knickt dabei profimäßig das Handgelenk. »Hast du etwa noch nie Bierpong gespielt?«

Ich zucke unverbindlich mit den Schultern.

»Das ist einfach nur bedauerlich, Valentine. Wirklich.« Er schüttelt den Kopf und führt mich weiter in die Küche hinein. Ich spüre seinen warmen Körper dicht an meinem Rücken. Er riecht nach Chlor und Zigarettenrauch, überlagert von einer dichten Wolke aus Körperspray aus der Dose. Der Standard für alle Jungs im Teenageralter.

»Macht mal ein bisschen Platz, Jungs. Valentine ist meine neue Teamkameradin und sie wird euch jetzt fertigmachen«, sagt er und navigiert mich durch den Pulk aus männlichen Sportlern. Sie teilen sich wie ein Rotes Meer aus Baseballtrikots.

Ich schaue zu Ryan hoch und verziehe ironisch den Mund. »An deiner Stelle würde ich keine allzu hohen Erwartungen hegen.«

»Zu spät. Ich habe bereits extrem hohe Erwartungen. Außerdem kannst du nicht schlechter als mein letzter Partner sein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er gerade oben im Bad ist und kotzt.« Er zwinkert mir neckisch zu, und seine blauen Augen funkeln im schummrigen Licht. »Also, das ist ziemlich einfach. Siehst du diese Becher?« Sein Blick wandert zum anderen Ende der marmornen Arbeitsplatte, wo zehn mit Bier gefüllte Becher in einer Dreiecksformation aufgestellt sind.

Ich nicke.

»Du wirst diesen Ball …« Er drückt den Plastikball gegen meine Handfläche. »… in einem von ihnen versenken. Das ist kinderleicht.«

»Das kann nur jemand sagen, der noch nie dabei zugesehen hat, wie ich mich in irgendeiner Sportart versuche. Egal in welcher.«

Er lacht, und ich spüre, wie sich in meinem Inneren ein paar Verspannungen lösen.

Vielleicht bin ich doch nicht komplett sozial verkümmert.

»Stress dich nicht, Valentine.« Ryan stößt mit seiner Schulter gegen meine. »Ich werde dir dabei helfen, die richtige Technik zu finden.«

Er tritt hinter mich, schlingt die Arme um meinen Körper und nimmt meine Hände sanft in seine. Seine Brust streift meinen Rücken, als er den Kopf über meine Schulter beugt, und sein langes Haar kitzelt meinen Nacken.

Ein nervöses Gefühl huscht an meiner Wirbelsäule entlang nach unten und sammelt sich in meiner Magengrube. Ich bin einem Jungen noch nie so nah gewesen – abgesehen von Archer. Und der zählt nicht. Wir hingen uns, schon lange bevor wir die Worte »nur Freude« überhaupt buchstabieren konnten, ständig auf der Pelle.

»Also«, flüstert mir Ryan mit heiserer Stimme ins Ohr. »Ziel auf den mittleren Becher. Dann wirf den Ball ganz sanft. Die Bewegung muss aus dem Handgelenk kommen.«

»Aus dem Handgelenk«, wiederhole ich einfältig, als hätte ich auch nur irgendeine Ahnung, was das bedeutet. »Klar. Verstanden.«

Er lacht, und sein Atem kitzelt mein Ohrläppchen. Ich winde mich ein wenig. Meine Haut fühlt sich plötzlich zu eng an.

Kein Wunder, dass ich noch Jungfrau bin. Sobald mir ein attraktiver Kerl zu nah kommt, gerate ich schon ins Trudeln.

»Spielt ihr zwei Bierpong oder Würstchenverstecken?«, ruft einer der Sportlertypen über die Kücheninsel. Er klingt eindeutig ungeduldig. »Werft den verdammten Ball oder sucht euch ein Schlafzimmer.«

»Halt deine dämliche Klappe, Chris«, blafft Ryan. Dann lässt er meine Hände los und tritt einen Schritt zurück. »Ignorier ihn. Du schaffst das, Valentine.«

Ich hole tief Luft, straffe die Schultern und beäuge das Dreieck aus Bechern. Es befindet sich etwa zwei Meter von mir entfernt – keine allzu große Distanz, aber definitiv nicht nah genug, um bei mir Vertrauen in meine Fähigkeiten hervorzurufen.

Ich schicke ein Stoßgebet gen Himmel und mache meinen Wurf. Alles um mich herum tritt in den Hintergrund, während ich beobachte, wie die weiße Plastikkugel durch die Luft segelt. Niemand ist verblüffter als ich selbst, zu sehen, wie sie mit einem entschiedenen Platschen genau im mittleren Becher landet.

»Verdammt, ja!«, brüllt Ryan und umarmt mich so fest, dass mir die Luft wegbleibt. »Genau davon habe ich geredet!«

»Anfängerglück.« Ich winde mich aus seiner Umklammerung und lache atemlos. Seine Begeisterung ist ansteckend – ich erwische mich dabei, dass ich lächle, als er mir einen zweiten Ball reicht.

»Wirf noch mal.«

Das tue ich und verfehle das Ziel dieses Mal um Längen. Der Ball titscht mehrfach auf dem Küchenboden auf und verschwindet dann unter den Schränken. Ich beiße mir auf die Lippe und schaue zu Ryan hinauf. »Zu meiner Verteidigung … ich habe dich bezüglich meiner Hand-Augen-Koordination gewarnt.«

»Hey, mach dir deswegen keinen Kopf. Den ersten Ball hast du perfekt versenkt. Du bist ein echtes Naturtalent, du wirst schon sehen.«

»Was ist denn so besonders daran?«, mischt sich eine weibliche Stimme ein. Sie klingt eindeutig genervt. »Sie hat einen dämlichen Ball versenkt. Das kann doch jeder.«

Sienna tritt auf der anderen Seite der Kücheninsel neben Chris. Ihre Augen sind beinahe so scharf wie ihre Fingernägel, als sie sie auf meine richtet. Ihr Mund, der mit grellem pinkfarbenem Lipgloss bedeckt ist, der zu ihrem bauchfreien Oberteil passt, ist zu einem herablassenden Schmunzeln verzogen. Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass ihr gefärbtes blondes Haar komplett zerzaust ist, so als wäre jemand mit den Händen hindurchgefahren.

Archer.

Mein Lächeln gerät ins Wanken.

Sienna schnappt sich den weißen Ball aus Chris’ Hand und wirft ihn gekonnt in einen unserer Becher.

»Super Wurf!«, jubelt Chris, der den Blick nicht für eine Sekunde von Siennas Dekolleté nimmt. Er sabbert so heftig, dass sich selbst ein Bernhardiner vor ihm ekeln würde.

Ohne zu zögern, schnappt sich Sienna einen weiteren Ball und wirft ihn – mit einer Bewegung, die ich nie im Leben hinbekommen würde – hinter ihrem Rücken wie eine Verrenkungskünstlerin. Er landet mühelos in einem der Becher.

»So macht man das«, verkündet sie triumphierend und stemmt eine Hand in die Hüfte. Ihr greller korallenfarbener Rock ist so eng, dass er praktisch mit ihrer Haut verschmolzen ist. Sie trägt auf keinen Fall Unterwäsche – und ich bin nicht die Einzige, der das aufgefallen ist. Die Blicke sämtlicher Kerle im Raum sind fest auf sie gerichtet. Sie scheinen sie nicht abwenden zu können. Sienna zieht sie magisch an.

Vielleicht liegt das an ihrer perfekt gebräunten Haut, auf der kein einziger Bräunungsstreifen zu sehen ist. Vielleicht liegt es an dem bauchfreien Oberteil, das sich eng über ihre großen Brüste spannt, neben denen meine wie Mückenstiche aussehen. Oder vielleicht liegt es auch einfach an ihrem unerschütterlichen Selbstbewusstsein – diesem ungetrübten Charisma, das jedermanns Aufmerksamkeit auf sich zieht, ob sie sich nun in ihrer Cheerleaderuniform auf der Spitze einer menschlichen Pyramide befindet oder umgeben von halb leeren Plastikbechern in einer Küche steht.

Sienna lächelt kokett. »Oh, ich bin noch nicht fertig, Jungs … es sei denn, ihr habt genug gesehen?«

Lautstarkes Brüllen und Anfeuerungsrufe sind die Antwort.

Sie vollführt in Windeseile ein paar weitere perfekte Würfe, bis sich in so gut wie jedem der mit Bier gefüllten Becher ein weißer Ball befindet, der an der Oberfläche treibt. Nur einer bleibt leer. Mit einem Hüftschwung, der den Jungs ein Grölen entlockt, dreht sie der Küchentheke den Rücken zu und wirft den letzten Ball über ihre Schulter. Er landet mit einem kleinen Platschen, das das Ende des Spiels verkündet, in dem Becher direkt vor mir.

Auch wenn ich es noch so ungern zugebe, war das ziemlich elegant.

Sienna weiß das ebenfalls. Sie wirbelt mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf dem Gesicht herum, während die Sportler in Jubel ausbrechen. Ein Kichern kommt über Siennas schimmernde Lippen, als Chris sie hochhebt. Die anderen Jungs fallen wie bewundernde Untertanen auf die Knie und skandieren den Namen ihrer Königin – drei Silben, die die Musik immer und immer wieder übertönen.

»Si-en-na! Si-en-na! Si-en-na!«

»So ist es, ergebene Anhänger!« Sie lacht auf ihre begeisterten Fans hinunter und schwenkt winkend eine Hand über ihrem Kopf. »Ich bin die Königin des Bierpong!«

Etwas in mir sackt in sich zusammen, aber ich schaffe es, mein Lächeln aufrechtzuerhalten. Ich bin stets die gute Verliererin. Ich mache nie eine Szene. Schließlich würde die unscheinbare, kleine Jo Valentine – das ewige Mauerblümchen – es niemals wagen, in das Rampenlicht zu treten, das seit dem Tag, an dem ihr Brüste wuchsen, auf Sienna gerichtet ist.

Ich weiß nur zu gut, dass ich diese wie auch immer geartete Magie, die durch Siennas Adern fließt, niemals besitzen werde. Das ist nichts, was man sich aneignen kann, damit wird man geboren, wie Sommersprossen oder Allergien oder besonders gelenkige Finger. Meine Imitation ihrer unbekümmerten Anziehungskraft würde bestenfalls unbeholfen und verstörend wirken. Wie ein kleines Mädchen, das in den Stöckelschuhen seiner Mutter umherstolpert.

Als Chris Sienna endlich absetzt, schaut sie über die Kücheninsel direkt zu mir hin. Sie mustert mich mit ihren stark geschminkten Augen von oben bis unten und scheint jede Kleinigkeit meines Erscheinungsbilds auseinanderzunehmen – von meinem einfachen geflochtenen Zopf über meinen zu großen weißen Wollpullover bis hin zu der Abwesenheit von Make-up auf meinem Gesicht.

»Trink aus«, sagt sie und nickt in Richtung der Becher, die direkt vor mir stehen. »Du hast verloren.«

Ich werfe einen Blick auf die Becher. Weiße Tischtennisbälle schwimmen wie winzige Schiffe auf der schaumigen gelben Plörre. Das Ganze sieht in etwa so appetitlich aus wie eine gewisse Körperflüssigkeit.

Ich räuspere mich. »Ich hatte eigentlich nicht vor, das zu trinken …«

»Gott, du bist so eine Spaßbremse.« Sienna verdreht die Augen. »Warum machst du dir überhaupt die Mühe, zu unseren Partys zu kommen? Bleib doch beim nächsten Mal einfach zu Hause und strick irgendwas, um Himmels willen.«

Ein paar der Jungs lachen gedämpft in ihre Bierbecher.

Wut kocht in mir hoch, gepaart mit einem Schwall aus Verlegenheit, der so groß ist, dass er mich beinahe niederdrückt und ich kaum noch atmen kann. Sienna Sullivan verkörpert die schlimmste Art von Beliebtheit – sie schwelgt geradezu darin. Sie hat Freude daran, diejenigen, die auf der gesellschaftlichen Leiter unter ihr rangieren, zu vernichten. Vermutlich deswegen, weil sie davon ausgeht, dass wir darauf aus sind, ihr den Platz an der Spitze streitig zu machen. Sie würde niemals verstehen, dass manche von uns ganz zufrieden damit sind, auf den unteren Sprossen zu rangieren. Dass wir lieber anonym bleiben, als über alle anderen hinwegzutrampeln, um die bedeutungslosen Stufen der Exeter Academy-Leiter zu erklimmen.

»Komm schon, Valentine.« Sie spricht meinen Spitznamen mit höhnisch verzogenen pinkfarbenen Schmolllippen aus. »Zeig uns, dass du nicht die brave Langweilerin bist, für die dich alle halten.«

Ich beiße mir auf die Zunge, um mich davon abzuhalten sie anzuschnauzen. Das wäre eine Verschwendung von Atemluft. Nichts von dem, was ich ihr um die Ohren hauen möchte, wird dafür sorgen, dass sie sich auf wundersame Weise in einen besseren Menschen verwandelt.

»Na?«, höhnt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wie sieht es aus?«

Ich wippe auf meinen ledernen Flip-Flops vor und zurück und wünschte, dass ich mich einfach in Luft auflösen könnte. Sienna bemerkt mein Unbehagen und lächelt so breit wie eine Katze, die einen Kanarienvogel zwischen den Pfoten hält.

Sie weiß nur zu gut, dass ich es hasse, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Das weiß sie schon seit der sechsten Klasse, als ich das Wort IMPROVISIERT beim jährlichen Buchstabierwettbewerb vor der gesamten Schule als IMPOVISIERT buchstabierte, was dazu führte, dass das Publikum in schallendes Gelächter ausbrach – und ich heulend von der Bühne rannte. (Archer brauchte zwei Stunden, um mich unter der Tribüne hervorzulocken.)

Die Gelegenheit, mich vor der Baseballmannschaft zu demütigen, ist für sie zu verlockend, um sie verstreichen zu lassen.

»Na?«

Ich schlucke schwer. »Ich …«

»Ich werde sie trinken«, bietet Ryan an und greift nach einem Becher. »Das macht mir wirklich nichts aus …«

»Nein.« Siennas Befehl lässt ihn mitten in der Bewegung innehalten. Sie schaut mich an, und ihre Augen sind wie Klingen. »Du hast nicht mal einen Ball geworfen, Ryan. Das ist nicht dein Spiel. Es ist ihres.«

Eine kurze Pause zwischen zwei Liedern entsteht. In der plötzlichen Stille bemerke ich, dass es in der Küche seltsam ruhig geworden ist, während Sienna und ich uns diesen Schlagabtausch liefern. Ich kann das Gewicht zahlreicher Blicke auf mir spüren. Der Druck des bevorstehenden Gelächters schwillt in der Luft an wie eine sommerliche Gewitterfront. Alle schauen mich an. Alle warten ab, um zu sehen, ob ich kneifen werde. Sie erwarten, dass ich die Flucht ergreife.

Die langweilige Jo Valentine lässt sich nie gehen, sie tut nie etwas Unerwartetes.

An einem normalen Abend hätte das vermutlich gestimmt. Ich würde mich ohne zu zögern davonmachen. Ich würde mit einem Achselzucken darüber hinweggehen. Ich würde nach Hause gehen, um mir in meiner kleinen sicheren Welt The Great British Bake Off anzusehen.

Aber das hier ist kein normaler Abend. Und unter der Verärgerung, die ich empfinde, wenn ich Sienna anschaue, liegt noch etwas anderes, etwas Tieferes – eine brodelnde Verbitterung, die nichts mit einer Partie Bierpong zu tun hat.

»Zum Teufel damit«, murmle ich und greife nach dem nächstbesten Becher.

4. KAPITEL

Archer

Nachdem Sienna gegangen ist, sitze ich noch eine Weile lang auf der Bettkante und versuche, einen klaren Kopf zu bekommen, bevor ich zurück nach unten gehe. Es hat keinen Zweck. Egal wie tief ich ein- und ausatme, es reicht einfach nicht, um die Erinnerungen an den heutigen Abend auszulöschen.

Oder die Schuldgefühle.

Ich bin nicht beleidigt, dass Sienna nicht geblieben ist. Sobald sie mich entjungfert hatte, gab sie mir einen Kuss auf die Wange und verschwand durch die Tür. Ich bezweifle ernsthaft, dass ich ihre Welt auf den Kopf gestellt habe, aber das schien ihr nichts auszumachen. Für sie geht es beim Sex mehr um Macht – und Beliebtheit – als um körperliches Vergnügen. Das ist für sie nur Teil ihrer Taktik, sich in den Vordergrund zu stellen.

Wenn man sieht, wie die Jungs aus der Mannschaft um sie herumscharwenzeln wie liebeskranke Hündchen, scheint das eine verdammt effektive Strategie zu sein. Der Weg zum Herzen eines Mannes mag durch seinen Magen führen, aber der Weg zum Herzen eines Teenagers befindet sich direkt unter dem Reißverschluss seiner Hose. Und Sienna ist mehr als bereit, eine schnelle Nummer zwischen den Laken gegen ungeteilte männliche Aufmerksamkeit einzutauschen – so flüchtig sie auch sein mag. Vorgetäuschte Orgasmen sind nur ein weiterer Punkt auf ihrer Liste mit künstlichen Fähigkeiten.

Unechte Bräune.

Unechte Haare.

Unechte Fingernägel.

Unechte Freundlichkeit.

Dieses Mädchen wechselt ihr Erscheinungsbild schneller als die meisten Menschen ihre Socken. Ich kann sie absolut nicht ausstehen. Es ist schrecklich, das zuzugeben, wenn man bedenkt, dass ich gerade mein erstes Mal mit ihr hatte und all das, aber es ist die Wahrheit. Das ist auch der einzige Grund, warum ich mich von ihr in dieses Schlafzimmer führen ließ.

Besser sie als jemand, der denken könnte, dass es tatsächlich etwas bedeutet.

Ich lasse den Kopf in die Hände sinken und reibe so fest über mein Gesicht, dass ich Sterne sehe. Ich ohrfeige mich und befehle mir, mich nicht länger wie ein Jammerlappen aufzuführen.

Ich habe eine Entscheidung getroffen.

Die kann ich nicht mehr rückgängig machen.

Ich kann es nicht mehr ändern.

Ich muss damit leben … und mit den Konsequenzen.

Schließlich war das der Sinn der ganzen Übung, oder etwa nicht? Ich habe es nicht mit Sienna getrieben, um mein Wohlergehen zu fördern, und mein Herz war ganz sicher nicht im Spiel. Es war kein Fehler in betrunkenem Zustand und auch kein kurzzeitiger Aussetzer meines Urteilsvermögens. Es war reines Kalkül mit der Absicht, den größtmöglichen Schaden anzurichten.

Als ich durch diese Tür trat, wusste ich genau, was ich tat – und wen ich damit verletzen würde. Ich wusste, dass ich einen Schlussstrich unter mein altes Leben zog. Dass ich gewisse Möglichkeiten mit Permanentmarker ein für alle Male durchstrich.

Ein Gesicht blitzt in meinem Kopf auf. Eines, das ich bereits mit vier Jahren in- und auswendig kannte. Eines, das ich seitdem Jahr für Jahr mit stets wachsender Intensität betrachtet habe.

Eine Stupsnase, ein paar vereinzelte Sommersprossen.

Ein bereitwilliges Lächeln, Grübchen in den Wangen.

Jo.

Ich ohrfeige mich erneut. Heftig. Nur so vertreibe ich jeden Gedanken an sie aus meinem Schädel. Als könnte mich der körperliche Schmerz, den ich mir zufüge, irgendwie von dem unnachgiebigen Schmerz in meiner Brust ablenken.

Ich würde mir eigenhändig das Herz aus der Brust reißen, wenn ich der Meinung wäre, dass das helfen würde. Aber es gibt keine einfache Lösung für das hier.

Für mich.

Für uns.

Mir war vollkommen klar, dass das hart werden würde. Aber das hier – der Schmerz, den ich empfinde, die unerträgliche Endgültigkeit dieser ganzen Angelegenheit – ist entsetzlich. Ich rede mir ein, dass es mit der Zeit leichter wird, weiß aber, dass es eine Lüge ist.

Was soll’s? Eine Lüge mehr.

Füge sie einfach der wachsenden Liste hinzu.

Ich hole noch ein letztes Mal tief Luft und zwinge mich, das Zimmer zu verlassen. Mich hier oben zu verstecken wie ein Feigling, der nicht in der Lage ist, zu seinen eigenen Entscheidungen zu stehen … der nicht in der Lage ist, sich dem Schmerz zu stellen, der ihn zweifellos in einem weit aufgerissenen Paar blauer Augen erwartet …, wird das Unvermeidliche nur hinauszögern.

Reiß das Pflaster einfach ab, Arschloch.

Unten neigt sich die Party langsam ihrem Ende entgegen, während das Bier und die Drogen ihr dunkles Netz weben. Mehr als nur ein paar Leute sind bereits bewusstlos und liegen ausgebreitet auf diversen Oberflächen herum. Im Eingangsbereich steuere ich auf das erste Bierfass zu, das ich sehe, und zapfe mir ein Bier. Es schmeckt, als wäre es schon drei Wochen alt, aber ich kippe es trotzdem herunter und fülle den Becher dann sofort neu auf.

Kippe ihn runter.

Fülle ihn erneut.

Ich muss später noch nach Hause fahren, aber das ist gerade das geringste Problem. Der verheißungsvolle Schleier des Vergessens übt unleugbar eine gewisse Anziehungskraft aus. Alles, was die Qual, die wie ein Güterzug in meine Richtung donnert, abschwächen könnte, ist mir willkommen.

Wie zum Teufel soll ich Jo nüchtern gegenübertreten?

Ich stärke mich mit einem weiteren Schluck und mache mich auf die Suche nach ihr. Frustration staut sich in mir auf, während ich durch das Haus laufe und mich von Zimmer zu Zimmer bewege. Ich überprüfe all ihre üblichen Verstecke, jedoch ohne Erfolg. Sie ist noch nie ein großer Fan von Partys gewesen, weswegen sie sich fast immer in irgendeiner ruhigen Ecke verkriecht, bis wir gehen.

Doch heute Abend scheint das nicht der Fall zu sein.

Sie ist nicht auf der Veranda, um die Blumen fremder Leute zu gießen. Sie ist nicht draußen auf einer Poolliege, um zu den Sternen hinaufzublicken. Sie ist nicht in der dunklen Bibliothek, um in den Bücherregalen zu stöbern. Sie hockt nicht auf der Ladefläche meines Pick-ups, um darauf zu warten, dass ich uns nach Hause fahre.

Wo zum Teufel ist sie?

Ein Anflug von Sorge jagt durch meine Nervenenden, aber ich unterdrücke ihn mit einem weiteren Schluck Bier. Irgendwann kehre ich ins Haus zurück, wo sich die meisten Partygäste, die noch bei Bewusstsein sind, versammelt haben. Sienna schnupft weiße Linien vom Wohnzimmertisch und wird auf beiden Seiten von den Wadell-Zwillingen flankiert. Sie schaut mich nicht mal an, als ich hereinkomme.

Im angrenzenden Küchenbereich spielt die Hälfte meiner Mannschaftskameraden Bierpong. Ich gehe in ihre Richtung und öffne gerade den Mund, um zu fragen, ob jemand Jo gesehen hat, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken. Sie steht direkt vor mir, an einem Ort, wo man sie am allerwenigsten vermutete hätte – sie lehnt mit einem roten Becher in der Hand am Kühlschrank, und dieser Mistkerl Ryan Snyder hat einen Arm um ihre Schultern gelegt.

Ich bleibe wie angewurzelt stehen.

Das Erste, was mein Hirn wahrnimmt, ist, wie gut sie aussieht. Dass ich sie an jedem Tag meines Lebens gesehen habe, so lange ich denken kann, und mir ihr Gesicht vertrauter als mein eigenes Spiegelbild ist, spielt keine Rolle. Diese Erkenntnis trifft mich jedes Mal mit voller Wucht, wie ein Schlag in die Magengrube.

In einem Kaleidoskop aus hautengen Kleidern und künstlicher Bräune ist sie ein reiner Strahl aus Licht – ihr blondes Haar, das sich halb aus ihrem dichten Zopf löst, ihre Haut, die im gedimmten Licht sanft schimmert, diese lächerlichen abgeschnittenen Shorts, von denen sie denkt, dass sie darin burschikos aussieht, die in Wahrheit aber nur betonen, wie lang ihre Beine sind. Im Laufe der Jahre habe ich mehr Zeit damit verbracht, von diesen Beinen zu träumen, als ich mir eingestehen will.

Wie sie von unserem Lieblingsplatz oben in den Dachsparren baumeln.

Wie sie damit von der Bootsanlegestelle auf mich zuläuft.

Wie sie damit in den brechenden Wellen strampelt.

Wie sie sie um meine Taille legt, als ich sie huckepack über den Rasen trage.

Das Zweite, was ich wahrnehme, ist, dass sie betrunken ist. Ihre Augen, diese wahnsinnigen himmelblauen Augen, die immer geradewegs in meine Seele schauen, sind halb geschlossen. Sie lehnt an der Kühlschranktür aus Edelstahl und wirkt so, als könnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Ich muss gegen den Drang ankämpfen, zu ihr zu laufen und sie zu stützen.

Da ist schon jemand, der sich darum kümmert.

Er hat bereits meinen Platz eingenommen.

Ryan, dieser Vollpfosten, sagt etwas, das ihr ein Kichern entlockt. Sie schwankt und droht, das Gleichgewicht zu verlieren, und er nutzt die Gelegenheit, um sie dichter an seine nackte Brust zu ziehen. Meine Finger verkrampfen sich so fest um meinen Becher, dass ich hören kann, wie das Plastik protestierend knistert.

Dieser Mistkerl.

Ryan hat seine Hände überall an ihr und betatscht sie mit einer Vertrautheit, die mich in den Wahnsinn treibt. Ich beobachte, wie er mit seinen dämlichen Fingern am Stoff ihres Pullovers herumspielt, und spüre, wie sich schlagartig etwas Unliebsames durch meinen Körper schlängelt. Ich will den Abstand überwinden und sie von ihm wegzerren. Mit Gewalt. Ich will ihre Hand packen und sie von hier fortziehen, fort von ihm, obwohl ich weiß, dass das wirklich das absolut Letzte ist, was ich heute Abend tun sollte.

Ich kann nicht anders. Vernunft, gesunder Menschenverstand, die Fähigkeit, rationale Gedanken zu fassen … das alles löste sich schlagartig in Luft auf, als ich sie sah. Meine Füße setzen sich in Bewegung, bevor ich sie daran hindern kann, und wandern in ihre Richtung wie ein Magnet. Zum Teufel mit den Konsequenzen.

Ich habe die Küche zur Hälfte durchquert, als sich eine Hand auf meine Schulter legt und mich innehalten lässt.

»Hey, Reyes!« Chris Tomlinson schlägt mir so fest auf den Rücken, dass ich mein Bier verschütte, und grinst dabei wie die Grinsekatze. »Der Champion kehrt zurück!«

Offenbar hat sich die Neuigkeit von meiner Eroberung auf dieser Party schneller verbreitet als Pfeiffersches Drüsenfieber. Das ist ärgerlich, wenn auch nicht völlig überraschend.

»Also …« Tomlinson lehnt sich zu mir und wackelt mit den Augenbrauen. »Wie war sie? War alles so, wie du es dir vorgestellt hast?«

»Lass es gut sein, Chris.«

»Du hast sie doch klargemacht, oder?«

Ich antworte nicht. Ich bin damit beschäftigt, an ihm vorbei zu spähen, um Jo auf der anderen Seite der Küche zu sehen. »Zweite Base? Dritte Base? Homerun?«, bedrängt mich Chris. »Erzähl mir nicht, dass du kurz vorm Ziel abgeschmiert bist.«

Verärgerung flackert durch meinen Körper. »Ich habe nicht vor, mir dir darüber zu reden.«

»Warum so schüchtern, Reyes?« Er schubst mich zum Spaß. »Ich werde heute Abend nicht mehr flachgelegt werden, also sind ein paar Einzelheiten das Mindeste, was du preisgeben kannst, um deinem Kumpel auszuhelfen …«

Ich dränge mich an ihm vorbei und habe endlich freie Sicht auf den Kühlschrank. Jo lehnt nicht länger daran. Ich kann sie nirgends entdecken. Ryan ist ebenfalls verschwunden.

Panik flammt in mir auf und das Blut rauscht nur so durch meine Adern. Ich drehe den Kopf hin und her und suche die verschwommenen Gesichter in der Küche ab. Ich glaube, einen Blick auf sie zu erhaschen, als sie gerade durch die Verandatür nach draußen geht, aber die Tür schwingt zu, bevor ich mir sicher sein kann.

Verdammt.

»Wo willst du hin, Reyes?«, ruft Chris, als ich davonmarschiere.

Ich bleibe nicht mal stehen. Was meine Mannschaftskameraden betrifft, bin ich gerade sehr viel mehr an Ryan interessiert – vor allem daran, was er mit meiner besten Freundin im Schilde führt.

Ich will gerade den Türgriff umfassen, als die Verandatür auffliegt und mir beinahe ins Gesicht schlägt. Andy Hilton – ein unleugbarer Idiot, aber ein verflucht guter Outfielder mit einem Wurfarm wie ein junger Babe Ruth – stolpert von einer Wolke aus Marihuana umgeben ins Haus. Seine Augen sind blutunterlaufen. Er grinst wie ein Irrer.

»Wo ist Tomlinson?«, bellt er.

Ich deute mit einem Nicken in Richtung Küche. Meine Ungeduld wächst mit jeder Sekunde. Ich kann es nicht ertragen, nicht zu wissen, wo Jo ist. Ob es ihr gut geht.

Ist siebzehn zu jung für einen Herzinfarkt?

»Komm schon, Reyes«, sagt Andy. Zu spät bemerke ich das Netz in seiner Hand – eins von der Sorte, die man für die Teichpflege verwendet – und das Aufblitzen der orangefarbenen Schuppen darin. »Das willst du dir garantiert nicht entgehen lassen. Ich habe hier eine Speziallieferung, extra für Chris …«

Herr im Himmel.

Andy stürmt in die Küche und zieht eine nasse Spur hinter sich her. Wider besseres Wissen folge ich ihm.

»Der Fang des Tages!«, brüllt er und dreht das Netz über der Theke herum. Der Fisch fällt heraus. Seine Augen sind rund wie Murmeln, und sein Maul öffnet und schließt sich auf der vergeblichen Suche nach Luft. Er zappelt und windet sich wie jemand, der einen Krampfanfall erleidet. Alle beugen sich vor und sind von dem Anblick wie hypnotisiert.

Ich schaue ruckartig zu Andy. »Alter, was soll der Quatsch?«

»Tomlinson hat mit mir gewettet, dass du bei Sienna nicht zum Zug kommen würdest«, sagt er aufgekratzt und beäugt dabei Chris – der ein wenig blass wirkt, während er den zappelnden Fisch beobachtet. »Da sie bereits das Gegenteil bestätigt hat … ist es nun an der Zeit, dass er seine Wettschuld einlöst.«

»Das war ein Scherz«, sagt Chris mit matter Stimme und starrt immer noch auf den Fisch.

Andy schnaubt. »Das sagst du nur, weil du verloren hast.«

»Wie lautete die Wette?«, frage ich, obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich die Antwort hören will.

Andy klärt mich nur zu gern auf. »Der Verlierer schluckt einen Fisch aus dem Familienteich der Parks.«

Chris schüttelt den Kopf. »Nein. Das mache ich auf keinen Fall. Das kann ich nicht.«

»Abgemacht ist abgemacht, Kumpel.«

»Verzieh dich, Andy!« Seine Stimme klingt ein wenig undeutlich. Er hat so viel Bier intus, dass es mich wundert, dass er immer noch klar genug ist, um zu diskutieren. »Das mach ich auf gar keinen Fall.«

»Sei kein Feigling.«

»Lee wird mich umbringen, Mann. Diese Kois gehören seiner Mom …«

»Lee liegt bewusstlos auf dem Sofa. Er wird es nie erfahren.« Andys Gesicht ist rot angelaufen und er keucht vor Aufregung, als er eine seiner fleischigen Hände ausstreckt und damit den zappelnden Fisch packt. Das Tier entkommt mehrmals, bevor es ihm gelingt, es in einen leeren Bierbecher zu verfrachten. Er sieht Chris schadenfroh an, während er den Becher langsam über die Theke schiebt.

»Willst du etwas Wasser hinzufügen oder ziehst du deinen Fisch als Sashimi vor?«

Chris macht keinerlei Anstalten, nach dem Becher zu greifen. Auch sonst tut es niemand. Die meisten der Jungs stehen einfach nur da, schauen zu und warten ab, wie sich die Sache entwickelt. Ein paar von ihnen brechen in Gelächter aus. Sie schlagen Chris ermutigend auf den Rücken. Stacheln ihn an.

Währenddessen erstickt der Fisch auf dem Trockenen.

Ich kann den Blick nicht von dem Becher lösen. Ich weiß nicht, warum mich der Anblick so fertigmacht, aber ich kann mich einfach nicht abwenden. Der Becher rappelt, als der Koi darin zappelt und ums Überleben kämpft. Seine Chancen stehen nicht gut, wenn niemand eingreift.

Verdammt.

Das Letzte, wonach mir momentan der Sinn steht, ist, einen gottverdammten überdimensionalen Goldfisch zu retten, aber wie es scheint, habe ich keine Wahl. Ich kann den kleinen Kerl nicht in den Händen dieser Deppen lassen. Versteht mich nicht falsch, ich bin alles andere als ein PETA-Aktivist. Ich habe sämtliche Argumente für eine pflanzenbasierte Ernährung und vegane Lebensführung gehört – »Fische sind Freunde, kein Futter!« –, aber ich esse trotzdem gern ein schönes Schwertfischsteak vom Grill. Ich bin immer für eine Schale voller Meeresfrüchte zu haben, die im Erdofen zubereitet wurden. Gebt mir ein wenig geschmolzene Butter und eine Scherenzange und ich verputze voller Genuss einen Hummer in weniger als fünf Minuten.

Aber wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann ist das Vergeudung. Anspruchsdenken. Irgendein reicher Junge, der in deinen winzigen Teich greift, in dem du dich um deinen Kram gekümmert hast und fröhlich deine Runden gedreht und an nichts Böses gedacht hast … und dich aus dem Wasser an die Luft zerrt, nur zum Spaß. Nur weil er die Möglichkeit dazu hat.

Das ist der Punkt, den ich einfach nicht ertragen kann.

In diesem Raum voller Treuhandfondsgören und Millionären der vierten Generation habe ich vermutlich mehr mit dem Fisch gemeinsam, der in diesem Becher zappelt. Nicht, dass sie das wüssten. Wenn ihnen das klar wäre, würde ich gar nicht erst hier sein.

»Nun mach schon, Chris!«, johlt Andy. »Trink aus!«

Chris strafft die Schultern und holt tief Luft, um sich vorzubereiten. Wütend – auf mich selbst und auf meine idiotischen Mannschaftskameraden – schnappe ich mir den Becher von der Theke, bevor er die Gelegenheit hat, ihn zu ergreifen.

»Das ist der größte Mist, den ich jemals gesehen habe«, zische ich durch zusammengebissene Zähne. »Wo ist der verdammte Teich? Ich werde ihn zurückbringen.«

Andy stöhnt. »Reyes, sei kein Spielverderber! Wir haben hier doch nur ein bisschen Spaß.«