Fairarscht - Sina Trinkwalder - E-Book

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Sina Trinkwalder

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Beschreibung

Aufgeklärte Verbraucher möchten durch bewussten Konsum die Welt verändern. Warensiegel für ökologischen Anbau, faire Produktions- und Handelsbedingungen geben dem Kunden ein gutes Gefühl. Doch die Mechanismen funktionieren nicht, den Erzeugern der Handelswaren werden die Erträge mit dem guten Gewissen vorenthalten. Sina Trinkwalder, eine der profiliertesten und streitbarsten deutschen Unternehmerinnen, spricht Klartext: Wer profitiert? Wie werden Bauern und Handwerker tatsächlich behandelt? Was sind die blutigen Seiten des Gutmenschenbusiness?

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Sina Trinkwalder

Fairarscht

Wie Wirtschaft und Handel die Kunden für dumm verkaufen

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungPrologWARUM wir ticken, wie wir tickenFrüher war alles besserBillig – das Henne-Ei-ProblemViel in Variation und immer verfügbarAllzeit bereitCoffee to goImmer volle Kanne!Inszenierte Vielfalt und doch immer dasselbeWohlstandszipperleinMangel im ÜberflussKönigsklasse: aus Scheiße Gold machenEs ist zu viel!Wir haben uns verkauft!Hier schöpfen, dort schröpfenAblasshandel mit Siegeln und ZertifikatenWIE Industrie und Handel uns fairarschenFairtrade & fairarschtWas ist Fairtrade?Erster Fehler: falsches SystemZu viel des GutenWischiwaschifair dank MengenausgleichViel zu viel und doch nicht genugDritte Welt arbeitet, Erste Welt nutznießtFair ist kein QualitätsversprechenFair zum Angestellten, nicht zum LeiharbeiterBio als billiges GlücksspielWas ist bio?Einmal bio und zurückGlücksgriff MogelpackungMarken-Bio völlig überteuertDasselbe in Grün»Made in …«? Nah und fern dasselbeMade in Germany zum asiatischen EinkaufspreisIntransparenzBeste Bedingungen im billigen BangladeschVolle Verpuffung: das BrandschutzabkommenDer grüne Knopf, läuft wie geschmiert!Das Gute will gefördert werdenDie Otto-Group: Reden hilft … nicht!Wie wir dem Handel helfen, Werte und Handwerk zu vernichtenBacke, backe, Pustekuchen!Geschäftsbeziehung versus »moderne Sklaverei«Die Kleinen melken, die Großen sahnen abWAS wir nicht ändern, wird sich nicht ändernDer machtlose Konsument?Weniger ist mehr!Vom quantitativen zum qualitativen WachstumWirtschaft muss schrumpfenRegionale WertschöpfungGutes wieder zur Norm machenEpilogDank
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Für Magnus. In Liebe.

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Prolog

Und nun übermittle ich Ihnen den Stein der Weisen; das glänzendste Geschäft in dieser Welt ist die Moral«, lässt Frank Wedekind (1864–1918) seinen Marquis von Keith im gleichnamigen Stück sagen. Das Geschäft mit der Moral ist heute in Deutschland ein Drama in unzähligen Akten.

Da wären VW und sein »Diesel-Gate«. Der Konzern frisierte die Abgaswerte seiner sauberen Diesel-Motoren-Pkws und lag teils um das Vierzigfache über den gesetzlichen Normen. Über Nacht wurde aus dem Saubermanngefährt eine Dreckschleuder. Ein absolutes Desaster in einer Zeit, in der (Achtung, Sarkasmus!) durch Unwetter und Hurrikane immer mehr Menschen von einer Bedrohung durch den Klimawandel überzeugt sind. Vor allem, wenn ein Tornado das Dach des Nachbarn mitten im spießbürgerlichen Schwaben abdeckt.

Medien feuerten dem Abgas-Alptraum ordentlich ein. Betrogene Kunden auf allen Kontinenten ließen die sozialen Netzwerke explodieren. Der Kurs des Konzerns büßte innerhalb einer Woche knapp 40 Prozent ein. Die Autobauer-Nation Deutschland wähnte sich am Rande eines ökonomischen Herzinfarkts. Während ein Politiker nach dem nächsten die »lückenlose Aufklärung« (das Buzz-Wort der Politiker) forderte, schrien Konsumenten und Konkurrenz nach »Transparenz«. Kurz darauf entdeckten die Journalisten, dass VW nicht der einzige Trickser der Branche ist und dass die Politik längst Bescheid wusste. Doppelt gelogen hält besser.

Mitnichten. Der Abgasskandal ereignete sich rund um das 25-jährige Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung. In einer Anzeige verkündete der VW-Konzern, diverse Danksagungen an Kunden, Handelspartner etc. vorgesehen zu haben, sich nun jedoch auf einen Satz zu beschränken: »Wir werden alles tun, um euer Vertrauen zurückzugewinnen.«

Ich fragte mich sofort: »Wieso zerstört ihr es dann zunächst?« Warum versprechen Handel und Industrie artig und fein nach jedem Skandal, umgehend für Transparenz zu sorgen, statt einfach vorher die Wahrheit zu sagen?

Ehrlich sein, die Wahrheit sagen – Charaktereigenschaften, die schon im Kindesalter verdammt schwer zu leben sind, obgleich in diesem Lebensstadium der Wahrheit der Lüge durchaus noch der Vortritt gegeben wird.

 

»Mama, das nächste Mal müssen wir unbedingt ein Foto von mir machen, wenn ich wieder mit dir unterwegs bin«, sagte mein Sohn als Drittklässler.

Wir waren wieder unterwegs. Nur wenige Tage später kam mein Filius nach Hause, knallte den Schulranzen in die Ecke, stellte sich vor mich und sagte mit vorwurfsvollem Ton: »Jetzt hast du es! Hättest du ein Foto gemacht, müsstest du nicht zu meiner Lehrerin!«

Ich konnte ihm nicht folgen. Er warf mir sein Hausaufgabenheft auf den Tisch und lief wutentbrannt ins Kinderzimmer. Ich hörte eine Tür knallen, während ich las: »… bitte ich Sie, am Dienstag um 10.30 Uhr in meine Sprechstunde zu kommen.«

»Frau Trinkwalder«, begrüßte mich seine Klassenlehrerin. »Wir müssen uns unbedingt unterhalten.«

»Natürlich«, dachte ich. »Wozu sollte ich sonst hier sein?«

»Frau Trinkwalder«, wiederholte die Lehrkraft, legte dann eine dramatisch-theatralische Pause ein, um die künstliche Stille mit pathetischem Ton zu durchbrechen: »In der zweiten Klasse habe ich das mit der Phantasie durchgehen lassen, Sie erinnern sich?«

Ich benötigte einen Moment, bis mir einfiel, dass mein Sohn im vergangenen Schuljahr einen einzigen Kommentar, der länger als zwei, drei Worte war, unter einem »Wie-war-dein-Wochenende-Aufsatz« nach Hause brachte. Der Erlebnisbericht handelte von einem Treffen zwischen Frau Merkel und meinem Sohn in Berlin. Vor einer Garderobe. Beim Nachhaltigkeitstag. Darunter stand in etwa: »Schön und flüssig erzählt, sicher im Wortschatz, politisch interessiert und viel Phantasie!«

Diesmal legte die Lehrerin mir das Aufsatzheft der dritten Klasse hin. Wieder so ein »Wochenende-Aufsatz«. Ich sollte ihn lesen, was ich tat.

Anschließend fragte ich: »Und was genau ist nun das Problem?« Die Lehrerin sah mich mit großen Augen an und erklärte mir in belehrendem Ton, dass derartige Phantastereien doch übers Ziel hinausschossen. Da wurde ich sauer. Und rot im Gesicht.

»Mein Sohn hat am Wochenende Herrn Steinbrück getroffen. In meiner Näherei. Und ja, er hat mit mir zusammen dem Kerl sogar den Gürtel enger geschnallt! Wenn Sie UNS das nicht glauben, gucken Sie in die Zeitung, da ist das dpa-Foto abgebildet!«

Mir wurde schlagartig klar, warum der Achtjährige Fotos einforderte: Ohne Beweis glaubt man ihm die Wahrheit nicht. Oder im Umkehrschluss: Wer den Beweis hat, ist Hüter der Wahrheit. Er bekommt Anerkennung und genießt Vertrauen bei allen, die ihn kennen. Das lernt man als Kind. Und nützt es als Erwachsener. In einer Forschungs- und Entwicklungsunit zum Beispiel. Oder in einer Marketingabteilung. Der einzige Unterschied zum Kindesalter ist: Man nützt das wertvolle Wissen nicht in seiner ursprünglichen Form, man be-nützt es. Für seine Zwecke. Für den Erfolg, den eigenen wie den unternehmerischen, kurz: um Geld zu machen.

Erfolg nämlich ist in unserer Gesellschaft gleichgesetzt mit Geld. Fragt man ein Kind, was es später werden will, erhält man die Antwort: »erfolgreich«. Auch im Jugendalter ist es keine andere. Hat der Erwachsene es »geschafft«, ist er beruflich erfolgreich, verfügt über eine ordentliche Menge Kohle. Eingetauscht gegen Privatleben, Zeit und Sinn. Mit der Wahrheit Geld zu machen ist aber eine denkbar schwere Aufgabe, vor allem wenn wir uns am Ende der Wohlstand-durch-Wachstum-Illusion befinden.

Fakt ist, dass 66 Jahre »soziale« Marktwirtschaft nicht spurlos an Marketingabteilungen vorbeigegangen sind. Heute findet sich in den Regalen alles, was man sich nur denken und nicht wünschen kann. Oder wie erklärt sich der »Lippen-Booster« – eine Art Saugnapf für den Mund, der mittels Unterdruck aus schmalen Lippen ein Gummiboot zaubert?

In einem derart übersättigten Markt löst Wahrheit weder Anerkennung, was gleichzusetzen wäre mit Umsatz, noch Vertrauen, also Kundenbindung aus.

Wie viele Diesel-Pkws hätte Volkswagen mit der Wahrheit verkauft? »Unsere Diesel sind zwar Dreckschleudern und wir haben keine Konzepte für die Zukunft, aber dafür haben sie bequeme Sitze und es gibt drei Sonderlackierungen inklusive Null-Prozent-Finanzierung« – mit solch einer fiktiven Wahrheitsaussage wäre kein einziger Wagen verkauft worden. Das Dumme nur: Nehmen wir an, die Research-&-Development-Abteilung ist einhelliger Meinung, dass da nichts mehr geht. Was tun? In diesem Fall ist guter Rat nicht teuer, sondern kurzum drei Stockwerke höher zu finden: bei den Werbern. Willy Millowitsch sagte einst: »Für jeden kommt einmal die Stunde der Wahrheit, und dann heißt es: Lügen, lügen, lügen!« Getreu diesem Motto wird nun fleißig an einer neuen Wahrheit gebastelt. Und an der Beweisführung gleich dazu. Da wird gefaked und geflunkert, besiegelt und zertifiziert und, wenn all dies nichts hilft, sich selbst ein Prädikat verliehen. Fotos für die Wahrheit? Photoshop!

Der Volkswagen-Konzern ist jedoch nicht der einzige, der seine eigene Wahrheit vermarktet. Zwei Tage später titelte die Bild »Mogelt Samsung beim Energieverbrauch?«, kurz darauf kam im TV eine Reportage über Biogemüse aus Italien, das gar keines war. Im Textil, der Branche, in der ich zu Hause bin, ist es längst kein Geheimnis, dass die Hersteller von Waschmaschinen schwindeln, um die geforderten Energieeffizienzstufen erreichen zu können. Sie betreiben »Greenwashing«, die Gradanzahl des gewählten Waschvorgangs stimmt nicht mit der eigentlich erzielten Temperatur überein: Es wird deutlich kühler gewaschen als die vom Benutzer gewählte Temperaturstufe.

Es wird also gemogelt, bis der Kunde selbst die firmeneigene, beweisgeführte und besiegelte Wahrheit anzweifelt oder gar widerlegt.

Vor geraumer Zeit hatte ich das Vergnügen, mit einigen Einkaufsverantwortlichen verschiedener Konzerne und Händler in Frankfurt zu dinieren. Frei heraus fragte ich in die Runde, warum ihre Firmen den Kunden so derart an der Nase herumführen, wenn es um die wahre Geschichte hinter ihren Produkten geht. Ich erläuterte einige Beispiele und fragte: »Warum lügt ihr eure Kunden an?«

Auf einmal waren sich alle am Tisch einig.

»Sina!«, sagte der Herr mir gegenüber. »Wo denkst du hin! Wir lügen unsere Kunden nicht an. Wir liefern ihnen, was sie wollen: sauber, sozial und billig. Und damit sie richtig Spaß haben mit dem Produkt, liefern wir eine schöne Geschichte dazu. Das ist nicht lügen. Das ist ein bisschen verarschen, mehr nicht!«

»Das ist nicht fair«, antwortete ich.

»Dann eben fair-arscht«, grinste mein Gegenüber. Und mit ihm die Runde, die das Glas auf den Witz erhob. Ich hingegen kam mir genauso vor.

Kunden wollen also verarscht werden, war die Essenz des Abends. Aber: Ist das die Wahrheit? Wollen Kunden wirklich fairarscht werden? Und wenn ja, wie werden sie verarscht? Was haben Kunden überhaupt zu wollen? Und was ist mit dem anderen Ende der Produktionskette, den Herstellern? Machen die mit beim Verarschen, oder werden sie ebenfalls hinters Licht geführt? Und wo bleibt eigentlich die Politik?

Ich machte mich auf die Suche nach Antworten. Und Wahrheiten. Mit diesem Buch.

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WARUM wir ticken, wie wir ticken

(Und uns für dumm verkaufen lassen.)

Früher war alles besser

Ich bin in einem Gasthaus groß geworden. Mit Viehhaltung und hauseigener Schlachtung, mit Ländereien, auf denen das Futter für die Tiere wuchs. Von Kindesbeinen an wusste ich ein gutes Stück Rauchfleisch von meinem Patenonkel Martin zu schätzen. Nicht weil es einst nichts anderes für mich gab, sondern weil es richtig lecker schmeckte.

BiFi – kannte ich damals nicht. Heute kenne ich das Produkt, esse es aber nicht. Dafür bin ich verzweifelt auf der Suche nach einem Stück Geräuchertem. Einer Scheibe schmierigen Specks, voller Ruß, das nach dem Räuchern noch Monate im Dachboden hängt und Zeit bekommt, geschmacklich zu reifen. Das aber gibt es nicht mehr. In den vergangenen 30 Jahren ist viel passiert. Zu viel für meinen Geschmack. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Meine Erinnerungen an die heile Konsumwelt sind in den 70ern und Anfang der 80er eines auf dem Land aufgewachsenen Kindes begründet. Die Wurst kam vom Schwein, und mit dem habe ich vorher noch ordentlich gespielt (sofern die Sau es zuließ!). Selbst bei der Schlachtung durfte ich helfen und mit einer Wurzelbürste dem Tier die Borsten abschrubben. Oder das frische, noch warme und süßlich riechende Blut rühren, damit es nicht klumpte und später eine »sau«gute Blutwurst gab. Mit meiner Oma saß ich am Ofen und rupfte ein Hühnchen, das wir vorher im Stall geköpft und im Wamsler ausgekocht hatten. Das Holz für die Wärme im Küchenofen wie auch in der Stube holten alle Familienmitglieder an Samstagen aus dem eigenen Wald.

Einmal die Woche durfte ich mit meiner Raustetten-Oma in den »Gubi«. Einen Supermarkt. Dort wurde der Wocheneinkauf erledigt. Es kam all das in den Einkaufskorb, was nicht selbst hergestellt oder vom ansässigen Handwerker bezogen werden konnte. Viel war es nicht: ein paar Päckchen Backpulver, Orangensaft – und, daran kann ich mich heute noch zu gut erinnern, Schokolade. Mit ganzen Nüssen.

Kaffee wanderte ebenfalls in den Wagen. Oft hat meine Großmutter ihn nicht getrunken. Vielleicht war die Zeit, als es keinen gab, noch zu sehr in ihrer Erinnerung. Deshalb hieß es bei ihr immer »Bohnenkaffee«. Schließlich kannte ihre Generation auch noch Ersatz aus Zichorien und Getreide. Ein Haferl Bohnenkaffee war etwas Besonderes. Dafür setzte man sich hin, nahm sich Zeit für eine Tasse und genoss das schwarze Gold, ohne sich Gedanken über den Anbau und die Herkunft zu machen. Vielmehr blätterte man dazu in den Katalogen von Neckermann oder Quelle und suchte nach einem neuen Kleid, auf das man sparen wollte.

Das war Konsum Anfang der 80er auf dem Land. Es war jene Zeit, in der ich fünf Jahre alt war und Zitrusfrüchte nur zur Weihnachtszeit bekam und die Walnüsse in der Adventszeit doppelt genoss, weil man sich daran erinnerte, wie viel Arbeit darin steckte, die Nüsse zu sammeln, zu trocknen und zu knacken. Wochenlang schwarze Finger inklusive. Übrigens: Mandarinen und Orangen gab es nur im Winter, Erdbeeren im Juni, und Mangos kannte ganzjährig niemand in meiner Familie. Unter der Woche tollte ich in meiner Lieblingshose, die meine Mutter mir nähte, herum, und sonntags wurde das gute Gewand für den Gang in die Kirche angezogen. Es war die Zeit, in der Ernährung noch keine Wissenschaft, Bekleidung noch kein Fast Fashion und unser Konsum noch kein Moralgeschäft war.

Dann änderte sich vieles. Nahezu schlagartig. Vielleicht hing es mit dem Umzug in eine Kleinstadt zusammen anno 1985, vielleicht aber war es das aufkommende künstliche Konsumverhalten, das die Werbung zu schüren begann. Das Butterbrot in meiner Pausenbox wich dem Knoppers. Manchmal fand ich darin auch einen Fruchtzwerg (»So wertvoll wie ein kleines Steak«). Dazu kam täglich eine Banane, und der Kakao von der dorfeigenen Molkerei wurde durch Capri-Sonne ersetzt. Mandarinen und Orangen gab es auf einmal das ganz Jahr über. Die selbstgenähten Kleider taugten hingegen, wenn überhaupt, nur zum Fasching; wir gingen regelmäßig zu C&A oder K&L Ruppert in die Stadt einkaufen. Für jeden Tag eine gute Hose. Und ein paar T-Shirts, schließlich waren sie nicht teuer.

Sogar an die ersten Nahrungsergänzungsmittel kann ich mich erinnern: Weil wir Kinder unseren Eltern besonders am Herzen lagen und die Werbung ihnen dies tagtäglich im aufkommenden Privatfernsehen in Erinnerung rief, wurden wir jeden Morgen mit einem Löffel Multisanostol gequält.

Im Supermarkt um die Ecke fand sich nicht mehr nur Schokolade in Vollmilch oder mit ganzen Nüssen, es gab verschiedenste Sorten von mehreren Anbietern. Die Früchteauslage bot auf einmal einen völlig fremden Anblick: komische Gewächse mit Stacheln, grüne Sterne zum Essen, Äpfel, die gar keine waren, sondern mit einem Löffel gegessen werden mussten, und Früchte, die fürchterlich stanken, aber gut schmeckten.

Die Metzgertheke, sofern der Supermarkt eine hatte, wurde abgebaut und gegen ein Selbstbedienungs-Kühlfach ausgetauscht. Dort reihten sich Wurst- und Fleischwaren, fein säuberlich in Plastik verpackt, nebeneinander. Weniger Service, dafür mehr Auswahl.

Wer noch weniger Service, kaum Auswahl, dafür aber unschlagbar billig konsumieren wollte, musste nur an den Stadtrand fahren: Die Discounter warteten dort bereits. Aldi und Lidl.

Was im Lebensmittelbereich ging, machte auch vor anderen Konsumgütern wie Bekleidung nicht halt. »Ende der 80er war Schicht im Schacht«, erzählte mir Raphael Wilhelm, der Nähmaschinentechniker meiner Firma manomama, mit der ich 2010 begann, wieder regional wertgeschöpfte und ökologische Textilien herzustellen. »Das, was noch hier produziert und genäht wurde, wanderte ab in den billigen Osten. Und dann nach Asien«, sagte er. Und von dort kam Mode containerweise. Und mit ihnen die kleinen Preise und die Modediscounter wie NKD und Takko.

Und heute? Heute ist aus einem ehrlichen Stück Rauchfleisch über den Umweg debil grinsender Fratzen im wiederverschließbaren Frischepack ein industrielles Erzeugnis aus Massentierhaltung geworden. Wer glaubte, die Gesichtsmortadella war ein schlechter Marketinggag eines artifiziellen Metzgers sollte bald schon eines Besseren belehrt werden: Bärchenwurst für alle.

Aktuell gibt es nicht nur verschiedenste Arten dieses tierischen Fleischerzeugnisses, es herrscht allgemein reinster Wildwuchs. Beispiel Bierschinken ohne Bier und ohne Schinken. Aus hundertprozentigem Hühnereiweiß. Ein Produkt höchster industrieller Lebensmittelchemie, fernab von dem, was mein Onkel unter »Wurst« verstand. Dafür ein Produkt (denn Lebensmittel wäre hier das falsche Wort), das für gut befunden und besiegelt wurde von irgendeinem der unzähligen Institute für ein gesünderes Wohlbefinden in einer besseren Welt. Und Siegel stehen in unserem heutigen Verständnis für Wahrheit. Und Wahrheit wird konsumiert.

Das Einzige, was heute eine Schutzatmosphäre genießt, wenn es um die Wurst geht, ist der Verpackungsvorgang selbst. Darin stecken Massentierhaltung, vollautomatisierte Industrieschlachtung, ausgebeutete Leiharbeiter am Zerlegeband und pfennigfuchsende Einkäufer des Lebensmittelhandels. Natürlich alles nur zum Wohl des Kunden, da ist sich die Kette einig. Schließlich hat sich der Konsument den Leberkäs zu 59 Cent für 100 Gramm gewünscht. Ebenso wie eine Reihe weiterer Produktentwicklungen: Spätzleteig in der Schüttelflasche, vorgeschälte Kartoffeln im Foliensackerl und pürierte Zucker-Fruchtbomben im Aluminiumpack zum Auszuzeln.

Als ob die immense Produktvielfalt, die innerhalb der letzten 25 Jahre entstanden ist, nicht genug wäre, gibt es heute diese Vielzahl an Produkten stets on top mit und ohne Allergene: glutenfrei, für Laktoseintolerante und, nicht zu vergessen, für künstliche Allergiker von tierischen Produkten: Veganer. Schließlich hat jeder Konsument neben seinen vielfältigen Wünschen mittlerweile sein Wohlstandszipperlein. Darüber freut sich die Wirtschaft, denn diese Zustände wollen umsatzträchtig gehegt und gepflegt werden.

»Wo sind die Schweine hin?«, fragte ich meinen Metzgersonkel vergangenen Sommer, als ich ihn besuchte.

»Die haben wir, wie alle anderen Tiere, längst aufgegeben«, erklärte er mir. Es wäre nicht mehr gegangen. Das Futter sei viel zu teuer. Die Bauern würden kein Getreide mehr anbauen, sondern ihre Äcker und Felder für Biogasanlagen nutzen.

»Da kommt alle sechs Wochen ein Lkw und mäht. Die haben keine Arbeit mehr und kriegen Geld dafür. Und Futter aus China importieren? Nein! Da höre ich lieber auf! Außerdem will der Kunde das nicht mehr bezahlen. Er hat doch gelernt, dass es das Kilo Hack für 99 Cent beim Discounter gibt!«

 

 

Kurz & bündig:

Innerhalb der letzten 50 Jahre ist aus dem Konsum für den täglichen Gebrauch, der Grundversorgung, bestritten durch viele kleine Handwerksbetriebe, ein globalisierter und industrialisierter Massenmarkt geworden.

Billig – das Henne-Ei-Problem

Die Worte meines Onkels klangen noch lange nach. Haben wir Kunden gelernt, dass Fleisch billig ist, oder haben wir es uns gewünscht? Und wurden die Preise unserer Wunschvorstellung angepasst? Wollten wir Kunden unbedingt günstige Kleidung, oder war für die Wirtschaft die Zeit einfach günstig, uns billige Fetzen in rauhen Mengen anzudrehen, die am anderen Ende der Welt andere teuer bezahlen mussten?

»Ein typischer Fall von Henne-Ei-Problem«, dachte ich mir und eine hervorragende Situation für Handel und Industrie, uns Konsumenten all das Schindluder, das sie treiben, in die Schuhe und in den Einkaufskorb zu schieben. Denn es geschieht alles zum Wohle des Kunden. Immer. Tagtäglich. Was aber eigentlich damit gemeint ist: Sie tun alles für Umsatz und Marktanteil. Schließlich wird von Unternehmen verlangt, dass sie wachsen. Das ist das Dogma, welchem unsere Wirtschaft zweifelsfrei unterworfen ist. Immer mehr, immer größer, ist die Devise. Nur: Der Konsummarkt ist gesättigt. Die Kundenanzahl wächst nicht mehr in Deutschland, das ist allen voran den rückläufigen Geburtenzahlen geschuldet.

Vor kurzem titelte die WAZ: »Aldi wächst nur noch im Ausland«. Nicht aber, weil sich deutsche Kunden vom Billig-Supermarkt abwenden. Schlichtweg aus dem Grund, weil unsere Heimat durch und durch discountisiert ist. An jeder Ecke reihen sich Aldi neben Lidl und Penny. Es gibt hier nichts mehr zu holen.

Der Kuchen ist längst verteilt, nur will das niemand wahrhaben. Und die wenigen in der Wirtschaft, die es realisiert haben, sind konzeptlos. In ihrem Prädikatsstudium der Betriebswirtschaftslehre an der Eliteuniversität hat ihnen niemand beigebracht, dass quantitatives Wachstum endlich ist. Zunächst müssen demnach die alten Mechanismen reichen, um das Wachstum und somit den Kunden bei Laune zu halten. Also wird regelmäßig erneut am Preis geschraubt, und zwar nach unten. Mit immer neuen Sonderangeboten, Aktionsofferten und Waren zum billigsten Preis versuchen Discounter uns zu locken und einen Marktanteil zu ergattern. Preisgetriebener Verdrängungswettbewerb nennt der Ökonom diese Situation.

Ich traue mich durchaus zu behaupten, dass nicht wir Kunden uns gewünscht haben, Produkte günstig zu bekommen, sondern dass es Wachstumsstrategie des Handels war und ist, uns mit billigen Preisen in die Geschäfte zu locken. Nicht der Konsument stand einst im Media-Markt, nahm den Marken-CD-Player und schrie an der Kasse: »Geiz ist geil! Deshalb nehme ich ihn zum halben Preis!« Der Elektrofachmarkt buhlte mit ebenjenem Slogan um Kunden und gab einer ganzen Ära eine Überschrift.

 

»Das ist absoluter Quatsch, Sina«, klärt mich Michael auf, ein guter Freund, der seit über 20 Jahren im Handel tätig ist. »Du gehst von dir aus. Aber wie viele Menschen können sich es überhaupt nicht leisten, Markenprodukte zu kaufen. Wir vom Handel bieten nur eine Auswahl: günstige Eigenmarken wie hochpreisige Markenartikel. Wir werden nur dem Kundenwunsch gerecht!«

»Natürlich ist es richtig, dass es zahlreiche Leute gibt, die nicht das Budget zur Verfügung haben«, erwidere ich. »Aber sei ehrlich: Wer braucht ständig neue elektronische Geräte, Unmengen an Essen und wöchentlich neue Kleider? Lieber weniger kaufen, dafür etwas Gutes. Etwas Süßes war in meiner Kindheit eine absolute Besonderheit, und heute leiden die Kleinen an Fettleibigkeit vor lauter Zuckerschlecken. Das ist die Realität, aber die passt nicht zu deinen Umsatzwünschen! Die Billigschiene ist doch ein Teufelskreis nach unten. Wir verlagern gute Arbeitsplätze ins Billiglohnland, reduzieren hier die Kaufkraft und hinterlassen bei uns Millionen Arbeitslose oder prekär Beschäftigte. Diese können dann deiner Argumentation nach nur beim Discounter einkaufen. Der wiederum bietet Produkte an, die in Billiglohnländern unter übelsten Bedingungen gefertigt werden. Das ist durchgereichte Ausbeutung, Michael!«

»Das ist globalisierte Wirtschaft, liebe Sina!«, antwortet Michael. »Und so schnell ändert sich daran nichts!«

 

Letzteres stimmt, hängt das Wohl und Wehe einer Managerkarriere nun mal von Quartalszahlen ab. Aber: Eine echte Änderung in der Wirtschaft braucht Zeit, und die gibt es nicht. Selbst die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft wird in Zahlen bemessen: im Bruttoinlandsprodukt. Wieso also sollte eine grundlegende Änderung stattfinden, wenn die Rahmenbedingungen dagegensprechen?

Dennoch wollte ich nicht glauben, dass wir Kunden uns das »billig« gewünscht haben. »Schau mal auf einen Aldi-Parkplatz«, warf ich bockig in die Runde. »Und dann sage mir noch einmal, dass sich all die S-Klasse-Fahrer und BMW-Besitzer billig gewünscht haben!«

»Die haben sich das besonders gewünscht«, grinst Michael. »Irgendwo muss man sparen, wenn man einen teuren Luxusschlitten finanzieren möchte!« Ich verstand, dass die Preisdiskussion mit einem alten Handelshasen sinnlos war. Wir einigten uns darauf, dass der Handel den Preis als klares Instrument für das Gewinnen von Marktanteilen nutzte und nutzt und der Kunde schnell lernt.

Es vergingen einige Tage, und ich betrat zu Recherchezwecken zum ersten Mal in meinem Leben einen Aldi und Lidl. Normalerweise besorge ich meine Lebensmittel im Biosupermarkt oder auf dem Markt. Aus Prinzip. Und weil ich es mir leisten kann. (Nur nebenbei erwähnt: Die Menge an Lebensmitteln, die von manchen Kunden in einem Discounter eingekauft werden, kann ich mir im Biomarkt auch nicht leisten!)

In den Discountern staunte ich zunächst, wie voll die Wagen der Kunden waren. Bis oben hin und kunstvoll drapiert. »Wer soll das alles essen?«, fragte ich mich. Aber mehr noch. »