Wunder muss man selber machen - Sina Trinkwalder - E-Book
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Wunder muss man selber machen E-Book

Sina Trinkwalder

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Beschreibung

"Wir können die Welt nicht verändern, aber jeden Tag ein bisschen besser machen." Getreu diesem Motto holt sie die Menschen aus der Arbeitslosigkeit. Sie fertigt in Deutschland. Sie bezahlt über Tarif. Ihre Kollektion ist gleichzeitig schick und nachhaltig. Das ist Sina Trinkwalders Botschaft. Denn eine Botschaft muss haben, wer entgegen landläufiger Annahme überzeugt ist, dass in Deutschland Textilien zu konkurrenzfähigen Preisen hergestellt werden können. Sina Trinkwalder ist keine Unternehmerin, die an eine Steigerung der Rendite durch Verlagerung der Jobs nach Asien glaubt: Sondern an die fundamentale Bedeutung eines selbstverdienten Lebensunterhalts für Menschen, die dadurch mit Stolz an der Gesellschaft teilhaben können und auf dem Arbeitsmarkt sonst keine Chancen hätten. Sina Trinkwalders Beispiel ist eine Provokation für alle, die meinten, es ginge nicht anders – und macht all jenen Hoffnung, die an eine gerechtere Gesellschaft glauben!

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Seitenzahl: 299

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Sina Trinkwalder

Wunder muss man selber machen

Wie ich die Wirtschaft auf den Kopf stelle

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Sina Trinkwalder ist nicht nur überzeugt, dass in Deutschland Textilien zu konkurrenzfähigen Preisen hergestellt werden können – sie beweist es. Denn Sina Trinkwalder, Jahrgang 1978, ist keine Unternehmerin, die an eine Steigerung der Rendite durch Verlagerung der Jobs nach Asien glaubt – sondern an die fundamentale Bedeutung eines selbstverdienten Lebensunterhalts für Menschen, die dadurch mit Stolz an der Gesellschaft teilhaben können.

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Galerie

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Dank

 

 

 

Für meine Ladys

Und Suley, Werner & Ehsan

Vorwort

Für gewöhnlich folgt das Beste zum Schluss. Außergewöhnliche Situationen hingegen halten schon auf dem Weg hier und dort einige Überraschungen bereit. Bei Wundern gar darf das Schönste auch gleich zu Beginn erzählt werden.

 

Rund zehn Jahre ist es her, dass ich manomama gegründet habe. Eine bis heute einzigartige Geschichte einer völlig verrückten Idee, nämlich der, eine Firma ausschließlich für Menschen zu gründen, die es auf dem Arbeitsmarkt nicht nur nicht einfach haben, sondern geradezu unmöglich schwer, also: Frauen älteren Semesters, Menschen mit Mi­grationshintergrund, Gehandicapte, Schulabbrecher. Mein »sozialromantisches Hirngespinst« von einst, wie ich es mir oft anhören durfte, ist nicht Geschichte geworden, sondern inzwischen eine feste Größe in der mittelständischen Wirtschaft in Bayerisch-Schwaben. Ein Unternehmen von Menschen für Menschen. Eine Heimat für uns alle, die wir vorher an keinem Ort zeigen durften, was in uns steckt. Ein Fachbetrieb mit über 4000 Jahren Kompetenz. Ein Ort, an dem Menschen, die jahrelang aus der Leistungsgesellschaft ausgeschlossen wurden, wieder Fuß fassen können und Teilhabe an unserer Gesellschaft erfahren. Viele der Ladys und Gentlemen, die in der nachfolgenden Geschichte erwähnt werden, sind nach wie vor Teil unserer Familie, einige durften wir in die wohlverdiente Rente begleiten, wieder andere wurden Mütter und werden zurückerwartet, und wenige weilen nicht mehr unter uns. Wir sind ihnen mit großer Trauer verbunden. Schließlich waren und sind es wir alle von manomama, jeder Einzelne von Anbeginn, der diese wunderbare Geschichte mitgestaltete und weiterhin mitgestaltet.

 

Wie derzeit: Mit aller Kraft und mit großem Einsatz erfinden wir uns neu und setzen neue Schwerpunkte in der Fertigung ökologischer Bekleidung regionaler Wertschöpfung. »Wir müssen uns nicht mehr verstecken«, sagte mir Rosi, mittlerweile ebenfalls in Rente und weiterhin bei uns tätig, unlängst. Ich kenne meine Rosi, und ich weiß, wie sie es gemeint hat.

 

Wie alle anderen, die die vergangenen zehn Jahre genutzt haben, das Nähen in Perfektion zu erlernen, beschleicht uns ein komisches Gefühl, wenn wir erwähnen, bei manomama zu arbeiten. Die Reaktionen reichen von »Ah, bei der Werkstatt für Menschen mit Behinderung?« bis hin zu »Ja, kenn ich, diese sozialpädagogische Einrichtung!«. Ich selbst muss dabei oft schmunzeln, beweisen diese Ausführungen doch, dass ein soziales und faires Miteinander nach wie vor nicht Grundlage der Wirtschaft ist und es noch viel zu tun gibt. Für meine Kolleginnen und Kollegen hingegen sind Reaktionen wie die erwähnten mittlerweile sogar kränkend. Sie selbst sehen sich zu Recht als vollwertige, kompetente Mitglieder einer Gemeinschaft, nämlich unserer Gesellschaft. Als zu Beginn der Pandemie über Nacht Hunderte Anfragen eintrudelten, ob wir Masken fertigen könnten, ging ich zu meinen Ladys und Gentlemen und fragte sie, ob sie sich vorstellen könnten, die Fertigung sofort umzustellen. Mir war nicht wohl dabei, wusste ich doch, dass Veränderungen, gerade wenn es um die Sicherheit von Arbeitsgängen geht, nur sehr zögerlich angenommen werden. Zu groß ist die Angst bei einigen, zu versagen. Zu tief sitzen die Erfahrungen, die meine Menschen vor der Zeit bei manomama machen mussten. Es dauerte keine Sekunde, da bekam ich bereits die Antwort. Eine einhellige.

»Was ist das für eine Frage!«, betonte Gerda.

»Natürlich machen wir das!«, sagte Ehsan.

»Das können wir!«, hieß es von Rosi.

»Ist es nicht schön, dass wir auch mal was zurückgeben können?«, fügte Gerda hinzu.

Mir standen die Tränen in den Augen. In diesem Satz lag das Ende meiner Arbeit, nämlich, Menschen wieder die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Wer zurückgibt, sieht sich als Teil einer Gemeinschaft.

 

Gemeinsam erlebten wir das Happy End von manomama. Nach zehn Jahren. Das Beste folgt also doch zum Schluss, und gleichzeitig läutete dies einen Neubeginn ein, den Anfang einer neuen Zeit bei manomama – der kompetenten Manufaktur, die entstand, als man einen Haufen Menschen, die in den Augen von HR-Abteilungen skillfrei waren, in eine Halle steckte und zu kämpfen begann: mit Nähten, gegen Widerstände, für Fairness und Teilhabe. Ein Weg, der nie zu Ende gehen wird. Dafür machen wir gemeinsam weiter mit euch.

 

Danke an alle, die uns bis heute auf unserem Weg begleitet haben und weiterhin dabei sind. Zusammen mit euch möchten wir die Welt auch weiterhin verändern, denn sie braucht es.

 

September 2021,

 

Eure Sina mit Ladys & Gents

Galerie

manomama in Bildern

Suley, erster Mitarbeiter bei manomama und immer hilfsbereit – ob Maschinenreparatur oder komplizierte Naht. Die Ladys lieben ihn!

Monika: Während des Taschenumdrehens alles im Blick.

Ohne Werner läuft nichts, denn ohne Zuschnitt stehen die Näh­maschinen.

Ein Blick in die »h5«, unsere Taschenproduktion.

Marina holt sich Nachschub – dm-Henkel – für ihre Arbeit.

Rosi nimmt genau Maß, denn die Jeans müssen passen.

Agnes versteckt sich hinter einem Berg »Unterwäschestoffmustern«.

Was am Vormittag herauskam: eine Menge »Augschburgdenim« in Bayerischblau.

Miriam, rechte Hand und linke Gehirnhälfte von Sina – und stets ein offenes Ohr für alle!

Marga sorgt für Sicherheit: Ohne vier Riegelnähte geht keine Tasche aus der Halle.

Was von Kuh Elsa übrig blieb: ein pflanzlich gegerbter Vollrindledergürtel.

Mit viel Handarbeit und Liebe entstehen die Taschen für dm.

Wenn Gerda einen Taschenstapel zum Riegeln gibt, ist immer Zeit für einen kurzen Plausch. Und Karin freut es.

Nach einem langen Arbeitstag und niemals Zeit für den Friseur: ich.

1

Rette die Welt

Bitte zum Hauptbahnhof«, informierte ich den Taxifahrer, während ich neben ihm Platz nahm. Seiner unverständlich gemurmelten Antwort mit unfreundlich-muffeligem Unterton zufolge beschloss ich, mich weniger um ein möglicherweise nettes Gespräch mit ihm zu kümmern. Lieber nutzte ich die zwanzig Minuten, um etwas gelangweilt durch eines der mitgenommenen Frauenmagazine zu blättern.

Seit vielen Jahren pendelte ich zwischen meinem Wohnort Augsburg und Wuppertal, weil ich dort einen Kunden in Marketingfragen und Kommunikation betreute. Ebenso an diesem Tag, dem 30. November 2009. Während meine Aufgabe im digitalen Bereich lag, schaltete mein Kunde aber auch im Printbereich oftmals Werbung. In Frauenzeitschriften. So war ich bei jeder Rückreise stets gut versorgt mit leichtem Lesestoff.

Kurz vor 13 Uhr. Klasse, dachte ich, da schaffe ich den Zug um 13.14 Uhr noch. Völlig ausgelaugt und inhaltlich leer von einem dieser netten »Keks-Meetings« (so nenne ich unnütze Treffen ohne Ergebnis, dafür mit gefülltem Bauch dank Keksen und Kaffee in Unmengen), setzte ich mich auf eine Bank am Gleis 1 des Wuppertaler Hauptbahnhofs. Die Restzeit bis zum Eintreffen des ICE, der mich zurück nach Augsburg bringen sollte, verbrachte ich erneut mit belanglosem Durchblättern der Heftchen. Das Wertigste schien mir nach Überfliegen der Headlines im Schnelldurchlauf das Cover: eine violett schimmernde Heißfolienprägung mit holografischen Mustern. Aktuell der letzte Schrei im Printbereich. Gute Inhalte auf der ersten Seite reichen schon lange nicht mehr aus, um den Platzierungskampf am Kiosk gegen unzählige Konkurrenzprodukte zu gewinnen. Eine einfache Gestaltung gewinnt längst keine Aufmerksamkeit mehr.

Achtlos, aber ordnungsgemäß schmiss ich die Zeitschrift ins Papierfach des Sortierbehälters neben mir. Schließlich hatte ich noch zwei weitere in meiner Handtasche für die lange Fahrt.

Dem Nichtstun bis zur Zugankunft wirkte ich, schon traditionell für einen »Digital Immigrant«, wenn eine Minute der Ruhe androht, mit dem obligatorischen Griff nach meinem Smartphone entgegen. Kurz wollte ich meine E-Mails abrufen – und schon war ich wieder in meinem Job versunken. Aber nicht komplett.

Ein Rascheln neben mir zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Mann, vielleicht Mitte vierzig, griff beherzt in den Sortierbehälter und fischte eine Frauenzeitschrift heraus. Genau jenes Heft, das ich achtlos hineingeworfen hatte. Als ob er es wusste, schenkte er mir ein dental äußerst lückenhaftes, aber umwerfend ehrliches Lächeln. Zeitgleich befreite er fast liebevoll das Magazin von Fremdmüll. Voller Stolz verstaute er seinen »Schatz« in einem Stoffbeutel, lächelte erneut und wechselte gezielten Schrittes das Gleis.

13.12 Uhr – »Auf Gleis 1 fährt in Kürze ein: der ICE Nummer 681 von Hamburg nach Köln über Solingen-Ohligs. Beim Einfahren bitte …«, ertönte die mir gut bekannte Durchsage. Aber ich nahm kaum Notiz davon. Vielmehr verfolgte ich gespannt den Zeitungssammler mit meinen Blicken. Trotz räumlicher Distanz von mittlerweile zwei Gleisen schien er es zu merken, denn er blieb prompt stehen und nahm das Magazin aus seinem Jutebeutel. Sichtbar stolz hielt er das Heft mit ausgestrecktem Arm in die Höhe, anschließend den Daumen der anderen Hand und nickte mir erneut freundlich zu.

Ich schmeiße unachtsam weg, was sich andere aus dem Müll fischen, weil sie es sich nicht leisten können, schoss es mir durch den Kopf. Da war er wieder. Einer dieser unglücklichen Umstände, die mich in letzter Zeit immer häufiger beschäftigten. Diesmal aber sollte es der unglückliche Umstand werden, der alles ändert.

»Hallo«, rief ich, zunächst leise, dann etwas lauter. »Halloooo! Ich habe hier zwei weitere Magazine. Kommen Sie doch noch mal zu mir rüber!«

Der Mann blickte mich aus der Entfernung an, und ich hatte den Eindruck, er würde über meine Worte nachdenken. Über zwei Gleise hinweg musterten wir uns, als der einfahrende ICE unsere Blicke abrupt trennte. Mit den Zeitschriften in der Hand wartete ich. Und wartete. Und stieg nicht in den Zug. Ich konnte nicht. Wie oft habe ich in den vergangenen Monaten darüber nachgedacht, was mich davon abhielt, in diesen Zug zu steigen. Ich weiß es bis heute nicht.

Als das Zugende den Bahnhof passierte, sah ich den Mann die Treppen der Unterführung hinaufsteigen. Er kam mir freudestrahlend entgegen.

»Verzeihen Sie, die Dame, ich kann nicht schneller gehen«, entschuldigte er sich. »Und nun haben Sie meinetwegen auch Ihren Zug verpasst«, fuhr er fort.

»Nein, nein, das macht nichts. Bitte!«, sagte ich und überreichte ihm die beiden anderen Magazine. Ein Modeheft mit goldenem Umschlag und eines dieser Psycho-Frauenblätter, ebenfalls in weihnachtlichem Design. Schließlich stand das Christkind bald vor der Tür. Der Mann nahm mir die Magazine einem Schatz gleich aus der Hand, prüfte die Gestaltung der Cover und ließ die beiden Zeitschriften zufrieden in seine Tasche gleiten.

Ob des hohen Interesses an etwas, was mich nicht einmal zu einem müden Lächeln verleitete, fragte ich frei heraus: »Verzeihen Sie meine Neugier, aber wieso interessieren Sie sich so für Zeitungen? Ich meine, und verstehen Sie mich nicht falsch, es sind Hochglanzblätter für modebewusste Frauen und nicht für …« Ich stockte. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass es nicht in Ordnung wäre, das gedachte Ende meines Satzes auszusprechen. Mein Gegenüber löste die unangenehme Situation auf. Er begann zu schmunzeln und zu erzählen.

»Nicht für Zeitungen interessiere ich mich, die Dame. Nur für, wie sagten Sie, Hochglanzblätter für die modebewusste Frau. Und das aber auch nur in der Weihnachtszeit.«

Nun war ich völlig perplex, und auf meinem Gesicht muss auch ein entsprechend dümmlicher Ausdruck gelegen haben. Er lächelte weiter, während er mit seiner Schilderung fortfuhr: »Meine Frau und ich sind obdachlos. Wir wohnen hier gleich um die Ecke, hinter dem Bahnhof. Wir sammeln Flaschen und kommen so über die Runden.«

Immer noch stand ich ratlos da, doch der Mann löste schließlich das Rätsel.

»Die Magazine sammle ich nur vor Weihnachten. Aus den glitzernden Umschlägen machen wir uns unseren Weihnachtsschmuck!« Zur Bekräftigung seiner Aussage hob er den Kopf, dann ging er weiter seiner Wege.

Ich hingegen stand wie angewurzelt am Gleis. Freude und Scham stiegen gleichzeitig in mir auf. Scham, weil ich just in den vergangenen Minuten miterlebte, welche Menschen in meinem Land zu kämpfen haben, Menschen, die oft unsichtbar sind. Oder, besser gesagt: nicht gesehen werden möchten. Die Freude überfiel mich eher unerwartet. Es fühlte sich an wie Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass ich diese Begegnung erleben durfte, denn sie brachte mir Erkenntnis und Antwort, wonach ich längst gesucht habe, aber mich niemals getraut hatte, danach zu fragen: dem Sinn meiner Arbeit.

 

Die Zugfahrt war lang, und meine Gedanken waren tief. In Wuppertal war ich eingestiegen mit der Erkenntnis, dass meine Arbeit als Werberin zumindest ein bisschen Sinn machen könnte. Meine eigentliche Aufgabe, nämlich teils unnütze und teils überflüssige Produkte mittels Werbung an den Mann oder die Frau zu bringen, erschien mir in Zeiten des völligen Überflusses kaum bedeutungsvoll. Anders hingegen war es bei dem Herrn gewesen, den ich eben kennengelernt hatte und dem ich unbeabsichtigt letztlich Werbematerial für schönen Weihnachtsschmuck geliefert hatte. War das nicht wenigstens ein bisschen sinnvoll? Nach Köln und Mannheim kam ich jedoch zu dem Entschluss, dass dieser Sinn nicht einmal einem Tropfen auf dem heißen Stein gleichzusetzen ist, und so dachte ich via Stuttgart weiter nach.

Ich helfe dabei, dass sich Menschen stets das neueste Elektrogerät anschaffen, obwohl das alte noch gut ist. Ich vermittle dem Konsumenten, dass er nur dann wirklich etwas darstellt, wenn er besonders stylischen Modeschmuck hat. Den natürlich wöchentlich wechselnd, überlegte ich im Stillen. Je länger ich in Gedanken meine Tätigkeiten der letzten Jahre durchging, umso frustrierender war es für mich. Ich fand in allen Arbeitsbeispielen, die ich gedanklich abspazierte, nicht ein einziges Projekt, von dem ich behaupten konnte, es wäre für mich sinnvoll gewesen. Es gab Kampagnen und Websites, mit denen ich zufrieden war. Natürlich. Ich hatte da handwerklich gute Werbearbeit abgegeben. Dennoch: Mir kam keine Aufgabe in den Sinn, die sinnvoll war. Eine, die die Welt verbesserte. Oder zumindest meine Welt verbesserte.

In Ulm öffnete sich die Tür zu meinem Abteil. »Isch der Platz noch frei?«, fragte eine freundliche Stimme. Sie gehörte einem nicht minder sympathisch aussehenden, leicht untersetzten Mann, den ich auf um die sechzig schätzte. Zunächst verstaute er seine abgegriffene Ledertasche auf der Ablage, gefolgt von einer braunen Cord-Schiebermütze. Danach hängte er sein kariertes Sakko an den Haken neben dem Fenster. Die ledernen Ellbogenflicken an seinem Jackett waren richtig abgewetzt. Anschließend nahm er direkt mir gegenüber Platz. Er lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Es dauerte nicht lange, bis wir ins Gespräch kamen und ich ihm von meinem bewegten Bahnhofserlebnis berichtete. Auch davon, dass ich nun zumindest ein wenig Sinn in meiner Arbeit gefunden hatte.

»Sehen Sie«, sagte er. »Alles hat einen tieferen Sinn, wenn man nur bereit ist, auf die Suche zu gehen!«

»Nächster Halt Augsburg Hauptbahnhof. Aussteigen in Fahrtrichtung rechts«, unterbrach uns die Lautsprecherstimme. Ich griff zu meiner Jacke, nahm meine Tasche und öffnete die Abteiltür. »Gute Weiterreise«, sagte ich zu meinem Mitreisenden.

»Man darf nicht nur nach dem Sinn der eigenen Arbeit suchen, sondern vielmehr nach der Wirkung für unsere Gesellschaft.« Mit diesen Worten verabschiedete er mich. Und ich mich langsam, aber sicher von meinem bisherigen Berufsleben.

 

Zu Hause angekommen, warteten bereits meine beiden Männer und ein herrlich gedeckter Abendbrottisch auf mich.

»Hallo Schatz«, begrüßte ich Stefan und gab meinem Mann einen Kuss auf die Wange. »Ich muss dir unbedingt etwas erzählen!«

»Sina, lass uns erst etwas essen, der Filius hat Hunger«, bremste mich Stefan aus.

Gemeinsam nahmen wir Platz, und unser Filius schilderte mir stolz seinen Kindergartentag. Familienidylle pur, hätten wir uns nicht für den modernen Lebensstil des offenen Wohnens entschieden. Dann nämlich wäre es nicht aufgefallen. Mitten im Erzählen stand der Kleine vom Esstisch auf und nahm seinen noch halbvollen Teller. Schnurstracks ging er in die Küche. Ohne mit der Wimper zu zucken, öffnete der Vierjährige den Mülleimer und donnerte beherzt sein Abendbrot in die Tonne. Wie gelähmt sahen wir zu.

Nach kurzer Schockstarre rannte ich zu ihm, riss ihm den Teller aus den Fingern und wurde laut: »Filius, spinnst du? Du kannst doch Wurst und Brot nicht einfach wegschmeißen!«

Völlig verdutzt sah mich mein Sohn an und erwiderte: »Wieso? Im Kindergarten machen wir das auch so, wenn wir satt sind.«

Da war das i-Tüpfelchen. Heute Mittag schmiss ich unachtsam Zeitungen weg, die ein anderer wieder aus dem Müll fischte. Und nun fischte ich etwas aus dem Müll, was mein Kind nicht mehr essen mochte.

Das war die Stunde null. Meine Entscheidung war getroffen. Schon längst hätte ich sie treffen sollen, aber bislang hatte ich dazu nicht den Mut aufgebracht. Ich bin Werberin. Ich kann alles verkaufen. Aber sooft ich es auch versuchte – mich selbst kann ich weder (für dumm) verkaufen noch blindlings bescheißen. Ist auch nicht meine Art. War es ebenso nie. Deshalb mochten mich meine Kunden. Und ich sie.

Mit der Zeit aber wich der normale Menschenverstand aufgeblasenem Consulting-Blabla, der verantwortungsvolle Umgang mit fremdem Geld der sinnlosen Prasserei. Auf Einwände und Anmerkungen wie »Lassen Sie uns doch Budget-sensitiv arbeiten«, erhielt ich immer öfter Antworten wie: »Machen Sie Ihren Job – ist doch nicht Ihr Geld!« Mit zwanzig war die wunderbare Welt der Werbung für mich Faszination und Ansporn zugleich gewesen. Mit fünfundzwanzig und gut genährten Drei-Sterne-Fraß-Hüften fuhr ich schicke Autos und war immer »on tour«; es war das Beste, was mir passieren konnte. Erfolg, Geld und einfach jede Menge Spaß. Das Schönste dabei: keine Verantwortung. Keine Rechenschaft. Dafür Party, Party, Party.

Und dann kam der Filius. Und mit ihm erste Zweifel. Der Mensch braucht keinen fünften Rasenmäher, er braucht ein Lächeln. Gemeinsam gekochter Grießpudding ist viel schmackhafter als Kobe-Rind auf Zuckerschoten an einem Hauch von Tonkabohnen-Sud. Ein Satz wie: »Mama, warum bist du heute Abend schon wieder weg?« schmerzte viel mehr als Kundenaussagen wie: »Und wenn die Deadline nicht gehalten wird, sind Sie dead!« Mein Sohn zeigte mir täglich, was wirklich wichtig ist im Leben.

 

Während ich Wurst und Brot wieder aus der Tonne nahm und die Lebensmittel säuberte, wurde mir klar, was mein Zugabteilmitfahrer meinte, als er sagte, man müsse nicht nur nach dem Sinn der eigenen Arbeit, sondern vielmehr nach der Wirkung für unsere Gesellschaft suchen.

Ich musste umdenken. Und ich wollte versuchen, meinem Sohn und seiner Generation das zu geben, was in meiner Kindheit noch einigermaßen in Ordnung war: eine Welt, in der nicht nur Geld und Gier zählten. Ein Umfeld ohne Überfluss, ein zwischenmenschlicher Umgang, der fair und ehrlich war. In einer Umwelt, die zumindest einigermaßen an das erinnert, was ich sehe, wenn ich die Augen schließe.

Während mein Mann unseren Spross ins Bett brachte, beschloss ich beim Wurstputzen meinen neuen Wirkungskreis, meine neue Aufgabe: Ich wollte die Welt verbessern. Auf meine Art. Manomama war geboren.

2

Erst der Spaß, dann die Arbeit

Wenn man eine Firma gründet, dann liegt dieser Idee in nahezu allen Fällen eine gute Produktidee zugrunde. Etwas Neues, etwas noch nie Dagewesenes. Oder etwas Dagewesenes, jetzt aber neu und mit verbesserter Rezeptur. Oder einfach das, was Werber »rasierte Stachelbeeren« nennen. Etwas, das selbst die übersättigte Gebrauchsgüterwelt nicht benötigt, die Werbung aber gut an den Kunden bringt. So ist dies nun mal in unserer konsumdiktierten Welt. Das alles aus einem einzigen Grund: Geld. Anderes zählt nicht.

Was Geld und das Haben-Müssen betrifft, war ich schon immer »falsch« gepolt. Ich bin in bayerisch-ländlicher Idylle zur Welt gekommen und habe meine Kindheit und Jugend in einer unspektakulären Kleinstadt unweit Augsburgs verbracht. Mir fehlte es an nichts, ich benötigte aber auch oftmals nicht, was meine Schulkameraden dringend haben mussten. Weder zierten die neuesten Barbie-Kleider meine Puppe, noch fand ich es jemals interessant, mein Taschengeld in Sammelkarten zu stecken. Selbst als Teenie war ich anders als die anderen. Ich kann mich noch gut erinnern: Ohne Converse-Chucks und Levis 501 war man ab der fünften Klasse nicht mehr akzeptiert. Das interessierte mich aber reichlich wenig. Und so ging ich täglich in Lieblingsjogginghose, T-Shirt und, zum Leidwesen meiner Mutter, in dem alten und ausgedienten Schurwolljanker meines Vaters ins gesittete Mädchengymnasium. Meine Mitschülerinnen fanden mich uncool, was mich persönlich ebenfalls störte. Im Gegenteil: Je wichtiger den Mädchen der Status wurde, umso mehr hielt ich dagegen. Mir ging es immer ums Machen, nie ums Sein. Fürs Machen war Geld irrelevant, fürs Sein unumgänglich.

Nach meinem Abitur und erfolgreich abgebrochenem BWL-Studium gründete ich dann zusammen mit Stefan eine Werbeagentur. Nicht, um damit finanzielle Reichtümer zu scheffeln, sondern weil wir glaubten (und es sollte sich herausstellen, dass wir recht behielten), dass wir gut in dem sind, was wir machen. Dass wir Spaß daran haben zu kommunizieren – was in einer Werbeagentur unerlässlich ist. Dass es eine Werbeagentur wurde, war im Grunde nichts anderes als Zufall. Überhaupt basiert die Beziehung zu meinem Mann auf reinem Zufall. Kurz vor meinem Abitur feierte ich mit einigen Freunden im Café Odeon in Augsburg meinen »Abschied«. Klar war, dass ich nach dem Abitur Kommunikationswissenschaften in Köln studieren wollte, alles schien bereits in trockenen Tüchern zu sein.

Die Abschiedsfeier war bereits fortgeschritten, und es setzten sich einige mir unbekannte Jungen an unseren Tisch, allesamt Studenten der Augsburger Uni. Es wurde ein feuchtfröhlicher, lustiger Abend, ohne große Erinnerungen am nächsten Morgen. Einzig dieser blondgelockte Typ mit dickem, weißem Rollkragenpullover blieb mir im Kopf. Nicht, weil ich ihn besonders anziehend fand. Im Gegenteil. Dauernd wusste er alles besser, sprach, als wäre er bereits Verfassungsgerichtspräsident. Dabei steckte er gerade erst mitten im Jura-Studium. Egal, dachte ich. Trotzdem ein wunderschöner Abend.

Zwei Wochen später – ich war gerade auf dem Heimweg von meinem Journalisten-Nebenjob bei der hiesigen Zeitung – wollte ich eine Kleinigkeit essen. Das Odeon lag direkt auf dem Weg. Kurzerhand betrat ich das Bistro und steuerte den einzigen noch freien Tisch im Raum an. Am Nebentisch saß ein junger Mann in legeren Jeans und Polohemd.

»Geht es?«, fragte er, als ich mich ein wenig quetschte, um auf der Bank einen Platz einzunehmen.

»Klar«, antwortete ich mit einem Lächeln.

Aus den wenigen Worten wurden fünf Stunden gute Unterhaltung. Mir kam es vor, als würde ich ihn längst kennen. Er schien ähnlich zu fühlen. Anschließend bot mir Stefan, so hieß er, an, mich nach Hause zu begleiten. Auf dem Heimweg klärte sich unser vertrautes Gefühl, als wir darüber sprachen, was wir so »machten«. Er studiere Jura, erzählte er. Und ich informierte ihn über Abitur und Köln. Auf einmal sahen wir beide uns kritisch in die Augen. Auf einmal platzte es aus mir heraus: »Sag mal, bist du dieser Winkeladvokat, der mich vor zwei Wochen im Odeon so genervt hat?«

»Wenn du diese kleine Medientante bist, die noch nicht einmal Abitur hat, dann ja«, konterte er.

Wir beide mussten lachen. So sehr, dass wir kaum aufhören konnten. Bis heute, nach über fünfzehn Jahren Beziehung.

Aus Stefans Jura ist nichts mehr geworden, genauso wenig wie aus meinem BWL-Studium, das ich alternativ in der Heimat anfing, um bei meinem Freund zu bleiben. Nicht, weil wir es nicht geschafft hätten. Wir hatten einfach keine Zeit mehr dafür, da wir unsere eigene Werbeagentur gründeten. Aus Zufall. Zufall deshalb, weil Stefan neben seinem Studium als IT-Spezialist jobbte. Ein Bereich, der ihm eigentlich mehr Spaß bereitete als Jura. Für einen befreundeten Kunden hatte er 1999 einen Online-Shop für bunte Plastikuhren programmiert. Den ersten überhaupt. Voller Stolz präsentierte er mir sein Werk und bat mich um meine Meinung.

»Ganz ehrlich?«, fragte ich ihn.

»Ja!«

»Sieht scheiße aus!«

»Bitte? Hast du gesehen, wie man das Produkt in den Korb legen kann und dann direkt auf ein Formular …«

Ich unterbrach ihn. »Sieht trotzdem scheiße aus. Kein Design!«

»Dann mach’s doch besser!«, schnauzte Stefan mich enttäuscht an und ging wutentbrannt aus der Wohnung.

Einige Stunden später kam er wieder, mit einem Rechner unter dem Arm. Diesen stellte er auf meinen Schreibtisch, setzte sich auf meinen Stuhl und schaltete den Computer ein. Anschließend startete er Adobe Photoshop, stand auf, bot mir demonstrativ den Platz an und sagte: »Hier, bitte. Mach es besser!«

Ich nahm Platz, während Stefan seine Jacke nahm und ein weiteres Mal verschwand. Da saß ich nun. Alleine, vor einem Programm, das ich nicht kannte, und ohne die geringste Ahnung, wie man es bedienen sollte. Den gesamten Abend verbrachte ich mit dem unbekannten Fotobearbeitungsprogramm. Mit zunehmender Zeit fiel mir die Bedienung leichter. Ja, es begann sogar Spaß zu machen.

Ui, dachte ich, als mein Blick auf die Uhr fiel. Kurz vor drei Uhr! Ich wollte das Layout aber noch fertigstellen. Um halb fünf Uhr morgens war ich mit meinem Erstlingswerk zufrieden: die Gestaltung eines schicken Uhrenshops.

Am nächsten Morgen, gegen zehn, kam Stefan mit frischen Brötchen und weckte mich mit einer dampfenden Tasse Kaffee, am Bett serviert.

»Sorry, Schatz«, begann er. »Sorry, dass ich gestern so überreagierte. Ich war so stolz auf die Website und fand deine ehrlichen Worte unfair!«

»Musst dich nicht entschuldigen«, entgegnete ich. »Hast ja recht. Der Shop ist wirklich schön, nur sieht er nicht so toll aus. Aber, komm!« Ich sprang aus dem Bett und zog Stefan an der ausgestreckten Hand ins Wohnzimmer zum Rechner. Während ich ihm den Stuhl unter den Hintern schob, fuhr ich mit der Maus zweimal hin und her, um den Bildschirmschoner abzulösen. Dann erschien auf dem Bildschirm Photoshop. Und darin mein Erstlingswerk.

»Ich werde verrückt, das ist ja geil!« Stefan war baff. Er begutachtete das Layout der Startseite und nickte zustimmend mit dem Kopf. »Mach du noch die Gestaltung der weiteren Einzelseiten, ich bau schon mal das Layout der Startseite ein«, entschied er.

»Nein, Stefan«, antwortete ich. »Wir suchen uns jetzt ein Büro, stellen Rechner mit diesen tollen Programmen rein und machen eine Agentur auf. Du übernimmst die Technik, ich das Design.«

»Was?« Stefan sah mich ungläubig an. »Ich studiere Jura, Sina!«

»Ja, eben. Willst du als arbeitsloser Jurist Taxi fahren oder das machen, was dir Spaß macht?«

Vier Wochen später waren unsere Studierbemühungen Geschichte, und wir hatten ein Büro. Weil wir Spaß haben wollten.

 

»Suche dir einen Job, der dir Spaß macht. Dann wird es ein Erfolg, und das Geld kommt ganz automatisch.« Diese Worte haben mir meine Eltern mit auf den Weg gegeben. Als Jugendlicher empfindet man derartige altkluge Redensarten der Vorgängergeneration als Bevormundung. Jahre später, nach geraumer Zeit in der Arbeitswelt, setzt die Erkenntnis ein. Weil man den Wahrheitsgehalt der altklugen Weisheit – im schlimmsten Fall – selbst erfuhr. Ich hingegen durfte es vielfach miterleben. Sie miterleben, ihren Auf- und Niedergang: Menschen, die sich ihre Arbeit nach dem Verdienst aussuchten, nach einigen Jahren Lohnsklaverei und für das permanente Streben nach mehr stets 120 Prozent gaben, völlig ermattet die Flügel sinken ließen und sich mit einem ausgewachsenen Burn-out aus der ersten Arbeitswelt verabschiedeten. Oder durch falschen Leistungsdruck erst gar nicht in die Arbeitswelt einstiegen. Ich erinnere mich sehr gut an einen meiner ersten Praktikanten in unserer Werbeagentur.

»Mensch, Sina, könnt ihr mir einen Gefallen tun?«, bat mich der Marketingleiter eines Unternehmens, für das wir arbeiteten.

»Was denn?«, erwiderte ich.

»Der Bub von meinem Chef hat gerade sein Abi geschafft und weiß nicht so recht, was er machen soll. Jetzt möchte der Vater, dass er in die Werbung reinschnuppert. Kannst du ihn ein paar Wochen aufnehmen?«

»Na gut«, sagte ich. »Ich sehe ihn mir an.«

Das tat ich auch zwei Tage später. Pünktlich um acht saß mir ein junger Mann gegenüber, mit kurzen blonden Haaren, ordentlich gekleidet und mit ebenso ordentlichen Abiturnoten. Hannes, neunzehn Jahre, bekam keinen Ton heraus. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Eis brach. Nach einigem Geplänkel nahm das Gespräch dann Ernsthaftigkeit an.

»Was möchtest du später einmal werden?«, fragte ich den schüchternen Jungen.

Langes Schweigen. Der Blick des Abiturienten ging Richtung Boden – und nichts passierte. Ich wiederholte meine Frage etwas unkonkreter:

»Was würde dir Spaß machen?«

Fast schon erschrocken sah er mich jetzt an und sagte leise: »Frau Riefle (damals hieß ich noch so), ich wurde noch nie gefragt, was mir Spaß bereitet. Ebenso wenig, was ich einmal machen möchte. Ich weiß nur, was ich erreichen muss.«

Ich war verdutzt. War es die prompte Offenheit seiner Worte oder aber die unerwartete Reaktion seinerseits? Ich wusste es nicht und fragte deshalb nach.

»Hm. Und was musst du erreichen?«

»Ich muss erfolgreicher als mein Vater werden. Sonst bin ich in meiner Familie ein Versager«, antwortete Hannes.

Mir blieb die Spucke weg. Wie kann man seinen eigenen Spross nur so unter Druck setzen, schoss es mir durch den Kopf. Wut stieg in mir hoch. Und ich holte tief Luft.

»Pass mal auf, Hannes«, fing ich meinen Monolog an. »Hör nicht auf diesen Quatsch. Dein Vater ist erfolgreich? Pah, von wegen. Er war nur zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.« Ich versuchte den jungen Mann zu ermuntern. »Was bitte ist daran erfolgreich, Millionen zu machen in einer industriellen Boomzeit? Nichts. Wie oft hast du deinen Vater gesehen? An wie viele Male kannst du dich erinnern, dass er lächelnd nach Hause kam? Wann hattest du das Gefühl, dein Vater hat Spaß bei dem, was er tut?« Ich redete mich direkt in Rage.

Ahnungsloses Schulterzucken kommentierte meine Ausführungen.

»Siehst du! Dein Vater hat sich einen Teil vom Kuchen erobert, als es noch einen Kuchen zu verteilen gab. Meine, ja, auch deine Generation muss sich um die Krümel prügeln. Aber glaube mir, wir sollten es anders machen. Suche dir einen Job, der dir Freude bereitet, Hannes, und damit bist du bereits erfolgreicher, als es dein Vater je sein wird!«

Und dann lächelten wir beide. Vier Wochen haben wir gemeinsam in der Agentur verbracht. Anschließend ist Hannes – entgegen den Vorstellungen seiner Eltern – in den Osten Deutschlands gezogen, um an einer Universität zu studieren, statt in einer Werbeagentur eine »Karriere« zu starten. Ob er heute in Geld schwimmt, weiß ich nicht. Ich bin mir aber sicher, dass er bei seiner Arbeit glücklich ist. Weil er Spaß hat und macht, was seinen Interessen und Fähigkeiten entspricht und nicht den Vorstellungen und Wünschen seiner Eltern.

 

Hochleistungsrosinenpicken

 

Der Schritt in das Arbeitsleben erfolgt – und dann beginnt der unsägliche Erfolgsdruck. Was große Konzerne und schicke Firmen, hippe Agenturen und erfolgreiche Forschungseinrichtungen mit ihren Menschen »treiben«, ist oft nichts anderes als eine Art finanzielle Enteignung der Gesellschaft durch die Wirtschaft. Es ist einfach: Das Unternehmen fordert über einen sehr individuellen Zeitraum, nämlich »so lange, wie der Einzelne durchhält«, weitaus mehr als 100 Prozent der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers und schreibt damit überdurchschnittliche Gewinne. Monetäre Mehrerträge für das Unternehmen. Irgendwann kann dieser Mensch nicht mehr. Ist völlig kaputt. Körperlich – und geistig.

Nun wäre es an der Zeit, dass das Unternehmen einer Ehe gleich seine Verantwortung übernimmt und sich an »in guten wie in schlechten Zeiten erinnert«. Das aber ist Wunschdenken. Der Mitarbeiter, der nicht mehr funktioniert, nicht über das Normalmaß hinaus Engagement zeigt und Erlöse bringt, wird immer weiter angetrieben zur Höchstform, die er einmal brachte. Das Ende dieser Spirale: der Abgang des Arbeitnehmers mit einem ausgewachsenen Burn-out. Der Human-Resources-Vorstand schüttelt dem Betroffenen ebenso betroffen die Hand – und grinst innerlich. Denn: Es war ein gutes Geschäft. In guten Zeiten hat die Firma mit diesem Mitarbeiter gutes Geld gemacht, in schlechten Zeiten finanziert die Allgemeinheit, unser Sozialstaat und unsere Rentenkassen, die Rehabilitierung und Gesundung des Kranken. Überspitzt könnte man behaupten: Der Arbeitnehmer finanziert durch seine Sozialabgaben die Wiederherstellung seiner Arbeitskraft. Oder er schaufelt sich sein eigenes Grab.

Ich habe nachgezählt: Allein siebzehn Mitarbeiter sind bei einem meiner damaligen Kunden innerhalb eines Jahres aus »Psychogründen und so« vom Belegschaftsbildschirm verschwunden. Erinnere ich mich an die Arbeitsbedingungen in diesem Konzern, war es nicht verwunderlich.

Die Art und Weise, wie unsere Arbeitswelt ökonomisch und sozial organisiert ist und durchgeführt wird, geht völlig an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Die Ausrichtung sämtlicher Bereiche des Lebens in Richtung Gewinnmaximierung und absolute Effizienz bedingt nur eines: eine inhumane Gesellschaft. Und in einer solchen zu leben und zu arbeiten hält kein Mensch auf Dauer aus.

Diese krude Entwicklung nenne ich »Hochleistungsrosinenpicken«. Personalabteilungen setzen den Effizienz-Rotstift bereits bei der Auswahl der Belegschaft an. Sozialdarwinismus in Reinform. Kleine Knicke im Lebenslauf – und raus damit. Zu alt, zu viele Kinder, Migrationshintergrund, krumme Nase, keine Eins in Religion – kommt nicht infrage. Jeder Nettolohnempfänger habe gefälligst maximale Leistung bei absoluter Verantwortlichkeit zu bringen. Dieser Satz stammt nicht von mir (abgesehen davon, dass ich allein das Wort »Nettolohnempfänger« eine reine Frechheit finde). Ich durfte ihn mir von einem dieser Kommunikationscoaches, Freiberufler ohne Verantwortung für Mitarbeiter versteht sich, um die Ohren hauen lassen. Meine Antwort darauf war einfach. Schon Adenauer sagte: »Wir müssen Menschen nehmen, wie sie sind. Es gibt keine anderen.«

Die »Arroganz«, sich als Freiberufler oder Unternehmer nur die Besten der Besten herauszupicken, mag unternehmerisch sicherlich eine feine Sache sein, wenn es um die monetäre Gewinnerzielungsabsicht geht. Den wahren Gewinn eines modernen Unternehmens aber sehe ich darin, Menschen, die den strengen Selektionskriterien einer Human-Resources-Abteilung nicht gerecht werden, eine Chance und einen sinnvollen Arbeitsplatz zu geben. Richtig, zu geben. Sozialunternehmer wie ich investieren nicht, sie geben. Vertrauen gar verschenke ich, auch wenn der Volksmund es sich hart erarbeiten lässt. Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn man Menschen Vertrauen schenkt, wird es, zwar langsam, aber sicher, in Verantwortung zurückgegeben.

Was bei dem Human-Resources-Bingo übrigens gänzlich aus den Augen gelassen, ja vergessen wird: Sozialdarwinismus ist völlig kontraproduktiv zur vielfach gewünschten Effizienz. Es ist eine gefährliche Schussfahrt abwärts. Dem Großteil unserer Gesellschaft keine Teilhabe an der Gesellschaft durch Arbeit zu gewähren (und Arbeit ist der Schlüssel zur Teilhabe an einer Leistungsgesellschaft) ist nicht effizient. Die Talente dieser ausgeschlossenen Menschen brachliegen zu lassen und notdürftig durch Hartz IV vor dem kompletten Exodus zu bewahren, während sich die wenigen anderen unter der gesteigerten Leistungsforderung totschuften, dient nur einer Gesellschaft: einer juristischen, gern mit beschränkter Haftung. Nicht aber einer humanen.

In unserem Land ist für jeden Menschen etwas zu tun. Es gibt auch für jeden Menschen, ungeachtet seiner Herkunft, seines Handicaps, seines Alters, seiner Lebensumstände oder seines Bildungsgrads, einen Platz in der Wirtschaft. Man muss ihn nur suchen. Daran glaubte ich immer. Und heute mehr denn je. Deshalb machte ich mich auf die Suche nach der richtigen Arbeit für den richtigen Mitarbeiter. Meine Idee für eine Firma war kein Produkt, sondern der Mensch.

3

Nächster Halt, Ausstieg links

Filius schläft, was wolltest du mir erzählen?«

Stefan kam zurück in die Küche. Er nahm eine Flasche Wein aus dem Regal, öffnete sie, und der Duft von Urlaub in Italien erfüllte nach und nach den Raum. Ich nahm das erste gefüllte Glas und machte es mir auf dem Sofa bequem. Ich nahm allen Mut zusammen, schließlich war es »unser Baby«, welchem ich gleich den Rücken kehren sollte.

»Ich werde die Agentur verlassen«, sagte ich und sah Stefan fragend an. Anstelle der erwarteten Reaktion, nämlich einem ratlosen, vielleicht auch erschrockenen Gesichtsausdruck, erkannte ich ein wachsendes Grinsen auf dem Gesicht meines Mannes.

»Warum lachst du?«, fragte ich völlig irritiert.

»Sina, ich kenne dich nun elf Jahre. Ich habe nur darauf gewartet, bis du es mir erzählen möchtest«, antwortete er.

»Ja, aber …«

»Ach, Schatz. Ich könnte jetzt sagen, dass du dich in den letzten Monaten sehr verändert hast, aber das wäre viel zu gefährlich für einen Mann.« Stefan grinste weiter. »Lass es mich so erklären: Als du vor wenigen Wochen am Sonntag dem Vorstand eines Kunden per Mail das Arschlochsein quittiertest, war mir klar, dass es Zeit für dich wird, etwas anderes zu machen!«

Dafür liebe ich meinen Mann. Er kennt mich – und kann mit mir umgehen. Ersteres ist einfach, schließlich bin ich ein offener Mensch, Letzteres hingegen die reinste Kunst. Ein guter Freund nennt mich stets »Kraft außer Kontrolle«. Aber dafür gibt es Stefan. Ich erzählte ihm von meinen Erlebnissen am Wuppertaler Bahnhof, auch von der Begegnung im Zug. Entgegen üblichen Erfahrungen herrschte bei uns an diesem Abend zwei Flaschen Wein später Klarheit: Wir werden Menschen, denen sonst niemand eine echte Chance einräumt, eine sinnvolle Arbeit geben. Menschen mit kleinen (und auch großen) Knicken im Lebenslauf – her damit! Zu alt, zu viele Kinder, Migrationshintergrund, krumme Nase, keine Eins in Religion – kommt zu uns!