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Ein abgebrannter Spieler aus Reno ist unterwegs, um 300 Dollar einzutreiben, die ein Bekannter ihm schuldet. In Kalifornien macht er Station bei einer Gruppe religiöser Fanatiker. Eine Frau aus dieser Sekte bittet ihn, einen verschwundenen Mann zu finden.
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Seitenzahl: 416
Veröffentlichungsjahr: 2016
Margaret Millar
Fast wie ein Engel
Roman
Aus dem Amerikanischen von Luise Däbritz
Diogenes
{5}Welch ein Meisterwerk ist der Mensch: … im Handeln wie ähnlich einem Engel: Im Begreifen wie ähnlich einem Gott: … Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staub? Ich habe keine Lust am Manne, und am Weibe auch nicht …
Hamlet
Die ganze Nacht und den größten Teil des Tages waren sie gefahren durch Berge und Wüste und jetzt wieder durch Berge. Der alte Wagen bekam allmählich seine Mucken; der Fahrer wurde gereizt, und Quinn hatte sich daher auf den Rücksitz zum Schlafen ausgestreckt. Er wurde durch das plötzliche Kreischen der Bremsen und Newhousers Stimme geweckt, die von Erschöpfung, Hitze und dem Bewußtsein, daß er sich am Roulettetisch wieder einmal zum Narren gemacht hatte, heiser war.
»So – Quinn, Endstation.«
Quinn rührte sich und hob den Kopf in der Erwartung, sich auf einer der dreispurigen Straßen von San Felice zu befinden, wo der Ozean in der Ferne glitzert wie ein Juwel, das man weder berühren noch kaufen kann. Doch noch bevor er die Augen öffnete, wußte er, daß etwas nicht stimmte. Keine Straße in der Stadt war so still, keine Meeresluft so trocken.
»Hallo, Quinn! Sind Sie wach?«
»Ja.«
»Also, steigen Sie aus. Ich habe es eilig.«
Quinn sah aus dem Fenster. Die Landschaft hatte sich nicht verändert, seit er eingeschlafen war. Berge, Berge und nochmals Berge, alle bedeckt mit den gleichen {8}Zwergeichen, hartem Gestrüpp und ein paar Pinien, die auf dem ausgedörrten Boden nur kümmerlich gediehen.
»Hier sind wir nirgends«, sagte er. »Sie haben mir gesagt, Sie führen nach San Felice.«
»Ich habe gesagt, in die Nähe von San Felice.«
»Wie weit ist das noch?«
»Fünfundfünfzig Kilometer.«
»Du lieber Himmel –!«
»Sie kommen wohl aus dem Osten«, sagte Newhouser. »In Kalifornien sind fünfundfünfzig Kilometer nah.«
»Das hätten Sie mir sagen sollen, bevor ich eingestiegen bin.«
»Das habe ich getan. Sie haben nicht zugehört. Sie schienen es ziemlich eilig zu haben, aus Reno wegzukommen. Jetzt sind Sie weg. Seien Sie dankbar.«
»Das bin ich ja«, sagte Quinn trocken. »Sie haben meine Neugier befriedigt. Ich hab schon immer wissen wollen, wo Nirgendwo liegt.«
»Ehe Sie anfangen herumzumeckern, hören Sie lieber zu. Einen Kilometer weiter biege ich zu meiner Ranch ab. Ich komme sowieso einen Tag zu spät, und meine Frau ist hitzköpfig; ich habe siebenhundert in Reno verloren und zwei Tage lang nicht geschlafen. Jetzt seien Sie dankbar, daß Sie so weit gekommen sind, und fangen Sie kein Geschrei an.«
»Sie hätten mich an einer Raststätte absetzen können, wo es etwas zu essen gibt.«
»Sie haben gesagt, Sie hätten kein Geld.«
»Ich hatte an ein kleines Darlehen von, sagen wir, fünf Dollar gedacht.«
»Wenn ich fünf Dollar hätte, säße ich noch in Reno. Das wissen Sie. Wir haben die gleiche Krankheit.«
{9}Quinn bestritt es nicht. »Also gut, lassen wir das Geld, ich habe eine andere Idee. Vielleicht ist Ihre Frau doch nicht so hitzköpfig. Vielleicht hat sie nichts gegen einen Gast. Schon gut, schon gut, das sollte nur ein Vorschlag sein. Haben Sie einen besseren?«
»Natürlich, sonst würde ich Sie nicht hier absetzen. Sehen Sie den Feldweg da drüben?«
Nachdem Quinn ausgestiegen war, sah er einen schmalen Weg, der sich auf eine Gruppe junger Eukalyptusbäume zuschlängelte. »Das sieht nicht gerade wie eine Straße aus.«
»Das soll es auch nicht. Die Leute, die dort hinten wohnen, wollen das nicht eben bekannt machen. Sie sind etwas eigenartig.«
»Wie eigenartig, wenn ich fragen darf?«
»Ach, ganz harmlos, keine Sorge. Und sie haben ein gutes Herz für die Armen.« Newhouser schob seinen riesigen Hut zurück, und man sah seine weiße Stirn, die über seinem braunen ledernen Gesicht wie gemalt wirkte. »Hören Sie, Quinn, es tut mir schrecklich leid, Sie hier absetzen zu müssen, aber es bleibt mir nichts andres übrig, und Sie schlagen sich schon durch. Sie sind jung und gesund.«
»Aber auch hungrig und durstig.«
»Im Turm kriegen Sie was zu essen und zu trinken, und dann halten Sie den nächsten Wagen nach San Felice an.«
»Der Turm«, wiederholte Quinn. »Liegt der am Ende der Straße, die keine sein soll?«
»Ja.«
»Ist es eine Ranch?«
»Sie betreiben etwas Landwirtschaft«, sagte Newhouser vorsichtig. »Es ist – ja – so eine Art kleine Gemeinde, {10}die sich selbst versorgt. So habe ich wenigstens gehört. Ich selbst habe sie nie gesehen.«
»Warum nicht?«
»Sie sind nicht gerade gastfreundlich.«
»Wieso sind Sie dann so sicher, daß sie mich mit offenen Armen empfangen?«
»Sie sind ein armer Sünder.«
»Ach – eine religiöse Sekte?«
Newhouser schüttelte den Kopf, aber Quinn war sich nicht sicher, ob es Zustimmung oder Verneinung bedeutete. »Wie gesagt, ich bin nie dagewesen, ich habe nur davon gehört. Irgendeine reiche alte Dame, die Angst vor dem Tod hatte, hat ihnen einen fünfstöckigen Turm gebaut, weil sie dachte, sie sei dann dem Himmel näher, sie wollte wohl so eine Art Vorsprung haben. Aber jetzt muß ich weiter, Quinn.«
»Warten Sie«, sagte Quinn eindringlich. »Seien Sie doch vernünftig. Ich will in San Felice dreihundert Dollar kassieren, die mir ein Freund schuldet. Ich verspreche Ihnen, ich gebe Ihnen … 50, wenn Sie mich nach …«
»Ich kann nicht.«
»Das ist mehr als ein Dollar pro Meile.«
»Tut mir leid.«
Quinn trat an den Straßenrand und sah Newhousers Wagen nach, der um die Ecke verschwand. Als das Motorgeräusch verklungen war, herrschte absolute Stille. Kein Vogel piepste, kein Zweig raschelte im Wind. Es war ein Erlebnis, das Quinn noch nie zuvor gehabt hatte, und er überlegte, ob er von Hunger, zuwenig Schlaf und der Sonnenhitze plötzlich taub geworden war.
Er hatte den Klang seiner eigenen Stimme nie {11}besonders geschätzt, aber jetzt erschien er ihm gut, und er wollte ihn hören, um die Stille damit zu vertreiben.
»Mein Name ist Joe Quinn. Joseph Rudyard Quinn, aber den Rudyard verschweige ich lieber. Gestern war ich in Reno. Ich hatte eine Anstellung, einen Wagen, Anzüge, eine Freundin. Heute stehe ich mitten in Nirgendwo mit nichts und niemandem.«
Er war schon früher in Schwierigkeiten gewesen, aber damals war es immer um Leute gegangen, um Freunde, auf die er sich verlassen konnte, oder Fremde, die man überzeugen mußte. Er brüstete sich, ein gewandter Redner zu sein. Aber jetzt war das unwichtig, hier waren keine Zuhörer. In dieser Wildnis konnte er sich zu Tode reden, ohne daß sich auch nur ein Blatt bewegte oder ein Insekt aufgeschreckt wurde.
Er zog sein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß hinter den Ohren ab. Wenn er schon oft in San Felice gewesen war, so kannte er doch nicht dieses öde bergige Hinterland, das im Sommer von der Sonne ausgedörrt und im Winter vom Regen aufgeweicht wurde. Jetzt war Sommer. Im Flußbett lagen Staub und Knochen kleiner Tiere, die dort Wasser gesucht hatten.
Die Stille quälte Quinn mehr als die Hitze und Verlassenheit. Es war unnatürlich, nicht einmal einen Vogel zu hören, und er fragte sich, ob wohl alle Vögel in der Trockenheit gestorben oder ob sie weitergezogen waren zu einem Wasserreservoir, zu der Ranch von Newhouser oder vielleicht zu dem Turm. Er sah über die Straße auf den schmalen Weg, der plötzlich in dem Eukalyptushain zu enden schien.
»Verdammt, ein bißchen Religion bringt mich nicht um«, sagte er, ging über die Straße und blinzelte in die Sonne.
{12}Hinter den Eukalyptusbäumen begann der Weg anzusteigen, und während er weiterging, tauchten einige Anzeichen von Leben auf. Er kam an einer kleinen weidenden Kuhherde vorbei, ein paar Schafen in einem Holzpferch, einigen Ziegen, die im Schatten eines Baumes angebunden waren, und einem Bewässerungsgraben mit etwas trübem Wasser darin. Die Tiere wirkten alle wohlgenährt und wohlgehalten.
Der Weg wurde langsam steiler, die Bäume standen dichter, Kiefern, Eichen, Erdbeerbäume und Kotoneasterbüsche. Er hatte fast die Hügelkuppe erreicht, als er an das erste Gebäude kam. Es war so geschickt konstruiert, daß er es erst aus einer Entfernung von zwanzig Metern erkannte – ein langes niedriges Gebäude aus Holz und Bruchsteinen. Es besaß keinerlei Ähnlichkeit mit einem Turm, und er dachte, Newhouser habe sich vielleicht in dem Ort geirrt und sich durch Klatsch und Übertreibung irreführen lassen.
Niemand war zu sehen, und aus dem dicken Schornstein quoll kein Rauch. Roh gezimmerte Fensterläden hingen außen über den Fenstern, als sollten die Leute im Haus festgehalten und nicht das Haus vor Eindringlingen geschützt werden. Eine riesige Pinie schirmte das Sonnenlicht ab, und Quinn schien es plötzlich, als sei die Luft kühl und feucht. Kiefernnadeln und orangefarbene Rinde des Erdbeerbaums dämpften das Geräusch seiner Schritte, als er näher trat.
Durch einen Spalt in den Fensterläden sah Bruder Zunge des Propheten, wie sich der Fremde näherte, und stieß leise tierische Angstlaute aus.
»Warum stellst du dich so an?« sagte Schwester Segen {13}munter. »Laß mich selber sehen.« Sie nahm seinen Platz an dem Spalt ein. »Nur ein Mann. Reg dich nicht auf. Wahrscheinlich ist sein Wagen kaputt, Bruder Dornenkrone wird ihm helfen, und damit ist die Sache ausgestanden. Es sei denn …«
Es war typisch für Schwester Segen, die Lösung eines Problems zu suchen, sie anderen zu erläutern und dann mit ihrem es sei denn … alles wieder zu verderben.
» – es sei denn, er kommt von der Schulbehörde oder einer Zeitung. Dann werde ich ihn kurz und bündig wieder wegschicken, ohne daß er auch nur einen Deut klüger ist als zuvor. Aber eigentlich ist es für die Schulbehörde noch ein wenig zu früh, uns wegen des Herbstquartals zu belästigen.«
Bruder Zunge nickte zustimmend und strich nervös über den Nacken des Wellensittichs auf seinem Finger.
»Also ist es wahrscheinlich ein Zeitungsmensch. Es sei denn, es ist wieder so ein Landstreicher. Dann werde ich ihn mit kühler Freundlichkeit empfangen. Daran ist wirklich nichts Aufregendes, Landstreicher waren ja schon hier, wie du weißt. Hör auf mit deinen Geräuschen. Du kannst reden, wenn du willst und wenn du mußt. Wenn nun im Haus Feuer ausbräche, könntest du doch ›Feuer‹ schreien, nicht?«
Bruder Zunge schüttelte den Kopf.
»Unsinn, ich weiß es doch. Sage es mal. Feuer.«
Bruder Zunge starrte stumm zu Boden. Wenn Feuer ausbräche, würde er keinen Alarm geben und kein Wort sagen. Er würde nur dastehen und zusehen, wie es brannte, nachdem er seinen Sittich in Sicherheit gebracht hatte.
{14}Quinn klopfte an die ungestrichene Holztür. »Hallo! Ist da jemand? Ich habe mich verlaufen, bin hungrig und durstig.«
Die Tür öffnete sich langsam und knarrend; eine Frau trat auf die Schwelle. Sie war ungefähr fünfzig, groß und stark, mit einem runden Gesicht und glänzenden roten Backen. Sie war barfuß. Das lange lose Kleid erinnerte Quinn an die Eingeborenengewänder auf Hawaii, nur daß diese in allen Farben leuchteten, während das der Frau grau und ohne jeden Schmuck war.
»Willkommen, Fremder«, sagte sie, und wenn die Worte auch freundlich waren, so verriet ihr Ton doch Wachsamkeit.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie belästige, Madam.«
»Schwester, bitte. Schwester Segen der Erlösung. Sie haben also Hunger und Durst und haben sich verirrt?«
»Mehr oder weniger. Es ist eine lange Geschichte.«
»Das sind solche Geschichten meist«, sagte sie trocken. »Treten Sie ein. Die Armen schicken wir niemals weg, weil wir selbst arm sind.«
»Danke.«
»Das einzige, was wir erwarten, ist gutes Benehmen. Wie lange haben Sie nichts gegessen?«
»Ich weiß es nicht genau.«
»Sie waren wohl auf einer Sauftour?«
»Nicht was Sie meinen. Aber man muß es wohl eine Tour nennen, es hat mich ganz schön mitgenommen.«
Sie warf einen scharfen Blick auf die Tweedjacke, die Quinn über dem Arm trug. »Ich weiß, was ein guter Wollstoff ist, da wir unsere Kleider selbst weben. Woher haben Sie die?«
»Gekauft.«
{15}Sie schien etwas enttäuscht, als hätte sie gehofft, er würde sagen, gestohlen. »Sie sehen nicht aus und benehmen sich auch nicht wie ein Bettler.«
»Ich bin es noch nicht lange. Ich habe es noch nicht heraus.«
»Werden Sie nicht sarkastisch. Aus Selbstschutz muß ich mir unsere Besucher ansehen. Ab und zu kommen spionierende Reporter daher oder irgendwelche unverschämten Vertreter des Gesetzes.«
»Ich bitte nur um Brot und Wasser.«
»Dann kommen Sie.«
Quinn folgte ihr hinein. Er sah einen Raum mit einem Steinfußboden, der aussah, als sei er gerade geschrubbt worden. Ein Oberlicht, wie er es in dieser Größe noch nie gesehen hatte, versorgte den Raum mit Licht.
Schwester Segen sah, wie er hinaufstarrte, und sagte: »Wenn das Licht nach dem Willen des Herrn vom Himmel kommt, dann soll es auch direkt hereinkommen und nicht schräg durchs Fenster.«
Ein Holztisch mit Bänken an jeder Seite lief fast durch die gesamte Länge des Raumes. Er war gedeckt mit Zinntellern, Löffeln, Messern und Gabeln aus rostfreiem Stahl und mehreren Kerosinlampen, die schon für die Nacht gesäubert und gefüllt waren. Am anderen Ende des Raums standen ein altmodischer Kühlschrank und ein Herd, neben dem säuberlich gestapelte Holzscheite lagen, und ein dilettantisch gebauter Vogelkäfig. Vor dem Herd saß ein Mann mittleren Alters mit schmalem, bleichem Gesicht in einem Schaukelstuhl, einen Vogel auf der Schulter. Er trug das gleiche Gewand wie Schwester Segen, und auch er war barfuß. Sein Kopf war rasiert. Sein Schädel zeigte kleine Schrammen und Kratzer, als {16}habe derjenige, der ihn rasierte, schlechte Augen und ein stumpfes Messer.
Schwester Segen schloß die Tür. Ihr Mißtrauen gegen Quinn schien sich gelegt zu haben, und ihre Haltung war jetzt mehr die einer Gastgeberin. »Dies ist unser gemeinsamer Eßraum. Und das ist Bruder Zunge des Propheten. Die anderen sind in der Betstunde im Turm des Himmels, aber ich bin die Krankenschwester, ich muß bei Bruder Zunge bleiben. Er ist etwas krank. Er verbringt die Nacht am Herd. Wie geht es dir jetzt, Bruder Zunge?«
Der Bruder nickte und lächelte, während der kleine Vogel zärtlich an seinem Ohr knabberte.
»Ein etwas unglücklicher Name«, flüsterte Schwester Segen Quinn zu. »Er spricht wenig. Aber vielleicht ist es besser, wenn Propheten nicht zuviel reden. Wollen Sie sich setzen, Mr. …?«
»Quinn.«
»Wenn das nur kein schlechtes Omen ist. Ich nehme an, daß Sünde einen jungen, kräftigen Mann wie Sie in einen solch elenden Zustand gebracht hat.«
Quinn fiel ein, was Newhouser über die Leute im Turm gesagt hatte, daß sie zu armen Sündern besonders gastfreundlich seien. »Es ist leider so.«
»Alkohol?»
»Natürlich.«
»Glückspiel?«
»Oft.«
»Frauen?«
»Ab und zu.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Schwester Segen befriedigt. »Ich werde Ihnen ein Brot und Käse machen.«
{17}»Danke.«
»Und mit Schinken. Man munkelt in der Stadt, daß wir kein Fleisch essen. Das ist Unsinn. Wir arbeiten hart. Wir brauchen Fleisch für unsere Gesundheit. Auch ein Brot für dich, Bruder Zunge? Etwas Ziegenmilch?«
Der Bruder schüttelte den Kopf.
»Ich kann dich nicht zwingen zu essen. Aber ich kann wenigstens dafür sorgen, daß du frische Luft bekommst. Es ist jetzt kühl genug, daß du draußen sitzen kannst. Setz deinen kleinen Vogel in den Käfig, und Mr. Quinn wird dir mit deinem Stuhl helfen.«
Schwester Segen gab Befehle, als hege sie nicht den geringsten Zweifel an deren prompter und richtiger Ausführung. Quinn trug den Schaukelstuhl hinaus, während Bruder Zunge den Sittich in den Käfig zurücksetzte und Schwester Segen Brote bereitete. Trotz ihrer seltsamen Kleidung und der merkwürdigen Behausung machte sie den Eindruck einer ganz gewöhnlichen Hausfrau in ihrer Küche, die erfreut ist, einen Gast bewirten zu können. Quinn versuchte gar nicht darüber nachzudenken, welch seltsame Umstände sie wohl hierher verschlagen hatten.
Die Schwester setzte sich auf die Bank ihm gegenüber und sah zu, wie er aß. »Wer hat Ihnen von uns erzählt, Mr. Quinn?«
»Ein Mann, der mich im Wagen mitgenommen hat. Er arbeitet auf einer Ranch in der Nähe.«
»Das klingt einleuchtend.«
»Ist es auch. Es ist wahr.«
»Woher kommen Sie?«
»Jetzt oder früher?«
»Egal, vielleicht beides.«
{18}»Ich bin in Detroit geboren, und zuletzt habe ich in Reno gewohnt.«
»Reno ist eine böse Stadt.«
»Im Augenblick bin ich bereit, Ihnen zuzustimmen.«
»Haben Sie in Reno gearbeitet?«
»Ich war Detektiv in einem der Klubs. Oder Kasinopolizist, wenn Sie wollen. Ich habe immer noch eine Zulassung als Detektiv in Nevada, aber wahrscheinlich wird sie nicht erneuert.«
»Hat man Sie rausgeschmissen?«
»Sagen wir, man hat mich gewarnt, Geschäft nicht mit Vergnügen zu vermischen, aber diese Warnung kam zu spät.« Quinn begann, das zweite Brot zu essen. Das Brot war selbstgebacken und alt, aber die Butter süß, und Käse und Schinken waren gut.
»Wie alt sind Sie, Mr. Quinn?«
»Fünfunddreißig – sechsunddreißig. Ich glaube sechsunddreißig.«
»Die meisten Männer Ihres Alters haben ein Heim mit Frau und Kindern und treiben sich nicht in den Bergen herum. Also, sechsunddreißig. Und was fangen Sie nun an? Wollen Sie ein neues Leben auf höherer Ebene anfangen?«
Quinn sah sie über den Tisch hinweg an. »Schwester, ich bin Ihnen sehr dankbar für das Essen und die Gastfreundschaft, aber ich muß doch klarstellen, daß ich nicht in Ihren Orden eintreten werde.«
»Du liebe Zeit, daran habe ich nicht im geringsten gedacht, Mr. Quinn. Wir sind keine Missionare. Die Leute kommen zu uns. Wenn sie der Welt überdrüssig sind, kommen sie zu uns.«
»Und was passiert dann?«
{19}»Wir bereiten sie auf ihren Aufstieg in den Turm vor. Er hat fünf Stufen. Die unterste, mit der wir alle beginnen, ist die Stufe der Erde. Die zweite ist die Stufe der Bäume, dann kommt die der Berge, die vierte ist die Stufe des Himmels und die fünfte ist der Himmelsturm, wo der Meister wohnt. Ich bin noch nie über die dritte hinausgekommen. Um die Wahrheit zu sagen – « sie lehnte sich mit gerunzelter Stirn vertraulich zu Quinn hinüber – »ich habe sogar gewisse Schwierigkeiten, dort zu bleiben.«
»Und weshalb?«
»Wegen der geistigen Vibrationen. Ich fühle sie nicht richtig. Oder wenn ich sie fühle, dann stellt es sich heraus, daß gerade ein Flugzeug vorbeifliegt oder etwas explodiert, und die Vibrationen sind nicht geistiger Art. Einmal ist ein Baum umgefallen und ich habe gedacht, ich hätte die allerbesten Vibrationen. Ich war bitter enttäuscht.«
Quinn versuchte, teilnehmend auszusehen. »Das ist ja schrecklich.«
»Das meinen Sie nicht im Ernst.«
»Doch, wirklich.«
»Nein. Das sehe ich genau. Skeptiker haben dann immer ein Zucken an ihrem Mund.«
»Ein Stückchen Schinken steckt zwischen meinen Zähnen.«
Noch ehe sie ihren Mund mit der Hand zuhalten konnte, lachte sie kurz auf. Der Klang des Lachens schien sie zu erregen, als ginge es dabei um einen leichtfertigen Augenblick ihrer Vergangenheit, den sie schon vergessen geglaubt hatte.
Sie stand auf und ging zum Kühlschrank hinüber. »Wollen Sie etwas Ziegenmilch? Sie ist sehr nahrhaft.«
{20}»Nein, danke. Eine Tasse Kaffee wäre …«
»Wir benützen keine Aufputschmittel.«
»Sie sollten sie vielleicht einmal versuchen. Ihre Vibrationen wären dann vielleicht besser.«
»Ich muß Sie bitten, etwas mehr Respekt zu zeigen, Mr. Quinn.«
»Entschuldigen Sie. Das gute Essen ist mir ein wenig zu Kopf gestiegen.«
»Oh, so gut war es auch wieder nicht.«
»Doch, ganz bestimmt.«
»Ja, der Käse ist gar nicht so schlecht. Bruder Erblicke die Vision macht ihn nach einem Geheimrezept.«
»Beglückwünschen Sie ihn von mir.« Quinn stand auf, reckte sich und unterdrückte ein Gähnen. »Ich werde mich wieder auf den Weg machen.«
»Wohin?«
»San Felice.«
»Das sind über fünfzig Kilometer. Wie wollen Sie dorthin kommen?«
»Auf die Straße gehen und einen Wagen anhalten.«
»Sie werden keinen Wagen bekommen. Die meisten Leute, die nach San Felice wollen, machen den Umweg über die große Autobahn. Und wenn die Sonne erst einmal untergeht, nehmen die Wagen so leicht keinen Anhalter mit, besonders nicht in den Bergen. Außerdem sind die Nächte kalt.«
Quinn beobachtete sie eine Weile. »Was wollen Sie damit sagen, Schwester?«
»Wieso, nichts. Ich meine, ich sorge mich nur um Ihr Wohlergehen. Alleine in den Bergen in einer kalten Nacht ohne Unterkunft, wo überall wilde Tiere herumstreifen …«
{21}»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Nun, ich habe mir überlegt«, sagte sie vorsichtig, »daß wir eine einfachere Lösung finden können. Morgen früh fährt Bruder Dornenkrone wahrscheinlich mit dem Lastwagen nach San Felice. Unser Traktor ist kaputt, und Bruder Krone muß Ersatzteile kaufen. Er hat sicher nichts dagegen, wenn Sie mitfahren.«
»Sie sind sehr freundlich zu mir.«
»Ach, Unsinn!« sagte sie mit einem Stirnrunzeln. »Wir haben einen Vorratsschuppen, in dem Sie schlafen können. Es steht ein Feldbett darin mit ein paar Decken.«
»Sind Sie immer so gastfreundlich zu Fremden, Schwester?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie scharf. »Es kommen Diebe, Randalierer und Trunkenbolde. Wir behandeln sie, wie sie es verdienen.«
»Und wie komme ich zu dieser königlichen Behandlung?«
»Oh, sie ist keineswegs königlich, das werden Sie noch merken, wenn Sie auf dem Bett schlafen.«
Irgendwo in der Nähe wurde ein Gong geschlagen.
»Die Gebete sind vorbei«, sagte Schwester Segen. Einige Augenblicke lang blieb sie unbeweglich stehen, während ihre rechte Hand ihre Stirn berührte. »Kommen Sie, wir gehen jetzt lieber aus der Küche. Schwester Zerknirschung macht jetzt gleich das Feuer für das Abendessen an, und es macht sie nervös, Fremde um sich zu haben.«
»Und was ist mit den anderen?«
»Jeder Bruder und jede Schwester hat eine andere Pflicht bis Sonnenuntergang.«
»Was ich meinte, ist, wie die anderen dazu stehen, Fremde um sich zu haben?«
{22}»Man wird Sie ebenso höflich behandeln, Mr. Quinn, wie Sie ihnen gegenüber höflich sind. Die arme Schwester Zerknirschung hat viele Probleme, wir sollten ihr vielleicht lieber aus dem Wege gehen. Es ist die Schule. Sie hat drei Kinder, und die Behörden drängen sie, sie in die Schule zu schicken. Und was würden sie in der Schule lernen, frage ich Sie, was ihnen der Herr hier nicht auch beibringen könnte?«
»Zu diesem Thema kann ich mich leider nicht äußern, Schwester.«
»Wissen Sie, als ich Sie zuerst sah, habe ich einen Augenblick lang geglaubt, Sie kämen von der Schulbehörde.«
»Das ehrt mich.«
»Dazu haben Sie keinen Grund«, sagte Schwester Segen rasch.
»Das ist ein aufdringliches, dickköpfiges Pack. Und den Ärger, den Schwester Zerknirschung ihretwegen hatte, würden Sie nicht für möglich halten. Es ist nicht verwunderlich, daß sie genausoviele Schwierigkeiten mit den geistigen Vibrationen hat wie ich.«
Quinn folgte ihr nach draußen. Bruder Zunge des Propheten döste in seinem Schaukelstuhl unter einem Baum, und leichte Sonnenfleckchen glitzerten auf seinem Kopf.
Eine kleine, breitschultrige Frau kam um das Haus herum, gefolgt von einem ungefähr achtjährigen Jungen und zwei Mädchen; eins war etwas älter als der Junge, das andere sechzehn oder siebzehn Jahre. Sie trugen alle die gleichen grauen Wollkittel, nur daß die der beiden Kinder lediglich bis an die Knie reichten.
Sie betraten schweigend den gemeinsamen Eßraum, {23}und nur das junge Mädchen warf Quinn einen kurzen fragenden Blick zu. Quinn erwiderte den Blick. Sie war hübsch, mit glänzenden braunen Augen und schwarzem lockigem Haar, aber ihre Haut war mit Pickeln bedeckt.
»Schwester Karma«, sagte Schwester Segen. »Das arme Mädchen hat Akne, und kein Beten will helfen. Kommen Sie mit, und ich zeige Ihnen, wo Sie schlafen können. Sie haben es nicht bequem, aber das hat es keiner von uns. Wenn man dem Fleisch nachgibt, wird man schwach im Geist. Das haben Sie zweifellos immer getan?«
»Ja, kein Zweifel.«
»Beunruhigt Sie das nicht? Haben Sie keine Angst vor dem, was kommen wird?«
Quinn machte sich mehr Sorgen um das, was nicht kommen würde, Geld und ein Job. Aber er sagte nur: »Ich versuche, mir keine Sorgen zu machen.«
»Das müssen Sie aber, Mr. Quinn.«
»Sehr schön, Schwester, ich fange dann morgen damit an.«
»Jetzt machen Sie sich schon wieder lustig. Sie sind ein sehr komischer junger Mann.« Sie blickte an ihrem grauen Gewand hinunter auf ihre nackten, breiten und durchgetretenen Füße. »Vermutlich finden Sie mich auch ziemlich komisch. Aber daran ist nichts zu ändern. Ich möchte lieber in dieser Welt komisch aussehen als in der nächsten.« Dann sagte sie noch »Amen«, wie um das Thema zu beenden.
Von außen wirkte der Vorratsraum wie ein kleiner Anbau an das andere Gebäude. Doch innen war er in einzelne Abteilungen unterteilt, von denen jede abgesperrt war. Eins der Abteile hatte ein kleines Fenster und war mit einer schmalen eisernen Bettstelle mit einer dünnen {24}grauen Matratze und ein paar von Motten zerfressenen Decken eingerichtet.
Quinn befühlte die Matratze mit beiden Händen. Sie war weich, aber ohne Federung.
»Haare«, sagte Schwester Segen. »Die Haare der Brüder. Es war ein Experiment von Schwester Ruhm der Auferstehung, sie ist sehr sparsam. Dummerweise ziehen sie Flöhe an. Sind Sie empfänglich für Flöhe?«
»Ich bin empfänglich für viele Dinge, also wohl auch für Flöhe.«
»Dann ist es wohl besser, wenn Bruder Licht der Unendlichkeit die Matratze mit Schafsdesinfektionsmittel besprüht. Aber Sie sollten zuerst Ihre Empfänglichkeit testen.«
»Wie macht man das?«
»Setzen Sie sich ein paar Minuten lang ganz ruhig hin.«
Quinn setzte sich auf das Bett und wartete.
»Spüren Sie schon Bisse?« sagte Schwester Segen nach einer Weile.
»Ich glaube nicht.«
»Fühlen Sie etwas?«
»Nicht einmal eine Vibration.«
»Dann können wir vielleicht auf das Desinfektionsmittel verzichten. Sicher ist Ihnen der Geruch unangenehm, und Bruder Licht der Unendlichkeit hat genug zu tun.«
»Übrigens«, fragte Quinn, »wieviele Leute wohnen hier bei dem Turm?«
»Jetzt sind es siebenundzwanzig. Wir waren einmal beinahe achtzig, aber manche sind abgeirrt, manche gestorben, manche haben das Vertrauen verloren. Ab und zu kommt ein neuer Bekehrter zu uns, vielleicht tritt er ganz zufällig über die Schwelle, wie Sie. Haben Sie einmal {25}darüber nachgedacht, daß der Herr Ihre Schritte vielleicht hierhergeleitet hat?«
»Nein.«
»Sie sollten es tun.«
»Das ist nicht nötig. Ich weiß, wie ich hierhergekommen bin. Dieser Newhouser hat mich in Reno mitgenommen und gesagt, er fahre nach San Felice. Jedenfalls habe ich ihn so verstanden. Es stellte sich heraus, daß er es anders gemeint hat – aber das spielt ja auch keine Rolle.«
»Für mich spielt es eine Rolle.«
»Wieso?«
»Es ist sehr merkwürdig, daß Sie eine Zulassung als Detektiv besitzen. Ich kann nicht an den Zufall glauben. Ich habe ein Gefühl, das ist Gottes Wille.«
»Ihre Vibrationen werden wohl besser, Schwester.«
»Ja, das stimmt«, sagte sie ernsthaft. »Das tun sie wirklich.«
»Aber was hat die Tatsache, daß ich Detektiv bin, damit zu tun, daß …?«
»Ich habe jetzt keine Zeit. Ich muß dem Meister Bescheid sagen, daß Sie hier sind. Er liebt keine Überraschungen, besonders nicht bei den Mahlzeiten. Er hat einen schwachen Magen.«
»Kann ich mit Ihnen gehen?« fragte Quinn.
»O nein. Fremde sind im Turm nicht erlaubt.«
»Haben die Brüder und Schwestern etwas dagegen, wenn ich etwas umherlaufe?«
»Manche ja – manche nein. Wenn wir auch ein Gemeinschaftsleben führen, so sind wir doch so verschieden wie die Menschen überall.«
»Kurz gesagt, ich soll hierbleiben. Stimmt’s?«
»Sie sehen müde aus«, sagte Schwester Segen. »Ruhen {26}Sie sich aus.« Schwester Segen verließ ihn und schloß energisch die Tür hinter sich.
Quinn legte sich aufs Bett und rieb sich das Kinn. Er brauchte eine Rasur, eine Dusche und einen Drink. Oder einen Drink, eine Dusche und eine Rasur. Er nickte über dem Versuch ein, die richtige Reihenfolge zu finden, und träumte, daß er wieder in seinem Hotelzimmer in Reno war. Er hatte zehntausend Dollar gewonnen, und erst als er sie zum Zählen auf dem Bett ausbreitete, fiel ihm auf, daß alle Scheine Fünfdollarnoten waren mit dem Bild von Schwester Segen statt Lincoln.
Es war immer noch hell, als er schwitzend und verwirrt aufwachte. Er brauchte eine Minute, um sich zu erinnern, wo er war, der kleine Raum sah wie eine Gefängniszelle aus.
Jemand klopfte an die Tür, und Quinn setzte sich hoch. »Wer ist da?«
»Bruder Licht der Unendlichkeit. Ich komme wegen der Matratze.«
»Matratze?«
Die Tür ging auf, und Bruder Licht der Unendlichkeit kam mit einem Blechkanister in der Hand herein. Er war ein großer Mann, dessen Gesicht wie eine zerknitterte Papiertüte von Falten durchzogen war. Sein Gewand war schmutzig und roch nicht unangenehm nach Vieh.
Quinn sagte: »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Bruder.«
»Ist keine Freundlichkeit. Befehle. Ich habe hunderterlei Dinge zu tun, und diese Frau denkt sich noch immer hundert dazu aus. Geh und richte die Matratze, sagt sie. Kann den Fremden nicht verstechen lassen, sagt sie, {27}deshalb bin ich hier und verschwende meine Zeit mit Flöhen. Überall verstochen?«
»Ich glaube nicht.«
Bruder Licht stellte den Kanister mit Desinfektionsmittel auf den Boden. »Ziehen Sie Ihr Hemd aus und schauen Sie Ihren Bauch an. Sie mögen Bäuche, dort ist die Haut weicher, sie kriegen leichter ihre Zähne dort rein.«
»Wenn ich mich schon ausziehe, kann man hier irgendwo duschen?«
»Im Waschraum ist Wasser, eigentlich keine Dusche … Na, Sie haben ja keinen einzigen Biß. Müssen eine Haut haben wie ein Elefant. Lohnt sich nicht, das Zeug wegen Ihnen zu vergeuden.«
Er hob den Kanister auf und bewegte sich zur Tür.
»Einen Augenblick«, sagte Quinn. »Wo ist der Waschraum?«
»Dort hinten links.«
»Vermutlich haben Sie keinen Rasierapparat.«
Bruder Licht befingerte seinen rasierten Schädel, der ebenso wie der Kopf von Bruder Zunge voller Kratzer und Schrammen war. »Wir haben Rasierapparate, oder denken Sie, ich bin so geboren? Leider ist heute kein Rasiertag.«
»Für mich doch.«
»Wenden Sie sich an Bruder Beständiges Herz. Er ist der Frisör. Belästigen Sie mich nicht bei all den Sachen, die ich noch machen muß. Kühe melken, Ziegen tränken und Hühner füttern!«
»Tut mir leid, daß ich Ihnen Arbeit gemacht habe.«
Beim Hinausgehen stieß Bruder Licht heftig mit dem Kanister gegen den Türrahmen, um zu zeigen, wie wenig er von Entschuldigungen hielt.
{28}Quinn ging mit seinem Hemd und seiner Krawatte über dem Arm hinaus. Nach dem Stand der Sonne mußte es ungefähr zwischen sechs und sieben sein, er hatte also einige Stunden geschlafen.
Aus dem Kamin des Eßraums stieg Rauch auf, und sein Geruch vermischte sich mit dem von gekochtem Fleisch und von Fichtennadeln. Die Luft war frisch und kühl. Sie schien Quinn sehr gesund, und er fragte sich, ob sie die reiche alte Dame, die den Turm gebaut hatte, geheilt hatte, oder ob sie hier, einen Schritt näher am Himmel, gestorben war. Den Turm selbst hatte er immer noch nicht gesehen, und der einzige Beweis seiner Existenz war der Gong, der das Ende der Gebete schlug. Gerne wäre er ein wenig herumgelaufen, um den Turm alleine zu finden, aber die Haltung von Bruder Licht ließ ihn daran zweifeln, ob dies klug wäre. Die anderen waren vielleicht noch unfreundlicher.
Im Waschraum pumpte er mit der Hand Wasser in einen Kübel. Es war kalt und trübe, und das graue, sandige Stück selbst hergestellter Seife widerstand Quinns Versuch, etwas Schaum zu erzeugen. Er blickte sich suchend nach einem Rasierapparat um. Aber auch wenn er einen gefunden hätte, hätte er nichts damit anfangen können, denn es war kein Spiegel da. Vielleicht hatte die Sekte ein religiöses Tabu gegen Spiegel. Das würde die Notwendigkeit erklären, daß Bruder Beständiges Herz als Barbier arbeitete.
Während er sich wusch und anzog, dachte er über die Bemerkung von Schwester Segen nach, daß der Herr seine Schritte zum Turm gelenkt habe. Sie hat nicht alle Tassen im Schrank, dachte er.
Als er wieder hinaustrat, war die Sonne untergegangen, {29}und die Berge hatten sich von dunklem Grün in Violett verfärbt. Zwei Brüder kamen an ihm vorbei und beugten kurz und schweigend ihre Köpfe. Quinn hörte das Klappern von Metallgeschirr und Stimmengewirr aus dem Eßraum und ging darauf zu. Er war auf halbem Wege, als er hörte, wie Schwester Segen seinen Namen rief.
Sie kam mit im Winde flatterndem Gewand auf ihn zugerannt. Wie eine Fledermaus, dachte er, ohne sich darüber zu amüsieren.
Sie hatte ein paar Kerzen und ein Paket Streichhölzer bei sich. »Mr. Quinn! Juhuu, Mr. Quinn!«
»Ja, Schwester? Ich wollte Sie gerade suchen.«
Sie war erhitzt und außer Atem. »Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht. Ich habe ganz vergessen, daß heute der Tag des Verzichts ist, ich war so beschäftigt, Bruder Zunge in sein Quartier im Turm zurückzubringen. Es geht ihm jetzt wieder so gut, daß er nachts die Hitze des Ofens nicht mehr braucht.«
»Verschnaufen Sie doch erst einmal einen Augenblick.«
»Ja, ja. Ich bin so aufgeregt, der Meister hat wieder Magenschmerzen.«
»Und?«
»Weil heute der Tag des Verzichts ist, dürfen wir nicht mit einem Fremden in unserer Mitte essen, weil – du liebe Zeit, ich habe den Grund vergessen, es ist halt die Regel.«
»Ich habe sowieso keinen großen Hunger«, log Quinn.
»Oh, Sie kriegen schon etwas zu essen, keine Angst. Sie müssen nur warten, bis die anderen fertig sind. Es dauert ungefähr eine Stunde, vielleicht etwas länger wegen der Zähne von Bruder Erblicke die Vision. Sie passen nicht sehr gut, und so braucht er immer etwas länger als die anderen. Macht es Ihnen nichts aus zu warten?«
{30}»Überhaupt nicht.«
»Ich habe Ihnen Kerzen und Streichhölzer mitgebracht. Und schauen Sie nur, was noch.« Aus den Falten ihres Gewandes zog sie ein Buch mit Eselsohren hervor. »Etwas zu lesen«, sagte sie triumphierend. »Wir dürfen keine Bücher lesen, außer den Glaubenssätzen, aber dies ist von Schwester Karma, als sie zur Schule gehen mußte. Es handelt von Dinosauriern. Interessiert Sie das wohl?«
»O ja, sehr.«
»Ich habe es schon dutzendmal gelesen. Ich bin allmählich schon ein Experte für Dinosaurier. Versprechen Sie mir, niemandem zu erzählen, daß ich es Ihnen gegeben habe?«
»Ich verspreche es.«
»Ich sage Ihnen Bescheid, wenn die anderen gegessen haben.«
»Danke, Schwester.«
Quinn merkte an der Art, wie sie das Buch behandelte, daß es etwas sehr Wertvolles für sie war. Er war teils gerührt, teils etwas mißtrauisch wegen ihres Benehmens: Warum behandelt sie mich so? Was will sie von mir?
Im Vorratsraum zündete er zwei Kerzen an, setzte sich auf das Bett und versuchte, Zukunftspläne zu schmieden. Zunächst würde er mit Bruder Krone im Lastwagen nach San Felice fahren. Dann wollte er bei Tom Jurgensen vorbeigehen und die dreihundert Dollar kassieren. Danach …
Weitere Pläne waren überflüssig. Er wußte nur zu gut, was passieren würde. Falls er genügend Geld zusammenkratzen konnte, würde er nach Reno zurückgehen. Und wenn es nicht Reno war, dann Las Vegas. Wenn nicht Las Vegas, dann einer der Pokerklubs außerhalb von Los {31}Angeles. Eine Stellung: Geld – ein Spiel: kein Geld. Je öfter er sich in diesem Kreis bewegte, desto tiefer fraß sich die Gewohnheit ein. Er wußte, eines Tages mußte er ausbrechen. Vielleicht war jetzt der Augenblick gekommen.
Vielleicht konnte er in San Felice, wo man nur einmal in der Woche im Sportklub Bingo spielte, eine Stellung finden. Er würde Geld sparen, die Hotelrechnung in Reno bezahlen und sich seine Kleider und die sonstigen Dinge, die er als Pfand zurückgelassen hatte, schicken lassen. Wenn sich alles gut entwickelte, konnte er sogar Doris fragen, ob sie zu ihm kommen wolle. – Nein, Doris war Teil des Kreises. Wie die meisten Leute, die in den Klubs arbeiteten, verbrachte sie ihre Freizeit an den Spieltischen. Manche verbrachten ihr ganzes Leben unter demselben Dach. Sie schliefen, aßen, arbeiteten und spielten dort mit ebenso aufrichtiger Hingabe wie die Brüder und Schwestern vom Turm.
Doris. Es war erst 24 Stunden her, seit er sich von ihr verabschiedet hatte. Sie hatte ihm Geld leihen wollen, aber aus Gründen, die ihm immer noch nicht klar waren, hatte er abgelehnt. Vielleicht weil er wußte, daß mit Geld immer Verpflichtungen verbunden waren, wie gut sie auch verheimlicht wurden. Er blickte auf das Buch hinunter, das ihm Schwester Segen gegeben hatte, und fragte sich, welche Verpflichtungen wohl damit verbunden waren.
»Mr. Quinn?«
Er stand auf und öffnete die Tür. »Kommen Sie herein, Schwester. Haben Sie gut zu Abend gegessen am Tag des Verzichts?«
Schwester Segen sah ihn mißtrauisch an. »Gut genug bei den schweren Sorgen von Schwester Zerknirschung.«
{32}»Auf was muß man denn heute verzichten? Auf Essen wohl nicht?«
»Nichts was Sie denken. Kommen Sie jetzt und hören Sie mit dem Geplauder auf. Der Eßraum ist leer, und ich habe Ihnen Lammeintopf aufgewärmt und eine gute Tasse Cola.«
»Ich dachte, Sie halten nichts von Aufputschmitteln.«
»Cola ist kein richtiges Aufputschmittel. Wir hatten letztes Jahr eine Vollversammlung zu diesem Thema, und wir beschlossen, Cola zuzulassen, weil es noch andere wichtige Nährstoffe enthält. Nur Schwester Ruhm der Auferstehung stimmte dagegen, weil sie so gei – sparsam ist. Ich habe Ihnen doch schon von den Haaren in der Matratze erzählt?«
»Ja«, sagte Quinn, der lieber nicht mehr daran gedacht hätte.
»Sie sollten das Buch verstecken. Nicht daß Ihnen irgendjemand nachspioniert, aber warum das Risiko eingehen?«
»Ja, warum.« Er versteckte das Buch unter der Decke.
»Haben Sie schon darin gelesen?«
»Ein wenig.«
»Finden Sie es nicht sehr interessant?«
Quinn hielt die Bande, die damit verknüpft waren, für interessanter, sagte es aber nicht.
Sie gingen nach draußen. Der fast volle Mond hing niedrig in den Bäumen. Der Himmel war mit Sternen übersät – Hunderte mehr, als Quinn jemals gesehen hatte, und als er stehenblieb und hinaufsah, tauchten noch mehr auf.
»Haben Sie noch nie einen Himmel gesehen?« fragte Schwester Segen leicht ungeduldig.
»So einen nicht.«
{33}»Er ist genauso wie immer.«
»Mir scheint er anders.«
Schwester Segen sah ihm ängstlich ins Gesicht. »Meinen Sie, Sie bekommen eine religiöse Erleuchtung?«
»Ich bewundere das Universum«, sagte Quinn. »Wenn Sie das für Erleuchtung halten – bitte.«
»Sie verstehen mich nicht, Mr. Quinn. Mir wäre es lieber, wenn Sie jetzt im Augenblick keine Erleuchtung hätten.«
»Warum?«
»Es käme sehr ungelegen. Ich habe eine Bitte an Sie, und eine Bekehrung wäre jetzt hinderlich.«
»Sie können unbesorgt sein, Schwester. Was für eine Bitte …?«
»Das erzähle ich Ihnen später, wenn Sie gegessen haben.«
Der Eßraum war leer und Bruder Zunges Schaukelstuhl verschwunden, ebenso der Vogelkäfig. Am Ende des Tisches, nahe dem Herd, war ein Platz gedeckt.
Quinn setzte sich, und Schwester Segen füllte einen Teller mit Lammfleisch und einen anderen mit dicken Brotscheiben. Wie am Nachmittag beobachtete sie mit einer Art mütterlichem Interesse, wie Quinn aß.
»Sie haben keine gute Farbe«, sagte sie schließlich. »Aber Ihr Appetit ist herzhaft, und Sie scheinen sonst gesund zu sein. Ich meine damit, wenn Sie hinfällig wären, könnte ich Sie natürlich nicht um den Gefallen bitten.«
»Welchen Gefallen?«
»Ich möchte, daß Sie jemanden für mich finden. Ihn nicht persönlich finden, meine ich, sondern herausfinden, was mit ihm passiert ist. Verstehen Sie?«
{34}»Noch nicht.«
»Bevor ich es genauer erkläre, möchte ich etwas feststellen: Ich kann Sie bezahlen, ich habe Geld. Niemand hier weiß davon, weil wir auf unseren Besitz verzichten, wenn wir zum Turm kommen. Unser Geld, unsere Kleider, alles wird Gemeingut.«
»Aber Sie haben etwas für den Notfall für sich behalten?«
»Nein, keineswegs«, sagte sie scharf. »Mein Sohn in Chicago schickt mir Weihnachten immer einen Zwanzigdollarschein mit der Bedingung, daß ich ihn für mich behalte und nicht dem Meister abgebe. Mein Sohn ist mit allem hier nicht einverstanden.« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung durch den Raum. »Er versteht nicht, wie befriedigend das Leben für den Herrn mit den Wahren Gläubigen ist. Er glaubt, ich wäre ein bißchen übergeschnappt, als mein Mann starb, und vielleicht bin ich das auch. Aber ich habe meinen richtigen Platz in der Welt gefunden, ich werde nie fortgehen. Wie könnte ich auch? Ich werde gebraucht. Bruder Zunge mit seiner schwachen Brust, der Meister und sein schlechter Magen, Mutter Purezas Herz – sie ist die Frau des Meisters und sehr alt.«
Schwester Segen stand auf, stellte sich vor den Herd und rieb ihre Hände gegeneinander, als verspürte sie einen plötzlichen kalten Luftzug.
»Ich werde selber alt«, sagte sie. »Manche Tage sind schwer zu ertragen. Meine Seele ist in Frieden, aber mein Körper rebelliert. Er sehnt sich nach Wärme und etwas Lindem, Weichem. Morgens, wenn ich aufstehe, spürt meine Seele eine himmlische Berührung, aber meine Füße – oh, diese Kälte und der Schmerz in den Beinen. Einmal {35}habe ich in einem Katalog ein Bild von Pantoffeln gesehen. Ich muß oft an sie denken, wenn ich es auch nicht sollte. Sie waren rosa und flauschig, weich und warm. Es waren die schönsten Pantoffeln, die ich je gesehen habe, aber natürlich eine Versuchung des Fleisches.«
»Aber nur eine ganz kleine, nicht?«
»Man muß sich davor in acht nehmen. Sie breitet sich aus wie Unkraut. Zuerst sind es warme Hausschuhe, und dann wünscht man sich andere Dinge.« Sie sprach so ernsthaft, als argumentiere sie mit dem Teufel.
»Und die wären?«
»Ein heißes Bad in einer richtigen Badewanne mit zwei Badetüchern. Da, sehen Sie«, sagte sie und wandte sich an Quinn. »Schon ist es soweit. Zwei Badetücher verlange ich, wenn eins mehr als genug wäre. Das beweist meine Meinung über die menschliche Natur – nichts ist jemals genug. Hätte ich mein heißes Bad, dann wollte ich gleich noch eins, dann jede Woche eins oder sogar jeden Tag. Und wenn jeder im Turm dasselbe täte, würden wir alle im heißen Badewasser rumliegen, und das Vieh würde verhungern und der Garten verwildern. Nein, Mr. Quinn, auch wenn Sie mir jetzt ein heißes Bad anbieten würden, ich müßte ablehnen.«
Quinn wollte klarstellen, daß er fremden Frauen keine heißen Bäder anzubieten pflegte, fürchtete aber, die Schwester zu verletzen.
Nach einer Weile sagte sie: »Haben Sie je von einem Ort namens Chicote gehört? Es ist eine kleine Stadt, ungefähr hundertzwanzig Kilometer von hier entfernt.«
»Ich weiß, wo sie liegt, Schwester.«
»Ich möchte, daß Sie dorthin gehen und einen Mann namens Patrick O’Gorman finden.«
{36}»Ein alter Freund von Ihnen? Ein Verwandter?«
Sie schien seine Frage nicht gehört zu haben. »Ich habe hundertzwanzig Dollar.«
»Das wären viele rosa Flauschpantoffeln, Schwester.«
Wieder gab sie keine Antwort. »Es kann ganz einfach sein, ich weiß es nicht.«
»Angenommen, ich finde O’Gorman – was dann? Soll ich ihm eine Nachricht überbringen?«
»Sie tun gar nichts. Sie kommen nur hierher zurück und erzählen mir davon – mir und nur mir.«
»Und wenn er nicht mehr in Chicote lebt?«
»Dann bringen Sie heraus, wohin er gegangen ist. Aber versuchen Sie bitte nicht, mit ihm in Verbindung zu treten. Es hätte keinen Sinn und könnte nur Unheil stiften. Wollen Sie den Auftrag annehmen?«
»Ich bin nicht in der Lage, wählerisch zu sein, Schwester. Ich muß Sie aber daran erinnern, daß Sie ein Risiko eingehen, mich mit dem Geld wegzuschicken. Vielleicht komme ich gar nicht wieder.«
»Das ist möglich«, sagte sie ruhig. »In diesem Fall habe ich eine weitere Lektion gelernt. Andererseits können Sie aber auch zurückkommen, und ich habe nichts zu verlieren als Geld, das ich weder ausgeben noch dem Meister aushändigen kann wegen des Versprechens an meinen Sohn.«
»Das sieht ja alles ganz vernünftig aus auf den ersten Blick.«
»Und auf den zweiten?«
»Was für ein Interesse an O’Gorman haben Sie denn?«
»Zerbrechen Sie sich nur den Kopf darüber. Es wird Ihnen nichts schaden. Ich kann Ihnen nur sagen, das, worum ich Sie gebeten habe, ist ziemlich wichtig für mich.«
{37}»Gut. Wo ist das Geld?«
»An einem sicheren Platz«, sagte Schwester Segen bestimmt, »bis morgen früh.«
»Bedeutet das, daß Sie mir nicht trauen? Oder den Brüdern und Schwestern nicht?«
»Es bedeutet, daß ich keine Närrin bin. Sie bekommen das Geld, wenn Sie morgen bei Morgengrauen neben Bruder Dornenkrone im Lastwagen sitzen.«
»Morgengrauen?«
»Morgenstund hat Gold im Auge.«
»So kenne ich das Sprichwort aber nicht.«
»Der Meister hat die Sprichwörter ein wenig verändert, damit unsere Kinder sie leichter lernen können.«
»Der Meister macht mich neugierig«, sagte Quinn. »Ich würde ihn gerne kennenlernen.«
»Es geht ihm heute abend nicht gut. Vielleicht, wenn sie uns wieder besuchen …«
»Sie scheinen ja ganz schön sicher, daß ich wiederkomme, Schwester. Sie wissen wohl nichts über Spieler.«
»Ich kannte Spieler schon«, sagte Schwester Segen, »lange bevor Sie Ihr erstes Pik-As gesehen haben.«
Es war noch dunkel, als Quinn davon erwachte, daß ihn jemand heftig rüttelte. Er öffnete die Augen.
Ein kleiner dicker Mann mit einer Laterne sah durch mächtige Brillengläser auf ihn herab. »Du liebe Zeit, ich dachte, Sie wären tot. Sie müssen sofort aufstehen.«
{38}»Warum? Was ist los?«
»Nichts ist los. Es ist Zeit, aufzustehen und den neuen Tag zu begrüßen. Ich bin der Bruder vom Unerschütterlichen Herzen. Schwester Segen hat mir gesagt, ich soll Sie rasieren und ein Frühstück machen, bevor die anderen aufstehen.«
»Wieviel Uhr ist es?«
»Wir haben keine Uhr im Turm. Ich warte im Waschraum auf Sie.«
Quinn konnte bald feststellen, woher die Brüder ihre Schrammen auf Backen und Schädel hatten. Das Messer war stumpf, das Licht der Laterne schwach und der Bruder vom Unerschütterlichen Herzen kurzsichtig.
»Sie sind aber empfindlich«, sagte Bruder Herz mit liebevollem Interesse. »Sie leiden wohl an sehr schlechten Nerven?«
»Zeitweilig.«
»Wenn ich schon dabei bin, könnte ich Ihnen eigentlich auch die Haare etwas schneiden.«
»Nein, danke. Die Rasur genügt mir. Ich will keinen Eindruck machen.«
»Schwester Segen hat gesagt, ich solle Sie so herrichten, daß Sie wie ein Gentleman aussehen. Sie scheint Sie zu mögen. Das macht mich ziemlich neugierig.«
»Das macht mich auch neugierig, Bruder.«
Bruder Herz sah aus, als würde er das Thema noch gerne weiter verfolgen, wagte es aber nicht, in Schwester Segens Angelegenheiten herumzuschnüffeln.
»Ja, dann will ich jetzt Frühstück machen. Ich habe das Feuer schon angezündet, es dauert nicht lange, um für uns beide ein paar Eier zu kochen.«
»Wieso nur für uns beide?«
{39}Das rundliche Gesicht von Bruder Herz wurde rot. »Es ist friedlicher ohne Schwester Zerknirschung: Sie kocht sonst. Aber die Frau ist morgens ein Teufel. Böse. Es gibt nichts Schlimmeres als eine böse Frau.«
Bis Quinn fertig angezogen und zum Eßraum hinübergegangen war, hatte Bruder Herz das Frühstück fertig auf dem Tisch stehen – gekochte Eier, Brot und Marmelade. Er fuhr mit der Unterhaltung fort, als seien sie nicht unterbrochen worden. »Zu meiner Zeit hatten die Damen nicht so scharfe Zungen, sie waren zurückhaltend und zerbrechlich und hatten kleine zarte Füße. Ist Ihnen aufgefallen, was für große Füße die Frauen hier haben?«
»Nicht besonders.«
»Leider ist es aber so. Sehr große, platte Füße.«
Trotz dieser Frisörladengeschwätzigkeit schien Bruder Herz nervös. Er rührte das Essen kaum an und sah dauernd über seine Schulter, als erwarte er, daß sich jemand heimlich hinter ihn schliche.
Quinn sagte: »Warum diese Eile, mich loszuwerden, bevor die anderen auf sind?«
»Nun, also – so würde ich es gerade nicht ausdrücken. Es hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun, Mr. Quinn. Man könnte es vielleicht als Vorsichtsmaßregel bezeichnen.«
»Worum handelt es sich denn?«
Bruder Herz zögerte einen Moment und biß sich auf die Lippe, als sei er versucht zu reden. »Wahrscheinlich kann ich es Ihnen ruhig erzählen. Es handelt sich um Schwester Zerknirschung ältestes Kind Karma. Als der Lastwagen das letztemal zur Stadt fuhr, hatte sich das Mädchen hinten unter einem Sack versteckt. Bruder Krone war schon halbwegs in San Felice, als er sie entdeckte; {40}das Sackleinen brachte sie zum Niesen. Karma ist eine Zeitlang zur Schule gegangen, und da hat man ihr schlechte Gedanken in den Kopf gesetzt. Sie will hier fort und in der Stadt Arbeit suchen.«
»Ist das nicht möglich?«
»Oh nein, nein. Das Kind wäre in der Stadt verloren. Hier ist sie wenigstens arm unter Armen.«
Die Sonne begann aufzugehen, und ein schwacher rosiger Schimmer flog über den Himmel. Von dem unsichtbaren Turm klang der Ton eines Gongs, und fast gleichzeitig eilte Schwester Segen herbei. »Der Wagen steht bereit, Mr. Quinn. Sie dürfen Bruder Dornenkrone nicht warten lassen. Geben Sie mir noch schnell Ihre Jacke, ich will sie ausbürsten.«
Quinn hatte sie bereits gebürstet, gab sie ihr aber trotzdem. Sie nahm sie mit nach draußen und schüttelte sie aus.
»Kommen Sie, Mr. Quinn. Bruder Krone hat einen langen Tag vor sich.«
Er zog seine Jacke wieder an und folgte ihr den Weg auf die Landstraße hinunter. Sie sagte weder etwas über das Geld noch über O’Gorman. Quinn hatte das unsichere Gefühl, als habe sie die Geschehnisse des vergangenen Abends vergessen und sei doch etwas verrückter, als er zunächst angenommen hatte.
Ein alter Lastwagen parkte mit eingeschalteten Lichtern und ratterndem Motor mitten auf der Straße. Am Steuer saß, einen Strohhut über dem geschorenen Kopf, ein Mann, jünger als die Brüder, die Quinn bisher gesehen hatte. Quinn schätzte sein Alter auf ungefähr vierzig. Bruder Dornenkrone erwiderte Schwester Segens Vorstellung mit einem Lächeln, das einen fehlenden Vorderzahn enthüllte.
{41}»Bruder Krone wird Sie in San Felice absetzen, wo Sie wollen, Mr. Quinn.«
»Vielen Dank«, sagte Quinn und stieg ein. »Aber was ist mit dem Geld und O’Gor …?«
Schwester Segens Gesicht blieb ausdruckslos. »Gute Reise. Fahr vorsichtig, Bruder Krone. Und vergiß nicht, wenn in der Stadt Versuchungen sind, dreh ihnen den Rücken. Wenn die Leute dich anstarren, senk den Blick. Wenn sie Bemerkungen machen, sei taub.«
»Amen, Schwester.«
»Und was Sie betrifft, Mr. Quinn, so kann ich Sie nur bitten, mit Diskretion vorzugehen.«
»Schwester, hören Sie – über das Geld –«
»Au revoir, Mr. Quinn.«
Der Lastwagen rollte die Straße hinunter. Quinn drehte sich nach Schwester Segen um, doch sie war bereits zwischen den Bäumen verschwunden. Er dachte: Vielleicht ist die ganze Sache nie passiert, und ich bin verrückter als der ganze Verein zusammen. Was allerhand bedeuten würde.
Er brüllte, um den Lärm des Motors zu übertönen: »Eine nette Frau, Schwester Segen.«
»Wie bitte, ich kann nichts verstehen.«
»Schwester Segen ist eine nette Frau, aber sie wird alt. Vergißt sie manchmal etwas?«
»Wenn sie’s nur täte.«
»Nicht irgendwelche Kleinigkeiten gelegentlich?«
»Nicht sie«, sagte Bruder Dornenkrone kopfschüttelnd mit widerstrebender Hochachtung. »Ein Gedächtnis wie ein Elefant. Wollen Sie bitte das Fenster herunterdrehen? Gottes Luft ist frisch.«
Außerdem war sie auch kalt, doch Quinn kurbelte das {42}Fenster herunter, schlug den Kragen hoch und steckte die Hände in die Taschen. Seine Finger berührten glatte, weiche Scheine.
Er drehte sich um in die Richtung des Turms und sagte leise: »Au revoir, Schwester, denke ich.«
Wegen der gewundenen Straße, des Alters sowie des Temperaments des Lastwagens brauchten sie mehr als zwei Stunden bis nach San Felice, einem schmalen Streifen Land zwischen den Bergen und dem Meer. Es war eine alte, reiche und konservative Stadt, die nichts mit dem übrigen Südkalifornien zu tun haben wollte. Die Straßen waren voller gepflegter älterer Damen und sonnengebräunter älterer Herren und athletischer junger Männer, die aussahen, als seien sie auf Tennisplätzen, Stränden und Golfplätzen geboren. Beim Anblick der Stadt machte er sich klar, daß sich Doris mit ihrem wasserstoffblonden Haar und ihrem auffallenden Make-up hier ziemlich fehl am Platze fühlen würde, und weil dies so war, würde sie es darauf anlegen, noch auffallender auszusehen, und müßte sich schließlich geschlagen geben. Nein, Doris würde nie hierherpassen. Sie war ein Nachtgeschöpf, und San Felice war eine Stadt für Leute, die am Tag lebten. Für sie war die Morgendämmerung der Beginn des Tages, nicht das Ende einer Nacht, und Schwester Segen und Bruder Krone in ihrem komischen Aufzug paßten besser hierher als Doris. Oder ich, dachte Quinn, und er fühlte, wie sich seine Pläne und guten Vorsätze in Luft auflösten. Ich gehöre nicht hierher. Ich bin zu alt für Tennis und Wasserski und zu jung für Dame und Canasta.
Seine Finger schlossen sich um das Geld in seiner Tasche. Hundertzwanzig Dollar plus die dreihundert, die {43}