Fear Street 5 - Das Skalpell - R.L. Stine - E-Book

Fear Street 5 - Das Skalpell E-Book

R.L. Stine

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Beschreibung

Im Shadyside Krankenhaus wird etwas vertuscht. Da ist sich Laurie ganz sicher. Warum hat der kleine Toby auf der Kinderstation so viel Angst? Und wieso wird er ganz überstürzt abgeholt? Außer Laurie scheint das offenbar niemand merkwürdig zu finden. Doch dann passiert etwas Schreckliches. Schlagartig wird Laurie klar, dass sie zu viel weiß ... Der Horror-Klassiker endlich auch als eBook! Mit dem Grauen in der Fear Street sorgt Bestsellerautor R. L. Stine für ordentlich Gänsehaut und bietet reichlich Grusel-Spaß für Leser ab 12 Jahren. Ab 2021 zeigt Neflix den Klassiker Fear Street als Horrorfilm-Reihe!

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Prolog

Panisch schlüpfte Laurie an dem gelb-schwarzen Warnschild mit der Aufschrift „LEBENSGEFAHR! KEIN ZUTRITT!“ vorbei und stieß die verbotene Tür auf.

Sie hätte eigentlich nicht hier drin sein dürfen. Sie wollte auch nicht hier sein. Aber wo hätte sie sich denn sonst verstecken können?

Das Licht war schummerig, die Schatten tief und Furcht einflößend in dem menschenleeren neuen Flügel des Krankenhauses. Die Arbeiter waren schon längst alle nach Hause gegangen und Laurie war allein, als sie in der Düsternis durch den Bauschutt taumelte.

Vielleicht hat er mich nicht gesehen.

Vielleicht verfolgt er mich nicht.

Vielleicht bin ich hier in Sicherheit!

Ihr langes honigblondes Haar, normalerweise sorgfältig gepflegt, flog in Strähnen um ihre Schultern. Ihr hübsches Gesicht, normalerweise ruhig und friedlich, war eine Maske des Grauens.

Verzweifelt lief sie tiefer in den neuen Krankenhaustrakt hinein. Die Baugeräte, die die Arbeiter zurückgelassen hatten, nahmen in der Finsternis bedrohliche Formen an. Kabel wanden sich auf dem Boden oder baumelten wie Schlangen von der Decke. Bizarre Drahtknäuel quollen aus Löchern in der Wand und streckten sich wie Hände nach ihr, um sie zu packen.

Plötzlich blitzte ein Licht auf, als die Tür von jemandem geöffnet wurde.

Jetzt sitz ich in der Falle!

Möglichst lautlos drückte sich Laurie an die Wand auf der anderen Seite des gewaltigen Raums. Ein Draht verfing sich in ihrem Kragen. Sie stieß ein leises Keuchen aus, als sie sich losriss.

Dann hörte sie die vertraute Stimme: „Laurie? Ich weiß, dass du hier drin bist. Du kannst dich nicht vor mir verstecken.“

Tränen des Entsetzens stiegen ihr in die Augen.

„Jetzt komm schon raus, Laurie“, drängte die Stimme. „Ich will nur mit dir sprechen. Willst du mir denn überhaupt keine Gelegenheit geben, dir alles zu erklären? Findest du das fair mir gegenüber?“

Im Zeitlupentempo kroch Laurie an der Wand weiter. Sie spürte, wie das Blut in ihrem Hals pochte. Sie konnte ihn zwar nicht sehen, aber sie konnte seine schreckliche Anwesenheit fühlen.

„Komm doch einfach raus“, wiederholte Rick. „Ich werde dir bestimmt nichts tun!“

Hatte er das auch zu ihr gesagt – kurz bevor er sie erstochen hatte?

Laurie zitterte am ganzen Körper.

Plötzlich, mit einem einzigen gewaltigen Satz war er hinter ihr. Seine Hände packten sie an den Schultern und rissen sie brutal zurück. Laurie versuchte zu schreien, aber er presste ihr mit einer Hand den Mund zu. Sie spürte seinen heißen Atem auf ihrer Wange.

Sie hatte nur noch einen einzigen Gedanken: Wo ist das Skalpell?

1

Eine Woche zuvor

„He, Laurie! Warte mal!“

Laurie Masters hatte schon fast die Hälfte des Korridors hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie eine riesige Wolke aus silbernen Luftballons auf sich zuschweben. Direkt unter ihr hüpfte ein vergnügtes, dunkelhaariges Mädchen, das sich an den Schnüren der Ballons festklammerte, als könne das Helium sie an die Decke schweben lassen. Skye Keely, Lauries beste Freundin, kam japsend herangerast.

„Wo gibt’s denn hier eine Party?“, fragte Laurie.

„Die sind für das Kind in Zimmer 901“, sagte Skye. „Der Junge hat mittlerweile schon so viele Spielsachen und Blumen da drin, dass für ihn kein Platz mehr bleibt. Was machst du eigentlich auf der Kinderstation?“

„Ich bin heute Morgen hierher versetzt worden“, sagte Laurie. „Ist ja mal was ganz anderes als auf der Orthopädischen! Man kann es einfach nicht fassen, wie einfallsreich die Leute sind, um neue Methoden zu finden, wie sie sich die Knochen brechen können.“

Skye verdrehte die Augen. Dann meinte sie trocken: „Erzähl mir alles.“

„Ach komm, hör mit dem Blödsinn auf“, lachte Laurie. „Ich muss die Röntgenaufnahmen noch im Schwesternzimmer abliefern.“

Einträchtig gingen die beiden Mädchen den glänzenden Korridor hinunter und Laurie gab ihre Röntgenaufnahmen ab. Sie trugen beide dieselben langweiligen graubraunen Kittel, die von allen Aushilfskräften und Freiwilligen im Shadyside-Krankenhaus getragen werden mussten. Aber bei Lauries gertenschlanker Figur sah sogar das nicht schlecht aus.

„Treffen wir uns nachher zum Mittagessen in der Cafeteria?“, fragte Skye.

„Klar. Vielleicht ist ja heute der Tag, an dem du endlich den netten jungen Medizinstudenten triffst, nach dem du dich schon immer gesehnt hast. Dann kannst du für den Rest des Sommers die Füße hochlegen und dich ganz deinem Privatleben widmen.“

„Komm wieder auf den Teppich! In diesem Fummel?“ Skye blieb stehen und zupfte angewidert mit einer Hand an ihrem Kittel. „Ich verstehe einfach nicht, wie du es schaffst, so angezogen auszusehen, obwohl du das trägst. Das ist nicht fair!“ Voller Neid und Verzweiflung schüttelte Skye ihre dunklen, lockigen Haare. „Na ja, egal, jetzt werde ich den Kram auch nicht mehr hinschmeißen. Das hier ist jedenfalls nicht der schlechteste Sommerjob, den ich bis jetzt gehabt habe. Ich habe sogar schon aufgehört, dich dafür zu hassen, dass du mich dazu überredet hast.“

Eine Krankenschwester mit gestärkter weißer Haube und Uniform eilte durch den Gang. Sie trug ein Tablett mit Arzneifläschchen vor sich her und funkelte Laurie und Skye finster an, als sie sich ihnen näherte. „Na los, Mädels. Wie wär’s mal mit arbeiten? Ihr könnt hier nicht einfach den ganzen Tag rumstehen und tratschen.“ Und schon war sie wieder weg, begleitet vom Rauschen ihrer Uniform und dem Quietschen der Gummisohlen.

„Oh-oh-oh!“, stöhnte Skye. „Das war Schwester Wilton. Edith Wilton. Geh ihr lieber aus dem Weg. Es geht das Gerücht, dass sie tatsächlich einmal gelächelt haben soll, aber das muss lange vor deiner oder meiner Geburt gewesen sein. Hier ist 901. Wir sehen uns dann beim Essen.“

Skye schubste die Zimmertür auf und scheuchte die Luftballons hinein. Laurie ging noch ein paar Schritte den Gang hinunter.

Der Lärm der Bauarbeiten wurde immer lauter, als sie sich dem neuen Flügel näherte, der schon bald Teil des Krankenhauses werden sollte. Vor der schweren Tür, die das neue Gebäude abtrennte und das Krachen und Hämmern zumindest ein wenig dämpfte, sah Laurie die leuchtenden Warnschilder: LEBENSGEFAHR! ZUTRITT VERBOTEN!

Und hinter dieser Tür wurde gerade für rund zehn Millionen Dollar der brandneue Franklin-Fear-Flügel gebaut, zehn Millionen Dollar, die Franklin vor Kurzem dem Shadyside-Krankenhaus gespendet hatte. Als waschechter Abkömmling der Fear-Familie teilte Franklin einen Charakterzug mit seinem Vorfahren Simon Fear – er hatte es ausgesprochen gerne, wenn Sachen nach ihm benannt wurden.

Der Fear-Flügel. „Nicht gerade der tollste Name für einen Krankenhaustrakt“, dachte Laurie und ein Schauder lief ihr über den Rücken.

Sie hielt kurz inne. Das Hämmern, Nieten und Sägen der Arbeiter war einfach ohrenbetäubend. Als dann aber der Lärm für einen kurzen Moment aussetzte, bemerkte sie ein anderes Geräusch: Ganz in der Nähe schluchzte ein Kind.

Sie sah sich um. Das leise Geräusch kam aus Zimmer 903 gleich gegenüber. Laurie ging zu der Tür und lauschte auf das schwache, herzerweichende, erschöpfte Weinen, das sich so anhörte, als würde es schon sehr lange dauern.

Sie klopfte vorsichtig an die Tür von Zimmer 903 und schlich auf Zehenspitzen hinein.

In dem hohen weißen Krankenhausbett lag ein kleiner Junge. Sein Gesicht hatte er von der Tür abgewandt. „Hallo“, sagte Laurie leise.

Das Kind drehte sich nicht zu ihr um. Es weinte einfach weiter, jetzt noch leiser und mit heiserer Stimme.

Laurie sah sich in dem Zimmer um. Es war praktisch leer. Hier gab es keine Blumen, keine Spielsachen und keine Postkarten zur baldigen Genesung. Hier gab es nichts, womit man ein krankes, verängstigtes Kind hätte aufheitern können.

„Hallo, ich möchte dich besuchen“, sagte Laurie.

Mit einem kurzen Japsen hörte das Weinen auf, aber der kleine Junge drehte sich noch immer nicht um. Er starrte aus dem Fenster, das der Tür gegenüberlag, und ignorierte Laurie.

Sie ging zum Fußende des Betts, um die Krankenkarte zu lesen, die dort hing. „Toby Deane … drei Jahre alt … Lungenentzündung.“ Seine Temperatur war schon seit einigen Tagen wieder normal, das hieß, dass er bald nach Hause konnte. Warum war er dann so unglücklich?

Laurie ging auf die andere Seite des Betts. „Hallo, Toby. Ich heiße Laurie. Ich arbeite hier.“ Sie sah hinunter auf das kleine, blasse Gesicht. Sein sandfarbenes Haar lag zerzaust auf dem Kissen und seine Nase war mit hellbraunen Sommersprossen gesprenkelt. „Ich bin hier eine freiwillige Helferin“, erzählte Laurie mit ruhiger Stimme weiter. „Ich mache alles, was so anfällt – zum Beispiel liefere ich Sachen ab und manchmal besuche ich auch Leute, die traurig sind oder sich einsam fühlen, weil sie nicht zu Hause sein können. Fühlst du dich auch so?“

Toby hatte einen kurzen Schluckauf und schniefte. Laurie zog ein Papiertuch aus der Schachtel auf dem Rolltisch neben dem Bett und tupfte damit Tobys feuchte Wangen ab. Er schniefte wieder und drehte sich weg. Laurie nahm seine kleine Hand in ihre.

„Ich mach dir keine Vorwürfe. Ich würde auch weinen, wenn ich hier drin eingesperrt wäre. Aber du bist doch fast schon wieder ganz gesund. Ich möchte wetten, dass du bald nach Hause kannst.“

Ein leises Schluchzen stieg aus der Kehle des Jungen auf. Er presste seine Augenlider fest zusammen.

„Du hast wohl keine Lust, dich zu unterhalten. Das ist schon in Ordnung. Dann bleib ich einfach so hier und leiste dir ein bisschen Gesellschaft.“ Laurie streichelte sanft seine Hand und versuchte, ihn zu beruhigen. „Soll ich dir vielleicht etwas vorlesen? Ich könnte ein Buch holen mit wirklich netten Geschichten. Hättest du das gerne?“

Abrupt wurde die Tür aufgerissen und Schwester Wilton marschierte herein.

„Was machst du denn hier drin?“, wollte sie wissen.

„Ich – ich habe mich nur ein bisschen mit Toby unterhalten. Ich wollte ihn aufmuntern“, antwortete Laurie.

„Verschwende deine Zeit nicht mit so was“, keifte Schwester Wilton barsch. „Mit dir wird er auch nicht sprechen. Er will mit niemandem sprechen. Du regst ihn nur auf. Und außerdem bist du mir hier im Weg. Würdest du jetzt bitte gehen?“

Laurie war sauer über den herrischen Ton der Schwester. Aber sie machte sich klar, dass die meisten Schwestern schrecklich überarbeitet waren und ziemlich schnell schlecht gelaunt sein konnten. Eine von Lauries Freundinnen an der Shadyside Highschool, Mayra Barnes, deren Mutter auch Krankenschwester war, erzählte ihr, dass sie immer erschöpft und zänkisch nach Hause kam.

Als Laurie das Zimmer verließ, warf sie noch einmal einen Blick auf Toby. Jetzt beobachtete er sie. Hinter der Deckung von Schwester Wiltons breitem Rücken starrten seine tränenerfüllten Augen zu ihr hinüber.

Laurie spürte einen plötzlichen Stich. Mit einem Mal war sie sich sicher, dass der Junge sie um irgendetwas anflehte.

2

„Welches Fleisch ist eigentlich blau?“, fragte Skye leicht angeekelt, als sie ihr Tablett gegenüber von Laurie auf den Tisch knallte.

„Das, was im heutigen Eintopf schwimmt“, antwortete Laurie. „Warum hast du dir nicht einfach den Salat geholt?“

„Zu gesund. Und das hier habe ich außerdem nicht richtig gesehen, bis ich damit ins Helle gekommen bin. Igitt!“ Skye ließ sich am Tisch nieder und starrte ihren Teller an. In der Cafeteria toste ein ohrenbetäubender Lärm. Ärzte und Techniker in weißen Laborkitteln schubsten einander herum und drängelten zu den Plätzen an den langen Tischen. Die Chirurgenteams in ihren lindgrünen Hauben und Overalls suchten als geschlossene Gruppen nach Sitzplätzen. Erschöpfte Verwandte von Patienten saßen in schweigender Isolation in einigen Ecken herum, während die hektische Parade der tablettbewaffneten Krankenhausangestellten um sie herumwirbelte.

„Könnte ich mir ein paar von den Ballons ausborgen, die du heute Morgen durch die Gegend getragen hast?“ Laurie musste fast brüllen, als sie sich über den Tisch lehnte und Skye die Sache mit Toby Deane erklärte. „Vielleicht würde er sich ja ein bisschen darüber freuen – aber nur, wenn es dem Kind von 901 nichts ausmacht.“

„Dem würde es nicht mal auffallen“, sagte Skye. „Mach einfach die Tür auf und dann fallen dir die Spielsachen auch schon entgegen. Ich werde dir heute Nachmittag ein paar von den Ballons holen.“

Ein Stethoskop baumelte knapp über Skyes Teller, als sich eine Schwester über ihre Schulter beugte und ein Päckchen Zucker aus der Mitte des Tischs fischte. Skye schob ihren Eintopf von sich weg und stibitzte eine Tomatenscheibe von Lauries Salatteller. „Wie viele Lose für die Tombola hast du bis jetzt gekauft?“, fragte sie, während sie kaute und schon nach der nächsten Scheibe griff.

„Nur eins“, antwortete Laurie und schob energisch ihren Teller weg. „Aber ich kann dir welche verkaufen, wenn du mehr willst.“

„Ich hab schon das todsichere Gewinnlos. Und sobald ich gewonnen habe, kaufe ich mir ein nagelneues rotes Kleid, das zu dem Wagen passt!“

Hunderte der Einwohner von Shadyside rissen sich um den roten Mercedes-Benz-Sportwagen, der in der Eingangshalle des Krankenhauses ausgestellt wurde. Er war der Hauptpreis in einer Lotterie, mit der man weiteres Geld für den Franklin-Fear-Flügel auftreiben wollte. Laurie hatte bereits vier Blocks mit Losen an Nachbarn und Leute aus der Stadt verkauft, die ihr einfach nicht widerstehen konnten, obwohl sie die Taschen schon voller Lose hatten.

„Aber deinen alten Toyota solltest du vielleicht erst verschrotten, wenn du die Schlüssel des Mercedes in der Hand hast“, warnte Laurie. „Was machst du eigentlich nächsten Samstag? Hast du schon eine Verabredung?“

„Sogar zwei. Jim Farrow und Eric Porter.“

„Nicht schon wieder!“, protestierte Laurie. „Das ist ziemlich mies.“ Sie war gar nicht einverstanden mit Skyes Angewohnheit, zwei Verabredungen für denselben Abend einzugehen und sich dann zu entscheiden, welche sie platzen lassen würde.

„Ich weiß.“ Skye zuckte mit den Achseln. „Ich würde die beiden ja gerne für Andy Price eintauschen, wann immer du die Nase voll von ihm hast.“

Laurie seufzte. „Na ja, wie wär’s dann jetzt gleich? Samstagabend werden wir uns sehen. Wenn ich bloß wüsste, wie ich mit ihm Schluss machen könnte.“

Skye schlürfte ihre Coke und nickte. „Jaaah, ich verstehe wirklich, weshalb du ihn abservieren möchtest. Er sieht einfach zu gut aus und ist einfach zu nett und sein Vater ist ja auch nur Dr.Raymond Price, mal eben bloß der prominenteste Mann in ganz Shadyside.“

„Dr.Price ist sein Stiefvater“, erinnerte Laurie sie.

„Jetzt halt mal die Luft an!“, sagte Skye. „Er ist außerdem der Verwaltungschef von diesem Krankenhaus und da wäre es vielleicht besser, wenn du Andy nicht aus dem Boot schmeißt, solange du hier arbeitest. Was ist denn an Andy so schlimm?“

„Er hat überhaupt kein Ziel, er hängt bloß den ganzen Tag rum“, schnaufte Laurie, während sie ihren Salat mit der Gabel aufspießte.

„Nicht jeder möchte unbedingt Arzt werden wie du.“ Skye bewunderte Laurie wirklich, aber manchmal fand sie doch, dass Laurie ein bisschen lockerer an die Sachen herangehen sollte.

„Ich glaube nicht, dass Andy irgendetwas ernst nimmt“, meinte Laurie, während sie nachdenklich an einem Salatblatt nagte.

„Dich nimmt er aber ernst“, bemerkte Skye.

„Das macht es ja so problematisch. Er ist, na ja, anhänglich. Ich kann es überhaupt nicht ausstehen, dass er dauernd versucht, mich festzubinden. Ich habe viele Interessen und manchmal möchte ich auch ein bisschen Zeit mit anderen Jungs verbringen.“

Der Krankenpfleger in dem weißen Kittel, der neben Skye gesessen hatte, nahm sein dreckiges Geschirr und stand auf. Skye streckte die Hand nach einer weiteren Tomatenscheibe aus, hielt aber mitten in der Bewegung inne und richtete sich auf ihrem Stuhl kerzengerade auf. „Oh, wow! Da wir gerade von anderen Jungs sprechen – schau doch mal, wer da reinkommt.“

„Wer?“ Laurie hatte nicht die Absicht, sich umzudrehen und hinzuglotzen.

„Tom Cruise, ob du’s glaubst oder nicht“, flüsterte Skye ekstatisch. „Ist doch nicht möglich! Das kann er doch nicht sein!“

Jetzt musste auch Laurie hinschauen. „Ganz recht, in beiden Fällen. Es ist nicht möglich und er ist es auch nicht. Tom Cruise ist älter und außerdem hat er keine roten Haare.“

„Das ist kein Rot.“

„Na ja, rötlich. Skye, jetzt hör auf, ihn anzustarren!“, rief Laurie. „Er ist vielleicht nicht so alt wie Tom Cruise, aber für dich ist er trotzdem zu alt. Ich wette, er geht schon aufs College. Für uns würde er sich sowieso nicht interessieren.“

„Er kommt hierher!“, stieß Skye atemlos hervor.

„Ist der Platz noch frei?“, fragte eine dunkle, angenehme Stimme.

Skye lächelte. Sogar aus der Nähe sah der Bursche genauso gut aus wie der Schauspieler, vielleicht sogar noch ein bisschen besser. Er war groß, hatte dunkelblaue Augen und sein eng anliegendes T-Shirt zeigte, dass er vermutlich ein Sportler war oder jemand, der regelmäßig Gewichte stemmte. Das T-Shirt war witzig – es war weiß und in großen schwarzen Buchstaben stand SACKGASSE darauf. Über einer seiner Schultern lag lässig der verräterische graubraune Kittel, der auch ihn als freiwilligen Helfer auswies.

„Bitte Platz zu nehmen“, sagte Skye und rutschte ein Stückchen zur Seite. „Den haben wir extra für denjenigen Aushilfssklaven reserviert, der uns bei der gewaltfreien Übernahme des Krankenhauses unterstützen will.“

„Du kannst auf mich zählen“, sagte er lachend, als er seinen Hamburger und eine Tasse Kaffee abstellte. Eigentlich redete er mit Skye, aber sein Blick wanderte hinüber zu Laurie. Nachdem er sich gesetzt hatte, lehnte er sich über den Tisch, um näher an sie heranzukommen. „Mein Name ist Rick Spencer, der Drei-Tages-Veteran von der Chirurgischen.“

„Ich bin Laurie Masters, diese Woche auf der Kinderstation.“ Sie blinzelte mit ihren blauen Augen und merkte plötzlich, dass ihr irgendwie sehr warm war. Die Quelle der Hitze war ganz eindeutig Rick Spencer und sein Lächeln.

„Da bin ich auch“, machte sich Skye bemerkbar. „Neunter Stock. Kinder und Baugeräte. Ich heiße Skye Keely. Heh, dein T-Shirt gefällt mir wirklich!“

Rick wandte sich zu ihr. „Tatsächlich? Ich besitze die weltgrößte Sammlung von T-Shirts. Das ist allerdings auch schon das Einzige, womit ich Anspruch auf Ruhm anmelden könnte.“ Er nahm einen Bissen von seinem Burger und wandte sich wieder Laurie zu. „Wie gefällt es dir hier?“

„Es ist toll!“, sagte Laurie, wobei sie aber eher Ricks Interesse meinte. „Das habe ich schon mein ganzes Leben lang machen wollen, in einem Krankenhaus arbeiten, meine ich. Meine Tante hat mich zwar davor gewarnt, weil sie glaubt, mir würde langweilig, aber ich liebe jede Minute, die ich hier bin!“

„Laurie will mal Ärztin werden“, kommentierte Skye. „Falls wir jemals unseren Abschluss an der Shadyside High hinkriegen.“

„Ehrlich, kein Scherz?“, sagte Rick, dessen Augen auf Laurie klebten, während er an seinem Kaffee nippte. „Ich bin jetzt mein zweites Jahr am Southbank College und ich denke gerade darüber nach, ob ich danach vielleicht Medizin studieren sollte.“

„Und ich geh zum Zirkus und mach die Hochseilnummer“, murmelte Skye zu sich selbst. Völlig ignoriert zu werden war nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung.

„Ich habe mir gedacht, dass ich besser erst mal einige Erfahrungen im Krankenhaus sammeln sollte, bevor ich mich auf so schwerwiegende Entscheidungen einlasse“, sagte Rick zu Laurie. „Wieso denkt deine Tante, du könntest dich langweilen? Ist sie hier Ärztin?“

„Nein“, antwortete Laurie. „Sie ist Finanzberaterin. Ich bin bei ihr aufgewachsen, nach dem Tod meiner Eltern, und sie macht sich andauernd Sorgen um mich.“

Über den Lärm der überfüllten Cafeteria plärrte plötzlich ein dringender Notruf aus einem Lautsprecher: „Alarmstufe eins, Zimmer 903, Notfall.“ Mehrere Ärzte sprangen hastig auf und rannten aus der Cafeteria.

„Oh-oh“, sagte Skye. „Alarmstufe eins. Sie haben gerade einen Alarm durchgegeben.“

„Häh?“, machte Rick.

Skye verdrehte die Augen.

Laurie erklärte es ihm. „Das machen sie, wenn ein Patient einen Herzstillstand hat, also wenn das Herz nicht mehr schlägt, oder bei irgendeinem anderen schrecklichen Notfall. Es gibt spezielle Ärzteteams, die dafür verantwortlich sind. Die können einem das Leben retten, wenn sie schnell genug bei einem sind. Ein paar von denen hast du gerade rausrennen sehen.“

„Ich glaube, ich muss noch eine ganze Menge lernen. Ich habe nichts gehört und nichts gesehen.“ Ricks Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass er nichts außer Laurie gehört oder gesehen hatte.

Die Lautsprecheransage wurde wiederholt: „Alarmstufe eins, Zimmer 903, Notfall.“

„Da gewöhnst du dich noch dran …“, sagte Laurie zu ihm.

Mitten im Satz fiel es ihr ein. Vor Entsetzen blieb ihr der Mund offen stehen. Zimmer 903 war das Zimmer des kleinen Toby Deane. Das Notfall-Team war wegen ihm verständigt worden! Sie stieß ihren Stuhl zurück und rannte aus der Cafeteria.

3

„Wo brennt’s denn?“ Schwester Jenny Girard sah von ihren Papieren hoch, als Laurie im neunten Stock am Schwesternzimmer vorbeizischte. Laurie blieb nicht stehen, um ihr zu antworten. Sie flog förmlich den Gang entlang und fragte sich nur, warum angesichts des akuten Notfalls alles so friedlich war.

Die Tür von Zimmer 903 war geschlossen, aber aus dem Inneren konnte sie Tobys entsetzte Schreie hören. Sie stieß die Tür auf und blieb verdattert stehen. Schwester Wilton stand über Tobys Bett gebeugt da. Das Kind schlug wild um sich und schrie, als es versuchte, die Schwester von sich wegzutreten.