Finding Kyle - Sawyer Bennett - E-Book

Finding Kyle E-Book

Sawyer Bennett

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Beschreibung

Wenn du dein Leben als Verbrecher gelebt hast ... Wenn du unaussprechliche Dinge getan hast ... Wenn deine Seele dunkel und befleckt ist ... Der Weg zur Erlösung beginnt dort, wo du es am wenigsten erwartest. Nachdem Kyle Sommerville als Undercoveragent in einem kriminellen Motorradclub ermittelt hat, musste er untertauchen. Kyle versteckt sich jetzt als Leuchtturmwärter in einer kleinen Stadt in Maine und will von niemandem gefunden werden. Schon gar nicht von seiner schrulligen, freigeistigen Nachbarin. Doch Jane Cressons unbezwingbarer Wille und ihre unstillbare Neugier auf ihren zurückgezogen lebenden, sexy Nachbarn machen es Kyle unmöglich, in seiner dunklen Welt zu bleiben. Nach und nach überwindet Jane seine Mauern. Tag für Tag bringt sie ihn dazu, ein wenig mehr zu lächeln. Nacht für Nacht entdecken sie beide eine Leidenschaft, von der sie nicht ahnten, dass sie in ihnen steckt. Kann Janes Liebe zu diesem gebrochenen Mann ihm endlich den Weg zur Erlösung weisen, oder wird Kyles Dunkelheit jede Hoffnung, die Jane in ihn gesetzt hat, endgültig auslöschen? Ein Spinoff-Roman der Erfolgsreihe "The Wicked Horse" von New York Times-Bestsellerautorin Sawyer Bennett.

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Sawyer Bennett

The Wicked Horse Teil 6: Finding Kyle

Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von J.M. Meyer

© 2017 by Sawyer Bennett unter dem Originaltitel „Finding Kyle“

© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg

(www.art-for-your-book.de)

ISBN Print: 978-3-86495-628-7

ISBN eBook: 978-3-86495-629-4

Alle Rechte vorbehalten. Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Darsteller, Orte und Handlung entspringen entweder der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv eingesetzt. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Vorkommnissen, Schauplätzen oder Personen, lebend oder verstorben, ist rein zufällig. 

Dieses Buch darf ohne die ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin weder in seiner Gesamtheit noch in Auszügen auf keinerlei Art mithilfe elektronischer oder mechanischer Mittel vervielfältigt oder weitergegeben werden. Ausgenommen hiervon sind kurze Zitate in Buchrezensionen.

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Autorin

Prolog

Kyle

Ich lasse mich mit dem Hintern auf das Sofakissen fallen. Kaum dass ich den Deckel von meiner Bierflasche entfernt habe, klopft es an der Tür. Seufzend stehe ich wieder auf, stelle meine Flasche auf der schwarz lackierten Tischplatte ab und marschiere durch meine spärlich eingerichtete Wohnung. Alles ist in Weiß-, Grau- und Schwarztönen gehalten, mit viel Leder, Chrom und Glas. Für meinen Geschmack eigentlich viel zu modern, aber was weiß ich denn schon? Ich habe die letzten drei Jahre ausschließlich in Dreckslöchern gehaust.

Nach einem schnellen Blick durch den Türspion, entriegele ich die Tür und öffne sie. Joseph Kizner steht mir mit einem besorgten Gesichtsausdruck gegenüber.

Immer, wenn wir aufeinandertreffen, scheint er verdammt besorgt zu sein, und das geht mir gewaltig auf die Nerven.

„Mir geht es gut“, sage ich, bevor er sich nach meinem Befinden erkundigen kann, und trete zur Seite, um ihn hereinzulassen.

„Du siehst aber beschissen aus“, erwidert er unbeeindruckt und zuckt unter seinem schweren Wollmantel mit den Schultern. Der Winter in Chicago ist verdammt hart, aber ich kriege es ja kaum mit, denn ich darf meine Wohnung ja nicht verlassen. Die Wände kesseln mich ein, und alles, was ich tun kann, ist, das irgendwie auszuhalten.

Ich ignoriere seinen Kommentar wegen meines Aussehens. Stattdessen gehe ich lieber an den Kühlschrank und hole ihm auch ein Bier. Er folgt mir in den modernen Küchenbereich, der ganz in Edelstahl und Granit gehalten ist, und nimmt mir die Flasche ab. Er dreht den Verschluss ab und legt ihn auf den Tresen.

Während Kizner einen Schluck nimmt, übe ich mich in Geduld. Nachdem er einen Schluck genommen hat, kommt er direkt zur Sache. „Die Abhörmaßnahmen sind genehmigt worden und werden in diesem Moment installiert.“

Ich nicke. Das bedeutet, dass es nun ernst wird.

„Wir werden dich jetzt verlegen“, sagt er und beobachtet aufmerksam meine Reaktion.

Ich kenne Joe Kizner schon sehr lange. Im Laufe der Jahre hat er ein paar Haare auf dem Kopf verloren und es haben sich Falten um seine Augen herum gebildet, aber ansonsten hat er sich nicht großartig verändert. Wir haben damals zusammen an einem sehr gefährlichen und hochkarätigen Fall gearbeitet, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass wir viel Zeit miteinander verbracht haben. Das liegt mitunter daran, dass ich undercover bei einem finsteren Motorradclub namens Mayhem´s Mission eingeschleust wurde. Der Club wurde verdächtigt, mit Drogen, Waffen und Sexsklaven zu handeln. Joe war mein Kontaktmann.

Die Mission startete vor etwas mehr als fünf Jahren. Wir erhielten mehrere Hinweise und Informationen, die uns die Entscheidung treffen ließen, den Fall anzugehen. Ich meldete mich freiwillig und zog nach Jackson, Wyoming, wo ich in das Leben eines Motorradmechanikers in einer örtlichen Werkstatt schlüpfte. Im Laufe der nächsten Monate lernte ich einige Clubmitglieder kennen, die mir ihre Bikes brachten. Schließlich wurde ich zu einigen Partys im Clubhaus eingeladen. Ich nahm an einigen Wohltätigkeitsausfahrten teil, die nichts weiter als Tarnung waren, um den Club seriös wirken zu lassen. Ich fickte mit Clubhuren und schnupfte Koks mit meinen neuen Kumpels. Ich war nicht mehr ich selbst und wurde genau wie sie.

Im Laufe der Zeit habe ich viele Dinge gesehen.

Ich habe mitbekommen, wie illegaler Scheiß im Clubhaus abgezogen wurde, doch ich habe meine Klappe gehalten. All dies lief unter den wachsamen Augen ihres Präsidenten, Zeke, ab. Bis er nach fast zwei Jahren auf mich zukam, um mich in den Club aufzunehmen.

Bevor mir die Mitgliedschaft angeboten wurde, wurde ich natürlich getestet.

Ein Test, der mich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens verfolgen wird. Es ging darum, dass ich einem von Zekes Feinden eine sehr ausdrückliche Botschaft übermitteln sollte. Besagter Feind war ein mieser und krimineller Scheißkerl, der gerade aus dem Knast entlassen worden war, wo er einsaß, weil er ein sechszehnjähriges Mädchen vergewaltigt hatte. Ich sehe immer noch meine blutüberströmten Hände vor mir, weil ich zu seinem Richter und Henker wurde, nur um Zekes Test zu bestehen.

So wurde ich ebenfalls zu einem waschechten Kriminellen.

Drei Jahre danach, hing ich im Club ab. Ich vermittelte Drogengeschäfte, half bei den Transporten der Frauen, die als Sklavinnen verkauft wurden, und verletzte unzählige Menschen, die es laut Ansicht des Clubs verdient hatten. Ich nahm mit meinen neuen Brüdern an Gang Bangs teil und verschwendete nicht einen Gedanken an Recht und Gesetz, die ich ehemals zu schützen geschworen hatte.

Doch all das tat ich mit der Genehmigung der US-Regierung. Als Undercover-Agent gewährte man mir absolute Narrenfreiheit, um meine Position innerhalb der Organisation zu festigen, um als vertrauenswürdiges Mitglied zu gelten. Es war sozusagen eine Frag nicht, sag nichts-Politik, und Joe wird nie das ganze Ausmaß der abscheulichen Dinge erfahren, die ich tat, um meine Rolle glaubwürdig zu verkörpern.

Anschließend ging es für mich darum, Beweise und Informationen zu sammeln und diese so detailliert wie möglich an Joe zu übermitteln. In den drei Jahren, in denen ich im Knast saß, haben wir uns kaum gesehen, weil es einfach zu gefährlich war. Ich habe einfach meinen Job gemacht, und ich war sehr gut darin. Ich sammelte ausreichend Beweise, sodass es der Behörde vor wenigen Monaten gelang, Mayhem´s Mission, die im gesamten Westen der Vereinigten Staaten ihr Unwesen trieben, zu Fall zu bringen.

Das war eine der bemerkenswertesten Verhaftungen in der Geschichte meiner Behörde, denn nie zuvor war es einem Agenten gelungen, so tief in die Organisation vorzudringen oder so lange dort zu bleiben. Die wahre Krönung, die mir eine saftige Beförderung, eine fette Gehaltserhöhung und wahrscheinlich eine Medaille des Präsidenten oder so einen Scheiß einbringen wird, ist, dass ich in Erfahrung bringen konnte, dass ein sehr hochrangiger US-Senator aus Colorado tief in die Geschäfte des Clubs verstrickt gewesen ist. Besagter Senator hatte die Polizisten auf Staatsebene in der Tasche. Diese waren in der Lage, die Fäden bis runter zur örtlichen Polizei zu ziehen, sodass die meisten kriminellen Aktivitäten nicht bemerkt wurden. Der Club scheffelte Millionen von Dollar mit seinen Geschäften, und ein Teil dieser Kohle floss zum Senator zurück, um ihn zu schmieren.

Während ich dazu in der Lage war, zahlreiche Beweise gegen den Club und Zeke vorzubringen, war ich jedoch nie direkt in die Aktivitäten zwischen dem Club und dem Senator involviert gewesen. Die Behörde ist nun dabei, Abhörmaßnahmen einzuleiten, denn Zeke leitete zwar das größte Chapter, die größte Ortsgruppe, von Mayhem´s Mission in den Vereinigten Staaten, doch es ist nicht das Einzige. Also gibt es immer noch eine Menge Scheiße zu regeln.

Das bringt mich zu Kizners Besuch in meiner Wohnung zurück, in der ich mich nun schon seit fast drei Monaten verstecke.

„Ihr wollt mich wegbringen?“, frage ich ihn.

„Wir mussten dich als Zeugen angeben, als wir die Abhörmaßnahmen beantragt haben“, erwidert er. „Du bist jetzt offiziell eine Zielperson.“

„Ich gehe nicht ins Zeugenschutzprogramm“, sage ich mit fester Stimme. Auf gar keinen Fall werde ich den U.S. Marshals samt ihrem dämlichen Zeugenschutzprogramm die Kontrolle überlassen.

„Du bist ein dämliches Arschloch“, murmelt er.

Als die Behörde den Club im Oktober hochnahm, war ich verdammt tief in dessen Aktivitäten verstrickt. Sie waren in der Lage, das Gelände zu umstellen und Verhaftungen vorzunehmen, ohne dass ein Mitglied des Clubs auch nur ahnte, dass ich die Ratte bin. Als sie mit ihren Blendgranaten und der SWAT-Ausrüstung stürmten, rannte ich los, denn genau das war der Plan. Ich eilte durch die Hintertür, zusammen mit zwei weiteren Clubmitgliedern, und wir flohen in den Wald. Dort trennten wir uns und hauten in verschiedene Richtungen ab.

Ich versteckte mich so lange, bis man mich in geheimer Mission wegbrachte. Nur drei Personen der Behörde kannten meinen Aufenthaltsort. Im offiziellen Bericht stand verzeichnet, dass mir von Zekes rechter Hand, einem Mitglied des Clubs, bei der Razzia eine Kugel zwischen die Augen gepustet wurde.

Am zwölften Oktober wurde ich offiziell für tot erklärt und in ein Versteck in Chicago gebracht. Hier sollte ich so lange bleiben, bis die Ermittlungen gegen den Senator und die ebenfalls bestechlichen Polizeibeamten abgeschlossen sind.

„Das Zeugenschutzprogramm ist die sicherste Option, Kyle“, meint Joe.

„Das ist doch bloß eine Verschwendung von Ressourcen“, halte ich dagegen. „Ich kann auf mich selbst aufpassen.“

„Du hättest aber zusätzlichen Schutz, bis die Sache vor Gericht verhandelt wird.“

„Du meinst wohl, dass man mir Babysitter zur Seite stellt, die mich in meiner Freiheit einschränken“, sage ich mit bösem Blick. Seit fast drei Monaten bin ich nun schon in dieser winzigen Wohnung eingesperrt, und so langsam drehe ich durch. Ich will nicht länger in einer solchen Situation verharren.

„Doch nur, damit du bis zur Verhandlung am Leben bleibst“, drängt er. „Wir brauchen dich für den Prozess. Jede einzelne verdammte Verhaftung hängt von deiner Aussage ab.“

„Ach, so ist das, Joe“, entgegne ich sarkastisch. „Ich bin so froh, dass du dir Sorgen um mich persönlich und nicht nur als einen wertvollen Aktivposten machst.“

Joe reibt sich seufzend mit der Hand über seinen kahlen Kopf. „Darauf gehe ich gar nicht erst ein. Du weißt, dass ich mir um dich Sorgen mache.“

Ich seufze ebenfalls und fahre mir mit den Fingern durch mein langes, blondes Haar. In den letzten Jahren sind sie etwas ergraut, wegen all dem Scheiß, den ich gesehen und getan habe. „Ich weiß, und das weiß ich auch sehr zu schätzen. Wenn du mir eine neue Identität besorgst und mich an einen abgelegenen Ort bringst, komme ich allein zurecht. Ich kann bis zur Verhandlung für meine Sicherheit sorgen.“

„Dazu gehört viel mehr als nur …“

„Ich weiß“, falle ich ihm ins Wort. „Richte ein Bankkonto unter meinem neuen Namen ein und überweise mir mein Geld darauf, denn Gott weiß, dass ich in den letzten drei Jahren, verdammt viel Kohle angespart habe. Besorg mir einen Job oder so, damit ich beschäftigt bleibe.“

Joe starrt mich einen Moment lang an. „Du weißt, dass wenn du nicht ins Zeugenschutzprogramm gehst, du auf dich allein gestellt bist, oder? Und du weißt ebenso, dass er Leute schicken wird, die dich erledigen sollen.“

Mit er ist der Senator gemeint. Ich nicke, denn ja, mir ist bewusst, dass das durchaus möglich ist.

„Dann bring mich irgendwo hin, wo er mich nicht aufspüren kann, und verwisch meine Spuren“, sage ich schlicht. Die Regierung versteckt schon seit Jahren Zeugen, und ist verdammt gut darin.

Joe nimmt einen kräftigen Schluck von seinem Bier, bevor er die halbvolle Flasche auf dem Tresen abstellt. „Einverstanden. Es wird aber ein paar Tage dauern, bis alles vorbereitet ist. Ich melde mich bei dir. Bis dahin …“

„Bleibe ich brav in der Wohnung“, beende ich seinen Satz.

Kapitel 1

Kyle

Sie hat genug.

Sie hockt auf dem kalten Betonboden, so weit vornübergebeugt, wie sie nur kann, da ihre Arme hinter dem Pfosten gefesselt und ihre Beine vor ihr ausgestreckt sind. Ihr Kopf hängt tief, was ihren Hals bis zum Äußersten streckt, und ihr verfilztes und blutverkrustetes Haar verdeckt ihr Gesicht, sodass ich das Elend in ihren Augen nicht sehen muss. Ja … sie hat definitiv genug.

Kayla schüttet einen Eimer mit eiskaltem Wasser über die Frau, doch sie zuckt nicht einmal mit der Wimper.

Kayla gibt sich mit dieser ausbleibenden Reaktion nicht zufrieden. Sie zieht ihren Fuß zurück und tritt der Frau gegen den Oberschenkel.

Wieder keine Reaktion.

Ich beuge mich vor, greife in ihr zerzaustes Haar und reiße ihren Kopf hoch. Sie ist völlig am Ende, ihre Augen sind geschlossen und der Mund ist leicht geöffnet. Doch sie scheint in diesem Moment nichts zu spüren. Ich lasse meinen Blick zu Kayla schweifen, die mich erwartungsvoll anschaut.

„Sie hat genug für heute“, lasse ich sie wissen.

„Vielleicht weckt ein weiterer Eimer mit Eiswasser sie auf?“, schlägt sie vor.

Ich schüttele den Kopf und löse meinen Griff. Ihr Kopf fällt zurück. Ich ignoriere das saure Gurgeln in meinem Bauch. „Nein, lass es uns morgen wieder versuchen. Vielleicht lockert es ihre Zunge, wenn ich wieder das Messer benutze.“

Kayla lacht vergnügt wegen meines Vorschlags, und ihre Augen verdunkeln sich vor bösem Verlangen. Dem Verlangen, die kranke Folter fortzusetzen, oder aber Verlangen nach mir. Das kann ich nicht so genau sagen. Während sie mich ansieht, leckt sie sich über die Lippen, und ich muss das Schaudern unterdrücken, das mich zu überkommen droht.

Ich nicke ihr zu, um ihr zu bestätigen, wie viel Freude es mir macht, diese Frau zu quälen.

Kayla zwinkert mir verschmitzt zu. „Dann eben morgen wieder. Ich werde mit den Messern starten.“

Ich reiße die Augen auf, aber ich sehe überhaupt nichts. Das Zimmer scheint im ersten Moment stockdunkel zu sein, doch dann erhellt der sanfte Schein des Mondlichts meine Umgebung. Ich wische mir mit den Händen über das Gesicht, dann schlage ich die Decke zurück und rolle mich aus dem Bett. Der Fußboden ist arschkalt, weil ich mir gestern nicht mehr die Mühe gemacht habe, die Heizung einzuschalten. Obwohl es Mai und der Frühling bereits in vollem Gang ist, wird es nachts immer noch recht kühl. Mein Puls ist aufgrund des Albtraums leicht erhöht, meine Haut fühlt sich an, als hätte eine Ameisenarmee sie besiedelt.

Ich träume nicht oft von Maggie, aber wenn ich es tue, dann immer ein und denselben Traum. Ich bin mir nicht sicher, warum mich dieser Traum heimsucht, denn obwohl es schrecklich war, was wir ihr angetan haben, ist es noch lange nicht das Schlimmste, was ich fertiggebracht habe. Ich habe gegen alle Vorschriften eines Undercover-Agenten verstoßen, als ich Maggie aus dem Keller befreit habe, in dem Kayla sie gefangen hielt. Ich tat es im Schutz der Dunkelheit, während alle schliefen. Ich tat es in dem Wissen, dass ich mit der Aktion drei Jahre Undercover-Arbeit zunichtemachen könnte, nur um das Leben einer Frau zu retten.

Im Nachhinein betrachtet, ist alles gut gegangen, jedoch war es eine dumme Entscheidung. Wahrscheinlich träume ich immer wieder von ihr, weil ich die Sache nur schwer verdauen kann.

Ich verlasse den kleinen Raum und gehe ins Badezimmer, das nur eine Tür weiter ist, schalte das Licht ein und blinzele kurz gegen die Helligkeit an. Ich beuge mich über das Waschbecken, drehe kaltes Wasser auf und lasse es ein paar Sekunden laufen, ehe ich meine Hände unter den Strahl halte. Es ist eisig und stechend und genau das, was ich brauche. Ich schütte mir dreimal mit der Hand Wasser ins Gesicht und reibe mir kräftig die Augen, bevor ich mich wieder aufrichte und mich in dem schmuddeligen Spiegel über dem Waschbecken betrachte.

Tote, kalte Augen starren mich an. Ein sehr helles Blau … nahezu farblos. Meine Augen haben noch nie viel Wärme ausgestrahlt, aber wenn mich die Erinnerungen heimsuchen, scheinen sie fast immer vor Kälte zu schimmern, die zu dem eiskalten Gefühl in meinen Adern passt.

Der Mann, der mir im Spiegel entgegen starrt, heißt Kyle Sommerville.

Nun, so hieß er bis zum letzten Oktober, denn dann wurde er erschossen. Hingerichtet mit einem Schuss in den Hinterkopf. So lautet die offizielle Geschichte, die meiner einzig lebenden Verwandten, meiner Schwester Andrea, erzählt wurde. Ihr wurde gesagt, ihr Bruder sei ein Undercover-Agent, ein Held, und dass er sein Leben geopfert habe, um Mayhem´s Mission zu Fall zu bringen. Am Tag, nachdem ich gestorben bin, wurde ich zu jemand anderem. Ich behielt meinen Vornamen, weil man mir sagte, das würde den Übergang fließender gestalten, aber ich hatte kein Mitspracherecht bei meinem neuen Nachnamen.

Und ehrlich gesagt, das war mir auch völlig egal.

Es ist nur ein Name. Also wurde ich Kyle Harding.

Der neue Kyle, der mich in diesem Moment anschaut, sieht nicht mehr wie der alte Kyle aus. Ich habe in den letzten sieben Monaten bewusst etwas mehr als dreizehn Kilo abgenommen. Der Gewichtsverlust und das Abschneiden meiner langen, blonden Haare und des Barts, haben einen neuen Mann aus mir gemacht. Viele Menschen, die sich verstecken müssen, färben sich die Haare. Ich habe meine jedoch nur abrasiert, sodass nur noch kurz Stoppeln übrig sind, die aufgrund meiner blassen Haut dunkel wirken. Würde man ein aktuelles Foto von mir mit dem des alten Kyle vergleichen, würde niemand die Ähnlichkeit erkennen. Ich bin praktisch unsichtbar geworden, ohne mich zu verstecken.

Mein Blick wandert über mein Kinn zu meinem Hals. Tattoos sind über dem Kragen des weißen T-Shirts zu sehen, mit dem ich ins Bett gegangen bin. Tätowierungen … die mich als Kyle Sommerville entlarven. Also halte ich sie so gut es geht verborgen. Ich bin im Februar von Chicago nach Maine umgezogen. Da die ersten Monate bitterkalt waren, ist es kein Problem gewesen, meine Tattoos abzudecken. Aber jetzt haben wir Mai. Das Wetter fängt an, wärmer zu werden, weshalb sie teilweise wieder sichtbar sind.

Na ja, was soll’s.

Ich bezweifele stark, dass jemand von Mayhem´s Mission oder, noch schlimmer, ein gewisser Senator, der seine Inhaftierung wahrscheinlich alles andere als gut aufgenommen hat, hier in Misty Habor, Maine, nach mir suchen wird. Wir sind so stark von dem üblichen Unterbringungsmuster abgewichen, wie nur möglich, und ich vertraue darauf, dass das Büro des U.S. Marshals in Zusammenarbeit mit meiner Behörde alle Eventualitäten bedacht hat, um mir eine neue Identität zu schaffen.

Ich würde nichts lieber tun, als wieder ins Bett zu gehen und wieder einzuschlafen, aber ich habe diesen Albtraum schon zu oft gehabt, weshalb ich weiß, dass das nicht passieren wird. Seufzend drehe ich den Wasserhahn zu, trockne mir mit einem Handtuch das Gesicht ab und beschließe, mir einen Drink zu genehmigen – oder zehn – und vielleicht noch etwas anderes, das mir beim Einschlafen helfen wird.

***

Das Lobster Cage ist eine Bar für Fischer, die nach Meersalz und Fisch stinkt. Das liegt daran, dass die meisten Einwohner auf Hummerbooten arbeiten, die tagsüber in den örtlichen Gewässern unterwegs sind. Aus der Jukebox schallt ein alter Johnny-Cash-Song, aber die Lautsprecher sind viel zu leise eingestellt. Die Männer, die sich hier aufhalten, sind weder an lauter Musik noch an Unterhaltungen interessiert. Sie wollen sich betrinken und vielleicht Sex haben, um anschließend schlafen zu gehen, ehe sie am nächsten Morgen wieder zu einem harten Arbeitstag auf dem Wasser aufbrechen.

Der beißende Geruch von billigem Parfüm steigt mir in die Nase, ehe sich ein spärlich bekleideter Hintern auf den Barhocker neben mir setzt. Es ist schon spät – oder besser gesagt, früh am Morgen – und es sind nur noch eine Handvoll Leute hier. Als ich meinen vierten Whiskey genieße, merke ich, dass ich schon ganz schön angeheitert bin.

„Hey Fremder“, säuselt die Frau neben mir. Ich mache mir nicht die Mühe, den Kopf in ihre Richtung zu drehen. Ihr Parfüm gibt ihre Identität preis. „Hab dich schon eine Weile nicht mehr gesehen.“

Das stimmt. Ich bin im Februar nach Misty Harbor gezogen, und seither war ich nur ein paar Mal hier. Aber scheinbar oft genug, sodass der Barkeeper und ein paar der Einheimischen mich kennen.

„Was geht bei dir, Barb?“, erwidere ich salopp, während ich meinen Drink anstarre. Wenn ich zu ihr herüberschauen würde, würde ich eine Frau sehen, die das Potenzial hätte, echt hübsch zu sein. Aber sie versaut es mit viel zu starkem Make-up und viel zu krausem Haar. Sie hat einen recht ansehnlichen Körper, den sie sogar in den Wintermonaten zur Schau stellt. Viel Dekolleté und viel Bein. Sie hat keine Ahnung davon, dass ich in meinem Leben schon viel nackte Haut gesehen habe, dass es mir mittlerweile so vorkommt, als würde ich mir jeden Tag dasselbe Kunstwerk angucken. Egal, wie fantastisch oder schön es auch sein mag, wenn man es wieder und wieder vor Augen hat, ist es eben nichts Besonderes mehr.

Sie ist nichts Besonderes.

„Lust darauf, heute Abend etwas Spaß zu haben?“, säuselt sie. Sie legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel und ihre Fingernägel bohren sich in den Stoff meiner Jeans.

Spaß haben?

Wir würden alles andere als das miteinander haben.

Eine Chance, ordentlich abzuspritzen?

Auf jeden Fall.

Ich führe das Glas an meine Lippen und kippe den letzten Rest des Whiskeys herunter. Dann stelle ich das Glas zurück auf die schmutzige Theke und werfe dem alten, mürrischen Barkeeper – einem pensionierten Hummerfischer namens Gus – einen Blick zu, um ihm mit einem leichten Kopfschütteln zu verstehen zu geben, dass ich keinen weiteren Drink will. Er nickt kurz zurück und richtet seinen Blick wieder auf den Fernseher über der Kasse, wo ein alter Schwarz-Weiß-Film über die Mattscheibe flimmert.

Ich stehe auf und nehme Barbs Hand in meine. „Lass uns gehen.“

Ich bleibe vor der Tür kurz stehen, damit sie sich ihre Jacke von der Garderobe nehmen kann. Dann gehen wir hinaus in die kühle Nacht.

***

Es dauert weniger als fünf Minuten, bis ich zum Schuss komme.

Weniger als dreißig Sekunden, um sie zur Rückseite des Gebäudes zu führen, die völlig im Dunkeln liegt, weil Gus zu faul ist, das Licht an der Hintertür zu reparieren. Gäbe es eine Lichtquelle, würde ich sehen, dass der Kies und der harte Erdboden mit leeren Bierflaschen und benutzten Kondomen übersät sind.

Weitere dreißig Sekunden später liegt Barbs Hand um meinen Schwanz und ihr Mund an meinem Hals, während sie mir einen runterholt. Ich lehne mich mit dem Rücken gegen das Gebäude und schließe die Augen. Ich konzentriere mich auf das Gefühl einer weichen Hand um meinen Schwanz, anstatt meiner eigenen, schwieligen Handflächen.

Das ist schön.

Denke ich zumindest.

Nach ein paar Streicheleinheiten bin ich steinhart. Sie steht vor der schmutzigen Ziegelsteinwand, und ich schiebe ihren kurzen Rock hoch. Wir haben schon ein oder zwei Mal miteinander gevögelt. Mit geschickten Fingern zieht sie mir ein Gummi über und dann bin ich auch schon in ihr. Sie schlingt ihre langen, schlanken Beine um meine Taille. Sie unternimmt einen Versuch, mich zu küssen, doch ich drehe schnell den Kopf weg und vergrabe mein Gesicht an ihrer Schulter.

Ich habe keine Ahnung, ob sie gekommen ist, aber ich bin es, in weniger als fünf Minuten.

Aus und vorbei.

Ich fühle mich etwas besser.

***

Ich liege wieder im Bett. Kurz bevor ich das Licht ausknipse, bemerke ich ein paar Wasserflecken an der Decke. Ich muss die Dachziegel checken, um sicherzugehen, dass sie alles abdichten. Es wird Zeit, die Hütte und den Turm für die Sommersaison instand zu setzen. Das wird spitze. Wenigstens habe ich so eine Beschäftigung.

Dieser Winter war hart und es gab nicht viel für mich zu tun. Ich verstecke mich zwar, aber es war trotzdem verdammt ätzend, die meiste Zeit über schon allein wegen des Wetters drinnen zu hocken.

Ich werde schläfrig. Auch wenn ich nicht will, dass meine Gedanken dorthin abdriften, passiert es dennoch.

An den Tag vor sieben Monaten, meinen Todestag.

Ich wurde zu Kyle Harding.

Ich begann ein neues Leben.

Ich verstecke mich und warte auf den Tag, an dem ich in mein altes Leben zurückkehren kann.

Ich drehe meinen Kopf etwas nach links, in Richtung der kleinen Nachttischlampe, und strecke die Hand aus, um das Licht zu löschen. Als der Raum in Dunkelheit getaucht ist, starre ich so lange an die Decke, bis meine Lider schwer werden und mein Atem langsamer geht.

Das Letzte, woran ich vor dem Einschlafen denke, ist der Blick in Kaylas Augen, als ich ihr vorschlug, die Messer noch einmal bei Maggie einzusetzen. Ich weiß zweifelsfrei, dass ich wieder davon träumen werde.

Aber das ist in Ordnung.

Kapitel 2

Jane

Ich lehne meinen Bauch gegen den Rand der Anrichte und blicke durch das Fenster, während ich an meinem Kaffee nippe. Es sollte Männern verboten sein, so unverschämt gut auszusehen. Nein, eigentlich sollte es als Sünde gelten. Es sollte eine Sünde sein, so verdammt gut auszusehen, und man sollte es in der Bibel erwähnen. Oder vielleicht denke ich auch bloß so, weil ich meinen Nachbarn so extrem begehre.

Für Mitte Mai ist es in Misty Habor verhältnismäßig mild. Ich habe gehört, dass für heute sechszehn Grad Celsius vorausgesagt wurden. Heute Abend soll es auf vier Grad abkühlen, doch im Moment genieße ich einfach bloß das Wetter. Das bedeutet, dass meine Fenster geöffnet sind. Ich mache das immer, um den Frühling hereinzulassen. Meine Rollläden sind hochgezogen, und mein Nachbar, der auf der anderen Seite des Privatweges wohnt, der unsere Grundstücke voneinander trennt, hat sich soeben sein Hemd ausgezogen, um die Fassade des kleinen Turms zu säubern.

Es ist wirklich ein wunderbarer Tag.

Ich atme tief ein, inhaliere den Duft der Meeresbrise und der weiß blühenden Büsche, die Schneeball heißen, ein, die unter dem Küchenfester zu blühen beginnen, und lächele. Ich liebe den Frühling so sehr – weil er für Erneuerung und Hoffnung steht. Der letzte Winter in Misty Habor war brutal, aber der ist jetzt Gott sei Dank vorüber. Ich freue mich darauf, so viel Zeit im Freien zu verbringen, wie mein Zeitplan es nur zulässt.

Mein kleines Häuschen liegt westlich der Cranberry Lane. Direkt gegenüber der staubigen Straße meines neuen Nachbarn. Ein Mann, den ich noch nicht persönlich kennengelernt habe, obwohl er schon ein paar Monate hier lebt. Es ging das Gerücht um, dass der Stadtrat den alten Boggs als Sicherheitsmann für den Turm, das Gray Birch Lighthouse, absetzen wollte, da er ihn und das dazugehörige Hausmeisterhaus vollkommen verkommen ließ. Außerdem wollte der Stadtrat den Leuchtturm im Sommer für Touristen zugänglich machen, um unserer Stadt ein paar Einnahmen zu bescheren. Leider hatten wir nicht den erhofften Zustrom an Besuchern wie in Bar Harbor auf der anderen Seite der Frenchman´s Bay.

Die Gerüchteküche verstummte, als der alte Boggs im Januar die Wendeltreppe des Turms herunterstürzte und sich den Oberschenkel brach. Schnell wurde seine Stelle neu besetzt, und ehe ich mich versah, zog mein neuer Nachbar in einer verschneiten Nacht Anfang Februar ein. Er hatte nicht mehr bei sich als einen großen Seesack. Ich weiß das so genau, weil ich mit einer heißen Tasse Kakao vor dem Küchenfenster saß und ihn beobachtete.

Jetzt, da die kalten Tage endgültig vorüber sind, werde ich ihn wohl noch öfter draußen sehen, wenn er Reparaturarbeiten leistet. Ich fände es gar nicht so übel, wenn er das ohne sein Hemd macht. Genau wie jetzt. Obwohl er gut hundert Meter von mir entfernt ist, kann ich sehen, dass die obere Hälfte seines Rückens von Tätowierungen bedeckt ist. Ebenso wie seine Rippen auf der rechten Seite und der Großteil beider Arme. Als er sich vorhin einmal in Richtung meines Hauses umdrehte, um den Hochdruckreiniger einzustellen, konnte ich eine große Tätowierung auf seiner Brust erkennen, die bis zu seinem Hals hinaufreicht. Details konnte ich nicht ausmachen – aber ich bin ja auch keine Stalkerin.

Mein iPhone klingelt, und als ich einen Blick auf das Display werfe, sehe ich, dass Miranda mich zu erreichen versucht. Ich gehe ran. „Guten Morgen.“

„Was machst du gerade?“, nuschelt sie, woraufhin mir klar ist, dass sie während des Telefonats isst.

„Ich spioniere meinen heißen Nachbarn aus, der gerade den Leuchtturm mit einem Hochdruckstrahler bearbeitet“, erwidere ich und richte meinen Blick wieder auf besagten Mann. „Was isst du?“

„Cornflakes.“ Ich höre, wie sie einen weiteren, schmatzenden Löffel nimmt. „Was hat er denn an?“

„Jeans“, lasse ich sie wissen. „Ausgewaschen. Sitzt aber perfekt. Arbeitsstiefel. Oh, und Tattoos. Er hat eine Menge Tattoos.“

„Ich bin schon auf dem Weg zu dir, Jane“, meint sie, diesmal weniger schmatzend. Ich muss schmunzeln, denn obwohl Miranda und ich so verschieden wie Tag und Nacht sind, stehen wir beide auf diesen heißen Kerl, der unser kleines, verschlafenes Nest bereichert.

„Du kannst heute nicht mit mir zusammen spannen“, entgegne ich nicht gerade freundlich. „Margery wird jeden Moment für ihre Unterrichtsstunde hier sein.“

„Scheiß auf Margery“, brummt Miranda.

„Sie ist zehn Jahre alt“, tadele ich sie lachend. „So etwas kannst du doch nicht über ein Kind sagen!“

„O doch, nämlich dann, wenn es zwischen mir und einem heißen, tätowierten, männlichen Leckerbissen steht“, erwidert sie.

„Du bist so böse.“ Miranda liebt Margery im Grunde genommen genauso sehr wie ich. „Wollen wir später zusammen essen gehen?“

„Ich kann nicht, ich muss heute Abend arbeiten. Aber, du könntest auf einen Drink vorbeikommen.“

Ich rümpfe die Nase. Miranda hat drei Jobs. Einer davon ist das Mixen von Getränken in einer der schäbigsten Kneipen hier in Misty Habor namens Lobster Cage. Sie arbeitet dort nur ein paar Nächte die Woche, doch dieser Aushilfsjob hilft ihr dabei, zu ihrem Einkommen als Friseurin etwas dazuzuverdienen. Dann kellnert sie noch in einem der beliebtesten Restaurants in der Gegend. Vorausgesetzt, sie bekommt es zeitlich dazwischengeschoben, ein paar Schichten zu übernehmen. Obwohl die Einwohnerzahl von Misty Harbor in den Sommermonaten etwas ansteigt, ist es schwer, sich mit Haarschnitten und Strähnchen in einer Stadt mit weniger als tausend permanent hier lebenden Menschen über Wasser zu halten. Zumal sie nicht die einzige Friseurin im Umkreis ist.

„Hast du ihn schon kennengelernt?“, will Miranda wissen und lenkt das Thema wieder auf den Mann, den ich noch immer anstarre.

„Noch nicht“, entgegne ich mürrisch. Ich hatte ihm vor ein paar Wochen einen Korb mit Backwaren vor die Tür gestellt. Außerdem habe ich eine Notiz hinterlassen, um ihn in Misty Harbor willkommen zu heißen, aber ich habe seither keinen Pieps mehr von ihm gehört. Er hatte nicht mal den Anstand, meinen Korb zurückzubringen. „Ich habe vor ein paar Wochen Muffins gebacken und sie ihm vor die Tür gestellt, aber er ist noch nicht vorbeikommen, um sich bei mir zu bedanken.“

„Wahrscheinlich, weil er sich an einem Muffin einen Zahn ausgebissen hat“, sagt Miranda unverblümt, und während die meisten deswegen beleidigt wären, bin ich es nicht. Manchmal lässt meine Backkunst sehr zu wünschen übrig. Miranda nimmt kein Blatt vor den Mund und vergewissert sich auch nicht, meine Gefühle nicht verletzt zu haben, was nicht der Fall ist. „Geh einfach rüber und stell dich ihm vor.“

„Geht nicht. Margery kommt doch gleich.“

„Gott, dann geh eben nach Margerys Stunde rüber.“

„Vielleicht“, entgegne ich vage. Denn obwohl es mir eine gewisse Sicherheit geben sollte, ihm immerhin einen Korb mit Muffins vorbeigebracht zu haben, die vielleicht die Konsistenz eines Ziegelsteins hatten, bin ich mir nicht sicher, ob ich den Mut habe, ihn tatsächlich anzusprechen.

„Okay“, meint Miranda entschlossen. „Ich komme morgen bei dir vorbei. Wir gehen zusammen zu ihm rüber und stellen uns vor. Abgemacht?“

„Vielleicht“, entgegne ich, und bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass mein Zögern bedeutet, dass ich mich vollkommen damit begnügen werde, ihn aus der Ferne anzuschmachten. Dieser Mann hat etwas an sich, dass ihn düster und gefährlich wirken lässt – was vermutlich nur an den vielen Tattoos liegt – und eigentlich ist er auch überhaupt nicht mein Typ.

„Also gut, Süße“, zwitschert Miranda ins Telefon. „Ich springe jetzt unter die Dusche. Wir quatschen später?“

„Sicher. Bis dann.“ Ich beende das Telefonat, lege das Handy zur Seite und beuge mich über die Anrichte. Ich beobachte meinen Nachbarn und frage mich, was für eine Geschichte er wohl zu erzählen hat.

Nachdem er im Februar hergezogen ist, habe ich ihn den ganzen Winter über kaum aus seinem kleinen Häuschen kommen sehen, obwohl ich weiß, dass er es dann und wann verlassen haben muss, denn schließlich braucht er zumindest Lebensmittel. Ich habe ihn aber nie in der Stadt gesehen, was fast an ein Wunder grenzt, da Misty Habor winzig ist. Man kann das Städtchen in zehn Minuten zu Fuß umrunden. Jeder kennt jeden, und obwohl die Fischer und Hummerfischer manchmal etwas seltsam sein können, sind die meisten freundlich und aufgeschlossen.

Miranda hat mir erzählt, dass sie meinen Nachbarn zweimal im Lobster Cage gesehen hat. Ihrer Aussage nach saß er an der Bar und trank in aller Ruhe seine Drinks, ohne sich mit jemandem zu unterhalten. Er scheint ein Einzelgänger zu sein und ist vermutlich nicht hergezogen, weil er eine Verbindung zur Gegend hat. Deshalb frage ich mich, wie er an den Job als Leuchtturmwärter gekommen ist. Denn nach allem, was ich gehört habe, ist das quasi ein Ding der Unmöglichkeit.

Um das Gray Birch Lighthouse zu betreuen, braucht es nicht viel. Das Licht, das sie Boote vor den felsigen Ufern und Untiefen warnt, die vor der Einfahrt in die Misty Bay umschifft werden müssen, wird mit Strom betrieben und hat zudem noch einen Notstromgenerator. Es läuft also ziemlich autark. Darüber hinaus muss der Wärter nur den Turm und die Hütte in Stand halten, wobei es sich dabei hauptsächlich um Ausbesserungsarbeiten und einen jährlichen Frühjahresputz handelt. Der Job ist ziemlich leicht. Ich kann mir vorstellen, dass er nicht viel einbringt, aber ich habe gehört, dass die Miete für das Häuschen dementsprechend günstig ist.

Ein leises Klopfen an meiner Haustür lässt mich aufschrecken. Ich werfe einen allerletzten Blick auf den heißen Kerl, der den Leuchtturm reinigt, und stelle dann meine Tasse ab, um zur Haustür zu gehen.

Nachdem ich sie geöffnet habe, strahlt mich die kleine Margery Dennison mit einem breiten Lächeln an. „Hallo, Miss Cresson.“

„Guten Morgen.“ Ich strahle zurück. „Bist du bereit für deine Übungsstunde?“

Sie nickt enthusiastisch. „Ich habe geübt.“

Ich lächele, denn Margery hat viel Talent und nimmt die Übungseinheiten sehr ernst. Vor etwa drei Monaten habe ich damit begonnen, ihr im privaten Rahmen Kunstunterricht zu geben, da zu der Zeit klar war, dass sie meinen anderen Schülern an der Schoodic Middle School haushoch überlegen ist. Nachdem ich mit ihren Eltern gesprochen hatte, schickten sie ihre Tochter für eine wöchentliche Privatstunde zu mir. Ich war froh darüber, denn durch diesen Extraunterricht kann ich mein Lehrergehalt aufbessern, obwohl ich zusätzlich noch an der Junior und an der High School Kunst unterrichte. Unser Schulbezirk ist so klein, dass ich an drei Schulen unterrichten muss, und ich habe trotzdem noch immer Mühe, über die Runden zu kommen. Der private Kunstunterricht ist für mich die perfekte Möglichkeit, mir etwas Luft zu verschaffen, sodass ich nicht, wie Miranda, im Lobster Cage arbeiten muss.

Margery lässt ihren leichten Mantel von den Schultern gleiten und zuppelt an dem Kapuzenpullover herum, den sie darunter trägt. Obwohl es heute bis zu fünfzehn Grad warm werden könnte, ist es immer noch ein bisschen frisch.

„Behalte den Pullover an“, sage ich ihr.

Fragend neigt sie den Kopf zur Seite.

„Wir werden heute draußen auf der Veranda sitzen“, lasse ich sie wissen und hoffe darauf, nicht in der Hölle zu landen, weil ich die Zeit nutzen werde, um meinen Nachbarn weiterhin anzuschmachten. „Wir werden an einem Aquarell des Gray Birch Lighthouse arbeiten.“

„Cool“, antwortet sie.

Ich drehe mich zu meinem Atelier um, das strenggenommen mein Gästezimmer ist. Ich habe es zu einem Ort umfunktioniert, an dem ich an meinen eigenen Sachen arbeiten kann, wenn ich denn die Zeit dafür finde. „Komm, hilf mir, alle Materialien zu holen, damit wir uns einrichten können.“

Und vielleicht … nur vielleicht, ist mein Nachbar ja dazu geneigt, zu uns herüberzukommen und sich für die Muffins zu bedanken, die ich ihm dagelassen habe, wenn er sieht, dass wir draußen sitzen und den Leuchtturm malen.

Kapitel 3

Kyle

Ich ramme die Schaufel in den Boden, stelle meinen Stiefel auf die Kante und trete sie in die Erde. Den hölzernen Griff umklammernd, hebe ich etwas Erde aus, drehe die Schaufel und leere sie aus. Diesen Vorgang wiederhole ich im gesamten Blumenbeet, das sich über die komplette Länge meiner hinteren Veranda erstreckt. Und als ich damit fertig bin, klopfe ich mit der Schaufel die Erdklumpen platt.

Als ich endlich fertig bin, stelle ich mich aufrecht hin, wische mir mit dem Handrücken über die Stirn und atme frustriert aus.

Das ist verdammt ätzend.

Zwar hatte ich nicht erwartet, dass es glamourös werden würde, mich vor meinen Feinden zu verstecken, aber ich hätte mir nie im Leben vorstellen können, dass ich nur noch mit Gartenarbeit beschäftigt sein würde. Und ja, mir waren die Kerntätigkeiten des Jobs, den Joe für mich organisiert hat, klar, aber ich schätze, mir war nicht bewusst, wie sehr ich die Aufgaben hassen würde, die ich nun zu erledigen habe. Ich meine, es ist eine Sache, einen Leuchtturm mit einem Hochdruckstrahler sauber zu machen und anschließend zu streichen, weil das eine Männeraufgabe ist, aber komm schon … ein Blumenbett umzugraben und zu bepflanzen ist noch nie etwas gewesen, das ich unbedingt ausprobieren wollte.

Ich weiß einen Scheißdreck über Gartenarbeit, aber da es nun mal zu meinen Aufgaben gehört, das Gelände rund um den Leuchtturm in Schuss zu halten und einladend für die Touristen aussehen zu lassen, musste ich meinen Mann stehen und lernen, wie man das macht. Ich habe mir ein paar Tage lang YouTube-Videos reingezogen, weil ich nicht in die örtliche Bibliothek gehen wollte, um mir ein Fachbuch zu besorgen. Anschließend habe ich einen kurzen Abstecher zum Baumarkt und einer Gärtnerei gemacht, die mir Gus gestern Abend empfohlen hat, als ich noch auf einen Drink vorbeigekommen bin.

Und siehe da, hier bin ich nun und erledige Gartenarbeit. Das Einzige, was mich noch lächerlicher aussehen lassen würde, wären eine Latzhose und ein Strohhut.

Lachend stelle ich mir vor, was einer meiner Mayhem-Brüder tun würde, wenn er mich jetzt sehen könnte. Nun, vermutlich würden sie mich umbringen, da ich ein Undercover-Agent bin. Doch abgesehen davon, würden sie mich wahrscheinlich in Grund und Boden stampfen, wenn sie wüssten, dass ihr taffer, knallharter Bruder gärtnert.

Das Nervigste an meiner Arbeit ist, dass die Stadt in ein paar Wochen meine Behausung den Touristen zugänglich machen wird, die den Leuchtturm besichtigen wollen. Zwar nur samstags von zehn bis sechszehn Uhr, und ich muss nicht anwesend sein, weil ein Mitglied des Heimatvereins die Führungen macht, aber trotzdem … das hier ist mein Zuhause, mein Zufluchtsort. Der Gedanke daran, dass Fremde hier herumtrampeln, macht mich so sauer wie schon lange nicht mehr. An diesen Samstagen werde ich wohl meine Zeit damit verbringen, mich im Lobster Cage volllaufen zu lassen.

Als mein Handy in der Hosentasche zu vibrieren beginnt, ramme ich den Spaten in den Boden, um meine Hände frei zu haben. Ich mache mir nicht die Mühe, auf das Display zu schauen, denn es gibt nur einen Menschen, der meine Rufnummer hat. Und der wird mich sowieso von einem Wegwerfhandy aus anrufen.

Mein Betreuer … Joe Kizner.

„Was gibt´s?“, frage ich.

„Ich wollte mich einfach nur mal melden“, erwidert er freundlich. „Die Gerichtsverhandlung ist für den neunten September angesetzt.“

Das ist in etwas mehr als drei Monaten. Hoffentlich bekomme dann endlich mein Leben zurück.

„Was kannst du mir Neues über Latner erzählen?“, will ich wissen, während mein Blick über den Atlantik schweift, der heute völlig ruhig ist.

„Er ist auf der Suche nach dir.“

Das überrascht mich nicht. Senator Lyle Latner aus dem großartigen Bundesstaat Colorado wurde seines Amtes enthoben, nachdem man ihn verhaftet und für eine Reihe von Verbrechen, wie Verschwörung, geheime Absprachen und Geldwäsche, angeklagt hat, die ihn für den Rest seines Lebens in den Knast wandern lassen. Wenn er verurteilt wird, wird er fallen und sich nie wieder von diesem Sturz erholen.

Da ich eine Schlüsselfigur für seine Verurteilung bin, erwarte ich, dass er seine kriminellen Kontakte nutzt, um mich aufzuspüren. Würde er mich eliminieren, würde das die meisten seiner Probleme lösen. Obwohl ich nicht direkt in seine Geschäfte mit Mayhem´s Mission involviert war, bin ich der Kronzeuge, der den Club zu Fall bringen wird. Wenn er untergeht, wird auch der Senator untergehen. Vor allem aber dank der Abhörmaßnahmen.

„Alles klar bei dir?“, will Joe wissen, doch ich weiß, was er in Wahrheit meint. Ich denke an das Waffenarsenal, das ich in meinem Haus versteckt, und das Sicherheitssystem, das ich installiert habe. Ich habe mich so gut vorbereitet, wie ich nur konnte. Nur für den Fall, dass jemand hinter mir her sein sollte.

Natürlich müssten sie mich erst einmal finden. Ich bin mir nicht sicher, wie sie das schaffen wollen. Nur Joe und zwei weitere Männer in der Behörde wissen, wo ich mich versteckt halte. Die anderen beiden sind Abteilungsleiter weit über Joes Position.

„Ich habe alles im Griff“, versichere ich ihm, denn ich weiß, dass er sich Sorgen macht. Meine Weigerung, mich ins Zeugenschutzprogramm zu begeben, bedeutet, dass ich mich ohne irgendwelche Agenten, die mir den Rücken freihalten, schützen muss. „Denkst du, der Prozess wird wie geplant starten?“

Joe atmet laut aus. „Du weißt doch, wie es läuft. Alle behaupten, bereit zu sein, doch es kommt trotzdem immer wieder zu Vertagungen.“

Ich werde noch drei Monate durchhalten können, aber der Gedanke, dass es sich noch länger hinzieht, ist beschissen. „Dann richte dem Staatsanwalt von mir aus, dass er keiner Vertagung zustimmen soll.“

„So funktioniert das nicht, Bruder.“

Meine Frustration ist auf dem Siedepunkt. „Ich werde nur noch ein paar Monate hierbleiben, Joe, dann komme ich aus meinem Versteck. Ich will mein verdammtes Leben zurück. Andrea soll wissen, dass ich noch am Leben bin.“

„Entspann dich“, erwidert Joe und versucht, seine Stimme beruhigend klingen zu lassen. „Es wird zu einem Prozess kommen, und wir müssen so lange abwarten.“

„Ich habe unserer Regierung drei Jahre meiner Lebenszeit geschenkt“, entgegne ich in leisem Tonfall, doch ich koche vor Wut. „Ich will mein Leben zurück, und zwar so schnell wie möglich. Lass nicht zu, dass sie Spielchen spielen.“

„Das entzieht sich meiner Kontrolle und das weißt du, verdammt“, sagt Joe, der ebenfalls die Geduld zu verlieren scheint, weil ich mich wie ein Arschloch aufführe. „Außerdem … du bist doch in einer komfortablen Position, Kyle. Sieh die Zeit dort als den dringend benötigten Urlaub an. Es ist doch wunderschön bei dir, oder nicht? Wie wäre es, wenn du versuchst, es zu genießen?“

Jepp, es ist wirklich verdammt nett hier. Wunderschönes Meer, tolles Frühlingswetter und eine verdammt heiße Nachbarin, die keine Gelegenheit auslässt, mir zuzuwinken oder mir ein atemberaubendes Lächeln zu schenken, wenn wir zufällig zur gleichen Zeit draußen sind. Ich lächele oder winke nie zurück, denn das würde sie nur ermutigen, mich kennenlernen zu wollen, und ich kann keine Komplikationen in meinem Leben gebrauchen.

Und auf gar keinen Fall will ich noch mehr Muffins von ihr geschenkt bekommen. Die Dinger waren so schrecklich, dass ich sie wegschmeißen musste. Ich hätte sie als Waffe hierbehalten sollen, aber ich dachte, sie würden die Ameisen anlocken.

„Ich melde mich in ein paar Wochen wieder bei dir“, sagt Joe und reißt mich aus den Gedanken. „Oder eher, falls sich etwas tut.“

„Okay, Mann. Wir hören voneinander.“

Nachdem ich mein Handy wieder weggesteckt habe, gehe ich zum Vordereingang meines Häuschens. Mein Truck steht in der Kiesauffahrt, beladen mit Blumen, die ich brauche. Als ich um die Hausecke biege, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Meine Nachbarin ist gerade dabei, den Feldweg zu überqueren, der unsere Grundstücke voneinander trennt, und marschiert geradewegs auf mein Haus zu.