Flammenzeit - David Weber - E-Book

Flammenzeit E-Book

David Weber

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Beschreibung

Der Pionierplanet Sphinx steht in Flammen. Das Feuer bedroht vor allem eine neu entdeckte außerirdische Spezies: die Baumkatzen. Diese sind nicht nur hochintelligent, sondern auch telepathisch begabt und in der Lage, sich mit bestimmten Menschen zu verbinden - Menschen wie Stephanie Harrington.
Dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist, kann Stephanie über die Verbindung zu ihrem Baumkatzenfreund Löwenherz spüren, aber das Ausmaß der Katastrophe kann sie nur erahnen. Gemeinsam mit ihren Freunden stellen sich Stephanie und Löwenherz einem schweren Kampf. Denn es gibt Menschen, die den Zustand des Planeten für ihren persönlichen Vorteil nutzen wollen, um das einzige Hindernis aus dem Weg zu räumen, das dem Erwerb von noch mehr Land und Macht auf Sphinx im Wege steht: die einheimischen Baumkatzen.

»Keiner schreibt bessere Space Opera als David Weber!« PUBLISHERS WEEKLY

Die großartige Vorgeschichte zur Erfolgsserie Honor Harrington von Bestseller-Autor David Weber - für Fans und Neueinsteiger!

Band 1: Begegnung auf Sphinx
Band 2: Flammenzeit
Band 3: Krieg der Baumkatzen



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Seitenzahl: 496

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1

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Glossar

Personenverzeichnis

David WeberJane Lindskold

FLAMMEN-ZEIT

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch vonDr. Ulf Ritgen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2012 by Words of Weber, Inc. & Obsidian Tiger, Inc.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Fire Season«

Originalverlag: Baen Books

Published by Arrangement with Baen Books, Wake Forest, NC, USA

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Beke Ritgen

Titelillustration: Arndt Drechsler, Regensburg

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-0720-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1

Klettert-flinks Zwei-Bein tat es schon wieder: Sie heckte etwas aus – etwas, was sie nicht tun sollte.

Zumindest daran ließen die Gefühle, die sich in ihrem Geistesleuchten wie Wellen an einem Strand brachen, keinen Zweifel. Ebenso zweifelsfrei war sie sich bewusst, dass Vater und Mutter, die zugleich auch die Ältesten ihres Clans waren, alles andere als gutheißen würden, was sie vorhatte. Aber Todesrachen-Verderb besaß großes Talent darin, Regeln zu beugen, und sie war sich sicher: Auf sie wartete jede Menge Spaß.

Ihr Freund Licht-im-Schatten war weniger begeistert. (Möglich, dass er in der Zwei-Bein-Sprache ›Karl‹ hieß – falls tatsächlich diese einzelne Silbe, also nichts als diese eine kurze Lautfolge, mit der man sich in der Regel an ihn wandte, ein echter Name war, nicht etwa eine andere Art von Anrede.) Licht-im-Schattens Geistesleuchten zu deuten fiel Klettert-flink nicht so leicht wie bei Todesrachen-Verderb, aber Grundlegendes war auch bei ihm gut zu spüren: Im Augenblick herrschten Entschlossenheit, wache Aufmerksamkeit und Besorgnis vor.

Angespannt beugte sich Klettert-flink vor, um von seinem Platz aus zu beobachten, wie das Flugding – der ›Flugwagen‹ – mit hoher Geschwindigkeit durch die Luft schoss. (›Flugwagen‹ war wieder so eine Zwei-Bein-Bezeichnung, die Klettert-flink verwirrte: Eigentlich bezeichnete die erste Silbe doch wohl eine Gerätschaft, mit der auf den Feldern gearbeitet wurde, und die beiden letzten Silben kamen auch in vielen anderen Lautverbindungen vor.) Der offenkundig mit Bedacht gewählte Pfad, mit dem sich das fliegende Zwei-Bein-Gefährt durch das Gewirr der Baumstämme im Wald schlängelte, war nur schwer vorherzusagen.

Was die Quelle für Todesrachen-Verderbs Erregung war, hätte Klettert-flink nicht zu erklären vermocht. Richtig, die Geschwindigkeit, mit der sie in dem Flugwagen ihrem Ziel entgegenrasten, war hoch, und das machte die plötzlichen Richtungswechsel, das rasche Auf und Ab, gerade deshalb zu einem Vergnügen. Dennoch schien der Flug allein Klettert-flink nicht Grund genug für Todesrachen-Verderbs Aufgeregtheit – jene Aufgeregtheit, die er über die Bande, die sie zueinander geknüpft hatten, in sich selbst verspürte.

Ehe sein Zwei-Bein diese neue Leidenschaft zu fliegen gepackt hatte, hatten sie sich üblicherweise mit einem zusammenklappbaren Flugding in die Lüfte begeben. Abhängig vom Wind hatte sich dieses Gefährt noch sehr viel sprunghafter bewegt. Und trotzdem war Todesrachen-Verderb nie derart aufgeregt gewesen, wenn sie das Windgefährt steuerte, außer vielleicht, wenn das Wetter ganz besonders schlecht gewesen war.

Mit einer gewissen Wehmut dachte der Baumkater an das Windgefährt zurück. Er zog es dem Flugwagen, mit dem sie sich jetzt fortbewegten, tatsächlich vor. Zu spüren, wie ihm der Wind durchs Fell fuhr, war ein Vergnügen, und jeder Luftzug trug aufschlussreiche und anregende Duftspuren mit sich. Außerdem kam Klettert-flink das Windgefährt irgendwie schneller vor; das allerdings war nur ein Gefühl. Denn die Erfahrung hatte bereits gezeigt, dass der Flugwagen Entfernungen schneller überwand als das Windgefährt. Aber wenn man den Wind nicht spürte, war das Erleben von Geschwindigkeit nur noch halb so intensiv.

Mit dieser Sehnsucht im Herzen legte Klettert-flink die ihm verbliebene Echthand auf Todesrachen-Verderbs Schulter und deutete mit der linken Handpfote auf die durchsichtigen Seitenteile des ansonsten geschlossenen Flugwagendachs. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass sich diese durchsichtigen Partien öffnen ließen. Allerdings hatte er bislang noch nicht herausgefunden, wie er das selbst bewerkstelligen könnte.

Um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen, stieß er einen leisen Laut aus, halb Flehen, halb Unmutsäußerung. Mit der Zeit hatte ihm der Umgang mit Todesrachen-Verderb und ihrer Sippe gezeigt, wie viel Wert die Zwei-Beine Mundlauten zumaßen. Die Leute verließen sich ja ganz auf die Geistesstimme und nutzten Laute und Gesten nur, um zu unterstreichen, was sie andere auf diesem Wege wissen lassen wollten. Bei den Zwei-Beinen, fremd auf der Welt der Leute, war es genau anders herum: Sie verständigten sich mit vielschichtigen, beziehungsreichen Mundlauten, ergänzt von einer verwirrenden Mannigfaltigkeit an Gesten. Gestik und Mimik schienen, obwohl gleich, je nach Umstand oder Lage etwas völlig anderes zu bedeuten und durften beziehungsweise mussten daher vernachlässigt werden.

Klettert-flink bemitleidete die Zwei-Beine deswegen, denn an sich war ihr Geistesleuchten warm und hell. Dass selbst enge Freunde wie Todesrachen-Verderb und Licht-im-Schatten es nicht miteinander zu teilen vermochten, fand er schade.

»Bliek!«, wiederholte er. Als Todesrachen-Verderb ihm keinerlei Aufmerksamkeit schenkte, fuhr er die Krallen aus und schlug mit ihnen gegen den hinteren, durchsichtigen Teil des Flugwagendachs – es klang wie Hagel, der auf Fels traf. »Bliek, bliek!«

Er spürte, wie Todesrachen-Verderb erst den Atem ausstieß und dann kicherte. Daraufhin tippte er erneut gegen die durchsichtige Partie – nur für den Fall, dass sein Zwei-Bein nicht mitbekommen haben sollte, worum es ihm ging.

»Bliek!«

»Bliek!« Tapptapp. »Bliek, bliek!«

Behutsam löste Stephanie eine Hand vom Steuerknüppel. Sofort geriet der Flugwagen bedenklich ins Schlingern.

»Die Hände bleiben am Steuer!«, blaffte Karl Zivonik sie an. »Stephanie, verdammt, ich gehe wirklich schon genug Risiken ein, wo ich dich ohne Flugschein an den Steuerknüppel lasse! Willst du, dass wir abstürzen und meine Fluglizenz einkassiert wird?«

»’tschuldigung«, antwortete Stephanie ungewöhnlich kleinlaut. Sie wusste sehr genau, welches Risiko Karl gerade einging. Wenn man herausfände, dass er sie hatte fliegen lassen, wäre der Einzug seines Flugscheins noch die geringste seiner Strafen. »Löwenherz möchte, dass ich das Fenster öffne. Und da wir ziemlich niedrig fliegen und auch nicht sonderlich schnell sind, dachte ich, das wäre okay.«

Sie konnte nicht sehen, ob Karl die Augen verdrehte, vermutete es aber wegen des genervten Seufzers, den er von sich gab, ehe er sich direkt an die Baumkatze wandte.

»Das Rückfenster«, sagte er zu Löwenherz und deutete darauf, um keine Zweifel aufkommen zu lassen. »Stephanie wird schon genug abgelenkt. Da kann sie es wirklich nicht gebrauchen, wenn du ihr ständig über die Schulter schaust oder der Wind ihr die Haare ins Gesicht bläst!«

Was Stephanie – unter anderem – besonders für Karl einnahm war, dass er zu den wenigen Menschen gehörte, die Löwenherz direkt ansprachen, ganz so, als wäre der Baumkater intelligent genug, alles zu verstehen. Die meisten Menschen nämlich machten sich diese Mühe erst gar nicht oder schlugen jenen zuckersüßen Ton an, der üblicherweise für Kleinkinder reserviert war – oder für Schoßtierchen. Noch unangenehmer waren ihr die Hand voll Zeitgenossen, die zu glauben schienen, wenn sie nur besonders langsam sprächen und einfache Wörter und Sätze benutzten, würde die Baumkatze das Gesagte schon begreifen.

Möglicherweise war das sogar tatsächlich die beste Vorgehensweise. Dass Stephanie dieses Verhalten dennoch so viel nerviger fand als Babysprache lag – so vermutete sie selbst – einfach nur daran, dass den Langsam- und Einfachsprechern in Wirklichkeit gar nicht an einer konsequenten und wissenschaftlichen Herangehensweise gelegen war.

Karl betätigte eine Taste, und das linke hintere Fenster glitt nach unten. Wieder schlingerte der Flugwagen leicht. Stephanie wollte die unerwünschte Bewegung mit einer leichten Steuerknüppeljustierung abfangen, tat aber zu viel des Guten. Löwenherz war daran nicht ganz unschuldig, denn er war von ihrer Schulter geglitten, und das plötzliche Fehlen des Gewichts hatte Stephanie aus der Balance gebracht.

»Steph!« Karl brauchte nur diese einzelne Silbe, um gleichzeitig zu protestieren und seiner ›Schülerin‹ einen Rüffel zu verpassen.

»’tschuldigung«, wiederholte Stephanie.

Mit einem raschen Blick erfasste sie die Kontrollanzeigen auf der Steuerkonsole: Richtungs- und Kraftstofffüllanzeiger, Höhen- und Motortemperaturmesser. Es gab so viel, worüber man als Pilotin den Überblick behalten musste. Wenn sie mit dem Drachenflieger einen Unfall baute, bedeutete das verbogene oder gebrochene Verstrebungen und zerrissene Bespannung (und wenn sie nicht sehr aufpasste, auch eine Stephanie mit gebrochenen Armen, Beinen oder Rippen – daran erinnerte sie sich noch lebhaft). Beim Flugwagen hingegen hatten Fehler deutlich unschönere Folgen, denn hier wurde teure Technik verbeult oder sogar geschrottet.

Was es noch schlimmer machte: Der Flugwagen gehörte Karl nicht einmal. Mit sechzehn T-Jahren träumte er natürlich davon, bald seinen ersten eigenen Wagen zu besitzen. Bereitwillig hätte er auch jederzeit eingestanden, bereits auf einen kleinen Gebrauchten zu sparen. Aber dieser Wagen hier war nur ›sein‹ Wagen, weil er als Ranger auf Probe im Sphinxianischen Forstdienst seinen Arbeitsplatz erreichen musste. Seine Eltern erlaubten ihm die Flugwagennutzung, weil sie auf diese Weise viel Zeit sparten, die sie ansonsten damit verbracht hätten, Karl von Thunder River aus hin- und herzufliegen. Immerhin lag Thunder River fast eintausend Kilometer weit entfernt, und jeder Hin- wie Rückflug beanspruchte selbst bei dem Tempo, das ein Flugwagen vorlegen konnte, mehrere Stunden. Von dieser Abmachung profitierten also beide Seiten gleichermaßen.

Da Stephanie und Karl die einzigen Ranger auf Probe im Forstdienst waren, wurden sie regelmäßig als Team zur Arbeit eingeteilt. Auf diese Weise brauchte nur ein Ranger Zeit in ihre Ausbildung und Beaufsichtigung zu stecken. Nun durfte Stephanie aber noch nicht selbst fliegen. Deswegen wurden Karl und sie normalerweise in der Umgebung von Twin Forks eingesetzt, der Stadt, der dem Besitz Harrington am nächsten lag. Dort betrieb Richard Harrington, Stephanies Vater, seine Tierarztpraxis. Das Anwesen der Familie, ein großzügig bemessenes Haus aus massivem Stein, bot reichlich Platz: Die Harringtons hatten von Anfang an für mehr als ein Kind geplant. Ihr Kinderwunsch war sogar einer der Gründe dafür gewesen, ihre dicht bevölkerte Heimatwelt Meyerdahl zu verlassen und nach Sphinx auszuwandern, und Stephanie sah der neuen Erfahrung, Geschwister zu haben, (vorsichtig) optimistisch entgegen. Vorerst aber konnte Karl den zur Verfügung stehenden Platz nutzen und sich, wann immer es sich ergab, bei den Harringtons einquartieren. Manchmal allerdings übernachtete er auch bei Freunden in Twin Forks.

Soeben erreichten die beiden Ranger auf Probe mit ihrem Flugwagen eine Gegend, in der die Baumriesen der Wälder von Sphinx lichter standen als anderswo. Daher wagte sich Stephanie sogar an ein Gespräch, während sie den Flugwagen steuerte.

»Ich glaube, ich werde allmählich besser«, sagte sie. »Aber ich gebe zu, dass ich es mir leichter vorgestellt habe, eines der neuen Flugwagenmodelle manuell zu steuern. Na ja, mittlerweile räume ich im Simulator immerhin Höchstpunktzahlen ab, selbst wenn der Autopilot ausgeschaltet ist.«

»Du Wunderkind!«, gab Karl mit einem Grinsen zurück. »Du bekommst immer und überall Bestnoten. Wenn’s nicht so wäre, würde ich dich auch gar nicht erst ans Steuer lassen. Aber die Wirklichkeit ist nun mal was ganz anderes als der Simulator. Mir will nur nicht in den Kopf, warum du nicht warten kannst, bis du deinen Flugschülerschein bekommst, wie alle anderen auch. So lange dauert es doch gar nicht mehr, bis du fünfzehn wirst.«

Stephanie war froh, dass ihr die Notwendigkeit, sich aufs Fliegen zu konzentrieren, eine Entschuldigung dafür bot, sich mit der Antwort Zeit zu lassen. Sie wusste selbst, dass sie dazu neigte, ungeduldig zu drängeln – egal, worum es ging. Der Grund war nicht etwa fehlende Elternliebe. Ihre Eltern erwarteten auch nicht von ihr, dass sie sich immer und überall um elterliche Anerkennung und ebensolchen Beifall bemühte. Wenn überhaupt, waren Marjorie und Richard Harrington eher zu sehr im Einvernehmen mit ihr, unterstützten sie zu sehr, waren zu fair, zu langmütig.

Stets, aber immer sanft und in erträglichen Abständen, wiesen sie Stephanie darauf hin, dass sie Vorteile besaß, die andere nicht hatten. Zum einen wusste sie selbst, dass ihr IQ beinahe die übliche Skala sprengte – obwohl die Harringtons diese Tatsache vor ihrer Tochter zu verbergen versucht hatten, damit sie weder faul noch selbstgefällig würde. Karls Bemerkung, Stephanie erringe, egal wo, Bestnoten, war nur ein kleines bisschen übertrieben gewesen.

Zum anderen wusste Stephanie, dass sie ein Dschinn war, ein genetisch modifizierter Mensch, dessen Modifikationen ihn stärker und überlebensfähiger als den Durchschnitt machten. Der Preis für diese Verbesserungen war ein erhöhter Stoffwechsel. Ihre Eltern, die ebenso wie ihre Tochter diesen Preis zahlen mussten, hatten immer für reichlich Nahrungsmittel gesorgt, die Stephanie auch gern genug aß. Also hatte sie nie unter ihrem erhöhten Metabolismus zu leiden gehabt. Worunter sie allerdings litt waren ihre Temperamentsausbrüche, die ebenfalls eine Folge der Genmanipulation waren. Mit den meisten Menschen kam Stephanie nicht sonderlich gut aus, vor allem nicht mit Gleichaltrigen. Sie erschienen ihr geistig schwerfällig und nur von Dingen fasziniert, die Stephanie selbst nicht die Bohne interessierten.

Karl, der anderthalb T-Jahre älter war als sie, war derjenige, der einem gleichaltrigen Freund am nächsten kam. Er war der erste (und bislang einzige) Freund, den sie gefunden hatte, seit sie vor vier T-Jahren mit ihrer Familie von Meyerdahl nach Sphinx ausgewandert war. Selbst Karl war für sie eher ein großer Bruder, kein richtiger Freund: jemand, der ein Auge auf sie hatte und sie beschützte, sie neckte und ausschimpfte. Er ging mit ihr auf den Schießstand, um zu üben, und nun ließ er sie zum ersten Mal seinen Flugwagen fliegen – auch wenn das gegen alle Regeln verstieß.

Trotz der vielen Zeit, die sie miteinander verbrachten, spürte Stephanie stets, dass es so manches gab, was sie von Karl nicht wusste. Gelegentlich kam es vor, dass er in brütendes Schweigen verfiel oder sie unvermittelt für, wie sie fand, Nichtigkeiten anfuhr. Von Karls Tante Irina Kisaevna hatte sie erfahren, dass Karl während der Seuche viele Familienangehörige und Freunde verloren hatte. Stephanie vermutete, dies könnte durchaus etwas mit seinen Stimmungsschwankungen zu tun haben, aber sie spürte, dass noch mehr dahintersteckte. Zuweilen fiel der Name Sumiko – normalerweise rutschte dieser Name einem von Karls jüngeren Geschwistern heraus –, und darauf folgte dann immer unbehagliches Schweigen.

Aber egal, wie viel Zeit Stephanie mit Karl verbrachte: Ihr bester Freund war ohnehin Löwenherz.

Da, man muss ihn doch nur anschauen, gerade jetzt!, dachte sie voller Zärtlichkeit und blickte in den Rückspiegel, um genau das zu tun. Wie er sich aus dem Fenster hängt! Wie eine Kreuzung aus einem grauweißen weichen Kuscheltier und einem sechsbeinigen Wiesel. Niemand käme da auf die Idee, wie klug er doch ist …

Endlich antwortete Stephanie auf Karls Frage: »Ich möchte nicht nur einen Flugschülerschein. Du weißt genauso gut wie ich, dass man sich mit fünfzehn schon für einen echten Flugschein auf Probe qualifizieren kann.«

»Im absoluten Bedarfsfall«, entgegnete Karl. »Nur unter Notfallbedingungen kann man das beantragen.«

»Wir wohnen ziemlich weit draußen, weit weg von Twin Forks«, setzte Stephanie an, Argumente aufzuzählen. Aber in diesem Moment wurde sie mit überwältigender Wucht von einer Welle aus Angst und anderen Gefühlen erfasst, die von Löwenherz ausgingen. Normalerweise waren die Gefühle, die sie von ihm empfing, schwach und nur schwer zu fassen. Dieses Mal aber war es gerade die schiere Gewalt der Emotion, die es schwierig machte, sie zu deuten: Furcht, Besorgnis und dazu noch etwas anderes, was sich noch schwerer benennen ließ.

»Bliek!« Mit einem einzigen Satz beförderte Löwenherz seine anderthalb Meter Gesamtkörperlänge über die Lehnen hinweg auf die Vordersitze. Er landete in Karls Schoß statt in Stephanies, wohin er normalerweise gesprungen wäre. »Bliek!«

Was wieder mal zeigt, dass Löwenherz mehr von technologischem Gerät und wie man es steuert versteht, als die meisten einer Baumkatze zutrauen würden, dachte Stephanie. Doch es blieb ein flüchtiger Gedanke. Löwenherz deutete nach Südwesten. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt, so dringlich war, was ihn beschäftigte.

Sofort änderte Stephanie den Kurs. Karl protestierte nicht.

»Was beunruhigt Löwenherz denn so?«, fragte er stattdessen und strich der Baumkatze einmal über den pelzigen Rücken, um sie zu beruhigen.

»Keine Ahnung«, gestand Stephanie, »aber was es auch sein mag, es passiert da drüben, im Südwesten. Finden wir’s raus!«

Hochzufrieden, weil nun endlich die hintere der durchsichtigen Seitenpartien des Flugwagens geöffnet wurde, steckte Klettert-flink den Kopf hinaus. Erneut wurde er daran erinnert, dass sich der Flugwagen schneller bewegte als das zusammenklappbare Windgefährt. Fellhaare wurden ihm in die Augen geweht, und rasch schlossen sich seine inneren Augenlider. Doch selbst mit geschlossenen Lidern war der Flug so, den Kopf im Wind, gleich viel schöner.

Während der Spannen, die er bei Todesrachen-Verderb und ihren Eltern verbracht hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass die Zwei-Beine und die Leute ihre Sinne ganz unterschiedlich einsetzten und nutzten. Zwei-Beine verließen sich so sehr auf die Wahrnehmung mit ihren Augen, dass sie, so wie in diesem herrlich schnellen Gefährt, tatsächlich andere Sinne wie Geruch und Gehör ausschalteten. Was sie mit der Zunge schmeckten, gehörte nicht zu ihrer Umgebungswahrnehmung – außer wenn sie aßen. Welche Rolle ihr Tastsinn spielte, war für Klettert-flink schwer zu beurteilen.

Im Gegensatz dazu verließen sich die Leute stets auf die Dreiheit von Sehen, Riechen und Hören, bei der alle drei Sinne gleich wichtig waren. Als Jäger, besonders wenn sie sich in den Baumwipfeln bewegten, waren sie sich zudem sehr bewusst, von welcher Bedeutung auch der Tastsinn war – sie wussten, wie wichtig das Erspüren von Erschütterungen und von anderen Schwingungen sein mochte. Und wie Zwei-Beine ohne Schnurrhaare auskommen konnten, wusste sich Klettert-flink nicht einmal vorzustellen! Auch dem Geschmackssinn kam ein herausragender Platz zu, besonders natürlich, weil er dem Geruchssinn mehr Tiefe und Vielschichtigkeit zu geben vermochte. Und zu welchem Vergnügen damit jede Nahrungsaufnahme wurde …!

Wegen der hohen Geschwindigkeit musste sich Klettert-flink für seine Lageeinschätzung vornehmlich auf den Geruchssinn verlassen. Er nahm eine Vielzahl unterschiedlichster, aufreizender Düfte und Aromen wahr: den Geruch eines Borkenkauers, vermischt mit dem Saft von Goldblatt, von dem das kleine Beuteltier gerade kostete; den würzigen Geruch von Purpurhorn; den Moschusduft von Zungenblatt in voller Sommerblüte. Als eine Windböe den widerlichen Gestank eines Todesrachens, eng verwebt mit dem Blutgeruch irgendeines unglücklichen Bodenhuschers, zu ihm hinauftrug, sträubte sich Klettert-flinks Fell.

Eines fragte er sich nicht zum ersten Mal: Wie konnten die Zwei-Beine glauben, etwas über eine Welt zu wissen, über die sie schneller als der Wind hinwegfegten? Was glaubten sie denn wahrzunehmen? Sie sahen doch kaum mehr als einen verschwommenen Fleck in Grün und Braun! Vielleicht besaßen die Zwei-Beine ja Sinne, die er sich nicht einmal vorzustellen vermochte, so wie die Mehrheit von ihnen keine Ahnung hatte, wie die Leute ihre Geistesstimmen einsetzten.

Auf jeden Fall flogen Todesrachen-Verderb und Licht-im-Schatten unterhalb des Blätterdachs – und das in gemäßigter Geschwindigkeit. Klettert-flink für seinen Teil würde das nach Kräften genießen.

Er holte tief Atem und sog die warme Spätsommerluft ein. Ein neue Geruchsspur erregte seine Aufmerksamkeit. Dieser Geruch erschreckte, ja, entsetzte ihn in einem Maße, wie es nicht einmal der des Todesrachens vermocht hatte. Es roch nach Rauch, und dann spürte er auch schon die Hitze eines gerade erst ausgebrochenen Feuers, das Hirne zum Kochen brächte und Schädel platzen ließe.

Baumbewohner wie die Leute waren sich der Gefahren eines Waldbrandes nur allzu bewusst. Ein Waldbrand war eine größere Gefahr, als Todesrachen oder Schneejäger es je sein könnten. Vor jenen Räubern konnte man in die höheren Äste flüchten, oder man konnte sich ihnen sogar – mit etwas Unterstützung – zum Kampf stellen und sie töten. Meist ging Letzteres nicht ohne Verletzungen ab, wie seine eigenen Narben bewiesen. Doch selbst mit noch so viel Unterstützung ließ sich ein Waldbrand nun einmal nicht bekämpfen. Nur mit vereinten Kräften konnte ein ganzer Clan hoffen, das Feuer wenigstens so lange aufzuhalten, bis Schwache und Junge aus der Gefahrenzone geflüchtet wären.

Klettert-flink schauderte und sog erneut den charakteristischen Geruch ein. Wind aus viel zu vielen unterschiedlichen Richtungen machte es schwierig, zielgenau zu bestimmen, woher der Brandgeruch kam. Aber Klettert-flink war ein erfahrener Kundschafter.

Todesrachen-Verderb steuerte den Flugwagen zwar auf einem eher unberechenbaren Pfad durch die Luft, doch sie schien nicht geradewegs auf das Feuer oder den Rauch zuzuhalten, den die Flammen gen Himmel schickten. Beinahe hätte sich Klettert-flink der ersten inneren Regung hingegeben, den Geruch nicht weiter zu beachten. Immerhin war er selbst weit entfernt von der Gefahrenzone, in der das Feuer wütete; auch dem Revier seines Clans, des Clans vom Hellen Wasser, würde es nicht einmal nahe kommen.

Aber die Neugier, die nun einmal zu Klettert-flinks Natur gehörte, war auch durch die vielen Spannen bei den Zwei-Beinen nicht abgestumpft oder eingeschlafen. Darüber hinaus knüpften die Lieder der Sagen-Künderinnen ein Band selbst zwischen Clans, die einander nie begegneten, auch wenn große Entfernungen es in seiner Festigkeit und Unverbrüchlichkeit schwächten.

Normalerweise wäre es Klettert-flinks Antrieb gewesen, Todesrachen-Verderbs Aufmerksamkeit zu erlangen. Aber er wusste, dass sie für die Flugbewegungen des Luftgefährts verantwortlich war und dass sie diese Aufgabe nicht mit der sonst gewohnten Leichtigkeit bewältigte. Obwohl Besorgnis und Furcht wuchsen, als der Brandgeruch immer deutlicher wurde, sprang er über die Sitzlehne hinweg Licht-im-Schatten auf den Schoß.

»Bliek!«, stieß er hervor und deutete in die Richtung, aus der ihm der Geruch am intensivsten schien. »Bliek, bliek!«

Sein Vertrauen in die beiden Zwei-Beine zu setzen erwies sich als richtig. Mit kaum erwähnenswerter Verzögerung änderte der Flugwagen seine Richtung. Es war nicht allein Todesrachen-Verderb, die das so wollte: Schatten-im-Lichts Geistesleuchten war für Klettert-flink zwar nicht so leicht zu lesen, aber er spürte dort die Gewissheit, dass er, der sechsbeinige Freund, schon einen guten Grund für die Dringlichkeit haben würde, mit der er handelte – selbst wenn jener Grund den beiden Zwei-Beinen noch ein Rätsel sein mochte.

»Was liegt denn in dieser Richtung?«, fragte Stephanie und versuchte die Geschwindigkeit zu steigern, ohne die Kontrolle über den Flugwagen zu verlieren. »Lass mich bitte wissen, wenn Löwenherz meint, wir wären auf dem falschen Kurs.«

»Er deutet immer noch nach Südwesten«, erklärte Karl. »Ich rufe die Umgebungskarte auf. Wir befinden uns hier in einem Forstdienstdistrikt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der Distrikt unmittelbar an Privatbesitz grenzt.«

Stephanie wusste genau, dass Karl nun wirklich nicht von der langsamen Truppe war, dennoch platzte sie fast vor Ungeduld. Oder besser: Sie hatte das ungute Gefühl, es sei besondere Eile geboten. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob die Emotionen, die in ihr aufwallten, wirklich ihre eigenen waren. So konnte sie beispielsweise jederzeit Löwenherz lokalisieren, ganz egal, wie weit er von ihr entfernt war. Sie wusste auch, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie war sich sogar sicher, dass Löwenherz manchmal sogar noch vor ihr selbst wusste, wie sie sich gerade fühlte. Also: Stammte diese Dringlichkeit, die sie verspürte, vielleicht von Löwenherz? War es seine und nicht etwa ihre Ungeduld, die sich kaum bezähmen ließ?

»Oha!«, gluckste Karl. »Das wird dir gefallen, Steph: Das Privatgrundstück, auf das wir zuhalten, gehört den Franchittis.«

Stephanie stieß einen Laut aus, den man nur als rüde oder unflätig bezeichnen konnte. Die Franchittis gehörten nicht gerade zu den Mitmenschen auf Sphinx, mit denen sie sich am liebsten abgab. Im Gegenteil: Sie waren ihr ein rotes Tuch. Trudy Franchitti war nur ungefähr ein Jahr älter als Stephanie, doch sie stand ganz oben auf Stephs Liste mit dem schönen Titel Um diese Zeitgenossen einen großen Bogen machen.

»Tja«, meinte Stephanie, »vielleicht müssen wir ja gar nicht so weit. Ich frage mich, was Löwenherz wohl so aufregt. Wenn es etwas unter uns am Boden wäre, hätten wir es doch bereits überflogen und entdeckt. Und so schnell, dass wir es beim Überflug nicht bemerkt hätten, sind wir wirklich nicht.«

»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht«, gestand Karl. »Dann geht’s wohl um etwas, das er nicht gesehen, sondern gerochen hat, und das über eine größere Entfernung hinweg. Zieh den Flugwagen hoch, Steph! Vielleicht können wir dann sehen, was ihm so in die Nase sticht.«

Unausgesprochen blieb, dass sie beide dasselbe befürchteten: eine Gefahr nämlich, die die Jahreszeit mit sich brachte. Es war Spätsommer, und der Sommer, der auf Sphinx wie jede Jahreszeit annähernd fünfzehn T-Monate dauerte, hatte dieses Mal ganz normal begonnen. Dann aber hatte er sich als ausgesprochen trocken erwiesen und war schließlich als Dürresommer mit höchster Waldbrandgefährdung eingestuft worden. Überall waren entsprechende Warntafeln aufgestellt worden.

Hoch konzentriert ließ Stephanie den Flugwagen allmählich über die Baumkronen hinaus aufsteigen. Die riesigen Kroneneichen und Fastkiefern standen in diesem Gebiet so weit auseinander, dass sich ihre Kronen nicht berührten und damit möglich wurde, zwischen ihnen hindurch nach oben zu steigen. Bisher war Stephanie in Bodennähe geblieben, damit sie das Fliegen ohne Autopilot und Radarunterstützung üben konnte. Dass die Wahl auf diese Flughöhe gefallen war, hatte einen zusätzlichen Vorteil: So würden Stephanies eher unbeholfene Flugmanöver wohl kaum beobachtet werden.

»Steph!« Aufgeregt zeigte Karl nach Südwesten. Ihm war nicht bewusst, dass er damit exakt die Geste der Baumkatze nachahmte, die immer noch in seinem Schoß saß. »Rauch!«

Als Stephanie in die angegebene Richtung blickte, erkannte sie einen dünnen Schleier aus weißgrauen Rauchschwaden, der dort aus dem dichten Blätterdach aufstieg.

Karl hing schon am UniLink und wählte die Nummer der forstdienstlichen Feuerwache. »Hier spricht Karl Zivonik. Wir befinden uns auf den Koordinaten …« Er ratterte die Zahlen herunter. »In einiger Entfernung haben wir Rauch entdeckt. Die Rauchentwicklung ist noch sehr schwach und könnte von Privatgrund ausgehen. Trotzdem halten wir es für besser, Meldung zu machen.«

Die Stimme von Ranger Ainsley Jedrusinski kam aus dem Com. »Meldung verstanden, Karl. Einer der Wettersats kommt gerade in unseren Dunstkreis. Gib mir ’nen Moment.«

Es gab eine kurze Pause, in der Jedrusinski eine Anfrage für satellitengestützte Bodenbeobachtung eingab. Dann hörten Stephanie und Karl sie sagen: »Definitiv ein Gefahrenherd mit Hitzeentwicklung über den erlaubten Grenzwerten, besonders wenn man die Windrichtung bedenkt. Wir schicken einen Trupp hin. Gute Arbeit, Leute! Ende.«

Stephanie hatte den Flugwagen in den Schwebemodus gehen lassen und blickte nun zu Karl hinüber. »Und, fliegen wir rüber und helfen?«

Karl dachte nach. »Tja, Ainsley hat nicht gesagt, wir sollen es lassen. Und es ist unser Feuer, sozusagen. Aber wenn wir rüberfliegen, steuere ich den Vogel.«

»Kein Problem«, erwiderte Stephanie, ging auf Autopilot, damit der Schwebemodus auch ohne manuelle Steuerbefehle beibehalten würde. Jetzt konnten Karl und sie gefahrlos die Plätze tauschen. »Überhaupt kein Problem.«

Obwohl sie es selbstverständlich nie offen zugegeben hätte, war Stephanie froh, das Steuer abgeben zu dürfen: Die Rolle der Pilotin war überraschend anspruchsvoll und verlangte viel Konzentration – zumindest bei ausgeschaltetem Autopiloten. Befreit von der Verantwortung für den Flugwagen, aktivierte sie ihr UniLink und startete einen Download über die Bedingungen am Brandort.

»Der Wind frischt auf«, berichtete sie Karl. »Wenn kein Wunder geschieht, breitet sich das Feuer aus, und zwar rasch. Was wohl die Brandursache war?«

Karl antwortete mit einem Schulterzucken, ehe er sagte: »Blitzschlag können wir wohl ausschließen. Die üblichen Sommergewitter lassen dieses Mal ja sehr auf sich warten. Vielleicht hat sich ein Feuer unbemerkt durch die Humusschicht gefressen, ist dann zum Lauffeuer geworden und wächst sich jetzt gerade zu einem richtigen Waldbrand aus. Ein Bodenfeuer, kein Wipfelfeuer, daher sehen wir bisher nur Rauch, keine Flammen. Das ganze Waldgebiet hier ist so trocken, dass der kleinste Funke genügt.«

Stephanie nickte. Sie wusste auch, was Karl unausgesprochen ließ: Auf Meyerdahl waren achtzig bis neunzig Prozent aller Waldbrände auf menschliches Fehlverhalten oder gar vorsätzliche Brandstiftung zurückzuführen. So hoch waren die Prozentzahlen auf Sphinx nicht – allerdings wohl nur, weil die Bevölkerungsdichte dieser Welt nicht sonderlich hoch war. Aber das spielte momentan keine Rolle. Wenn die Trockenheit so groß war wie diesen Sommer, stimmte, was Karl gesagt hatte: Selbst ein einzelner Funke fand genug natürlichen Zunder und konnte einen Großbrand auslösen.

Aber egal, was die Ursache war: Waldbrände waren kein Zuckerschlecken. Wissen und Verstand sagten Stephanie, dass Waldbrände für die Ökologie eines Waldes notwendig waren: Sie säuberten den Wald von Totholz und Unterholz und dazu auch von Mulm, dem sogenannten Lockersediment, das aus verfallendem und zum Verfall beitragendem organischem Material bestand. Manche Pflanzen waren auf Feuerhitze sogar angewiesen: Nur so konnten ihre Samen überhaupt aufgehen und keimen. Auch alle weidenden Tierarten zogen ihren Nutzen aus den Feuerschäden, da Neubewuchs einen höheren Nährstoffgehalt besaß. Das wiederum kam indirekt auch allen fleischfressenden Räubern zugute.

Obwohl Stephanie das alles wusste, fiel es ihr schwer, Waldbrände für etwas Gutes zu halten. Die Stümpfe verbrannter Bäume, die Kadaver der Tiere, denen es nicht gelungen war, schneller als die sich ausbreitenden Flammen zu sein, die Vögel, die vom Himmel fielen, weil sie im Rauch erstickt waren, obwohl sie dem Feuer nicht einmal nahe gewesen waren: Das alles schien Beleg genug, um Feuer als etwas Böses anzusehen, das bekämpft gehörte.

Trotzdem traf auf Sphinx umso mehr zu, was schon auf anderen bewaldeten Planeten galt. Achtzig Prozent der sphinxianischen Landflächen waren von Wald bedeckt. Aber einige Arten der auf Sphinx heimischen Flora wirkten nur auf den ersten Blick wie Waldbewuchs: Ein besonders schönes Beispiel war der Pfostenbaum, von dem die Baumkatzen in hohem Maße abhängig waren. Die Bezeichnung ›Pfostenbaumhain‹ war eigentlich nicht korrekt, denn es handelte sich keineswegs um eine Gruppe individueller Bäume, die recht dicht zusammenstanden und Wäldchen oder ganze Wälder bildeten, sondern um jeweils eine einzelne große Pflanze. Was wie die Stämme verschiedener Bäume derselben Art aussah, waren in Wahrheit Ausläufer, die der Mutterbaum von den Sprossknoten seiner Äste in den Boden hatte wachsen lassen, um neue Pfostenbaumstämme zu bilden. Diese hatten dann ihrerseits Ausläufer ausgeschickt und sich so vermehrt. Kam es in einem Waldstück zu Schäden an Pfostenbäumen, konnte sich dies über die Ausläufer auch auf kilometerweit entfernte Waldstücke auswirken – wenn auch zumeist nur kurzfristig.

Der SFD, der Sphinxianische Forstdienst, hatte sich die Strategie zu eigen gemacht, Waldbrände natürlichen Ursprungs eher einzudämmen und unter Kontrolle zu halten, als sie zu löschen. Das brachte dem SFD unter menschlichen Siedlern wenig Sympathien ein. Sie meinten, ihr Eigentum und Leben zu schützen müsse immer vorrangig sein – selbst wenn sich dieses Eigentum befand, wo es dem Gesetz nach nicht hätte sein dürfen. War ein Feuer auf Menschen zurückzuführen und sprach der SFD dann Verwarnungen aus oder verhängte gar Bußgelder … nun, dann musste der SFD in der Regel feststellen, dass er sogar noch unpopulärer war als gedacht.

Karl hatte das Com auf die Frequenz eingestellt, auf der man die Gespräche zwischen SFD-Zentrale und dem Löschtrupp mithören konnte, der zusammengerufen und zum Brandort ausgeschickt wurde. Viele Siedler hielten den SFD für personell mehr als gut bestückt, aber in Wahrheit war die Personaldecke für die zu bewältigenden Aufgaben eher dünn. Ranger Jedrusinskis Rundruf hatte alle Kollegen alarmiert, die sich in unmittelbarer Nähe zum Brandort befanden, ob sie nun im Dienst waren oder dienstfrei hatten. Einige würden nun erst noch Flugwagen bemannen müssen, die über spezielle Ausrüstung zur Brandbekämpfung verfügten.

In den Sommermonaten führten sämtliche Ranger – und das schloss auch Stephanie und Karl ein, die ja nur Ranger auf Probe waren – stets grundlegende Feuerbekämpfungsmittel mit sich. Dazu gehörten ein Schutzanzug ebenso wie ein Einmann-Schutzzelt und ein Kanisterrucksack, eine Schaufel und eine Pulaski-Axt: Letztere, ein Werkzeug halb Axt, halb Querbeil, war schon Jahrhunderte in Gebrauch gewesen, ehe die Menschheit nach den Sternen gegriffen hatte. Schon dreizehnhundert Jahre früher wäre ein Großteil der Grundausrüstung allen in der Waldbrandbekämpfung eingesetzten Männern und Frauen vertraut gewesen. Darüber hinaus gehörten zur Waldbrandbekämpfung nun standardmäßig eine Vibroklinge zum Schärfen der Pulaski-Axt und brandhemmende Mittel, die dem Wasser im Kanisterrucksack zugesetzt wurden – beides hätte frühere Generationen von Wehrleuten seiner Wirksamkeit wegen gewiss positiv überrascht, ja, regelrecht begeistert.

Kaum dass Karl den Steuerknüppel wieder übernommen hatte, schloss er das Rückfenster, das er vorhin für Löwenherz geöffnet hatte. Der Baumkater war während des Pilotenwechsels im Fußraum des Beifahrersitzes geblieben und hatte sich dann Stephanie auf den Schoß gesetzt. Er wies nicht mehr in die Gefahrenrichtung, seit der Flugwagen Kurs dorthin genommen hatte, und schien im Ganzen nicht mehr so angespannt. Über ihre emotionale Verbindung zu ihm spürte Stephanie allerdings noch deutlich, dass er unverkennbar hin- und hergerissen war, ob es wirklich eine gute Idee war, auf ein Feuer zuzuhalten, statt vor ihm zu flüchten.

Sie streichelte ihn, rollte ihn sogar auf den Rücken, um ihm das cremeweiße, weiche Bauchfell zu zerzausen und ihn unter dem Kinn zu kraueln. Normalerweise entspannte ihn das ganz wunderbar. Aber schon bald umschloss Löwenherz mit beiden Handpfoten und der einen Echthand, die er noch hatte, Stephanies Unterarm und schob Arm und Hand sanft, aber bestimmt von sich.

Stephanie bot ihm an, auf der Rückenlehne ihres Sitzes Platz zu nehmen. Geschmeidig sprang Löwenherz hinauf und setzte sich so, dass er Stephanie seine Echthand auf den Kopf legen konnte, während er aus dem Fenster schaute.

Anders als ihre Bezeichnung vermuten ließ, waren Baumkatzen keine Feliden. Beispielsweise besaß keine terranische Katzenart sechs Gliedmaßen oder hatte einen Greifschwanz. Der Körperbau der Baumkatzen mit ihrem weichen, dicken Fell war länger, schmaler und schlanker, zudem waren sie größer als terranische Hauskatzen: Im Mittel maß der Rumpf einer Baumkatze mit Kopf sechzig bis siebzig Zentimeter, mit Schwanz das Doppelte. Natürlich besaß auch keine terranische Hauskatze Hände mit drei Fingern und opponierbaren Daumen.

Die Fellfärbung allerdings ähnelte bei Baumkatern wie Löwenherz derjenigen terranischer Hauskatzen: grau getigert das Rückenfell, cremeweiß das Bauchfell. Hier wie da war der Schwanz grau gebändert, die Anzahl der dunkleren Bänder unterschiedlich. Die Ähnlichkeit zur terranischen Hauskatze erstreckte sich auch noch auf andere Merkmale: schlitzförmig verengte Pupillen (die Augenfarbe in der Regel grün), scharfe, gebogene Krallen, die ein- und ausgefahren werden konnten (die der Baumkatzen waren allerdings um einiges schärfer), spitz zulaufende Ohren und lange Schnurrhaare. Wie ihren Namensgebern von Terra sträubte sich Baumkatzen bei Anspannung das Fell. Als Karl den Flugwagen immer näher an den Brandort heransteuerte, kitzelte Löwenherz’ gesträubtes Fell Stephanie im Nacken.

Sie überlegte, was Baumkatzenclans wohl taten, wenn sie sich einem Feuer gegenübersahen, schließlich besaßen sie keine feuerhemmenden Chemikalien. Sie nutzten Werkzeuge, ja, aber was Stephanie bei ihnen bislang an Werkzeugen gesehen hatte, beschränkte sich auf Seile, Netze, Steinmesser und Steinäxte mit kleinem Kopf und schmaler Schneide. Messer und Äxte waren gewiss praktische Helfer beim Herunterschneiden von Ästen und Zweigen, die die Baumkatzen für den Bau ihrer Schlafplätze hoch droben in den Gabelungen dickerer Äste benötigten. Damit ließ sich aber keineswegs ein brennender Baum fällen, um zu verhindern, dass die Flammen, die sich durch sein Holz fraßen, auch auf die Krone und von dort auf andere Bäume übersprängen.

Vermutlich blieb Baumkatzen bei einem Brand nur die Flucht. Sie konnten lediglich darauf hoffen, ihre Jungen, Schwachen und Alten rasch genug aus der Gefahrenzone fortzubringen, um nicht mit anzusehen, schlimmer noch: mitzufühlen, wie sie verbrannten, wenn Flammen mit gierigen Zungen an allem leckten und alles und jeden so blindwütig wie hungrig verschlangen.

Der Gedanke ließ Stephanie schaudern. Rasch rief sie eine Suchmaske auf und überlagerte damit die Karte ihres derzeitigen Standorts. In dieser Maske waren vom SFD alle Angaben über bekannte Clanreviere der Baumkatzen zusammengetragen worden. Ungeheuer erleichtert stellte sie fest: Für das betreffende Gebiet gab es keine Übereinstimmung. Die Revierkarte war zwar bei weitem nicht vollständig, aber so nah an von Menschen besiedeltem Land glaubte Stephanie diese Angabe für korrekt halten zu dürfen.

Natürlich wusste sie, dass sie als angehender Ranger eigentlich keine Lieblingsspezies unter den auf Sphinx lebenden Arten haben sollte. Ainsley Jedrusinski und Frank Lethbridge wurden nicht müde, Stephanie einzuimpfen, dass jede Kreatur, selbst ein Hexapuma, eine Rolle im komplexen Ökosystem des Planeten spiele. Aber Stephanie konnte nun einmal nicht anders. Sie mochte Hexapumas einfach nicht. Dafür mochte sie Baumkatzen, sehr sogar – tatsächlich sogar mehr, als sie die meisten Menschen mochte.

Um sich abzulenken, dachte Stephanie an einen ganz bestimmten Wurf Hexapumas: an die Jungen einer von Löwenherz und ihr getöteten Mutter; das war vor knapp drei T-Jahren gewesen. Als Stephanie Ranger auf Probe geworden war, hatte sie zu ihrer großen Überraschung erfahren, dass SFD-Ranger die Jungen gerettet und mit der Hand aufgezogen hatten. Wie der Nachwuchs vieler terranischer Großraubtiere bedurften auch kleine Hexapumas während ihrer ersten Lebensjahre elterlicher Fürsorge, um zu überleben.

Als Ranger auf Probe war auch Stephanie nicht darum herumgekommen, die Gehege der kleinen Biester zu säubern und ihnen Futter zu bringen. Später hatten Karl und sie der Diskussion beigewohnt, wo man die Jungtiere am besten auswildern sollte. Sorgfältig war darauf geachtet worden, dass der Hexapumanachwuchs keine Bindung zu seinen menschlichen Pflegern und Pflegerinnen aufbaute. Dass sich jedoch eine gewisse Vertrautheit mit Menschen einstellte, ließ sich natürlich trotzdem nicht vermeiden – und sei es nur, dass diese Hexapumas an Menschengeruch gewöhnt waren und ihn möglicherweise mit Nahrung und Nahrungsaufnahme in Verbindung brachten.

Wut kochte in Stephanie hoch, als sie sich daran erinnerte, wie schwer es ihr gefallen war, nicht jeden der Anwesenden ausdrücklich auf Löwenherz’ schreckliche Narben und seine fehlende Echthand hinzuweisen. Eiltherapie und umfangreiche medizinische Hilfen hatten dafür gesorgt, dass ihre eigenen Narben nicht zu sehen waren – trotzdem gab es sie. Stephanie hatte es laut herausbrüllen wollen: »Hexapumas sind gefährliche Bestien!« Doch mit dieser Einstellung wäre sie in der Minderheit gewesen – und vermutlich war diese Einstellung sogar falsch. Also hatte sie ihre Meinung für sich behalten.

Löwenherz verspannte sich, und nicht zum ersten Mal dachte Stephanie zunächst, er habe nur auf ihren inneren Aufruhr reagiert. Aber anders als sonst in einem solchen Fall legte er ihr nicht die Echthand an die Wange, um sie zu beruhigen. Stattdessen sprang Löwenherz auf und ab und wies abwechselnd in Richtung Brandherd und nach unten. Stephanie spürte seine Frustration, sich den Menschen gegenüber nicht klarer ausdrücken zu können.

»Was hast du, Löwenherz? Was ist denn los?«

Richtig entspannen konnte sich Klettert-flink nicht einmal, als ihm Licht-im-Schatten und Todesrachen-Verderb bewiesen, dass sie seine Warnung wegen des Feuers verstanden hatten. Immerhin wusste er aus früheren Erfahrungen, dass Zwei-Beine Waldbrände ebenso ernst nahmen wie die Leute. Mehr noch: Da die Zwei-Beine nun einmal Zwei-Beine waren, würden sie es, auf welche Weise auch immer, mit den Flammen aufnehmen, statt vor ihnen zu flüchten. Klettert-flink hatte selbst schon Feuereinsätze beobachtet und obendrein dabei zugesehen, wie Todesrachen-Verderb und Licht-im-Schatten in der Brandbekämpfung ausgebildet worden waren. Ihm hatte dabei nicht unmittelbar eingeleuchtet, warum manche Feuer gleich gelöscht wurden, anderen wiederum erlaubt war, in einem eingegrenzten Bereich zu wüten. Nichtsdestotrotz wusste er, dass er auf eines vertrauen durfte: Die Zwei-Beine würden einem Feuer immer Beachtung schenken.

Jetzt, wo er es sich auf der Rückenlehne von Todesrachen-Verderbs Sitz bequem gemacht hatte, entschied er, es könnte nicht schaden, seine Warnung auch auf die Leute auszudehnen. Nun war er keine Sagen-Künderin, die ihre Geistesstimme hinaus zu den Clans zu schicken vermochte. Aber seine Geistesstimme, besonders seit er die Bindung zu Todesrachen-Verderb eingegangen war, besaß wesentlich mehr Kraft als die der meisten Männchen. Obendrein war seine Schwester Singt-wahrhaftig eine der bemerkenswertesten Sagen-Künderinnen ihrer Generation. Selbst aus dieser Entfernung wäre er wohl in der Lage, sie zu erreichen. Sie könnte dann ihrerseits die Warnung an die Sagen-Künderinnen anderer Clans weitergeben. Und selbst wenn er nicht bis zu seiner Schwester durchkäme, bestand immerhin die Hoffnung, mit dem Warnruf Jäger oder Kundschafter zu erreichen, die diesen dann weitertrügen.

Mit seiner Geistesstimme setzte Klettert-flink den Ruf ab, dann lauschte er auf Antworten. Eine kam fast unmittelbar, aber es war nicht seine Schwester, deren Geistesstimme er hörte. Es war eine ihm nicht vertraute Stimme, die einem Männchen gehörte, das sich ganz in Klettert-flinks Nähe befand.

Hilfe!, rief er. Mein Bruder und ich sind im Feuer gefangen. Hilfe!

Es lag so viel Verzweiflung, ja, Hoffnungslosigkeit in dem Schrei, als wäre er bereits eine geraume Weile hinaus in den Wald gegangen, ohne Gehör gefunden zu haben. Die Geistesstimme enthielt mehr an Botschaft, als die bloßen im Geiste gebildeten Worte sagten: Die beiden Leute saßen in einem Grünnadelhain hoch droben in einem der Bäume.

Das war aus verschiedenen Gründen nicht gut. Anders als in Netzholzwäldern, in denen die Clans bevorzugt ihre gemeinsamen Nester anlegten, waren die einzelnen Grünnadeln nicht über gemeinsame Zweige miteinander verbunden. Stattdessen verjüngten sich Äste und Zweige nach außen und wurden schließlich so dünn, dass sie nicht einmal mehr ein Borkenkauerjunges zu tragen vermochten, geschweige denn einen von den Leuten, der bereits ausgewachsen war. Schlimmer noch war, dass Grünnadeln, einmal Feuer gefangen, schnell und sehr heiß brannten. Die beiden Brüder mussten sehr in Bedrängnis gewesen sein, wenn sie in einem Grünnadelhain Zuflucht gesucht hatten.

Immerhin hatte das Feuer ihren Zufluchtsort noch nicht erreicht.

Könnt ihr von dem Baum hinunter? Gibt es eine andere Baumart, auf die ihr euch flüchten könnt?, wollte Klettert-flink wissen.

Nein, erwiderte der Sprecher, der sich in seinen Gedanken selbst Linksgestreift nannte. Der Boden ist zu heiß. Wir haben es versucht. Mein Bruder meinte, er könne ganz bestimmt schnell genug rennen. Aber er hat sich die Ballen seiner Handpfoten und Echtpfoten schlimm verbrannt. Wir haben es zwar hoch hinauf in die Grünnadel geschafft und gehofft, der Wind würde das Feuer in eine andere Richtung tragen, aber …

Klettert-flink verstand nun, was der Verzweiflungsschrei tatsächlich zu bedeuten hatte. Es war kein Ruf um Hilfe gewesen – was für Hilfe sollte es denn in einer hoffnungslosen Lage wie dieser noch geben? Mit seinem Ruf hatte Linksgestreift sicherstellen wollen, dass der Clan, dem sein Bruder und er angehörten, von ihrem Tod erführe. Nur so könnten die Clanbrüder und -schwestern um sie trauern – ohne falsche Hoffnungen und nagende Ungewissheit, was ihnen wohl zugestoßen wäre.

So war es in all den Spannen gewesen, ehe die Zwei-Beine gekommen waren: Man nahm Tragödien als Geschehnisse hin, über die Lieder voller Kummer und Gram gesungen wurden. Aber jetzt …

Klettert-flinks Austausch mit den beiden vom Feuer eingeschlossenen Leuten hatte nur wenigen Atemzüge gedauert. Nun stellte er sich auf die Echtpfoten, hüpfte auf und ab und gestikulierte entschlossen. Er versuchte, eine bestimmte Region in dem vom Feuer heimgesuchten Gebiet anzuzeigen, indem er mit den Armen immer in genau die Richtung wies, aus der er das Geistesleuchten der beiden Brüder spürte.

Todesrachen-Verderb gab einige an ihn gerichtete Mundlaute von sich. Drei Silben bildeten den Namen, mit dem sie ihn immer ansprach. Die restlichen aber ergaben für ihn keinerlei Sinn. Wenigstens spürte Klettert-flink im Geistesleuchten seines Zwei-Beins die Besorgnis und den Wunsch, ihn zu beruhigen.

Sie gab noch mehr Mundlaute von sich. Klettert-flink war sich einigermaßen sicher, dass sie eines sehr wohl verstanden hatte: Er hatte nicht einfach nur seine Warnung vor dem Feuer wiederholt. Aber die Frustration, die er von ihr empfing und die seiner eigenen in nichts nachstand, machte ihm klar, dass der wahre Sinn seiner neuen Botschaft noch nicht zu ihr durchgedrungen war.

»Bliek!«, machte er verzweifelt und wünschte sich, der Laut würde in der Art Information tragen wie die Mundlaute der Zwei-Beine. »Bliek!«

»Nur die Ruhe, Löwenherz, ganz ruhig!«, versuchte Stephanie den Baumkater zu beruhigen.

Er sprang wieder von der Rückenlehne hinunter auf ihren Schoß. Dort richtete er sich auf. Erst blickte er in Richtung des Brandherds, dann, mit einer raschen, geschmeidigen Hüftdrehung (kein Problem für eine Wirbelsäule von dieser Beweglichkeit), wandte er Oberkörper und Gesicht Stephanie zu. Er legte ihr die Echthand auf die Wange, und ein intensiver Blick aus grünen Augen senkte sich in ihre braunen.

»Bliek!«, wiederholte er mit geradezu feierlichem Ernst. Dann packte er ihr ins braune, kurzgelockte Haar, griff zwei Strähnen und zog daran. Stark, wie er war, hätte er ihr beide Strähnen ausgerissen, wäre Stephanie dem Zug nicht gefolgt. Ihr blieb nichts anderes übrig, als nach unten in den Fußraum zu blicken.

»Karl«, sagte sie, und ihre Stimme klang gepresst, so tief drückte sie das Kinn auf die Brust, »ich glaube, er will uns sagen, dass das, was ihn so in Unruhe versetzt, weiter unter uns ist.«

»Kein Wunder«, meinte Karl. »Schließlich fliegen wir oberhalb der Baumkronen.«

Obwohl sein Ton ironisch gewesen war, steuerte er den Flugwagen ein wenig tiefer. Stephanie spürte sofort, als Löwenherz ihre Haarsträhnen unvermittelt losließ.

»Okay, Karl, das ist dann wohl die richtige Höhe. Können wir diese bitte halten?«

»Klar doch«, antwortete der Angesprochene. »Hier gibt’s jede Menge alten Fastkiefernbestand. Die stehen häufig in lockerer Gruppe, mit viel Platz zwischen den einzelnen Stämmen. Bei Pfostenbäumen ginge das nicht, gar keine Chance. In welche Richtung möchte uns Löwenherz denn lotsen?«

Die Baumkatze nahm wieder exakt die Haltung ein, die auch ein Vorstehhund gewählt hätte, um seinem Herrn, dem Jäger, Wild anzuzeigen.

»Immer noch in dieselbe«, sagte Stephanie. »Ich sag Bescheid, wenn sich daran was ändert.«

»Also fliegen wir immer noch direkt auf das Feuer zu«, stellte Karl fest. »Schau dir bitte die Meldungen vom Forstdienst an!«

Stephanie legte sich die Brandkarte auf das Display ihres UniLinks.

»Der eigentliche Brandherd ist weiter westlich«, berichtete sie dann, »definitiv dort, wo meinen Koordinatenangaben nach der Besitz der Franchittis liegt. Allerdings weht der Wind einen Feuerausläufer genau auf uns zu – präziser: auf diese Gruppe Fastkiefern.«

»Schlecht. Ganz schlecht«, meinte Karl. »Fastkiefern brennen schnell und sehr heiß.«

Stephanie nickte. Bei der Brandbekämpfungsunterweisung hatte sie gelernt, dass die hohen Wipfel der ältesten Bäume gern Blitzschlag auf sich zogen. In Bestand, der innerhalb des Entwicklungszyklus den Punkt erreicht hatte, wo neues Wachstum und damit Bestandserneuerung nicht mehr möglich war, erfüllten diese alten Bäume im Grunde die Aufgabe von Blitzableitern. Sie luden das durch Blitzschlag entstehende Feuer förmlich dazu ein, das Gebiet für Neubewuchs vorzubereiten, den Boden mit Asche zu düngen und das Aufkeimen neuer Saat zu beschleunigen, indem es deren harzige Ummantelung verbrannte.

Jetzt gerade holte die Wirklichkeit die Theorie ein. In diesem Sommer hatten Karl und Stephanie an ein paar Brandbekämpfungseinsätzen teilgenommen, aber nie an vorderster Front: Sie hatten Nachschub zu den Löschtrupps gebracht, die Kommunikation koordiniert oder Fragen besorgter Anwohner beantwortet. Hier flogen sie zum ersten Mal direkt an ein Feuer heran – und all die Warnungen, wie gefährlich und unvorhersehbar Feuer sei, wurden greifbare Realität.

»Löwenherz zeigt jetzt in eine andere Richtung«, erklärte Stephanie ein paar Minuten später. »Wir müssen uns südlicher halten.«

Mit dem Kompass bestimmte sie die genaue Richtung, in die ihr Baumkater zeigte, und gab sie an Karl weiter. Sofort legte er den geforderten Kurs an. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrmals.

»Ich glaube«, sagte Stephanie, »wir können uns jetzt denken, wohin Löwenherz uns dirigiert. Ich geb’s in die Navigation ein. Siehst du die Feuerzunge genau voraus? Der Wald brennt zwar noch nicht richtig, steht aber kurz davor.«

»Was meinst du, warum er uns ausgerechnet dort haben will?«, fragte Karl, nahm eine weitere kleine Kurskorrektur vor und beschleunigte den Flugwagen.

Stephanie presste die Lippen zusammen. »Ich glaube, jemand – also, eine Baumkatze, meine ich – hält sich genau dort in dieser Feuerzunge auf. Wir dürften dann wohl ihre einzige Chance sein, dass sie nicht bei lebendigem Leib verbrennt.«

2

Wir kommen, sandte Klettert-flink seine Geistesstimme an Linksgestreift, kaum dass Todesrachen-Verderb und Licht-im-Schatten den Flugwagen in die richtige Richtung steuerten. Kann sich dein Bruder bewegen?

Eine dumpf wirkende Stimme, die sich nur noch undeutlich auszudrücken vermochte, antwortete ihm. Hinter den Worten spürte Klettert-flink die Präsenz von Hitze und Rauch. Die Leute wussten, dass Rauch ebenso gefährlich war wie Feuer. Dennoch war der einzige Ort, an dem die Brüder hatten Zuflucht suchen können, während sich die Flammen am Boden tiefer und immer tiefer in den Wald fraßen, hoch oben in einem Baum – dort, wohin auch der Rauch stieg. Klettert-flink erkannte im Geistesleuchten des Brüderpaars ohne jeden Zweifel, dass sie so weit den Baum hinaufgeklettert waren, wie ihnen dessen schmaler werdender, biegsamer Stamm erlaubte.

Kommen?, kam Linksgestreifts Antwort wie eine kraftlose Brise. Wie denn? Die Flammen schlagen schon am Stamm hoch. Die Grünnadel ist die höchste hier unter ihresgleichen, aber es ist nur noch eine Hand voll Körperlängen zwischen uns und den Flammen, nicht mehr.

Linksgestreift sandte die Worte nicht zusammenhängend, sondern immer wieder von Pausen unterschiedlicher Länge unterbrochen. Die normalerweise verzögerungslose Art, sich mit Geistesstimme zu verständigen, war ihm nicht mehr möglich: Er musste sich sehr anstrengen, um sich auf mehr zu konzentrieren, als sich am Stamm festzukrallen und zu atmen. Dennoch waren seine Gedanken mit unendlicher Sorge um den Bruder durchsetzt. Klettert-flink erhaschte das Bruchstück einer Wahrnehmung: Gewicht, das auf Linksgestreifts Schultern und Oberkörper lastete. Nun war klar, dass Klettert-flinks neuer Freund den Bruder, der sich wegen der verletzten Hände und Pfoten kaum selbst am Stamm festhalten konnte, auf den Schultern sitzen ließ und ihn so mit seinem Körper noch vor Hitze und Flammen schützte.

Der Bruder konnte sich also nicht mehr aus eigener Kraft bewegen. Er war sogar schon halb bewusstlos. Verlöre er das Bewusstsein ganz, würde er vom Baum stürzen, geradewegs in die Flammen hinein.

Über die Schulter hinweg blickte Klettert-flink in Todesrachen-Verderbs Gesicht.

»Bliek!«, rief er, um ihre Aufmerksamkeit von dem kleinen Werkzeug in ihrer Hand wieder auf sich zu lenken. »Bliek!«

Als sein Zwei-Bein aufsah, tat er, als ob er renne. Es fiel ihm schwer, wo er sich doch in Wahrheit gar nicht bewegte, aber er gab sich redlich Mühe, es echt aussehen zu lassen, damit er auch wirklich verstanden würde. Todesrachen-Verderb richtete drängende Mundlaute an Licht-im-Schatten. Augenblicklich spürte Klettert-flink die charakteristischen Vibrationen, die ihm verrieten, dass der Flugwagen beschleunigte. Licht-im-Schatten flog nicht mehr so vorsichtig wie zuvor, sondern nahm jetzt in Kauf, dass die fedrig-weichen Spitzen der Grünnadeläste und die kleineren Zweige und Äste die Außenhaut des Flugwagens streiften.

Todesrachen-Verderb drängte ihren Begleiter mit weiteren Lauten, dann riss sie den Arm hoch, deutete voraus …

… und Klettert-flink blickte suchend in die angegebene Richtung, statt sich allein auf Linksgestreifts Geistesleuchten zu verlassen, um die Brüder zu finden. Was er dann sah, erschreckte ihn zutiefst: Im höchsten Geäst der größten unter den hier zusammenstehenden Grünnadeln hingen die beiden; unter ihrem Gewicht bog sich die Baumspitze tief zur Seite. Flammen leckten bereits am Stamm, fanden in Zweigen und kleineren Ästen des Baumes sofort Nahrung und streckten, gierig nach mehr, ihre Flammenfinger nach den größeren aus.

Der Wind wehte jetzt kräftiger: der, der die Flammen erst in diese Richtung getragen hatte, und der, den die Hitze des Feuers selbst mit sich brachte. Die alten Grünnadeln, die dicht gedrängt in diesem Waldstück vorherrschten, fütterten es reichlich, und mit jedem Augenblick, der verging, wurde es heißer – was den Wind noch verstärkte, der die Flammen höher schlagen und schneller durch den Wald tanzen ließ.

Ein neues Geräusch kam zu all den anderen Sinneseindrücken hinzu: Etwas im Inneren des Flugwagens erwachte zum Leben und mühte sich um Kühlung. Auf einmal war auch Rauch zu riechen. Diese Veränderung ängstigte Klettert-flink, war doch seiner bisherigen Erfahrung nach der Flugwagen so gut abgedichtet, dass keiner der Gerüche aus der Außenwelt einzudringen vermochte.

Sein Vertrauen in die beiden Zwei-Beine war so groß, dass er sie hierhergeführt hatte, ohne sich Gedanken um ihre Sicherheit zu machen. Aber was, wenn er sie alle damit dem Untergang geweiht hatte?

»Ich sehe ihn!«, rief Stephanie. »Nein, sie! Es sind zwei! Zwei Baumkater hängen da – ganz oben in der Fastkiefer, die sich so zur Seite biegt!«

Sie kletterte nach hinten auf den Rücksitz, griff nach dem Rucksack mit ihrer Ausrüstung und schlüpfte auch schon in den Schutzanzug, der obenauf lag. Bei dem Anzug, extra für den Noteinsatz gedacht und aus feuerfestem Material, handelte es sich um einen Overall mit angearbeiteten Stiefeln und Kapuze.

Ein Erwachsener hätte seine Schwierigkeiten gehabt, sich in der Enge der Flugwagenkabine umzuziehen, aber Stephanie mit ihren vierzehn – fast fünfzehn! – Jahren war beweglich genug, um das in fliegender Hast zu schaffen. Zum Schluss stopfte sie auch die letzte widerspenstige braune Locke unter die Kapuze und streifte die Atemmaske über, die ihr Gesicht bis zu den Augen bedeckte. Der Ohrhörer, der in den Anzug integriert war, stellte sofort eine Verbindung zum Com des Flugwagens her. Eine Schutzbrille mit zuschaltbarem Head-up-Display vervollständigte den Anzug.

In der Zwischenzeit hatte Karl den Flugwagen hinüber zur brennenden Fastkiefer mit den beiden Baumkatzen gelenkt. Wahrscheinlich hätte er das nicht geschafft, hätte diese Fastkiefer nicht zu der Sorte gehört, die mit zunehmender Stammhöhe die unteren Äste verlor. Daher war es leicht, an den unteren Teil des Stamms heranzufliegen. Karl hatte die Steuerung fest im Griff, aber selbst mit Leitsystem und eingeschalteter Stabilisierungshilfe sorgten die Aufwinde, die von der Flammenhitze stammten, für ziemlich unruhige Flugbewegungen.

»Steph«, fragte Karl, und seine gedämpfte Stimme verriet Anspannung, »was hast du vor?«

»Jemand muss die beiden ’Katzen in den Flugwagen schaffen«, antwortete sie ohne große Umschweife. »Ich bin mir sicher, dass Löwenherz ihnen bestimmt schon die ganze Zeit sagen will, dass wir hier sind, um sie zu retten. Aber ich glaube nicht, dass er zu ihnen durchdringt. Wie nah kannst du mich ranbringen?«

»Bis zu dem dicken Ast etwa zwei Meter unterhalb der ’Katzen«, meinte Karl. »Glaub ich zumindest.«

»Ich leg den Kontragravtornister an«, sagte sie. »Dann kann ich zumindest nicht vom Baum fallen, egal, was sonst passiert.«

Sie musste Karl nicht erst erklären, dass der Kontragrav sie dabei unterstützen würde, höher zu steigen oder tiefer zu sinken, sie aber damit keineswegs fliegen könnte. Also würde sie immer noch am Baum hinaufklettern müssen, dessen Nadeln jetzt auch in der Krone vom Funkenflug in Brand geraten waren.

Karl brachte den Flugwagen in Position, und Stephanie öffnete die Heckklappe. Sofort drang dichter Rauch ins Wageninnere und brachte Karl ebenso wie Löwenherz zum Husten. Stephanie verwünschte sich dafür, Karl nicht wenigstens die Atemmaske aus seinem eigenen Rucksack mit Ausrüstung gereicht zu haben. Jetzt war es dafür zu spät; sie konnte sich damit nicht mehr aufhalten.

Löwenherz machte keine Anstalten, ihr in die brennende Fastkiefer zu folgen. Stephanie trat auf den Fastkiefernast hinaus und spürte, wie er bei jedem ihrer Schritte unter ihr wippte. Nur zum Teil, so vermutete sie jedenfalls, war der Grund dafür ihr Gewicht, das bei jeder ihrer Bewegungen anders auf ihm lastete. Teilweise dürften auch wärmebedingte Aufwinde und konkurrierende Luftströmungen am Brandort dafür verantwortlich sein.

Automatisch passte sich die Schutzbrille den Lichtverhältnissen an, und trotzdem versuchten Flammengleißen und Rauchschwärze einander zu übertrumpfen. Noch sonderbarer war es, sich in einem Schutzanzug, der vor größeren Veränderungen in der Umgebungstemperatur schützte, durch ein mit jedem Moment gefährlicher werdendes Feuer zu bewegen – es zu wissen, aber nicht zu spüren. Das bedeutete aber nicht, dass Stephanie nicht doch Feuer finge, wenn sie der Hitze zu lange ausgesetzt wäre.

Schon vor langer Zeit hatte Stephanie festgestellt, dass sie in Situationen einen kühlen Kopf behielt, in denen sich Gleichaltrige oder sogar Erwachsene in hirnlose Idioten verwandelten. Genau wie damals, als sie Löwenherz vor dem Hexapuma gerettet hatte, galt ihre ganze Konzentration im Augenblick ausschließlich ihrer aktuellen Lage. Ihre Angst schob sie in einer Notlage, in der sie dringend handeln musste, vorerst beiseite.

Um sich in eine hirnlose Idiotin zu verwandeln, bliebe später immer noch Zeit.

Während sie sich den Ast entlang auf den Stamm zubewegte, schätzte sie die Lage neu ein. Aus der Entfernung hatte sie zwei Baumkater gesehen, die sich aneinander und an den Stamm klammerten. Durch den vielen Rauch hatte sie nicht erkennen können, dass die untere ’Katz die obere mit Armen und Beinen stützte und hielt und sich nur mit dem kräftigen Greifschwanz am sich nach oben verjüngenden Fastkiefernstamm festklammerte. Die obere ’Katz schien bewusstlos, atmete aber.

Ursprünglich hatte Stephanie vorgehabt, erst die untere ’Katz zu packen und sie irgendwie dazu zu bewegen, sich in den Flugwagen zu retten. Jetzt musste sie sich etwas Neues ausdenken.

Sie streckte die Hand nach der unteren der beiden ’Katzen aus. Matt öffnete diese die Augen, und ein verhangener Blick traf Stephanie – ein Blick, der überraschenderweise keinerlei Anzeichen für Panik verriet. Wahrscheinlich war es Löwenherz doch gelungen, zumindest zu diesem Artgenossen durchzudringen. Beim Körperkontakt spürte Stephanie, wie viel Kraft es den Baumkater kostete, den Gefährten festzuhalten: Sein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung. Er fauchte laut, und Stephanie konnte sich denken, warum.

»Keine Angst, ich klaub dich nicht einfach vom Baum und zwinge dich so, deinen Freund fallen zu lassen«, sagte sie und hoffte, ihr Tonfall führte dazu, dass er sich beruhigte. Löwenherz täte sicher ein Übriges dazu. »Hat er zu viel Rauch abbekommen? Lass mich mal schauen, ob ich ihn herüberheben kann.«

Das warnende Fauchen endete sofort, als Stephanie Anstalten machte, sich den oberen ’Kater zu greifen. Dessen Ohren zuckten, als sie ihn anfasste, aber seine Augen blieben geschlossen. Stephanie bewegte sich so schnell, wie es ihr eben möglich war, ohne ihren sowieso schon wackeligen Stand auf dem Ast zu gefährden. Vorsichtig löste sie die Krallen der jetzt schlaffen Arme und Beine aus dem Stamm. Das gelang ihr rascher als gedacht. Sie hatte damit gerechnet, der ’Kater werde sich mit allen sechs Gliedmaßen seiner Art am Stamm festklammern. Baumkatzenkrallen durchdrangen mit Leichtigkeit gegerbtes Leder und selbst künstlich verstärkte Kleidungsstoffe – das hatte Stephanie in der ersten gemeinsamen Zeit mit Löwenherz zum Leidwesen vieler ihrer Kleidungsstücke erfahren müssen. Es hatte eine Weile gedauert, bis er begriffen hatte, wie wenig widerstandsfähig ihre Kleidung war.

Diese ’Katz aber hatte nur die Krallen des Echthandpaares tief in Rinde und Holz schlagen können; die anderen Pfoten waren zu stark verbrannt, um sich auf diese effektive Weise festzukrallen, und ließen sich daher leicht lösen.

Beim Anblick der Brandwunden zuckte Stephanie zusammen und bemühte sich sehr, dem Verletzten nicht wehzutun, während sie seine Krallen aus dem Holz befreite. Gleichzeitig war sie sich bewusst, dass ihn ein weitaus schlimmeres Schicksal erwartete, wenn es ihr nicht gelänge, ihn so rasch wie möglich in den Flugwagen zu bringen.

Karl hatte die interne Verbindung vom Flugwagen zu Stephanies Schutzanzug hergestellt. Darüber hielt er sie unablässig über ihre Umgebungsdaten auf dem Laufenden. Seine Stimme klang dabei so unpersönlich und unbeteiligt wie ein rechnergestützter Wetterbericht.

Aber genau in diesem Augenblick wurden doch Emotionen in seinem Tonfall hörbar. »Steph, die Flammen sind nur noch einen Meter von deinen Füßen entfernt. Der Ast, auf dem du stehst, beginnt gerade zu schwelen. Schon bald wird er richtig brennen.«

»Ich bin dabei, den ersten ’Kater loszumachen«, erklärte Stephanie. »Ich glaube, der andere kann mir aus eigener Kraft folgen, wenn ich den hier trage. Du wirst es nicht glauben, aber er hat den oberen ’Kater die ganze Zeit gestützt.«

»Ich hab’s gesehen«, entgegnete Karl. »Beeil dich!«

Das ließ sich Stephanie nicht zweimal sagen. Sie redete sich dabei allerdings ein, die Tränen, die sie aus brennenden Augen vergoss, wären von Rauch verursacht, der doch irgendwie hatte in die Maske eindringen können. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass sie weinte, weil sie dem armen ’Kater schreckliche Schmerzen verursachen musste. Einmal schnappte er nach ihr, als wolle er sie beißen, aber er hielt mitten in der Bewegung inne – was Stephanie sehr erleichterte.

Endlich, es züngelten schon die ersten Flammen um ihre Füße, hatte sie den ’Kater vom Baum gelöst. Schlaff sackte er ihr in die Arme. Der ’Kater war nicht so kräftig und damit schwer, wie das dichte Fell nur allzu leicht vermuten ließ. Dennoch reichte sein Gewicht, um Stephanie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Einen schrecklichen Moment lang kämpfte sie darum, auf dem Ast zu bleiben … aber es gelang.

»Steph!«

»Ich komm ja schon!«

Zu ihrer Erleichterung hatte sich der zweite ’Kater, kaum dass das Gewicht seines Bruders nicht mehr auf ihm lastete, aus der unnatürlichen Stellung gelöst, die er hatte einnehmen müssen, um seinen Artgenossen zu stützen. Jetzt sprang er auf den Ast, flitzte ihn entlang mit Sprüngen, die wie ein seltsam hüpfender Tanz wirkten, weil er bei jedem Sprung versuchte, körperlichen Kontakt mit dem jetzt brennenden Ast so weit wie möglich zu vermeiden. Auf sein Tempo wirkte sich das aber nicht aus: In Gedankenschnelle hatte er den Flugwagen erreicht. Nun zögerte er. Die geöffnete Heckklappe versprach Rettung, der Wagen aber wurde arg von Aufwinden geschüttelt und stand nicht still genug für einen sicheren Sprung.

Löwenherz lehnte sich aus dem Heck heraus, winkte eindringlich und streckte dem anderen ’Kater Echthand und eine Handpfote entgegen, ja, er lehnte sich noch weiter hinaus, ganz so, als wolle er nach ihm greifen. Vielleicht erkannte die ’Katz auf dem Ast, dass es Löwenherz mit nur einer Echthand schwerfallen dürfte, diese Position lange zu halten. Er sprang – und landete sicher im Heck des Flugwagens. Stephanie mit ihrer Last auf den Armen spürte, wie der Ast unter ihr nachgab, und hörte das warnende Knacken. Halb taumelte, halb sprang sie durch die offene Heckklappe.

»Zieh die Füße ein!«, brüllte Karl. »Ich bring uns jetzt hier weg!«

Stephanie machte, dass sie ihre Beine in den Flugwagen bekam, denn die Heckklappe schloss sich bereits. Unmittelbar danach hörte das heftigste Gerüttel auf, und der Wagen flog etwas ruhiger.