Der Aufstieg Manticores: Im Namen der Ehre - David Weber - E-Book

Der Aufstieg Manticores: Im Namen der Ehre E-Book

David Weber

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Beschreibung

Travis Long, Rekrut bei der Royal Manticoran Navy, stellt schnell fest, dass der Dienst nicht das ist, was er sich vorgestellt hat. Die Disziplin ist lasch, die Schiffe sind uralt, und für die nötigen Reparaturen fehlt das Geld. Deswegen planen einige Politiker des Sternenkönigreichs Manticore die Raumflotte zu verschrotten. Immerhin ist weit und breit kein Feind in Sicht. Doch das Universum ist nicht so leer und sicher, wie es den Anschein hat, denn feindselige Mächte rüsten bereits heimlich zum Kampf ...


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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

BUCH EINS - 1529 P.D.

1

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3

4

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BUCH ZWEI - 1532 P.D.

9

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BUCH DREI - 1533 P.D.

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Nachwort

Personenverzeichnis

David WeberTimothy Zahn

DER AUFSTIEGMANTICORES:

IM NAMENDER EHRE

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch vonDr. Ulf Ritgen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Vollständige Taschenbuchausgabe

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Words of Weber, Inc. & Timothy ZahnTitel der amerikanischen Originalausgabe: »A Call to Duty: Book I of Manticore Ascendant«Originalverlag: Baen Books, USAPublished by Arrangement with Baen Books, Wake Forest, NC, USADieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTitelillustration: Arndt Drechsler, RegensburgUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2351-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Anna, Diane und Sharon.

Vorwort

Vielleicht haben Sie bemerkt, dass dieses Buch die Namen zweier Autoren trägt: David Weber und Timothy Zahn. Eigentlich jedoch hätten es drei Namen sein sollen: Es fehlt Thomas ›Tom‹ Pope.

David hatte Tim dazu eingeladen, an einer neuen Serie aus dem Honor-Harrington-Universum mitzuschreiben. Sie sollte in der Anfangszeit des Sternenkönigreichs spielen und die Gründung der Royal Manticoran Navy schildern. Dabei aber sollte nicht einfach nur eine Zeitspanne abgehandelt werden, über die es bislang nicht viel zu lesen gab; nein, die Reihe sollte sich auch anders lesen als bisher – und für Tims Stil hatte David schon immer ein Faible. Obendrein hatte Tim schon einiges für die ›Quellensammlung‹ Jayne’s Intelligence Review verfasst. Dass es dabei unter anderem auch um genau die richtige Zeitspanne gegangen war, war nur noch das Tüpfelchen auf dem sprichwörtlichen i. Nach gebührender Beratung mit seiner Herausgeberin Toni Weisskopf wurde die entsprechende Einladung auch ganz offiziell ausgesprochen.

»Moment, Moment!«, höre ich Sie schon rufen, »hieß es nicht eben noch, von Rechts wegen sollten drei Autoren angegeben sein?« Richtig, so hätte es sein sollen. Denn Tom Pope und das Autorenkollektiv BuNine helfen David nun schon lange dabei, das Honor-Harrington-Universum zu vergrößern (ohne dabei den Überblick zu verlieren) und zu bereichern – und sie tun David (und dem ganzen HonorVerse) noch viele weitere Gefallen. Ja, mittlerweile kann man mit Fug und Recht behaupten, dass sich Tom im HonorVerse mindestens ebenso gut auskennt wie David – nicht zuletzt auch wegen der vielen, stundenlangen Telefonate zwischen ihnen, in denen es um nichts anderes als dieses Thema geht … und bei denen David immer wieder ›Oh, was für eine tolle Idee!‹-Momente hat. Deswegen erschien es uns ja passend und richtig, Tom ins Boot zu holen, erst recht, nachdem klar war, dass wir mit Davids nicht gerade überreichlichen Notizen über die Frühzeit des Sternenkönigreichs arbeiten würden und es mit der deutlich weniger ausgefeilten Technik zu tun hätten, die zur Gründungszeit der Royal Manticoran Navy zur Verfügung stand. Tom ist sozusagen der Hüter der Technologie in diesem Universum – und zugleich derjenige, der die Handlungsstränge dieser Buchreihe auf Plausibilität prüft, neue Konzepte vorschlägt und stets die Konsistenz im Blick behält, um Anschlussfehler zu vermeiden. Außerdem ist er der führende Lektor und Fahnenkorrektor des ganzen Projekts. Er hat zur DNA dieses Buches mindestens ebenso viel beigetragen wie wir beiden anderen.

Dass sein Name trotzdem nicht auf dem Buchtitel zu finden ist, hat einen ganz einfachen Grund: das Marketing. Weil es schon mehrere Kurzgeschichtensammlungen aus dem HonorVerse gibt, an denen mehrere Autoren, alle auf dem Titel genannt, beteiligt waren, wurde allgemein befürchtet, ein neues HonorVerse-Buch mit drei Autoren könnte den ein oder anderen unter der Leserschaft vermuten lassen, es handle sich wieder um eine Anthologie statt um einen ganzen Roman (der sogar der erste Band einer ganzen Serie sein soll). Manche Leser können sich mit Kurzgeschichtensammlungen nicht anfreunden und würden dann, so die Befürchtung, wegen eines falschen ersten Eindrucks dieses Buch übersehen. Da wir unser Buch für ziemlich gut zu halten belieben, fänden wir das nicht nur schade, sondern geradezu tragisch. Mit schnöden kommerziellen Aspekten weniger erfolgreicher literarischer Werke hatte unsere Entscheidung selbstverständlich nicht das Geringste zu tun!

Aber beginnend mit dem zweiten Travis-Long-Roman werden auf dem Titel drei Autoren angegeben sein. Denn mit Erscheinen des zweiten Bandes dieser Serie steht zu hoffen, dass nicht mehr nötig sein wird, was für das erste Buch der neue Reihe noch gilt: dass allen (potenziellen) Leserinnen und Lesern deutlich gemacht werden muss, dass sie es hier mit ›richtigen‹ Romanen zu tun zu haben, nicht mit Anthologien.

Nur deswegen haben wir uns bei dem hier vorliegenden Band auf zwei Autorennamen beschränkt. Und wenn wir jetzt weiterschwafeln, kommen Sie nie dazu, das Buch selbst zu lesen. Also husch, husch, los, fangen Sie an!

Wir hoffen, dass Ihnen das Lesen so viel Spaß macht wie uns das Schreiben.

David WeberTimothy Zahn

BUCH EINS1529 P.D.

1

»Mom, ich geh dann jetzt!« Travis Long, zweiter Vorname Uriah, brüllte es in den hinteren Teil des großen Hauses hinüber, der so still dalag, als wäre er verlassen.

Keine Antwort. Seufzend streifte Travis die Jacke über, während er sich fragte, ob es sich lohnte, nach seiner Mutter zu suchen.

Wahrscheinlich nicht – was nicht bedeutete, dass er es nicht trotzdem versuchen sollte. Hin und wieder geschahen ja Zeichen und Wunder. Hieß es zumindest immer.

Er ging den langen Flur hinab. Seine Schritte auf den Hartholzdielen schienen Travis in dem stillen Haus widernatürlich laut. Sogar die Hunde im Zwinger gleich dahinter waren ungewöhnlich still.

Selbstverständlich war Melisande Vellacott Long bei den Hunden, wie immer. Wo sollte sie auch sonst sein? Dass die Tiere so ruhig waren, hatte einen guten Grund – wie Travis erkannte, kaum dass er durch die Hintertür war: Seine Mutter hatte ihnen gerade Futter gegeben. Nun drückten ihre Lieblinge allesamt die Schnauzen in die Futternäpfe; manche wedelten dabei wie wild mit dem Schwanz, andere ließen ihn schlaff herunterhängen.

»Mom, ich geh dann jetzt«, wiederholte er und trat noch einen Schritt auf sie zu.

»Ich weiß«, antwortete seine Mutter, ohne den Blick auch nur einen Moment lang von ihren geliebten Hunden abzuwenden. »Ich hab’s gehört.«

Und warum antwortest du mir dann nicht? Es war schiere Frustration, die ihn die Worte über die Lippen bringen lassen wollte. Er schluckte sie hinunter. Die Hundezucht ging seiner Mutter über alles. So weit Travis zurückdenken konnte, war das so gewesen, zweifelsfrei erwiesen aber in den vergangenen elf Jahren, den elf Jahren, die ihr zweiter Mann, Travis’ Vater, schon tot war. Dass ihr Jüngster kurz davor stand, die Highschool abzuschließen, war für Melisande Long ganz offensichtlich kein Grund, die Prioritäten zu ändern.

Umgekehrt würde wohl eher ein Schuh daraus: Ohne ein lästiges Kind an der Backe könnte sie sogar damit aufhören, so zu tun, als hätte sie ein Kind, um dessen Leben sie sich zu kümmern hätte.

»Ich weiß noch nicht, wann ich wiederkomme«, erklärte Travis. Aus unerfindlichen Gründen hatte er das Bedürfnis, auf dem wunden Punkt nun auch noch herumzureiten, noch einmal zu versuchen, seiner Mutter eine wie auch immer geartete, eventuell sogar emotionale Reaktion zu entlocken.

»Ist gut«, sagte sie. Dann ging sie zu einem der ganz besonders heftig sabbernden Schlappohr-Jagdhunde hinüber und kauerte sich neben ihn. »Ganz, wie’s dir in den Kram passt.«

»Ich wollte den Flinx nehmen«, setzte Travis hinzu. Sag doch was!, flehte er sie innerlich an. Sag mir, ich soll spätestens um Mitternacht zurück sein. Sag mir, ich soll den normalen Wagen nehmen, nicht den Flugwagen. Frag mich, mit wem ich mich treffe. Frag irgendwas!

Doch sie fragte ihn nichts. Gar nichts.

»Ist gut«, wiederholte sie bloß, während sie vorsichtig eine Stelle im Nacken des Hundes abtastete.

Travis kehrte ins Haus zurück und wählte mit einem sonderbar leeren Gefühl in der Magengrube den Weg zur Garage. Er erinnerte sich, einmal gelesen zu haben, dass Kinder Grenzen nicht nur bräuchten, sondern sich wünschten, sich sogar danach sehnten. Grenzen waren ein tröstlicher Zaun, der vor den Gefahren absoluter Freiheit schützte, und der Beweis dafür, dass es jemanden gab, der sich um sie, um Töchter und Söhne von Müttern und Vätern, sorgte.

Derlei Grenzen hatte es für Travis nie gegeben – zumindest nicht mehr, seit sein Vater gestorben war. Doch danach gesehnt hatte er sich stets.

Klassenkameraden und andere mehr oder minder Gleichaltrige sahen das natürlich ganz anders. Sie litten unter der Willkür, mit der ihre Eltern ihnen ständig Vorschriften machten, und unter der Vielzahl aufgestellter, absolut unverständlicher Regeln. Travis’ Freiheiten schienen ihnen paradiesischer Zustand, nicht Grund zur Klage. Und Travis hatte ihnen diese Illusion immer gelassen, hatte stets so getan, als genieße er das Chaos seines Alltagslebens, während ihm viel zu häufig danach war, als risse man ihm das Herz aus der Brust – stückchenweise, versteht sich.

Jetzt war er siebzehn T-Jahre alt, und für ihn war es damit wohl an der Zeit, eigene Wege zu gehen. Trotzdem blieb die Leere in seinem Herzen, der Hunger nach Struktur und Ordnung in einem bedrohlich dunklen, ungeordneten Universum. Vielleicht war das Gefühl auch nur deshalb so stark, weil er noch nicht richtig erwachsen war.

Vielleicht verginge es nie, und er würde auch nie richtig erwachsen.

Travis’ Elternhaus lag fünfzehn Kilometer außerhalb von Landings Stadtgrenze. Von dort aus waren es noch fünf weitere Kilometer bis zu dem Stadtviertel, in dem er sich mit Bassit Corcoran treffen wollte. Wie üblich steuerten auch an diesem Abend die meisten anderen Verkehrsteilnehmer ihre Flugwagen unfassbar nachlässig, geradezu schlampig: Immer wieder verließen sie die Verkehrsbahnen, ignorierten Geschwindigkeitsbegrenzungen und andere Sicherheitsbestimmungen … zumindest, bis sie die Stadtgrenze erreicht hatten. Travis hingegen hielt sich peinlich genau an die Vorschriften, möglichst sogar an jede. Die Verkehrssünder bedachte er mit Verwünschungen, die er zwischen zusammengebissenen Zähnen bei jedem schlimmeren Verstoß hervorstieß – was selbstredend keinerlei Effekt auf die so Verwünschten hatte.

Bassit und zwei Jungs aus dessen Clique warteten schon an der Ecke, die sie Travis als Treffpunkt genannt hatten. Sie schauten zu, wie Travis den Flinx sanft neben dem Gehweg aufsetzte. Während er den Flugwagen noch ordnungsgemäß herunterfuhr, überquerten die drei Teenager schon die Straße und traten dicht an das Fahrzeug heran.

»Schöne Landung«, kommentierte Bassit beifällig, kaum dass Travis die Fahrertür aufgestoßen hatte. »Und? Hast dir deine Mom Ärger gemacht, weil du den Flugwagen genommen hast?«

»Kein bisschen«, gab Travis zurück und ließ die Antwort reflexartig so klingen, als sei das etwas Gutes.

Einer der anderen schüttelte den Kopf. »Hast du ein Schwein!«, meinte er. »Leute wie du könnten genauso gut …«

»Klappe, Pinker«, würgte Bassit ihn ab. Es war eine beiläufig klingende Äußerung, er hatte nicht einmal die Stimme erhoben.

Pinker verstummte sofort.

Ganz plötzlich wurde Travis warm ums Herz, vor Bewunderung sozusagen, und aus dem Gefühl heraus, dazuzugehören … und dieses warme Gefühl vertrieb den Kloß in seinem Hals. Die meisten Lehrer waren der Ansicht, Bassit habe schlechten Einfluss auf andere, was ihm mindestens zweimal pro Woche Ärger einbrachte. Travis sah einen anderen Grund für den Dauerkonflikt: Bassit wusste sehr genau, was er wollte, und scheute sich nicht, alles daranzusetzen, sein Ziel auch zu erreichen.

Dort draußen, in jener düsteren Welt voller Ungewissheit, würde es Bassit gewiss weit bringen, da war sich Travis sicher. Er schätzte sich glücklich, von Bassit bemerkt worden zu sein und, vor allem, sich zu Bassits engstem Kreis von Freunden und Vertrauten zählen zu dürfen.

»Und was machen wir heute?«, fragte Travis, stieg aus und schloss die Fahrertür hinter sich.

»Bei Aampersand ist heute Ausverkauf«, meinte Bassit. »Das sehen wir uns an.«

»Ausverkauf?« Travis blickte sich um und runzelte die Stirn. Die meisten Läden im Viertel waren um diese Uhrzeit tatsächlich noch geöffnet, aber sonderlich viele Fußgänger oder Fahrzeuge waren nicht zu sehen. Normalerweise zogen Ausverkäufe doch deutlich mehr Kunden an – vor allem bei einem hochpreisigen Juwelier wie Aampersand!

»Ja, Ausverkauf«, wiederholte Bassit, und sein Tonfall machte sehr deutlich, dass dieses Thema nicht weiter zu diskutieren wäre. Das war eine seiner Spielregeln: Wenn er sich einmal entschieden hatte, was seine Clique unternähme, dann machte man entweder mit – oder ging nach Hause.

Nach Hause aber wollte Travis auf gar keinen Fall.

»Okay, klar«, sagte er, »und was hast du vor zu kaufen?«

»Och, nichts Bestimmtes, bin breit gefächert aufgestellt sozusagen«, entgegnete Bassit. Pinker kicherte, doch ein kurzer Blick von Bassit brachte ihn augenblicklich zum Schweigen. »Jammys Freundin hat bald Geburtstag, da helfen wir ihm, was richtig Schönes für sie auszusuchen.« Er legte Travis die Hand auf die Schulter. »Pass mal auf, die Sache ist die: Wir haben auch einen Tisch bei Choy Renk reserviert, und da wollen wir nicht zu spät kommen. Deswegen möchte ich, dass du hierbleibst und den Wagen für den Abflug vorbereitest. Dann können wir gleich abheben, wenn wir fertig sind.«

»Klar«, bestätigte Travis und war erleichtert. Für Schmuck interessierte er sich nicht sonderlich, und die Erinnerung daran, dass all die anderen eine Freundin hatten, während er immer noch solo war, steigerte seine Laune nicht gerade. Sollten die lieber ohne ihn Gold, Diamanten und das ganze andere Glitzerzeug bestaunen!

»Aber sieh zu, dass du auch wirklich starten kannst, sobald wir in den Flugwagen hüpfen«, betonte Bassit noch einmal und gab ihm einen kurzen Klaps auf die Schulter. Dann, nachdem er Blickkontakt zu den beiden anderen aufgenommen hatte, sagte er: »Herrschaften? Legen wir los.«

Die drei stiefelten die Straße hinunter. Travis blickte ihnen hinterher, und erst jetzt bemerkte er, dass er gar nicht wusste, für wie viel Uhr der Tisch in dem Restaurant reserviert war.

Das könnte ein echtes Problem werden. Vor ein paar Monaten, als Pinker etwas für seine Freundin gesucht hatte, hatte die ganze Clique stundenlang Auslagen betrachtet, bis er endlich etwas gefunden hatte. Wenn Jammy jetzt ebenso gründlich und entschlusslos wäre, dann könnte es schwierig werden, ihn überhaupt jemals wieder aus dem Juwelier herauszuholen.

Travis grinste schief. Na ja, ihm würde das vielleicht Schwierigkeiten bereiten, Bassit hingegen nicht. Wäre es an der Zeit, zu gehen, täten sie es – und für welche Uhrzeit auch immer der Tisch reserviert wäre: Sie würden pünktlich dort ankommen.

Vorausgesetzt natürlich, Bassit dachte daran, dass Travis unbedingt darauf bestand, alle Geschwindigkeitsbegrenzungen einzuhalten. Aber warum sollte Bassit das vergessen?

Also ließ Travis das Grübeln und blickte sich um. Er wusste vom Hörensagen, dass die Geschäfte in diesem Teil der Stadt ziemlich rasch kamen und gingen. Ständig machte der eine Laden zu, während ein anderer Neueröffnung feierte. Zumindest in letzter Zeit war dieses Viertel wirklich zu einer Art Durchlauferhitzer geworden: Vor zwei Monaten war Travis das letzte Mal hier gewesen, und seitdem war aus einem der Cafés eine Bäckerei geworden, der Blumenladen hatte sich in ein Spezialgeschäft für Sammlerobjekte aller Art verwandelt, und in dem Haushaltswarenladen für gehobene Ansprüche …

Ihm stockte der Atem: In dem ehemaligen Haushaltswarenladen war jetzt ein Rekrutierungsbüro der Königlich-Manticoranischen Navy! Durch eine große Glasscheibe sah Travis eine junge Frau in Navy-Uniform. Die Frau saß hinter einem Schreibtisch und las etwas auf ihrem Tablet-Rechner.

Eine ganze Reihe alter, beinahe schon vergessen geglaubter Erinnerungen durchzuckten Travis: sein Vater, der seinem fünf Jahre alten Sohn Geschichten aus der Zeit erzählte, die er bei der Navy von Eris Dienst getan hatte. Travis war noch klein gewesen, leicht zu beeindrucken, und ihm waren die Geschichten exotisch erschienen, wie tollkühne Abenteuer.

Nun, wenn er jetzt, deutlich gereifter, an diese Geschichten zurückdachte, schien ihm, als habe zum Dienst bei der Navy deutlich mehr Routine und Langeweile gehört, als sein Vater hatte durchblicken lassen wollen. Trotzdem: Ein, zwei Prisen tollkühne Abenteuer waren sicher dabei gewesen.

Noch anziehender für Travis war etwas anderes: Alles, was er über militärische Organisationen gelesen hatte, jede seiner sämtlichen Quellen wusste eines zu sagen: Zum Militär gehörten unverrückbar Tradition, Disziplin und Ordnung.

Ordnung.

Wahrscheinlich würde die Navy ihn sowieso nicht nehmen. Er war keineswegs Klassenbester und dabei in etwa so sportlich wie eine Nacktschnecke. Nachdem Winterfall, die Baronie seiner Familie, schon vor langer Zeit seinem Halbbruder Gavin zugefallen war, besaßen weder Travis selbst noch dessen unmittelbare Familie politisch genug Einfluss, um in der Navy überhaupt einen Fuß in die Tür zu bekommen.

Doch Bassit und die anderen würden jetzt sowieso mindestens eine halbe Stunde lang einkaufen – wahrscheinlich noch länger. Die Dame im Anwerbungsbüro war allein, also wären keine Zeugen vor Ort, wenn sie ihn einfach nur schallend auslachte.

Fragen schadete ja nichts.

Als Travis eintrat, blickte die Frau hinter dem Schreibtisch auf.

»Guten Abend«, begrüßte sie ihn mit einem einladend freundlichen Lächeln. Sie legte sofort ihr Tablet beiseite und stand auf. »Ich bin Lieutenant Blackstone von der Royal Manticoran Navy. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich wollte mich nur ein bisschen informieren«, antwortete Travis, und sein Mut sank, während er zögerlich auf die Dame hinter dem Schreibtisch zuging. Blackstone war nun wirklich ein angesehener Name. Der Blick der Frau verriet Intelligenz, ihr Art zu reden Entschlusskraft, und selbst durch die Uniform hindurch konnte Travis erkennen, wie durchtrainiert der Lieutenant war. Das waren gleich drei Punkte, die deutlich gegen ihn sprachen … und er hatte noch nicht einmal den Schreibtisch erreicht.

Aber immerhin war er schon einmal hier, in diesem Büro. Also warum die Sache jetzt nicht durchziehen?

»Dann sind Sie hier richtig«, sagte sie und bedeutete ihm, in einem der Besuchersessel vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. »Ich nehme an, Sie suchen Karriereperspektiven und Aufstiegsmöglichkeiten, richtig?«

»Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht so genau«, gestand Travis. »Hierherzukommen war eher ein spontaner Entschluss.«

»Verstanden«, sagte Blackstone. »Aber gestatten Sie mir die Bemerkung: Was auch immer Sie sich für die Zukunft vorstellen, die Royal Manticoran Navy bietet auf jeden Fall den idealen Ausgangspunkt.« Es entging Travis nicht, dass sich ihre Sprechweise geringfügig verändert hatte – fast, als lese sie ein unsichtbares Skript ab. »Karrieretechnisch bieten wir einige der besten Chancen im ganzen Königreich. Und falls Sie zu dem Ergebnis kommen sollten, dass das Leben bei der Navy doch nichts für Sie ist, können Sie schon nach fünf Jahren den Dienst quittieren, haben dann aber ein Training und eine Ausbildung vorzuweisen, mit der Sie bei jedem Stellenangebot mühelos zivile Mitbewerber ausstechen – ganz egal, in welches Fachgebiet es Sie zieht. Jetzt, wo sich das Königreich allmählich von der Seuche erholt, gibt es auch in der zivilen Wirtschaft stets Bedarf an gut ausgebildeten Mitarbeitern oder Führungskräften, und das wird noch über Jahrzehnte hinweg so bleiben. Jemand, der die Ausbildung und die Disziplin eines Navy-Veteranen aufzubieten hat, kann mit Spitzengehältern rechnen. So oder so: Sie können hier eigentlich nur gewinnen.«

»Das klingt ziemlich gut«, meinte Travis. Doch wo er nun darüber nachdachte: Gab es nicht im Parlament eine Fraktion, die fest entschlossen war, die Navy abzuschaffen? Wenn das geschähe, dann wäre wohl nichts mit Aufstiegschancen oder Ausbildung!

»Wäre die Kadettenanstalt für Sie vielleicht von Interesse?«, fuhr Blackstone fort. »Dort werden die Männer und Frauen ausgebildet, die sich für die Offizierslaufbahn entschieden haben.«

»Ich weiß nicht«, antwortete Travis und merkte, dass er sich ein wenig entspannte. Sollte diese Frau glauben, er wolle sie nur veralbern, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Und ihre Uniform sah auf jeden Fall schneidig aus. »Vielleicht schon. Was gibt es denn da auf Aufnahmebedingungen?«

»So schlimm sind die gar nicht«, versicherte ihm Blackstone. »Natürlich ist ein gewisser Auswahlprozess unerlässlich. Die schulischen Leistungen müssen – neben ein paar anderen Kriterien – ein gewisses akademisches Niveau erfüllen. Alles nicht so wild.«

»Oh«, machte Travis, und die kurz aufgekeimte Hoffnung legte sich rasch wieder. Schulische Leistungen, akademisches Niveau, tja. »Dann werde ich wohl kaum …«

In dem Augenblick fiel irgendwo auf der Straße ein Schuss.

Travis wirbelte in seinem Sessel herum. Ein entsetzlicher Verdacht keimte in ihm auf, und sofort verkrampfte sich sein Magen … Gleich darauf wurde aus Verdacht Gewissheit: Bassit … der angebliche Geburtstag von Jammys Freundin … die sonderbare Beule unter Pinkers weitem Mantel, über die Travis überhaupt nicht nachgedacht hatte …

Ein weiterer Schuss dröhnte auf und noch einer – zwei Schüsse unmittelbar hintereinander … und es klang etwas tiefer. Travis wollte aufspringen …

»Hiergeblieben!«, wies ihn Blackstone an. Den Schreibtisch umrunden, Travis, die Hand auf seiner Schulter, zurück in den Sessel drücken und an ihm vorbei zur Tür hasten, war eins. Eine kleine, sehr gefährlich wirkende Pistole hatte Blackstone auch noch gezogen und jetzt, wo sie die Tür erreicht hatte, öffnete sie, die linke Schulter fest gegen den Türpfosten gepresst, schussbereit und sehr umsichtig die Tür.

Erneut das tiefe Doppel-Dröhnen, dann antwortete wieder die schriller klingende Waffe, die, aus der der erste Schuss abgegeben worden war. Travis sprang auf. Er konnte nicht einfach nur sitzen bleiben, sondern lief zu Blackstone hinüber.

»Was is’n da los?«, flüsterte er, während er sich mit der Schulter gegen die Wand lehnte, dem Lieutenant gegenüber genau auf der anderen Seite der Tür.

»Klingt ganz wie ein Raubüberfall«, meinte sie und durchbohrte Travis mit ihrem Blick. »Freunde von Ihnen?«

Travis’ Zunge schien mit einem Mal an seinem Gaumen festgewachsen. Was sollte er denn jetzt bloß sagen?

»Hatte ich bisher zumindest gedacht.«

»Hm.« Als zwei weitere Schüsse fielen, schaute der Lieutenant wieder zur Tür. »Na ja, dann hoffe ich mal, dass Sie die nicht übermäßig vermissen, denn so bald sehen Sie die nicht wieder. In wenigen Minuten sollten die Cops hier sein, und wenn die Spinner jetzt noch nicht getürmt sind, schaffen sie’s nicht mehr. Und welche Rolle sollten Sie bei der ganzen Sache spielen?«

Kurz überlegte Travis, ob er den Lieutenant anlügen sollte. Aber Blackstone hatte sich die ganze Geschichte wahrscheinlich sowieso schon zusammengereimt.

»Die haben mir erzählt, sie hätten in einem Restaurant einen Tisch reserviert«, erklärte er. »Vorher müssten sie noch ein bisschen einkaufen, und ich sollte startbereit sein, sobald sie zurückkämen.«

»Und wo wollten Ihre sauberen Freunde einkaufen? Bei Aampersand?«

»Genau.«

Blackstone stieß ein Brummen aus. »Mächtig großer Fehler! Der Goldschmiedgeselle bei Ampersand ist ein Cop im Ruhestand. Und warum gerade Sie?«

»Meine Mom hat ’nen Flugwagen«, erklärte Travis. »Die haben sich wohl gedacht, damit könnten die schneller wegkommen als mit einem normalen Wagen.«

»Und? Hätten sie damit recht?«

Verdutzt blickte Travis sie an. »Was?«

»Wäre ein Flugwagen wirklich das bessere Fluchtfahrzeug?«

Nachdenklich musterte Travis das Profil der Offizierin, und in seiner Magengrube mischte sich Verwirrung unter die dort vorherrschende Angst. Was für eine Frage war das denn, bitte schön? Versuchte sie gerade, ihn dazu zu bringen, sich selbst zu belasten? Hatte er das nicht ohnehin schon getan – mehr oder weniger zumindest?

»Ich versteh die Frage nicht.«

»Zeigen Sie mir, dass Sie denken können«, forderte sie ihn auf. »Zeigen Sie mir, dass Ihnen Logik nicht fremd ist. Erklären Sie mir, welchen Denkfehler Ihre sogenannten Freunde gemacht haben.«

Ein Teil von Travis’ Verwirrung verwandelte sich in vorsichtige, nur halb ernst genommene Hoffnung. Ließ sie ihn damit wissen, dass sie ihn nicht der Polizei zu übergeben beabsichtigte?

Anscheinend ja.

Er atmete tief durch, verdrängte bewusst jeden Gedanken daran, was gerade mit Bassit und den anderen geschah, und konzentrierte sich ganz auf das Logikproblem, das Lieutenant Blackstone ihm gerade gestellt hatte.

»Flugwagen sind zwar schneller, aber es gibt in der Stadt nicht so viele davon«, setzte er an. »Also sind sie viel leichter zu identifizieren.«

»Gut«, gab Blackstone beifällig zurück. »Und?«

Travis schnürte es die Kehle zu, als ihm bewusst wurde, dass mittlerweile keine Schüsse mehr fielen. Was auch immer gerade geschehen sein mochte: Anscheinend war es vorbei.

»Und sobald man über die Gebäudehöhe hinauf aufsteigt, ist man in jeder Richtung noch aus fünf Kilometern Entfernung mühelos zu erkennen«, fuhr er fort. »Die Cops hätten einen dann während der gesamten Verfolgungsjagd ständig im Blickfeld.«

»Und wenn man zwischen den Gebäuden hin- und herflitzt?«, bohrte der Lieutenant nach.

Das ist verboten, war reflexartig Travis’ erster Gedanke. Aber selbstverständlich würde sich jemand, der gerade eben ein Juweliergeschäft ausgeraubt hatte, kaum Gedanken um die Verkehrsvorschriften machen.

»Na ja, wenn man nicht mit Schwung gegen was kracht und dabei umkommt«, ging er diese neue Überlegung bedächtig an, »würde man auf dem Kollisionswarnsystem jedes anderen Flugwagens rot markiert. Oh … klar. Die Polizei bräuchte dann nur der Spur auf den Kollisionswarnsystemen zu folgen und könnten sich ganz nach Belieben aussuchen, wo sie einen zur Landung zwingt.« Er wagte ein Lächeln. »Und zusätzlich zum bewaffneten Raubüberfall könnte sie einem dann auch noch ein Dutzend Verkehrsübertretungen zur Last legen.«

Zu Travis’ großer Überraschung erwiderte Blackstone sein Lächeln.

»Sehr gut. Und was noch?«

In der Ferne waren Polizeisirenen zu hören. Sie kamen rasch näher. Wieder musste Travis Bassit und die anderen aus seinen Gedanken ausblenden, um nach der Antwort auf Blackstones Frage zu suchen.

Doch dieses Mal kam er zu keinem Ergebnis.

»Ähm, keine Ahnung«, gestand er.

»Sie haben den grundlegendsten Fehler überhaupt begangen«, antwortete Blackstone und blickte Travis nachdenklich an. »Sie haben sich den falschen Mann für den Job ausgesucht.«

Travis verzog das Gesicht. »Tja, stimmt wohl.«

»Ich rede hier nicht davon, ob Sie gut oder schlecht darin sind, einen Flugwagen zu steuern«, sagte Blackstone. »Ich rede nicht einmal davon, dass Sie Leuten die Treue halten, die es wirklich nicht verdient haben. Ich rede davon, dass jemand, der nicht in den Plan eingeweiht ist, wohl kaum genug Tempo vorlegen wird, wenn der Rest der Bande mit rauchenden Colts aus dem ausgeraubten Juweliergeschäft gestürmt kommt, die Taschen voller Geschmeide.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Und schon gar nicht, wenn besagte Person auch noch Prinzipien hat. Sie haben doch Prinzipien, oder nicht, Mister …?«

Travis nahm all seinen Mut zusammen. »Long«, sagte er. »Travis Uriah Long. Und, ja: schätze schon.« Erneut versuchte er sich an einem Lächeln. »Gehört denn Prinzipientreue zu den Auswahlkriterien für Flottenoffiziere?«

»Wenn dem so wäre, wäre das Offizierskorps deutlich kleiner«, versetzte Blackstone trocken. »Aber auch wenn nach Prinzipien zu leben kein Auswahlkriterium ist, ist es doch zumindest von Vorteil. Wollen wir dann wieder reingehen und uns um den Datenkram kümmern?«

Zwei Polizei-Flugwagen setzten auf; der Schein ihrer rot und blau blinkenden Einsatzleuchten tauchte die Straße in unwirkliches Stroboskoplicht.

»Ich weiß nicht«, sagte Travis und spürte erneut, wie es ihm die Brust zusammenschnürte, als ein Cop nach dem anderen aus den Fahrzeugen gestürmt kam, die Waffe im Anschlag. Blackstone hatte recht: Wenn Bassit und die anderen das Viertel nicht längst verlassen hatten, waren sie spätestens jetzt erledigt.

Und wenn sie nach all dem Herumballern überhaupt noch lebten, würden sie früher oder später ein Geständnis ablegen.

»Einen Versuch ist’s doch allemal wert«, setzte Blackstone nach. »Die Auswahlverfahren dauern normalerweise zwei bis vier Wochen, und Sie können es sich die ganze Zeit über jederzeit anders überlegen.«

Und wenn im Rahmen dieser Geständnisse auch der Namen desjenigen fiele, der das Fluchtfahrzeug hätte steuern sollen …

»Was ist mit der normalen Navy?«, fragte er. »Nicht die Offizierslaufbahn, sondern normale Mannschaftsdienstgrade? Wie lange dauert das da?«

Blackstone runzelte die Stirn.

»Wenn sich in Ihren Datensätzen nicht etwas übermäßig Auffälliges findet, dann könnten wir Sie noch Ende dieser Woche zum Ausbildungslager Casey-Rosewood verschiffen.«

»Sie meinen, von einem Eintrag wegen der Beteiligung an einem bewaffneten Raubüberfall abgesehen?«

»Dürfte ziemlich schwierig werden, Ihnen dieses Ding hier anzuhängen«, versetzte Blackstone. »Zumal Sie sich eindeutig hier bei mir befunden haben, als das Ganze stattgefunden hat. Sind Sie sich sicher, nicht doch die Offizierslaufbahn anzustreben?«

»Ganz sicher«, bestätigte Travis und fragte sich, wie seine Mutter wohl darauf reagieren würde, dass sein ganzes Leben eine derart unerwartete Wendung nehmen sollte. Oder ob sie es überhaupt bemerken würde. »Sie hatten gesagt, es gäbe noch Datenkram zu erledigen?«

»Ja.« Noch einmal blickte Blackstone auf die Straße hinaus, dann schloss sie die Tür, was das Polizei-Stroboskoplicht zumindest dämmte. »Noch etwas«, setzte sie hinzu, während sie ihre Waffe in das Holster zurückschob. »Vorhin habe ich Ihnen gesagt, Sie sollten sitzen bleiben. Sind Sie aber nicht. Vergessen Sie nicht, dass Sie bei der Navy auf jeden Fall lernen müssen, Befehle zu befolgen.«

Travis lächelte. Es war sein erstes echtes Lächeln an diesem Tag. Zum ersten Mal seit Jahren keimte in ihm vorsichtige Hoffnung auf, wenn er an die Zukunft dachte.

»Klar«, sagte er, »ich glaube, das krieg ich hin.«

2

Es gibt einen beliebten Witz: Ein Mann geht zum Makler. Ich suche ein Haus, aber nicht irgendeins. In einem wirklich irren Haus, einem so richtig abgefahrenen, da könnte ich mich wohlfühlen, sagt der Mann. Dann lassen Sie sich zum Oberhaus bringen, sagt der Makler. Das ist das abgefahrenste Irrenhaus, das ich kenne.

An diesen Witz musste Gavin Vellacott, zweiter Baron von Winterfall, unwillkürlich denken, als er den überfüllten Korridor entlanghastete, den er nur Minuten zuvor in umgekehrter Richtung, nämlich hin zu seinem Büro, genommen hatte. Es gab Tage, da enthielt dieser Witz erschreckend viel Wahrheit, viel zu viel, um noch lustig zu sein.

Heute war einer dieser Tage.

Angefangen hatte es damit, dass der Bewilligungsausschuss zusammengetreten war. Gavin gehörte diesem Ausschuss zwar nicht an, aber wegen einer Terminüberschneidung, nicht der ersten im Übrigen, hatte Gräfin Calvingdell ihn gebeten, für sie einzuspringen. Dann hatte Bildungsminister Earl Broken Cliff noch rasch eine Abstimmung anberaumt, weshalb Gavin dann in etwa so würdevoll wie ein aufgescheuchtes Huhn im Laufschritt das Gebäude zu durchqueren gehabt hatte … und das dann auch noch völlig umsonst.

Nachdem er in seinem Büro angekommen war, versprach der Tag aber auch nicht besser zu werden. Denn hier, zum Abschluss des Tages, hatte er auf seinem Schreibtisch eine persönlich überbrachte Nachricht von Schatzkanzler Earl Breakwater vorgefunden. Der Schatzkanzler bat umgehend um ein Gespräch.

Wenn das zweitwichtigste Mitglied der Regierung Seiner Majestät jemanden umgehend zu sprechen wünschte, dann bedeutete das: jetzt sofort, und zwar flott!

Mit dem üblichen eingeübt nichtssagenden Lächeln einer Vorzimmerdame führte Breakwaters Sekretärin Gavin durch das Vorzimmer, klopfte an und kündigte den Besucher an, ehe sie ihn eintreten ließ.

Erst als Gavin schon zwei Schritt weit im Raum war, ging ihm auf, dass Breakwater nicht allein war. In seinem Amtszimmer befanden sich auch Baronin Castle Rock, Earl Chillon und Baronin Tweenriver. Mit diesen vier Personen war in dem Zimmer eine politische Schlagkraft versammelt, die gewaltig genannt werden durfte. Was gesellschaftlichen Rang und sozialen Status anging, waren sie alle oberhalb von Gavin angesiedelt … und sie alle blickten dem Neuankömmling mit völlig ausdruckslosen Mienen entgegen.

Was zum Teufel war los?

»Kommen Sie herein, Mylord«, lud ihn Breakwater ein und deutete auf den freien Sessel neben Tweenriver. »Ich danke Ihnen dafür, dass Sie Zeit gefunden haben, zu uns zu stoßen. Darf ich davon ausgehen, dass Jakobs Abstimmung so einiges anzustoßen vermocht hat?«

»Nicht so recht, Mylord«, erwiderte Gavin. Endlich gehorchten ihm seine Beine wieder, und er konnte das geräumige Büro durchqueren, um den angebotenen Platz einzunehmen. Was auch immer vor sich gehen mochte: Gavin Vellacott war fest entschlossen, den Anschein von Professionalität und Beiläufigkeit zu wahren, als wäre eine Besprechungen auf höchster politischer Ebene für ihn an der Tagesordnung. Egal, wie unbedeutend seine Baronie war. »Wie üblich kollidierten reichlich Interessen und bremsten aus, was an praktikablen Lösungen denkbar gewesen wäre.«

Chillon schnaubte leise. »Na, das ist ja mal eine Überraschung«, grunzte er.

»Auf das Parlament ist, was das angeht, stets Verlass«, pflichtete Castle Rock bei.

»Eine Zuverlässigkeit, die erstarrten Positionierungen entspringt«, versetzte Chillon abfällig. »Da ändert sich nie etwas … außer hin und wieder die Namen. Ansonsten bleibt man dabei, einander bei der Verteidigung des eigenen Reviers hemmungslos in den Rücken zu fallen, betreibt Besitzstandswahrung und versorgt seine Seilschaften und Speichellecker mit lukrativen Posten. Um daran etwas zu ändern, müssten wir sie gehörig aufscheuchen.« Der Blick aus seinen dunklen Augen, die unter buschigen, weißen Brauen tief in den Höhlen lagen, war geradewegs auf Gavin gerichtet. »Und zwar alle.«

Gavin entgegnete nichts, sondern gab sich ganz den Anschein, sich der überaus komplexen Aufgabe zu widmen, in dem ihm zugewiesenen Sessel Platz zu nehmen. Was sollte er auf eine solche Bemerkung auch erwidern? Dankenswerterweise nutzte Breakwater die entstandene Gesprächspause.

»Genau das ist Anlass für diese Zusammenkunft, Mylord«, erklärte er. »Wir vier – und einige andere – haben einen Vorschlag ausgearbeitet, mit dem wir hoffen, eben jene permanente Pattsituation zu beenden, mit der sich das Parlament schon abgefunden zu haben scheint.« Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Kurz gesagt, Gavin – ich darf Sie doch Gavin nennen?«

»Selbstverständlich, Mylord«, erwiderte Gavin sofort. Die unerwartete Vertraulichkeit hatte ihn kurz aus der Bahn geworfen – solange, bis er begriff, dass genau das Breakwaters Absicht gewesen sein dürfte. Der Illusion, Breakwater werde ihm seinerseits ebenfalls diese vertraute Anrede zugestehen, gab sich Gavin nicht hin.

»Danke«, fuhr Breakwater fort. »Kurz gesagt, Gavin, wir schlagen eine vollständige Neuorganisation der Royal Manticoran Navy vor.«

Enttäuschung durchzuckte Gavin. Nach dieser Einleitung – und gerade angesichts des immensen politischen Einflusses, von dem er sich hier umgeben sah – hatte er mit etwas deutlich … Spektakulärerem gerechnet. Pläne und Für-und-Wider-Argumente hinsichtlich der Zukunft der RMN waren in der politischen Landschaft des Sternenkönigreichs mindestens ebenso so allgegenwärtig wie Häufchen in den Hundezwingern seiner Mutter.

»Ich verstehe«, sagte er nur.

»Das bezweifle ich«, widersprach Chillon. »Wir wollen uns schließlich nicht O’Dae und seinem abgedroschenem Anti-Schlachtkreuzer-Plan anschließen.«

»Oder Dapplelake«, fuhr Breakwater fort, »der die Hoffnung nicht aufgibt, das Parlament könnte sämtliche Einnahmen als Budget auf seinen Schreibtisch schaufeln und ihm Gelegenheit geben, mit seiner Flotte in die Galaxis hinausziehen, um sich jemanden zu suchen, der sich anständig bekämpfen lässt.« Verachtung färbte seinen Tonfall. »Nein, wir sind der Ansicht, den Mittelweg gefunden zu haben, einen Weg, der real existierende politische und wirtschaftliche Gegebenheiten berücksichtigt.«

Was ein echtes Novum für das Parlament wäre. »Das klingt interessant«, sagte Gavin. »Darüber würde ich gern mehr erfahren.«

Breakwater tauschte einen Blick mit Castle Rock, die, das sah Gavin aus dem Augenwinkel, dem Schatzkanzler unmerklich zunickte. Anscheinend hatte man ihr im Vorfeld die Aufgabe übertragen, die Antworten und auch die Körpersprache des ›Neuzugangs‹ zu begutachten … und zu beurteilen, ob er wohl der Richtige für den Job wäre.

Was immer der Job nun sein mochte.

»Sie kennen ja gewiss die Geschichte der Royal Manticoran Navy«, wandte sich Breakwater wieder an Gavin. »Erst waren es vier Fregatten, die dank des Trusts das Kolonistenschiff auf dem Planeten in Empfang nehmen konnten. Siebzehn Jahre später, als die ersten Gefechte mit der Freien Bruderschaft anstanden, waren es schon neunzehn, und im Laufe der nächsten vierzig Jahre wuchs die Flotte auf insgesamt vierunddreißig Kriegsschiffe an.«

»Momentan«, fiel Chillon grollend ein, »haben wir achtundzwanzig davon am Hals, und jedes verdammte Schiff saugt das Schatzamt aus wie ein gottverdammter Riesenblutegel!«

»Und zieht auch noch Arbeitskräfte ab, die unsere zivile Wirtschaft verdammt noch eins viel dringender benötigen würde als die Navy!«, warf Breakwater ein. »Der Seuche wegen fehlen uns qualifizierte Leute an allen Ecken und Enden, und trotz der mühevollen Vorarbeit, die der Trust geleistet hat, bevor die Jason hier eingetroffen ist, hinken wir, was Technik- und Industriekapazität vor Ort betrifft, dem Rest der Galaxis hinterher. Uns fehlt ja nicht nur das Geld, das erforderlich wäre, um die Flotte zu dem zu machen, was sich Dapplelake zusammenspintisiert. Wir können es uns einfach nicht leisten, derart viele gut ausgebildete Arbeitskräfte auf Schiffe zu verschwenden, die keinen gottverdammten Deut zur Wirtschaftsleistung des Sternenkönigreichs beitragen.«

»Und das gilt besonders für die neun völlig nutzlosen Schlachtkreuzer«, setzte Castle Rock hinzu.

»Ganz genau«, bestätigte Chillon und nickte. »Die nutzen niemandem etwas – außer den Offizieren und Besatzungen, die dort faul auf ihrem Hintern sitzen.«

»Genau genommen befinden sich nur zwei oder drei davon tatsächlich offiziell im Dienst«, brummelte Tweenriver. »Je nachdem, wie man zählt.«

»Irrelevant«, tat Chillon den Einwand ab und rümpfte die Nase. »Denn in Dienst gestellt heißt ja nun nicht, dass die auch wirklich etwas tun.« Mit dem ausgestreckten Zeigefinger wies er auf Gavin. »Ein schönes Beispiel dafür: Jakobs festgefahrene Abstimmung heute. Würde dem Bildungsministerium auch nur ein Zehntel des Budgets der Royal Manticoran Navy zugewiesen, glauben Sie vielleicht, es würde immer noch derart erbittert darum gestritten, wie die zur Verfügung stehenden Gelder auszugeben wären?«

Gavin war sich dessen sogar sicher. Zum einen war das Bildungskomittee schon bei den Grundsatzfragen gespalten. Solange sich die Zusammensetzung dieses Ausschusses nicht drastisch änderte, würde das wohl auch weiterhin so bleiben – egal, ob zusätzliche Gelder zur Verfügung stünden oder nicht.

Aber darauf wollte Chillon natürlich nicht hinaus. Ihm ging es um etwas anderes: Welchen Stand das Konto auch immer aufweisen mochte, das das Sternenkönigreich in der Solaren Liga angelegt hatte: Dieses Geld war weit, weit entfernt, und ein beachtlicher Teil der Gesamtsumme war bereits für die Einwanderungsbeihilfe vorgesehen. Die Mittel, die hier und jetzt zur Verfügung standen, waren deutlich eingeschränkter. Wie Breakwater und seine Verbündeten nur zu gern wieder und wieder betonten: Zu den Aufgaben des Parlaments gehörte auch, dafür zu sorgen, dass besagte Mittel so weise und effizient wie möglich genutzt würden.

Natürlich ging es hier – dank der unermüdlichen Anstrengungen all der Centfuchser, die immer das Budget der Flotte im Blick hatten – in Wahrheit um ein recht überschaubares Budget. Es stimmte schon: Es würde eine Stange Geld kosten, alle Schiffe wieder in Dienst zu stellen. Denn als die Seuche seinerzeit ihren Höhepunkt erreicht hatte, hatte man die Schiffe so hastig demobilisiert, dass dabei deren Systeme zweifellos beachtlich Schaden genommen hatten. Doch im Vergleich zum derzeitigen Ausgabenvolumen war das eine Summe, die aufzubringen sich gewiss schultern ließe: Die Wirtschaft des Sternenkönigreichs erholte sich stetig – dank der Einwanderer, die in Scharen herbeiströmten und ihre dringend benötigte Arbeitskraft Manticore zur Verfügung stellten.

Trotz der hohen Einwandererzahlen blieb eines eine Tatsache und war das eigentlich schlagkräftige Argument, das Chillon vorbrachte: Zum Wiederaufbau der Navy wäre es nötig, die Schiffe zu bemannen, und Gavin musste Chillon recht geben: Die dafür benötigte Mannstärke stand in direkter Konkurrenz zu den Bedürfnissen der zivilen Wirtschaft, und zweifellos würden Dapplelakes hochfliegende Pläne die Personalkosten schon rasch in wirklich beängstigende Höhen schrauben. Also ging es letztendlich doch um Geld: Denn die veralteten Schiffe der Royal Manticoran Navy auf ein akzeptables Technikniveau zu bringen, würde mehr als nur eine Stange Geld kosten.

Andererseits …

»Ich weiß nicht recht, ob es wirklich eine gute Idee wäre, die Navy vollständig abzuschaffen«, setzte er vorsichtig an und versuchte dabei, Breakwaters Mienenspiel zu ergründen. »Der Zwischenfall mit der Freien Bruderschaft …«

»Seien Sie doch nicht albern!«, fiel ihm Chillon ins Wort. »Niemand hier will die vollständige Verschrottung der Schiffe! Aber wir sollten realistisch bleiben: Die Chancen, dass sich jemand dort draußen überhaupt mit uns abzugeben gedenkt, sind doch verschwindend gering.«

»Und was die Freie Bruderschaft angeht: Das war ein Intermezzo, schon Jahrzehnte her, ehe Dapplelake es für seine Argumentation als Bedrohung von außen wieder aus dem Hut zauberte«, setzte Breakwater hinzu. »Die Gefahren, die dem Sternenkönigreich drohen, gehen nicht von außen aus, Gavin, nein, mein Lieber, die Bedrohung geht von unserer eigenen Welt aus!«

Gavins Miene versteinerte, er spürte es selbst. Wollte Breakwater hier wirklich andeuten …?

»Entspannen Sie sich«, beruhigte ihn Castle Rock, und ein belustigtes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Wir reden hier nicht von Hochverrat oder vom inneren Feind, wie es so hübsch altmodisch im Flotteneid heißt. Wir beziehen uns auf die allgegenwärtige Gefahr, die von Naturkatastrophen gleich welcher Art ausgeht – für die Transporter, Schürfschiffe und all die anderen Fahrzeuge, die das Territorium des Sternenkönigreichs durchqueren.«

»Oh«, gab Gavin zurück, ebenso erleichtert wie peinlich berührt. Das hätte er sich wirklich selbst denken können!

Und was die Risiken der Intersystemraumfahrt anging, hatten sie voll und ganz recht: Erst letzten Monat hatte eines der Schürfschiffe im Asteroidengürtel von ManticoreB seinen Stellarator verloren, und die Desintegration der Fusionsflasche hatte die gesamte Besatzung in den Tod gerissen. Ein unschöner Zwischenfall, aber bedauerlicherweise alles andere als selten.

»Baronin von Castle Rock hat recht«, setzte Breakwater nach. »Derzeit braucht das Sternenkönigreich nun wahrlich keine Flotte mit reichlich Kriegsschiffen und kampflüsterner Besatzung.« Er verzog das Gesicht. »Aber was wir brauchen, sind Arbeitskräfte, die unsere Tiefenraum-Infrastruktur wieder aufbauen. Es geht also nicht um Schiffe, sondern um Menschen! Die sind eine absolut unerlässliche Ressource, und die Navy wäre sehr viel nützlicher, wenn sie diese Menschen beschützen würde, statt uns vor imaginären interstellaren Feinden verteidigen zu wollen. Letztendlich läuft es also darauf hinaus, die Em-Pars-Flotte zu erweitern.«

»Ja, das ergibt durchaus Sinn«, meinte Gavin mehr zu sich selbst. Der MPARS – kurz für Manticoran Patrol and Rescue Service – patrouillierte auf den Schifffahrtswegen rings um die beiden Sonnen des Manticore-Systems. Dabei konzentrierte man sich besonders auf die Asteroidengürtel, in denen ein beachtlicher Teil der Rohstoffe des Sternenkönigreichs abgebaut wurden.

Die Idee, den MPARS zu vergrößern, aber war nun nicht gerade neu. Seit Gavin dem Parlament angehörte, hatte der Schatzkanzler Vorschläge in diese Richtung bereits mehrmals vorgebracht. Bislang jedoch hatte keiner seiner Vorstöße Boden gewinnen können … Wieder war es nicht nur Geldmangel, sondern Personalmangel, der zu deren Scheitern führte. Erst jetzt langsam konnte man durch den Zuzug von Neubürgern auf die nötigen Ressourcen zurückgreifen.

Natürlich steckten dahinter auch politische Überlegungen. Im Gegensatz zur Royal Manticoran Navy, die Earl Dapplelakes Verteidigungsministerium unterstand, war der MPARS dem Schatzamt unterstellt und gehörte damit zu Breakwaters Zuständigkeitsbereich.

Kurz musste Gavin an Chillons Bemerkung über Besitzstandswahrung zurückdenken.

»Ich könnte mir vorstellen, Dapplelake wird alle neuen, kleinen Schiffe, die das Sternenkönigreich erhält, als Kriegsschiffe ausgelegt wissen wollen«, gab er daher zu bedenken.

»Ja-haa, aber genau darum geht es ja«, gab Breakwater zurück. »Es werden ja auch Kriegsschiffe sein. Die Schaluppen, an die wir denken, werden ebenso effizient bewaffnet sein wie die Korvetten und Fregatten der Navy – jederzeit bereit, sich einer beizeiten aufkommenden externen Bedrohung anzunehmen.«

»Dabei aber dem Schatzamt unterstellt sein.«

Breakwater winkte ab. »Das war eine Art Betriebsunfall der Geschichte«, sagte er. »So hat man den MPARS damals eben angelegt. Mit mir persönlich hat das nichts zu tun.«

»Diese Schaluppen sollen auf die Verteidigung im Systeminneren ausgelegt sein«, griff Castle Rock den Gedanken auf, »nicht für jene Art Feldzüge außerhalb des Systems, für die Schlachtkreuzer so ideal sind.« Ihre Miene verriet vermutlich mehr Spott, als sie eigentlich beabsichtigt hatte. Sie gehörte schon lange einer Parlamentsfraktion an, die Dapplelake zutiefst misstraute und argwöhnisch nach extraterritorialen Abenteuern Ausschau hielt, auf die der Verteidigungsminister seine Flotte möglicherweise schicken wollte. »Für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemals wieder Plünderer wie die Freie Bruderschaft auf dumme Gedanken kommen, könnten wir sie dann mit mindestens ebenso vielen Raketen eindecken wie derzeit«, setzte sie hinzu.

»Und solange diese Schiffe nicht gerade damit beschäftigt sind, gegen mythische Schreckgestalten zu kämpfen«, übernahm nun wieder Chillon, »stünden sie zur Verfügung, uns bei jeder nur erdenklichen Art echter Schwierigkeiten zu unterstützen.«

»Ich verstehe«, sagte Gavin und bemerkte, dass er unwillkürlich die Stirn gerunzelt hatte. Die Idee ergab durchaus Sinn. Doch Breakwater und die anderen schienen fest entschlossen, geflissentlich den gewaltigen Hexapuma zu ignorieren, den sie gerade selbst anlockten. »Mir leuchtet durchaus ein, dass eine Flotte kleinerer Schiffe langfristig Geld sparen würde«, fuhr er also fort. »Aber im Augenblick haben wir diese Schiffe nicht. Also reden wir immer noch davon, dass neue Schiffe gebaut werden müssten … und ich wüsste wirklich nicht, woher die dafür erforderlichen Mittel kommen sollten.«

»Stimmt«, bestätigte Breakwater und nickte. »Als Schatzkanzler weiß ich über das Budget besser Bescheid als jeder andere auf Manticore. Sie haben absolut recht: Dieses Geld haben wir derzeit nicht. Es sei denn …«

Er ließ den Satz einen Augenblick lang in der Luft schweben. Unwillkürlich beugte sich Gavin einige Zentimeter vor.

»Es sei denn, die neuen Schiffe würden aus den bereits bestehenden Schiffen gebaut«, schloss Breakwater.

Erstaunt blinzelte Gavin: Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet.

»Wie bitte?«, fragte er vorsichtig nach.

Dieses Mal lag nicht nur auf Castle Rocks Gesicht ein selbstgefälliges Lächeln. Alle anderen Anwesenden taten es ihr gleich.

»Doch, doch, Sie haben das schon richtig verstanden«, versicherte ihm Chillon. »Sagen Sie, sagt Ihnen der Namen Martin Ashkenazy etwas?«

Gavin durchforstete sein Gedächtnis. Irgendwie kam ihm der Name tatsächlich bekannt vor, aber richtig einordnen konnte er ihn nicht. »Ich meine nicht.«

Chillons Lippe zuckte. Offenkundig Enttäuschung. Er erklärte: »Ashkenazy ist ein Schürfschiff-Konstrukteur. Hauptsächlich ist er für die zivile Raumfahrt tätig, und so hat ihn die Regierung eigentlich kaum auf dem Radar. Zugleich ist er der Enkel eines der Offiziere des Schlachtkreuzers Triumph – das Schiff, das vor etwas mehr als achtzig Jahren als Namensgeber der gleichnamigen Klasse fungierte. Es hat sich herausgestellt, dass er noch Kopien aller Diagramme und technischen Beschreibungen des Schiffes besitzt.«

»Und dank einiger dezenter Andeutungen unsererseits«, übernahm Breakwater, »ist er zu dem Schluss gekommen, jeden dieser eingemotteten Schlachtkreuzer könnte man auseinandernehmen und die Bauteile dann umbauen und neu zusammensetzen. Letztendlich sollten sich auf diese Weise jeweils zwei Schiffe in Korvettengröße bauen lassen.«

»Was?!« Gänzlich ungeplant platzte diese Frage aus Gavin heraus.

»Und das für einen Bruchteil der Kosten, die bei einem vollständigen Neubau anfallen würden«, fuhr Breakwater fort und ignorierte gnädig den respektlosen emotionalen Ausbruch seines Gastes.

»Wie wir schon sagten: Es geht darum, politische und wirtschaftliche Gegebenheiten deckungsgleich zu machen«, meinte nun Tweenriver.

»So also sieht der Plan aus«, schloss Breakwater die Erläuterung ab und blickte ihn durchdringend an. »Wie denken Sie darüber?«

»Das ist … sehr interessant«, brachte Gavin heraus und versuchte fieberhaft zu begreifen, wie das funktionieren sollte. Er hatte zwar noch nie einen Schlachtkreuzer aus der Nähe gesehen, aber Vids und Holos davon kannte er natürlich reichlich. Er versuchte sich einen solchen Umbau vorzustellen, scheiterte aber: Vor seinem geistigen Auge entstanden völlig deformierte Scheußlichkeiten – sozusagen die weltraumtaugliche Gegenstücke zu den missgestalteten, buckligen Menschenfressern aus den Alterden-Märchen, die er als Kind so gern gelesen hatte. Ein völlig absurder Gedanke durchzuckte seinen Verstand: Hans Christian Andersens Hässliches Entlein, tja …

»Natürlich kann man so ein Schiff nicht bloß in der Mitte durchschneiden und dann alle neu entstandenen Öffnungen einfach versiegeln«, spann Castle Rock den Gedanken weiter. »Da braucht’s einiges an Umbauten, Neuverkabelung und Leitungsarbeiten.«

»Aber es gibt reichlich Relais und Redundanzzentren – Lebenserhaltungssysteme, Energieversorgung und vieles anderes –, die über das gesamte Ausgangsschiff verteilt sind. Die können dann jeweils das betreffende Zentrum für die Systeme der kleineren neuen Schiffe werden«, warf Chillon ein.

»Nun, wir möchten nicht vorgeben, die ganzen technischen Aspekte voll und ganz verstanden zu haben«, räumte nun Tweenriver ein, »aber Ashkenazy ist ein Experte, und er ist davon überzeugt, dass dieser Plan vernünftig ist.«

»Ich habe mir auch die finanzielle Seite dieses Vorhabens angeschaut«, ergriff nun wieder Breakwater das Wort. »Wenn Ashkenazy recht hat, können wir die neue Home Guard aufstellen, ohne das Budget über Gebühr zu belasten. Und jeder Cent, den wir dabei ausgeben, wird eben genau hier, im Sternenkönigreich selbst, ausgegeben. Damit schaffen wir neue Arbeitsplätze und tragen dazu bei, die erforderliche Infrastruktur anzulegen … oder besser: wieder anzulegen. Das ist doch allemal besser, als neue Schiffe bei einer bestens laufenden Liga-Werft in Auftrag zu geben.«

Und dass einigen Ihrer treuesten politischen Verbündeten zufälligerweise die Werften vor Ort gehören, in denen diese Arbeiten dann durchgeführt würden – und wo all das Geld landet –, ist nur ein angenehmer Nebeneffekt, Mylord, nicht wahr? Wohlweislich behielt Gavin diesen Gedanken für sich.

»Zugegeben: Schnittig und schön werden diese neuen Schiffe wohl kaum werden«, meinte nun Tweenriver. »Aber funktionieren werden sie.« Sie lächelte. »Ich wage zu behaupten: Ästhetische Überlegungen werden so ziemlich das Letzte sein, was die Besatzung eines Schürfschiffes im Sinn hat, die dem Tod ins Auge blicken muss, wenn nicht bald Hilfe eintrifft.«

»Ja, sicher«, bestätigte Gavin leise. »Dürfte ich wohl eine Frage stellen?«

Breakwater vollführte eine auffordernde Handbewegung, und Gavin nahm all seinen Mut zusammen.

»Warum gerade ich?«

»Warum nicht Sie?«, versetzte Castle Rock.

Die Gegenfrage war, das wusste Gavin genau, ein beliebtes Mittel, um die Ausgangsfrage an sich abzuwehren. Doch hier und jetzt wollte er sich nicht abspeisen lassen, sondern seine Frage beantwortet wissen, auch von den hier versammelten Angehörigen des manticoranischen Hochadels.

»Ich bin nur ein kleiner Baron«, erklärte er. »Meine Ländereien, mein Landsitz und meine anderweitigen Besitztümer fallen nicht ins Gewicht; mein Einfluss ist sowohl politisch als auch wirtschaftlich gesehen zu vernachlässigen; und sämtliche meiner Freunde stehen im Prinzip nicht besser da als ich. Hätten meine Großeltern nicht zu den ersten fünfzig Investoren der Kolonie gehört, dann hätte niemand im ganzen Sternenkönigreich je von mir gehört.«

»Aber Ihre Großeltern haben seinerzeit diese Investition getätigt, und Sie gehören nun dem Oberhaus an«, rief ihm Breakwater ins Gedächtnis zurück. »Betriebsunfall der Geschichte hin oder her, damit gehören Sie nun einmal zu den fünfzig mächtigsten Männern und Frauen im ganzen Sternenkönigreich.« Er schürzte die Lippen. »Einundfünfzig, heißt das, wenn man König Michael mitzählt.«

»Das verstehe ich ja«, entgegnete Gavin. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie mich für würdig erachten, von Ihnen ins Vertrauen gezogen zu werden. Ich verstehe nur nicht, welchen Beitrag ich würde leisten können.«

»Da stellen Sie Ihr Licht aber arg unter den Scheffel«, widersprach Breakwater ruhig. »Wo Sie Schwächen sehen, sehen wir Stärken. Dank Ihres jugendlichen Alters und Ihres Freundeskreises sind Sie ideal geeignet, weitere Angehörige des Adels von ähnlichem Rang und ähnlicher Bedeutung anzusprechen. Gerade weil Sie rein politisch betrachtet eben eher Mittelmaß sind, wird man doch viel weniger den Verdacht hegen, in Wahrheit ginge es Ihnen darum, Ihre Macht und Ihren Einfluss auszudehnen.«

»Weil Sie, ganz offen gesagt, schlichtweg nicht dazu bestimmt sind, deutlich höher aufzusteigen, als das bislang geschehen ist«, ergänzte Chillon. »Womit ich Sie keinesfalls beleidigen möchte.«

»Das hatte ich so auch nicht aufgefasst«, sagte Gavin. Zu diesem Schluss war er selbst bereits schon vor Jahren gekommen.

»Dann wäre da noch, dass Clara Sumner Sie empfiehlt«, ergänzte Tweenriver. »Die Gräfin würde niemals irgendwen darum bitten, sie im Bewilligungsausschuss zu vertreten, wissen Sie? Wir vertrauen Clara, und ganz offenkundig vertraut Clara Ihnen.«

»Und dann ist da natürlich noch Ihr Bruder«, setzte Castle Rock hinzu. »Er wird Ihrem Antrag auf Umgestaltung der Flotte einen authentischen Anstrich verleihen.«

»Wie meinen?« Gavin runzelte die Stirn. Sein Bruder? Was hatte denn sein Bruder damit zu tun?

»Ihr Bruder«, wiederholte Castle Rock. »Verzeihen Sie: Ihr Halbbruder. Travis Long.«

»Ja, ich weiß schon, wen Sie meinen«, gab Gavin zurück. »Was ist denn mit ihm?«

Die anderen tauschten verdutzte Blicke.

»Er hat sich kürzlich freiwillig zur Navy gemeldet«, beantwortete Castle Rock seine Frage.

»Er hat was?!«, brach es aus Gavin heraus. Ungläubig riss er die Augen auf. »Er hat sich freiwillig gemeldet?«

»Vor drei Wochen«, erklärte Castle Rock, und auch in ihrem Blick war nun die Verwirrung unverkennbar. »Er ist schon seit zwei Wochen im Ausbildungslager.« Kurz blickte sie zu Breakwater hinüber. »Haben Sie das nicht gewusst?«

»Nein, das habe ich nicht gewusst«, stieß Gavin hervor. Vor noch nicht einmal zwei Tagen hatte er das letzte Mal mit seiner Mutter gesprochen, und sie hatte Travis mit keiner Silbe erwähnt – geschweige denn, irgendetwas über eine derart plötzliche und unbestreitbar wichtige Entscheidung.

Vielleicht wusste seine Mutter nichts davon?

Es schnürte ihm die Kehle zu. Vor vier Jahren hatte Travis versucht, mit ihm über sein Verhältnis zur Mutter zu sprechen. Er hatte sich Sorgen gemacht, weil er immer weniger an seine Mutter herankam. Gavin, der es wie üblich eilig gehabt hatte, den halbherzigen Besuch zu beenden, um zu seiner Arbeit zurückkehren zu können, hatte die Sorgen seines kleinen Bruders leichthin abgetan. Er hatte sie für die typischen Probleme eines Pubertierenden mit seinen Eltern gehalten. Er hatte den Jungen mit den gleichen unausgegorenen Floskeln abgespeist, die er selbst sich während dieser Phase immer und immer wieder hatte anhören müssen.

Nun fragte er sich, ob die Entfremdung zwischen Mutter und Sohn doch keine Einbildung gewesen war und ob er, der große Bruder, Travis nicht vielleicht doch hätte aufmerksamer zuhören sollen.

»Aber das spielt keine Rolle«, sagte er, bemüht, sich seine Beklommenheit nicht anmerken zu lassen. Er hatte keine Ahnung, wie es in einem Ausbildungslager der Royal Manticoran Navy zuging, und ehrlich gesagt kannte er auch seinen kleinen Bruder nicht sonderlich gut. Trotzdem war er sich recht sicher, dass Travis und Härte, wie sie in einem Ausbildungslager wohl unvermeidlich war, nicht so recht zusammenpassten. »Wir reden hier schließlich von meinem Bruder, nicht von mir selbst. Was auch immer er tut oder lässt, beeinflusst weder mein Leben noch meine Karriere. Und es besitzt auch keinen Einfluss darauf, wie sehr ich bei diesem Projekt behilflich sein kann.« Er blickte Breakwater an. »Vorausgesetzt, Sie wollen mich überhaupt noch.«

Wieder schaute Breakwater zu Castle Rock hinüber. Gavin folgte dem Blick des Schatzkanzlers ein wenig zu spät, um noch die Reaktion der Baronin mitzubekommen. Doch als er dann wieder zu Breakwater hinüberschaute, stellte er fest, dass sein Gegenüber lächelte.

»Willkommen an Bord, Mylord«, sagte er und neigte den Kopf. »Das Komitee für Militärische Vernunft ist erfreut, Sie auf seiner Seite zu wissen.« Das Lächeln verschwand. »Und nun sollten wir beten, dass auch der Rest des Oberhauses das Universum so sieht wie wir. Bevor es zu spät ist.«

3

Das Casey-Rosewood-Schulungszentrum bildete Mannschaftsdienstgrade ebenso wie Unteroffiziere aus. Am Südende des weitläufigen Geländes erhielten die Neulinge ihre Grundausbildung, im Norden und Westen befanden sich Schulungsgebäude, und im Osten lagen Ausbildungseinrichtungen für diejenigen, die die Grundausbildung hinter sich hatten.

Rasch war klar, dass die Grundausbildung ausschließlich einem Zweck diente: naive, junge Rekruten wie Travis Uriah Long umzubringen.

Die ersten drei Wochen, die Travis im Rekrutenlager verbracht hatte, waren ein einziger Albtraum gewesen. Buchstäblich. Vor Erschöpfung wusste er oft nicht, ob er überhaupt noch wach war. Mit einem Mal war das ganze Leben ein halb komatös durchlebter Albdruck, in dem der Puls raste, alle Muskeln schmerzten, in dem Travis zu rennen, zu gehen und zu marschieren hatte … und in dem er beständig angeschrien wurde.

Eines war ebenso klar: Die Ordnung und die feste Struktur, nach denen er sich gesehnt hatte, waren zweifellos vorhanden. Aber Travis spürte, dass ihm diese feste Struktur die Luft zum Atmen raubte. Der Tag begann noch vor Sonnenaufgang – mit einem lauten Hornsignal oder, was noch wesentlich schlimmer war, mit dem Lärm, den Metallstangen machten, wenn man mit ihnen auf Metallmülleimer einschlug. Nach Einsetzen des Lärms blieben den dreißig Männern und Frauen in ihren jeweiligen Stuben exakt zwanzig Sekunden Zeit, aus dem Bett zu springen, sich auf dem Flur des Stubentraktes, Block genannt, in Reih und Glied aufzustellen und Haltung anzunehmen. Der Himmel stünde jedem bei, der nicht pünktlich war … oder zwar noch die Zeitvorgabe einhielt, aber dummerweise einfach der Letzte war, der sich in Position befand. Der Zugführer, Gunner’s Mate First Class Johnny Funk, kannte mehr Verwünschungen und Flüche, als Travis je gehört hatte, und wusste seine Stimme mit einer Wandlungsfähigkeit und Lautstärke einzusetzen, um die ihn mancher Opernsänger sicher beneidet hätte.

Am Ende der ersten Woche wäre Travis vermutlich ausgestiegen – wenn Aussteigen denn möglich gewesen wäre. Auch anderen der neuen Rekruten ging es so wie ihm, was sich leicht den im Flüsterton ausgestoßenen Flüchen und dem Gestöhne wegen all der schmerzenden Muskeln entnehmen ließ.

Aber es war nicht möglich auszusteigen. Noch nicht. Sie hatten sich für fünf T-Jahre verpflichtet, und diese fünf Jahre würden sie durchziehen oder bei dem Versuch draufgehen, bei Gott und Admiral a. D. Thomas P. Cazenestro, seines Zeichens Erster Lord der Admiralität! Das zumindest hatte Gee-Em Funk gesagt.

Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte Funk ihnen seinen vollständigen Namen genannt und sie praktisch herausgefordert, Witze darüber zu machen. Einige der mutigeren (oder tollkühneren) Rekruten hatten das auch tatsächlich getan – sie alle waren aber schlau genug gewesen, diese Witze nur dort zu reißen, wo es weder Funk noch andere Zugführer oder Ausbildungsleiter mitbekommen konnten.

Triumphe wie diese, so klein sie waren, währten nicht lange. Von jedem einzelnen Scherz, von jeder Witzelei erfuhr Gee-Em Funk … und die nächsten Tage bedeuteten für die Scherzbolde eine Extraportion schmerzende Muskeln: Dutzende zusätzliche Übungen, die sie der absolut humorlose Zugführer wieder und wieder durchführen ließ. Sehr rasch hatte niemand mehr Witze über seinen Namen gerissen.

Überraschend war das nicht, denn wer machte schon Witze über den Leibhaftigen? Und dass Gee-Em Funk der Leibhaftige war, dessen war sich Travis am Ende der zweiten Woche sicher. Jeden Morgen war dieser Mann vor ihnen auf den Beinen, und sein zorniges Gesicht war das Letzte, was sie sahen, bevor sie in ihre Stuben zurücktaumelten und in die Betten fielen. Das Gehirn dieses Teufels in Menschengestalt war eine Enzyklopädie für alles, was für die Navy Bedeutung hatte: von den Allgemeinen Dienstanweisungen über die Zentralen Dienstvorschriften zum Waffenhandbuch, von den Einheitlichen Verhaltensregeln einschließlich strafrechtlicher Vorschriften bis hin zu Schiffstypen, Waffentypen, Schiffssystemen und schiffseigener Fachterminologie. Dazu kamen profunde historische Kenntnisse, die Namen offenkundig aller Offiziere und so ziemlich alles andere, was man in der Navy vielleicht irgendwann und irgendwo einmal zu wissen nötig hätte. Außerdem sah und hörte er alles: einen zuckenden Mundwinkel selbst im dritten Glied, einen Laut der Belustigung sogar noch im vierten Glied, und sein Ton konnte so scharf sein, dass man sofort alles darauf verwettet hätte, Gunner’s Mate First Class Funks Stimme könnte einem körperlich Schaden zufügen, ging sie doch durch Mark und Bein.

Sich an eine solche Hölle gewöhnen? Nie und nimmer! Und doch stellte Travis zu seinem eigenen Erstaunen am Ende der dritten Woche fest, dass genau das geschah. Die Schmerzen ließen nach, und plötzlich gab es sogar schmerzfreie Phasen, und diese Phasen wurden immer länger. Travis war auch längst nicht mehr so erschlagen von all den Informationen, die ihm Funk und die anderen Ausbilder wie mit einem C-Rohr bei der Brandbekämpfung einflößten, und Rhythmus und Zeitmaß des Marschierens schienen sich allmählich in seinem Hirnstamm einzunisten: Plötzlich vermochten die höheren Hirnfunktionen in eine Art Neutralzustand umzuschalten, der Travis beinahe schon wie zusätzlicher Schlaf vorkam.

Am Ende der vierten Woche kannte Travis Long alle fünfundzwanzig Männer und vierzehn Frauen seines Zuges besser, als er je einen anderen Menschen kennengelernt hatte – sogar besser, als er geglaubt hatte, einen Menschen je kennenlernen zu können. Er kannte ihren Lebenslauf in allen erzählenswerten und erzählensunwerten Einzelheiten; er kannte ihre Stärken und Schwächen, jede Marotte; er wusste, wem er vertrauen konnte und wem nicht – und zu wem man am besten auf Abstand ging, sobald sich jenes eigentümliche Glitzern im Blick bemerkbar machte … denn wenn der nächste unausgegorene Plan fehlschlug oder der jüngste Regelverstoß bekannt wurde, wollte man auf keinen Fall in der Nähe sein, wenn Gee-Em explodierte.

Am Ende der fünften Woche machte etwas in Travis’ Hirn unvermittelt Klick, und die unüberschaubare Masse an Informationen, die man den Rekruten einflößte, offenbarte zuvor nicht wahrgenommene Zusammenhänge und ergab auf einmal Sinn. Seitdem galt für den zu verarbeitenden Stoff das Gleiche wie für die Märsche, die Liegestütze und die Hindernisbahn: schwierig zu meistern, aber eben zu meistern. Seitdem glaubte Travis Long, dass er die nächsten fünf Jahre nicht nur irgendwie überstehen könnte, sondern dass er sie überstehen würde.

Am Ende der sechsten Woche verlor sich diese Hoffnung.

Alles war Chomps’ Schuld, wie nicht anders zu erwarten.

Charlie Townsend hatte sich diesen Spitznamen gleich zu Beginn, als die Spitznamen verteilt wurden, eingefangen. Er stammte von Sphinx und war etwas kleiner und gedrungener als die meisten anderen, dabei aber unglaublich stark. Townsend war stets und ständig bestens gelaunt. Bedauerlicherweise machte diese überbordende Fröhlichkeit auch nicht davor halt, Vorgesetzte aufzuziehen, und so hatte er dem Zug schon reichlich Nachtmärsche und so manchen unangekündigten Stubendurchgang eingebracht.

Neben seiner durch und durch positiven Einstellung zum Leben zeichnete Chomps ein gewaltiger Appetit aus. Seine Eltern, denen man für die Überfahrt in das Doppelsternsystem von Manticore einen Zuschuss gewährt hatte, stammten aus dem Kismet-System. Entsprechend besaß Chomps den hyperaktiven Stoffwechsel eines Menschen, dessen Vorfahren genetisch einer Hochschwerkraft-Umgebung angepasst worden waren. (Seiner Fresslust verdankte Charles Townsend den seltenen Umstand, nicht nur einen, sondern gleich zwei Spitznamen zu tragen: Manche nannten ihn aus naheliegenden Gründen ›Mampfer‹.) Sphinx war mit Kolonisten nicht gerade gesegnet, und doch schienen Sphinxianer bei der Navy überrepräsentiert. Vier Jungs und Mädels aus dem Küchenpersonal stammten ebenfalls von dort, und anfänglich hatten sie Chomps immer noch einen Extraschlag Verpflegung auf das Tablett geklatscht, auch wenn sie eigentlich angewiesen waren, jedem Rekruten gleich große Portionen zuzuteilen. Diese Sonderbehandlung endete in der Mitte der dritten Woche. Da bekam ein Erbsenzähler-Offizier das Ganze mit und verpasste der Essensausgabe einen gehörigen Einlauf, sich gefälligst an die Vorschriften zu halten und keine Ausnahmen zu machen.