Krieg der Baumkatzen - David Weber - E-Book

Krieg der Baumkatzen E-Book

David Weber

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Beschreibung

Der Kampf um den Planeten der Baumkatzen geht weiter. Kaum sind die Flammen auf Sphinx gelöscht, steht der nun heimatlose Baumkatzenclan bereits der nächsten Bedrohung gegenüber. Und gerade jetzt sind seine Freunde, die Rangerin Stephanie Harrington und ihr Baumkater Löwenherz, nicht an seiner Seite.
Auf Manticore absolviert Stephanie ein erstklassiges Studienprogramm, doch auch hier werden politische Intrigen zur Ausbeutung der Spezies geschmiedet. Es liegt an Stephanie und ihren Freunden, die Baumkatzen ein für alle Mal zu schützen ...

»Weber schreibt hochgradig unterhaltsame Space Opera!« Booklist

Die großartige Vorgeschichte zur Erfolgsserie Honor Harrington von Bestseller-Autor David Weber - für Fans und Neueinsteiger!

Band 1: Begegnung auf Sphinx
Band 2: Flammenzeit
Band 3: Krieg der Baumkatzen



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Seitenzahl: 611

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

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Glossar

Personenverzeichnis

David WeberJane Lindskold

KRIEG DERBAUM-KATZEN

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch vonUlf Ritgen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:Copyright © 2013 by Words of Weber, Inc. & Obsidian Tiger, Inc.Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Treecat Wars«Originalverlag: Baen Books, Wake ForestPublished by Arrangement with Baen Books, Wake Forest, NC, USADieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische AgenturThomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Beke RitgenTitelillustration: Arndt Drechsler, RegensburgUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München

eBook-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-1516-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1

»Sie wollen uns nach Manticore schicken?!«

Sosehr sich Stephanie Harrington um Gelassenheit bemühte und darum, gefasst und erwachsen zu klingen, war ihre Stimme vor Aufregung und Überraschung höher als sonst. Karl Zivonik, einer ihrer engsten Freunde, saß gleich neben ihr und unterdrückte unverkennbar ein Grinsen. Auch Löwenherz, ihr sphinxianischer Baumkaterfreund, bliekte belustigt von Chief Ranger Sheltons Schreibtischkante herunter, wo er es sich gemütlich gemacht hatte.

Nur der Chief Ranger selbst schien nicht zu bemerken, wie sehr sein Vorschlag Stephanie begeisterte. Ohne Pause setzte er seine Erläuterungen fort.

»Ganz genau«, sagte er. »Unerwarteterweise sind in einem Kompaktkurs für die Forstdienstausbildung auf Manticore zwei Plätze frei geworden. Tja, aber wegen der Nachwehen der diesjährigen Flammenzeit, die ja so besonders heftig ausgefallen ist, kann ich keinen meiner Ranger entbehren. Wenn überhaupt – und dann auch nur gerade so eben! – meine beiden Ranger auf Probe.«

»Stephanie und mich«, sagte Karl. Weil sie beiden die einzigen Ranger auf Probe waren, war die Klarstellung unnötig und ein Zeichen dafür, wie aufgeregt Karl selbst war.

»Stephanie und Sie«, bestätigte Chief Ranger Shelton und deutete dann auf zwei Stühle. »Setzen Sie sich. Bevor Sie zusagen, sollte ich wohl lieber erklären, auf was Sie sich da einlassen.«

Die beiden nahmen Platz, und Stephanie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht auf dem Stuhl vor Aufregung hin und her zu rutschen oder sich auf die vorderste Stuhlkante zu hocken. Löwenherz erleichterte ihr die Sache, indem er in einer fließenden, anmutigen Bewegung vom Schreibtisch auf ihren Schoß sprang und sich dort einrollte. Mit einem Meter vierzig war Stephanie für fünfzehneinhalb recht klein und im Ganzen eher zierlich. Löwenherz mit seinen fünfundsechzig Zentimetern Gesamtlänge fand auf ihrem Schoß kaum Platz. Doch jeder, der die beiden ein wenig länger beobachtete, konnte nur zu einem Schluss kommen: In einer nur schwer zu beschreibenden Art und Weise waren die beiden, das Mädchen und die Baumkatze, einander ähnlich. Sie waren es, obwohl im graugetigerten Gesicht des Baumkaters grüne Augen leuchteten, während Stephanies Augen ebenso braun waren wie ihr kurzes Haar.

Karl, Haar und Augen dunkler als die seiner Freundin Stephanie und bereits achtzehn, war zwar auch aufgeregt, hatte sich aber wesentlich besser im Griff als sie … Nun, er war ja auch in vielerlei Hinsicht erstaunlich reif für sein Alter. Stephanie wusste, dass seine erste Liebe auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Das überschattete sein ganzes Wesen, denn er hatte den Verlust nie ganz verwunden. Auch von der Statur her – ein Meter fünfundachtzig groß und breitschultrig gebaut – war er bereits kein Jugendlicher mehr, sondern unbestreitbar ein junger Mann.

Chief Ranger Shelton blickte sie beide nachdenklich an, bevor er weitersprach. »Damit Sie es gleich wissen: Mein Vorschlag, Sie beide nach Manticore zu schicken, hat für viel Wirbel gesorgt. Ranger auf Probe gibt es ja erst, seit Sie beide hier sind, und manche halten die ganze Sache immer noch für eine Schnapsidee. Und, zugegeben, vor allem Stephanie ist wirklich noch sehr jung für diese Schulung.«

Stephanie verbiss sich den Protest, in den sie reflexartig hatte verfallen wollen. Der Chief wusste besser als die meisten anderen, zu was Stephanie fähig war. Ja, er hatte den Rang eines ›Rangers auf Probe‹ überhaupt erst eingeführt, um ihre bisherigen Leistungen angemessen zu würdigen. Sie musste einfach darauf vertrauen, dass er auf ihrer Seite stand.

Ein sanfter mentaler Stups riss Stephanie aus ihren Gedanken. Sie hatte keine Ahnung, wie Löwenherz ihre Gefühle beeinflusste, aber eines wusste sie mit absoluter Sicherheit: Baumkatzen waren Empathen und Telepathen. Natürlich war das ein bislang sorgsam gehütetes Geheimnis – und das würde auch so bleiben, bis Sphinx’ Ureinwohner endlich als vernunftbegabte Spezies anerkannt wären und in den Genuss all der Rechte und des Schutzes kämen, die ihnen nach Zuerkennung eines solchen Status zustanden. Vorerst jedoch reichte es Stephanie, zu der Hand voll Menschen zu gehören, die die Wahrheit kannten: Während die meisten in dem sechsbeinigen Geschöpf mit langem, schmalem Körper, langem Schweif und dichtem Fell eine Kreuzung aus Wiesel und Katze sahen und fälschlicherweise deshalb nur zu oft für ein flauschiges Haustier hielten, war sich Stephanie bewusst, dass Löwenherz nicht anders als sie selbst über eine eigenständige, voll entwickelte Persönlichkeit verfügte – und sich nicht scheute, ein gewisses Menschenmädchen gelegentlich zu ermahnen, wenn es wieder einmal nicht aufpasste. Auch wenn sich der Baumkater dabei etwas unkonventionellerer Methoden bediente als ein Mensch.

»Sie, Karl«, sagte Chief Ranger Shelton gerade, »sind mittlerweile volljährig, und angesichts Ihrer Leistung als Ranger auf Probe hätte ich Sie, um die Angelegenheit voranzutreiben, einfach zum Assistant Ranger befördern können. Dann hätte sich die Frage, ob Sie zur Teilnahme an einem solchen Kursus überhaupt berechtigt sind, gar nicht erst gestellt. Und Sie, Stephanie, haben Ihre Tüchtigkeit bereits ausreichend unter Beweis gestellt und sich aufopferungsvoll für das Wohlergehen unserer Wälder und all derer eingesetzt, die darin leben. Lassen wir es dabei bewenden und machen es kurz: Nach einer recht ausgiebigen Diskussion habe ich es geschafft, auch für Sie die erforderliche Genehmigung durchzuboxen. Sie können die Schulung also ebenfalls mitmachen, wenn Sie wollen.«

Am liebsten hätte Stephanie gleich »Ich-will-ich-will-ich-will!« geschrien, aber sie hielt sich zurück und beschränkte sich auf ein höfliches »Danke, Sir.«

Außerdem meldete sich in ihrem Hinterkopf eine Stimme, die unverständlich noch Unbehagen mit dieser Idee verbreitete – so sehr, dass sie sich fragte, ob sie Sheltons Angebot wirklich annehmen wollte. Aber sie verdrängte die aufkommenden Zweifel und konzentrierte sich ganz auf Sheltons Worte.

»Bei dieser Schulung geht es nicht nur darum, mehr über das Forstwesen zu erfahren. Was die Gegebenheiten auf Sphinx betrifft, können Sie beide auch hier vor Ort reichlich dazulernen – und wahrscheinlich bei so manchem Thema anderen etwas beibringen! Aber zum Forstdienst auf Sphinx gehört deutlich mehr, als sich nur um die heimische Pflanzen- und Tierwelt zu kümmern. Sphinx ist weitgehend unerschlossen und dünn besiedelt, daher ist unsere Polizeitruppe deutlich kleiner als Manticores. Das bedeutet, dass Ranger in besonderem Maße die Rolle des Gesetzeshüters ausfüllen müssen – eben nicht nur Feuerwehr, Retter in der Not und Umweltschützer sind. Deswegen gehören zu der Schulung, um die es geht, auch der Umgang mit polizeiüblichem Gerät, Einführung in Techniken der Spurensicherung und Forensik, eine Grundlagenvorlesung zur Gesetzeslage sowie der professionelle Umgang mit Zivilisten.

Dazu kommen Prüfungen, in denen Sie Ihre grundlegenden Fachkenntnisse auf dem Gebiet des Forstwesens unter Beweis stellen müssen. Karl, weil Sie Ihr ganzes Leben nur eine einzige Biosphäre kennengelernt haben – eben die von Sphinx –, können Sie schon jetzt davon ausgehen, dass Sie ein paar zusätzliche Lerneinheiten absolvieren dürfen, um entsprechende Wissenslücken zu schließen. Und von Ihnen, Stephanie, weiß ich ja, dass Sie ungefähr die ersten zehn Lebensjahre auf Meyerdahl verbracht haben, aber es würde mich nicht wundern, wenn man Ihnen ein paar speziell auf Sie zugeschnittene Lerneinheiten zusammenstellen würde, die Sie durchlaufen müssen. Wenn es etwas gibt, das ich während all der Jahre gelernt habe, die ich nun schon im Forstdienst verbringe, dann das hier: Zu viel zu wissen ist schlichtweg unmöglich.«

Das klang nach einem ziemlich strammen Pensum, aber Stephanie hatte bisher immer und überall zu den Kursbesten gehört. In manchen Kursen hatten zwar ihre Leistungen und damit ihre Noten ein wenig nachgelassen, seit sie dem SFD beigetreten war, aber wegen ein paar lumpiger Prozentpunkte machten ihre Eltern ihr gewiss nicht die Hölle heiß – vor allem, wo glasklar war, welchen beruflichen Weg Stephanie anstrebte, so klar, dass jeder Dorfdepp es begriffen hätte. Aber wo sie gerade an ihre Eltern dachte …

»Chief, Sie haben es ja gerade selbst gesagt: Ich bin noch minderjährig. Haben Sie denn schon mit meinen Eltern gesprochen?«

Shelton grinste – bei jedem anderen, der keine solche Respektsperson wie ihr Vorgesetzter war, hätte Stephanie es ausgekocht genannt. »Habe ich nicht, Ms. Harrington. Betrachten Sie die Aufgabe, Ihre Eltern von der Wichtigkeit dieses Kurses zu überzeugen, als ersten Test dafür, ob Sie die nötige Reife zur Teilnahme haben. Selbstverständlich dürfen mich Ihre Eltern jederzeit kontaktieren, um etwaige Fragen zu beantworten.«

Nervös räusperte sich Karl. »Chief? Da wäre noch die Frage der Kursgebühren. Ich habe viele Brüder und Schwestern. Meine Familie besitzt zwar reichlich Land, aber ich glaube nicht, dass meine Eltern das Geld für die Interplanetartickets und die Unterbringungskosten vor Ort aufbringen können – schon gar nicht so kurzfristig. Trotz meiner Arbeit helfe ich zu Hause mit, auch wenn ich glaube, dass für die Kursdauer aufgefangen werden kann, dass ich als Arbeitskraft ausfalle.«

»Um die Kursgebühren brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, versicherte ihm der Chief Ranger. »Wenn Sie nach Manticore fahren, dann ganz offiziell als Mitarbeiter des SFD. Von Privatanschaffungen für den persönlichen Gebrauch einmal abgesehen, übernehmen wir sämtliche Kosten.«

»Danke, Sir!«

Stephanie fiel eine weitere mögliche Schwierigkeit ein. »Chief, was ist mit Löwenherz? Ich kann ihn nicht allein hierlassen. Nicht, weil ich mich nicht von ihm trennen möchte, sondern es schlicht nicht kann.«

Sie hoffte, Shelton würde ihre Lage verstehen. Eigentlich ging sie davon sogar aus. Nicht jeder wusste, was seinerzeit mit dem Streuner geschehen war – welche Mühen der Baumkater auf sich genommen hatte, um den Mord an seinem Menschengefährten zu rächen. Wenige Baumkatzen hatten sich bisher an einen Menschen gebunden. Aber selbst diese wenigen Beispiele zeigten überdeutlich, dass eine längere Trennung für beide, Mensch wie ’Katz, Trauer und Leid bedeutete. Ein paar Tage waren zu verkraften, aber … Stephanie hatte es einmal ihren Eltern zu erklären versucht: Früher oder später verursachte ihr die Trennung körperlichen Schmerz, so als fehle ihr ein Bein oder Arm, und machte zudem Angst, ganz so, als verlöre man eine seiner Sinneswahrnehmungen oder könnte sie zumindest nur eingeschränkt nutzen.

Darüber, dass das unbestreitbar ein Nachteil bei einer Partnerschaft mit einer Baumkatze war, hatte sie, es war noch gar nicht so lange her, mit ihrer Freundin Jessica Pheriss gesprochen. Jessica war erst kürzlich von einer ’Katz adoptiert worden. Es war der bislang jüngste Fall einer solchen Verbindung. Ohnefurcht und Jessica waren gerade einmal sechs Monate zusammen; trotzdem empfand Jessica, was das anging, genau wie Stephanie. Und Stephanie wurde allein schon bei der Vorstellung, Löwenherz auf Sphinx zurückzulassen, während sie einen anderen Planeten besuchte, ganz anders: Ihre Handflächen waren mit einem Mal schweißnass. Heimlich wischte Stephanie sie an den Hosenbeinen ab.

»Über das Löwenherz-Problem habe ich mir schon ein paar Gedanken gemacht«, sagte Shelton ruhig. »Dr. Hobbard war mir eine große Hilfe dabei, die entsprechenden Entscheidungsträger davon zu überzeugen, dass es von Vorteil wäre, wenn Sie Löwenherz mitnehmen dürften. Sollten Sie sich also dafür entscheiden, nach Manticore zu reisen, darf Löwenherz Sie begleiten.«

»Danke!« Stephanie atmete hörbar durch. Vor Anspannung hatte sie die Luft angehalten und es nicht einmal bemerkt.

»Aber Sie werden feststellen, dass es auf Manticore reichlich Orte gibt, die Löwenherz nicht mit Ihnen aufsuchen darf«, warnte sie der Chief Ranger. »Hier auf Sphinx, vor allem in der Nähe von Twin Forks, ist es üblich, Baumkatzen überall dorthin gehen zu lassen, wo sich auch Menschen aufhalten. Aber die Leiter der meisten Kurse, die Sie auf Manticore belegen, werden über Löwenherz’ Anwesenheit alles andere als erbaut sein. Er zieht ziemlich viel Aufmerksamkeit auf sich, die in einem Kurs woanders sein sollte, nicht wahr?«

Das stimmte. Selbst in Twin Forks war das so. Zum einen war die Existenz der Baumkatzen noch nicht allzu lange bekannt: Als Stephanie sie ›entdeckt‹ hatte, war sie elf Jahre alt gewesen, so lange war das also nicht her. Zum anderen waren ’Katzen mit ihrem dichten, seidigen Fell, den riesigen, grünen Augen und dem Köpfchen mit den stets gespitzten Ohren unbestreitbar niedlich.

Das mit dem ›niedlich‹ gibt sich aber ganz schnell, wenn man erst einmal gemerkt hat, was für scharfe Krallen sie haben – und wie gut die damit umgehen können, dachte Stephanie. Nur bei echten Hohlköpfen weicht dann das ›niedlich‹ nicht sofort gewaltigem Respekt.

Selbst mit modernstem Gerät war es fast unmöglich, Baumkatzen in freier Wildbahn aufzuspüren, und obwohl man sich eine Zeit lang bemüht hatte, sie zu fangen und in Zoos unterzubringen, in denen sich Besucher andere auf Sphinx heimische Lebensformen anschauen konnten, etwa Hexapumas oder Gipfelbären, war das letztendlich doch unterblieben.

Shelton aber war mit seinen Ausführungen noch nicht am Ende. »Sie beide meinen jetzt vielleicht, Ihre aufsehenerregenden Leistungen während der letzten Jahre hätten meine Kollegen davon überzeugt, Sie als Vertreter des SFD zum diesjährigen Lehrgang zu schicken. Klar, geschadet hat es nicht, dass Sie beide während der Waldbrandphase so viel Eigeninitiative und Mut bewiesen haben. Und Sie beide sind, was Baumkatzen betrifft, eindeutig Experten – Stephanie noch mehr als Sie, Karl. Aber beides war letztendlich nicht ausschlaggebend. Können Sie sich vorstellen, was es stattdessen war?«

Stephanie schüttelte den Kopf, doch Karl nickte bedächtig. Gedehnt sagte er: »Wenn es nicht das war, was so richtig öffentlichkeitswirksam gewesen ist, dann wahrscheinlich genau das Gegenteil, stimmt’s? Dass wir ganz normal Dienst als Ranger auf Probe gemacht haben.«

Nachdrücklich nickte Shelton. »Ganz genau. Sie beide haben die Bereitschaft gezeigt, auch die wenig glamourösen Routineaufgaben zu übernehmen, die nun einmal zum Rangeralltag gehören. Und das hat dann letztendlich selbst die größten Zweifler überzeugt. Vor allem Stephanie steht ja schließlich im Ruf, ziemlich … impulsiv zu sein.«

Er machte eine Pause, die Stephanie nicht nutzte, um zu protestieren. Sie verstand, dass manche sie für impulsiv hielten. Sie selbst zog es allerdings vor, darin die Bereitschaft zu sehen, notfalls eigenständig die Initiative zu ergreifen.

Shelton hatte sie aus dem Augenwinkel beobachtet und lächelte jetzt kurz, ehe er fortfuhr: »Unser Computerlog lügt nicht: Darin steht, dass Sie sämtliche Ihnen zugeteilten Schichten tadellos hinter sich gebracht haben – selbst wenn es während der Schicht nichts Spektakuläreres oder Romantischeres zu tun gab, als im Hauptquartier die Stellung zu halten, damit jemand mit mehr Erfahrung oder einer gründlicheren Ausbildung in den Außeneinsatz gehen konnte. Vergessen Sie das nicht, wenn – nein: falls – Sie nach Manticore reisen.

Ich schicke Ihnen sämtliche erforderlichen Informationen auf die UniLinks, damit Sie sie Ihren Eltern vorlegen können. Leider werde ich Ihre Entscheidung schon ziemlich rasch brauchen. Es hat jede Menge Zeit gekostet, unsere Dienstpläne zu durchforsten und herauszufinden, wen wir vielleicht entbehren könnten. Und dann hat es noch einmal ziemlich viel Zeit gekostet, den einen oder anderen davon zu überzeugen, dass unsere Ranger auf Probe wirklich dafür geeignet sind. Schaffen Sie das, mir innerhalb einer Woche eine Antwort zu geben? Bis auf zehn Tage kann ich das wohl noch ausdehnen, aber eine Woche wäre besser. Die Kurse fangen schon in zwei Wochen an.«

»Innerhalb einer Woche?«, echote Karl erstaunt, doch dann nickte er und stand auf, als wollte er sich umgehend auf den Rückweg nach Thunder River machen. »Das krieg ich hin.«

»Ich auch«, bestätigte Stephanie, »aber meine Eltern brauchen auf jeden Fall ein paar Tage Bedenkzeit. Sie wollen immer ganz sicher sein, wirklich nichts übersehen oder vergessen zu haben. Impulsivität ist nicht gerade ihre Sache.«

»Ganz anders als deine«, versetzte Karl und grinste sie an.

Weil der Chief vor ihnen saß, verzichtete Stephanie darauf, Karl die Zunge herauszustrecken. Doch als sie Löwenherz hochhob und ebenfalls aufstand, schnurrte der so heftig, dass es in ihrem ganzen Körper widerhallte. Das verriet ihr sofort, dass mehr als nur einer ihrer Freunde über diesen Scherz lachte. Hochgehoben nahm der Baumkater sofort mit der ihm eigenen Geschmeidigkeit in den Bewegungen die Trageposition ein: Die eine Vorderpfote, die ihm noch verblieben war – seine Echthand –, legte er Stephanie auf die Schulter; mit dem hintersten Beinpaar, den Echtpfoten, stützte er sein Gewicht auf das Tragegestell, das Stephanie stets auf dem Rücken trug. Auf diesen Kompromiss hatte sich ihr Vater schließlich, es war noch gar nicht so lange her, eingelassen. Aber an sich zog es Richard Harrington immer noch vor, wenn Stephanie den Baumkater dazu anhielt, so viel wie möglich auf eigenen Beinen zu laufen.

»Viel Glück«, wünschte ihnen der Chief Ranger und winkte ihnen von der Tür seines Büros aus nach. »Würde mich freuen, möglichst bald etwas von Ihnen zu hören.«

Karl verhielt den Schritt. »Wahrscheinlich sind die ganzen Informationen schon in unseren UniLinks, aber eine Frage habe ich ganz vergessen zu stellen: Wie lange dauert der Lehrgang eigentlich?«

»Drei T-Monate«, antwortete der Chief prompt. »Wie ich schon sagte: Da gibt es eine ganze Menge Stoff zu pauken.«

Stephanie war nicht stehen geblieben, vielleicht damit niemand merkte, wie sich ein Panzer aus Eis um ihr Herz legte. Was ihr vorhin schon die Stimme im Hinterkopf zuflüstern wollte, war jetzt deutlich zu vernehmen: Drei Monate! Aber Anders …! Natürlich will ich nach Manticore. Nur wie soll ich es ertragen, ihn ganze drei Monate lang nicht zu sehen?

Der Gedanke versetzte Stephanie in emotionalen Aufruhr. Doch während des Rückflugs von Yawata Crossing nach Twin Forks gelang es ihr, sich ganz normal mit Karl zu unterhalten. Schließlich hatten sie reichlich Gesprächsstoff. Und falls Karl der Ansicht war, Stephanie verhalte sich irgendwie komisch, schrieb er es vermutlich etwas anderem zu: der Anstrengung nämlich, sich gute Argumente zu überlegen, mit denen sie ihre Eltern überzeugen könnte, sie allein fortreisen zu lassen. Drei Monate lang. Auf einen anderen Planeten.

»Ich ruf dich später an«, versprach er ihr, als er sie vor der Praxis ihres Vaters absetzte, »und berichte, wie es bei meinen Eltern gelaufen ist.«

»Ich dir dann auch«, antwortete sie. »Aber vergiss nicht: Lass bloß nicht zu, dass deine Eltern meine anrufen, bevor ich eine Gelegenheit hatte, mit ihnen zu reden. Ich muss mir erst noch überlegen, wie ich es ihnen am besten beibiege.«

»Versprochen«, sagte Karl. Dann ließ er den Wagen weit genug aufsteigen, um ordentlich Gas geben zu können, sobald die Ortsgrenze hinter ihm läge. Familie Zivonik wohnte in der Nähe von Thunder River, und der Flug dorthin dauerte selbst bei Höchstgeschwindigkeit noch mehrere Stunden. Aber Stephanie war sich sicher, dass Karl den Wagen auf Autopilot stellen und seine Mutter über Com anrufen würde, sobald er freien Luftraum erreicht hätte.

Stephanies Gedanken überschlugen sich, während sie sich zum Sprechzimmer ihres Vaters aufmachte. Natürlich bedeutete die Tatsache, dass Richard Harrington in der Klinik von Twin Forks arbeitete, noch lange nicht, dass er sich dort auch aufhielt. Stephanies Vater war Tierarzt, und auf Sphinx bedeutete dieser Beruf nicht nur, sich um die Nutztiere der Kolonisten kümmern zu müssen, sondern oft auch um heimische Wildtiere. Außerdem galt es, auch die Vielzahl genveränderter Tiere zu versorgen: Die Kolonisten hatten versucht, sie an die neue Umgebung anzupassen, ohne dabei auf die gewohnten Fleisch- und Milchprodukte verzichten zu müssen. Daher war Richard Harrington auf Sphinx geradezu unersetzlich. Auf jeden Fall hatten sein Interesse an exotischen Lebensformen und die Tatsache, dass seine Frau eine angesehene Botanikerin und Genetikerin war, den Harringtons ein herzliches Willkommen beschert, als sie nach Sphinx eingewandert waren. Damals war Stephanie zehn Jahre alt gewesen.

Sechs Jahre später konnte Stephanie kaum Verständnis für das kleine Mädchen aufbringen, das sie damals gewesen war – ein Mädchen, das von der schlagartigen und allumfassenden Veränderung ihrer Lebensumstände so überwältigt gewesen war, dass sie einen Großteil ihrer Zeit mit Schmollen verbracht hatte. Jetzt hingegen liebte Stephanie ihre Heimat Sphinx von ganzem Herzen. Sicherlich hätte sie nichts gegen einen Besuch auf Meyerdahl einzuwenden, aber ihre Heimat? Das war eindeutig Sphinx.

Da die Siedler auf Sphinx über ein Gebiet mit wirklich gewaltigen Ausmaßen verstreut lebten, überraschte es Stephanie nicht, ihren Dad nicht in seinem Sprechzimmer vorzufinden. Auch der Tierrettungswagen fehlte. Aber Saleem Smythe, den ihr Vater erst kürzlich als Assistenten eingestellt hatte, würde schon bald eintreffen, um die Nachtschicht zu übernehmen. Stephanie war nicht sonderlich unglücklich darüber, das Sprechzimmer ihres Vaters bis zu Dr. Smythes Eintreffen für sich allein zu haben. Im Kühlschrank lag Sellerie, und sie drückte Löwenherz einen großen Stängel in die Pfoten, um sich für seine Unterstützung bei der Besprechung zu bedanken. Ungewöhnlicherweise hatte Stephanie selbst überhaupt keinen Appetit. Trotzdem nahm sie sich einen Frucht-Nuss-Riegel und knabberte daran herum, aber eher, weil sie wusste, dass sie etwas essen sollte, nicht weil sie Hunger gehabt hätte. Dann rief sie ihre Eltern auf deren Coms an, um sie wissen zu lassen, wo sie sich gerade befand. Das Treffen mit Chief Ranger Shelton ließ sie unerwähnt. Als sie Karl gesagt hatte, sie müsse sich erst noch überlegen, wie sie ihren Eltern Sheltons Vorschlag am besten schmackhaft machen könne, war das nicht gelogen gewesen. Aber erst galt es noch etwas anderes herauszufinden.

Anders.

Anders Whittaker war im vergangenen Jahr nach Sphinx gekommen, kurz vor Stephanies Party anlässlich ihres fünfzehnten Geburtstags. Er war offizielles Mitglied einer anthropologischen Expedition der Urako University, die unter der Leitung seines Vaters mit dem ausdrücklichen Ziel, die Baumkatzen zu studieren, nach Sphinx gekommen war. Als Stephanie Anders zum ersten Mal begegnet war, war sie völlig überwältigt gewesen. Nicht etwa nur, weil er gut aussah – obwohl er mit seinem weizenblonden Haar und den dunkelblauen Augen unbestreitbar hübsch war. Aber darüber hinaus war Anders auch noch klug: klug genug, um nicht das Bedürfnis zu haben, vor anderen zu verbergen, wofür er sich interessierte … und eines seiner Lieblingsgebiete waren, wie sich rasch herausgestellt hatte, Baumkatzen.

Mit noch nicht ganz siebzehn Jahren war Anders ein gutes Stück jünger als selbst der nächstjüngste Expeditionsteilnehmer; deswegen hatte er nur zu gern Zeit mit Stephanie verbracht. Sie wiederum hatte Mittel und Wege gefunden, mit ihm allein zu sein, auch wenn Karl, der häufig bei den Harringtons übernachtete – schließlich war Thunder River wirklich weit entfernt, und Stephanie und er hatten ihre Pflichten als Ranger zu erfüllen – gelegentlich ebenfalls dabei war … und drei waren nur allzu schnell einer zu viel. Ja, zum ersten Mal, seit Stephanie Karl kannte – und das war schon eine gute Weile her, damals hatte Stephanie den Umgang mit Schusswaffen gelernt –, freute sie sich nicht über seine Gesellschaft.

Das alles hätte ausarten und unschön werden können, aber dann war der Fluglaster der Whittaker-Expedition während einer Exkursion verschwunden. Die Suche, die Rettungsaktion, der Waldbrand … in all dem Tumult hatte sich jegliches Unbehagen schlagartig gelegt. Und danach …

Stephanie ertappte sich dabei, dass sie, ganz ohne es zu wollen, lächelte, nein, strahlte, als sie daran zurückdachte, wie sie Anders zum ersten Mal geküsst hatte. Eigentlich war es kein beeindruckender Kuss gewesen, nur ein Wangenküsschen, aber trotzdem war es das erste Mal gewesen, dass sie einen Jungen geküsst hatte. Später hatte sich Anders revanchiert: Sein Kuss war wesentlich enthusiastischer gewesen, als die flüchtige Berührung, die sie sich getraut hatte.

Bisher hatten sie nichts offiziell gemacht, und trotzdem war klar, dass sie jetzt fest zusammen waren. Es schadete natürlich nicht, dass zu Karls und Stephanies Aufgaben als Ranger auf Probe auch gehörte, der Whittaker-Expedition mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Und Anders war, auch wenn er dem Rest der Expedition gut zur Hand gehen konnte, nun einmal kein ausgebildeter Anthropologe. Deswegen durfte er Stephanie und Karl auf deren Runden häufig begleiten. Bald darauf lernte er Drachensegeln und gehörte rasch ebenso fest zu Stephanies Freundeskreis wie die anderen aus dem Drachenfliegerclub in Twin Forks.

Eine Zeit lang war alles prima gelaufen, doch dann, kurz nach dem großen Waldbrand, war Dr. Whittaker auf seine Heimatwelt Urako im Kenichi-System zurückgereist. Er hatte sich auf Sphinx … nicht ganz an den Vorschriften orientiert, was ihn auch seinen Ruf als Wissenschaftler und die Karriere hätte kosten können. Stephanie wusste, dass sich Dr. Hobbard und Chief Ranger Shelton dafür ausgesprochen hatten, der Universitätsabordnung zu gestatten, weiterhin auf Sphinx tätig zu bleiben. Um zu verhindern, dass es weitere Schwierigkeiten gäbe, sollte dies allerdings nur unter Aufsicht geschehen, also in Begleitung eines oder zweier Ranger vom Sphinxianischen Forstdienst. Bedauerlicherweise hatte sich die manticoranische Regierung außerstande gesehen, dem zuzustimmen. Weder Gouverneurin Donaldson noch Innenministerin Vázquez hatten sich mit Dr. Whittakers Versprechen zufriedengegeben, sich von nun an anständig zu benehmen. Sie hatten darauf bestanden, dass auch die für ihn zuständige Universität eine entsprechende Zusage abgebe, und das bedeutete, dass Dr. Bradford A. Whittaker zunächst in die Heimat zurückkehren und Kanzler und Rektor seiner Universität sowie dem Dekan über sein Verhalten Rede und Antwort stehen musste.

Sonderlich glücklich war Dr. Whittaker darüber nicht, aber ihm war wohl klar gewesen, dass er gar keine andere Wahl hatte. Doch seine Heimatwelt zu erreichen, war leichter gesagt als getan, denn das Sternenkönigreich von Manticore war nun einmal sehr klein und abgelegen – weit entfernt von den inneren Welten der Solaren Liga … zu denen auch das Kenichi-System gehörte. Es gab nur wenig Interstellarverkehr, der das Sternenkönigreich anfuhr oder von dort aus aufbrach. Schließlich waren die großen Einwanderungsförderprogramme eingestellt worden, durch die nach der Seuche das Interesse am Sternenkönigreich hatte gesteigert werden sollen. Frachtgut, das Speditionsunternehmen einen Anreiz geboten hätte, Manticore anzulaufen, gab es kaum, Passagierverkehr sowieso nicht, und selbst Kurierschiffe trafen nur in sehr unregelmäßigen Abständen ein – in ziemlich großen unregelmäßigen Abständen. Das Kenichi-System nun lag vierhundert Lichtjahre weit von Manticore entfernt; also war selbst ein wirklich schnelles Kurierboot im wahrsten Sinne des Wortes monatelang unterwegs – einfache Strecke, hieß das. Mit der bestmöglichen Verbindung per Passagierschiff, die Dr. Whittaker hatte ermitteln können, sollte die Reise nach Urako mindestens sechs Monate dauern. Es war also sehr gut möglich, dass bis zu seiner Rückkehr mehr als ein T-Jahr vergehen würde – falls er überhaupt zurückkehrte. Deswegen hatte er die Absicht, Anders mitzunehmen.

Die Vorstellung, dass ihr Anders mindestens ein ganzes T-Jahr lang weggenommen würde, war für Stephanie unerträglich gewesen. Nächtelang hatte sie Löwenherz ihr Leid über dumme, kleingeistige Datenchipbürokraten geklagt. Trotz Löwenherz’ tröstlicher Anwesenheit war dabei die eine oder andere Träne geflossen.

Doch dann hatten sich Dr. Whittakers Pläne geändert.

Anders’ Mutter saß im Kabinett des Kenichi-Systems, und wie sich herausstellte, bestanden zwischen ihrem Heimatsystem und Beowulf enge Handelsbeziehungen … und anderweitige Abkommen. Beowulf gehörte zu den wenigen inneren Welten der Solaren Liga, die auf Manticore tatsächlich ein Konsulat unterhielten, und so hatte Dr. Whittaker den Konsul um Beistand gebeten. Dabei stellte sich dann heraus, dass sich gerade derzeit ein beowulfianischer Kurier im Orbit befand, der den Quartalsbericht des Konsuls abholen sollte – und Kenichi lag fast auf der direkten Route von Manticore nach Beowulf. Ein Kurierboot war zwar zweifellos kein Luxusschiff, aber immerhin gab es an Bord doch genug Platz, um einige wenige Passagiere aufzunehmen, und so hatte der Konsul Dr. Whittaker eine Mitfahrgelegenheit angeboten.

Bedauerlicherweise (aus Dr. Whittakers Blickwinkel betrachtet; Stephanie hatte das ein wenig anders gesehen) hatte es an Bord des Kurierschiffs nur Platz für genau eine Person gegeben: Dr. Bradford A. Whittaker. Wollte er also die Vorzüge des Kurierbootes nutzen, konnte Anders ihn nicht begleiten – und dem Anthropologen waren nur zwei Tage Bedenkzeit vergönnt, ob er nun das Angebot des Konsuls annehmen wolle oder nicht: Für das Kurierschiff nämlich gab es einen festgelegten Abreisetermin.

Letztendlich hatte Dr. Whittaker entschieden, es sei Eile geboten, und das gleich aus mehrerlei Gründen: Er fürchtete, ein anderes Anthropologenteam könnte die ersten Forschungsergebnisse über Baumkatzen veröffentlichen, wenn seine eigenen Publikationen zu lange auf sich warten ließen. Statt also zusammen mit Anders nach Urako zu reisen, ließ er seinen Sohn im Sternenkönigreich zurück – unter der Aufsicht von Dr. Calida Emberly, der Xenobiologin und Botanikerin seiner Expedition, und deren Mutter Dacey.

Zuerst war Stephanie über Dr. Whittakers Entscheidung fast außer sich vor Freude gewesen, doch diese Freude hatte nicht lange gewährt: Denn bis die Urako University die angeforderten Zusicherungen eingereicht hätte, war den Mitgliedern der Whittaker-Expedition jede Forschungstätigkeit auf Sphinx untersagt. Leider stammte keiner der Expeditionsteilnehmer von einer Welt mit höheren Schwerkraftverhältnissen, und Sphinx war eine Welt mit nicht einmal zwei Millionen Einwohnern. Eine solche Welt hatte jemandem, dem ausdrücklich verboten war, zu tun, wofür dieser Jemand ins Sternenkönigreich gekommen war, nicht sonderlich viel zu bieten. Dieser Ansicht war zumindest Dr. Emberly, und so hatte sie beschlossen, zusammen mit den anderen Expeditionsteilnehmern Sphinx zu verlassen und stattdessen nach Manticore zu gehen. Dort herrschte eine deutlich weniger hohe Schwerkraft, und das war für sie alle allein schon körperlich sehr viel angenehmer. Außerdem entsprach die Hauptwelt des Systems auch wegen ihrer höheren Besiedlungsdichte viel eher der allgemeinen Vorstellung von Zivilisation.

Dr. Emberlys Entscheidung wurde nicht mit einhelliger Zustimmung aufgenommen. Bedauerlicherweise jedoch wurden die beiden, die sich mit dem größten Nachdruck dagegen sperrten – Anders und Stephanie –, nicht als stimmberechtigt angesehen. In den, zugegeben, seltenen Momenten, in denen ihre Gefühle nicht ihre Objektivität trübten, konnte sie Dr. Emberly sehr wohl verstehen. Jemandem, der nicht, so wie die Harringtons, genetisch an das Leben auf einer Hochschwerkraftwelt angepasst war oder auf dieser Welt aufgewachsen war wie etwa die Familie Zivonik, fiel das Leben auf Sphinx schwer … und Dacey Emberly, Calidas Mutter, war nun wirklich nicht mehr die Jüngste. Davon abgesehen hatte Dr. Whittaker darauf beharrt, Anders müsse seine Ausbildung fortsetzen, und unbestreitbar waren die Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung auf Manticore besser als auf Sphinx.

Aber nichts von alledem änderte etwas an der Tatsache, dass Manticore und Sphinx beinahe zehn Lichtminuten voneinander entfernt waren – und zwar in der Phase ihrer größten Annäherung. Derzeit betrug der Abstand mehr als fünfundzwanzig Lichtminuten. Das machte Echtzeitgespräche von Planet zu Planet unmöglich, denn es dauerte beinahe eine halbe Stunde, bis die lichtschnelle Nachricht des Absenders auf Sphinx den Empfänger auf Manticore erreichte und umgekehrt. Es war der Tod jedes lebendigen Dialogs oder jeder lebhaften Diskussion, wenn man auf eine Frage oder Äußerung erst nach einer Stunde eine Reaktion bekam.

Fünfundzwanzig Lichtminuten waren natürlich immer noch viel besser als vierhundert Lichtjahre, aber die Signalverzögerung hatte trotzdem dafür gesorgt, dass sich Stephanie und Anders mit Textnachrichten und Videoaufzeichnungen begnügen mussten. Klar, diese konnten dann sehr viel schneller hin- und hergeschickt werden, als das zwischen Kenichi und dem Sternenkönigreich möglich gewesen wäre. Aber es war trotzdem nicht das Gleiche wie ein echtes Gespräch von Angesicht zu Angesicht … und Stephanie hatte festgestellt, dass jeder noch so von Herzen kommende Brief nur ein schwacher Ersatz für Küsse und Umarmungen war. Manche Dinge konnte sie einfach nicht sagen oder erklären, nicht einmal in einer Videobotschaft. Nicht, ohne Anders dabei in die Augen zu schauen, während sie sprach, nicht, ohne seine Stimme zu hören, wenn er ihr antwortete. Natürlich, dass er auf Manticore war, war besser, als wäre er zusammen mit seinem Vater in die Heimat zurückgekehrt … aber in mancherlei Hinsicht war es sogar noch schlimmer.

Also hatte sich Stephanie schon darauf eingestellt, ein endlos langes halbes T-Jahr nur elektronische Post zu verschicken und zu empfangen … doch sie hatte diese Rechnung ohne Dacey Emberly gemacht. Mrs. Emberly war Illustratorin und auf wissenschaftliche Themen spezialisiert. Sie gehörte als Expeditionszeichnerin offiziell zu Dr. Whittakers Team. Sie verfolgte eine andere Idee, und fand, sie könne trotz des Verbots, Baumkatzen zu studieren, anderweitig auf Sphinx an ihrem Portfolio arbeiten. Während ihres Aufenthalts auf Sphinx hatte sie herausgefunden, dass Stephanies Mutter ebenfalls malte – und dabei eine mindestens ebenso fähige Botanikerin war wie Calida, Mrs. Emberlys Tochter. Marjorie Harrington hatte sich der Malerkollegin sofort hocherfreut als Fremdenführerin angeboten und Calida gefragt, ob sie sich nicht ihren Ausflügen anschließen wolle. Die begeisterte Botanikerin wollte sich diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen lassen: Was wäre besser, als sich die sphinxianische Pflanzenwelt von einer Einheimischen erklären zu lassen? Und diese Einheimische war nicht nur ebenfalls Botanikerin, sondern wahrscheinlich die beste Pflanzengenetikerin dieser Welt!

Stephanie war schon der Gedanke gekommen, ihre Mutter könnte diese Einladung nur deswegen ausgesprochen haben, weil sie begriffen hatte, wie unerträglich es für Stephanie und Anders war, sich im gleichen Sonnensystem aufzuhalten, aber auf verschiedenen Planeten. Nun, hin und wieder zweifelte Stephanie selbst an der Richtigkeit dieser Interpretation, aber es zählte, was dabei herauskam: Seit zwei Monaten waren Mutter und Tochter Emberly wieder in Twin Forks … und das bedeutete, dass auch Anders wieder auf Sphinx war.

An dem Tag, da die drei von Manticore zurückgekehrt waren, hatten Stephanies Eltern für sie eine große Willkommen-zurück-Party gegeben und Stephanies – und Anders’ – Freunde dazu eingeladen. Stephanie hätte es zwar vorgezogen, Anders ganz für sich allein zu haben, doch ihre Eltern liebten große Partys auszurichten, und außerdem schien Stephanie auf einmal doch ein wenig Zurückhaltung angemessener. Schließlich hatten sie nie offen erklärt, zusammen zu sein – anders als etwa Chet und Christine –, aber aufgezogen wurden sie deswegen trotzdem. Ununterbrochen sogar.

Später hatten sie dann doch noch ein wenig Zeit ganz füreinander gefunden. Das mit der Zurückhaltung legte sich dann rasch, und alles war ganz wunderbar.

»Ganz wunderbar«, sagte Stephanie zu Löwenherz, »nur dass jetzt ich nach Manticore gehe! Noch drei ganze Monate, in denen es nur Post gibt … Kriege ich das überhaupt hin? Und selbst wenn die Universität Dr. Whittaker wieder nach Sphinx zurückkehren lässt, wird er ja auch nicht ewig hierbleiben. Ich glaube nicht, dass Anders bereit ist, seine Familie aufzugeben. Ich meine, er ist ja sowieso jetzt nur hier, weil seine Mom einen Job hat, der ihr für nichts anderes Zeit lässt. Und wenn man auf Urako beschließt, Dr. Whittaker nicht nach Sphinx zurückkehren zu lassen? Was, wenn Anders erfährt, dass er nach Hause zurückkehren muss, bevor ich von Manticore zurückkomme?«

Ganz offenkundig spürte der Baumkater ihre Not und sprang ihr daher auf den Schoß. Er legte ihr die Echthand, die immer noch ein wenig feucht war und nach Sellerie roch, sanft an die Wange. Aus seinen blattgrünen Augen blickte er sie eindringlich an und gab dann ein tröstliches Blieken von sich, das aber auch eindeutig eine Frage war.

»Die Sache ist …«, setzte Stephanie an. »Ich weiß nicht genau, was ich will. Als uns der Chief von dem Schulungsprogramm erzählt hat, wollte ich nichts lieber, als sofort mitzumachen. Aber jetzt … jetzt frage ich mich, ob es nicht sogar gut wäre, wenn mir meine Eltern das ausreden würden, weil sie finden, ich sollte noch ein Jahr warten. Ich bin schließlich erst fünfzehneinhalb – okay, fünfzehn Jahre und acht Monate. Ich könnte also gut noch warten. Ein Jahr macht ja so viel jetzt auch nicht aus. Ich werde sicher auch nicht zum Assistant Ranger befördert, bevor ich nicht siebzehn bin …«

Das unverkennbare Geräusch eines anfliegenden Fluglasters brachte Stephanie wieder ganz ins Hier und Jetzt zurück. Ihr Vater kam zurück in die Praxis. Impulsiv drückte sie Löwenherz an sich und spürte, wie sich zur Erwiderung sein flauschiger Schweif um sie schlängelte. Dann atmete sie tief durch und straffte den Rücken.

»Wie auch immer ich mich entscheide«, sagte sie leise, »Dad darf nicht merken, wie aufgeregt ich bin. Das würde seine Entscheidung vielleicht beeinflussen, noch bevor ich mich selbst entschieden habe. Sollen wir mal schauen, ob Dad Hilfe mit der Ausrüstung oder einem Patienten braucht?«

»Bliek«, pflichtete ihr Löwenherz bei, doch der Laut war verhaltener als das Schweifwedeln oder das Zucken seiner Ohren andeutete, als er in Richtung Tür voranging. »Bliek! Bliek! Bliek!«

Klettert-flink wusste nicht genau, was geschehen war – was in seinem Zwei-Bein ein derartiges Gefühlswirrwarr ausgelöst hatte. Zu Beginn ihres Zusammentreffens mit Erfahrener-Entscheider (so nannten die Baumkatzen das männliche Zwei-Bein, dem sich so viele ihrer zweibeinigen Freunde fügten) war Todesrachen-Verderb aufgeregt und glücklich gewesen, und ihr Geistesleuchten quoll fast vor Vorfreude und Begeisterung über. Doch dann, während die Zwei-Beine Mund-Laute um Mund-Laute austauschten, wurde die überbordende Freude allmählich immer stärker durch Unbehagen gedämpft.

Klettert-flink hatte sich keine Sorgen gemacht. Seit vielen Spannen, schon lange bevor er Todesrachen-Verderb kennengelernt hatte, diente er seinem Clan als Kundschafter. Er kannte die Aufregung, die mit jedem neuen Auftrag kam, und er wusste auch, wie die damit einhergehende Vorfreude allmählich nachließ, wenn man über die Herausforderungen und möglichen Probleme nachdachte, die sich bei der jeweiligen Aufgabe stellen mochten.

Doch am Schluss des Zusammentreffens war Todesrachen-Verderb von einer derart heftigen Welle tiefsten emotionalen Schmerzes erfasst worden, dass sich Klettert-flink zusammennehmen musste, um nicht selbst laut aufzuwimmern. Der wichtigste Unterschied zwischen Zwei-Beinen und Leuten war, dass Zwei-Beine gelegentlich versuchten, ihre Gefühle voreinander zu verbergen. Das war Klettert-flink zunächst außerordentlich seltsam, ja, verstörend erschienen, doch er erklärte sich das mit der Geistesblindheit der Zwei-Beine. Nicht einmal, wenn sie sich darum bemühten, konnten sie das Geistesleuchten eines anderen schmecken – und es schien ihnen tatsächlich ein Grund, sich zu schämen, wenn sie ihre Gefühle zu deutlich zeigten.

Da Klettert-flink gespürt hatte, wie sehr sich sein Zwei-Bein-Junges in diesem Moment bemühte, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen, hatte er sich seine erste Reaktion auf ihren Schmerz verkniffen und sich stattdessen für eine tröstliche Berührung entschieden. Er mochte ja die eigentümliche Einstellung der Zwei-Beine gegenüber offen gezeigten Gefühlen nicht recht verstehen, aber er stellte mit Stolz fest, wie stark Todesrachen-Verderb war und wie gut es ihr gelang, ihre Bestürzung zu verbergen – fast ganz ohne seine Hilfe.

Nachdem sie Erfahrener-Entscheiders Nest verlassen hatten und Licht-im-Schatten sie in seinem Flugding fortbrachte, hatte Todesrachen-Verderb ihren Gefühlen etwas mehr nachgegeben. Sofort hatte Klettert-flink den Grund für ihren Schmerz deutlich wahrnehmen können. Er erkannte die emotionalen Untertöne, die ihm verrieten, dass sein Zwei-Bein an Gebleichtes-Fell dachte, an das junge Zwei-Bein-Männchen, in den sie so viel innere Kraft steckte, seit er während der Anfangstage der Feuerzeit auf der Welt eingetroffen war.

Klettert-flink mochte Gebleichtes-Fell. Das junge Männchen war voller unbezähmbarer Neugier. Sein Geistesleuchten mochte nicht ganz so strahlend hell sein wie das von Todesrachen-Verderb, doch es barg eine äußerst anziehende Begeisterungsfähigkeit. Klettert-flink hatte sich gefreut, ihn wiederzusehen, nachdem das Zwei-Bein wohin auch immer verschwunden gewesen war. Trotzdem gab es immer wieder Augenblicke, in denen Klettert-flink überrascht war, wie viele Gefühle Todesrachen-Verderb diesem jungen Zwei-Bein-Männchen entgegenbrachte.

Dieser Gedanke entlockte Klettert-flink ein leises, belustigtes Blieken. Selbst den Leuten war gelegentlich ein Rätsel, warum sich mancher von dem oder der einen so sehr angezogen fühlte. Und so vermutete er, dass es, so eng Todesrachen-Verderb und er auch miteinander verbunden waren, immer ein paar Geheimnisse zwischen ihnen geben würde.

Mit der für Todesrachen-Verderb so charakteristischen Selbstbeherrschung hatte sie es geschafft, zumindest den Anschein von Gelassenheit zu wahren, als Heiler, ihr Ahne, zurückgekehrt war. Sie hatte Heiler dabei geholfen, seine jüngsten Patienten – zwei mittelgroße Pflanzenfresser, die so rochen, als hätten sie Atembeschwerden – ins Nest zu bringen, und dann hatte sie geduldig gewartet, während ihr Ahne Mund-Laute an das Zwei-Bein-Männchen richtete, das ihm bei der Arbeit zur Hand ging. Doch als Todesrachen-Verderb und ihr Ahne in dem großen Flugding endlich allein waren, hatten auch sie sich mit Mund-Lauten verständigt.

Es ging offensichtlich lebhaft hin und her, worüber sie sich austauschten. Da Todesrachen-Verderb nicht ungebührlich erregt schien, beschränkte sich Klettert-flink darauf, die interessanten Gerüche aufzusaugen, die von dem unter ihnen liegenden Wald zu ihm aufstiegen. Hin und wieder erkannte er die Mund-Laute wieder, die sich auf ihn selbst bezogen, und dann auch den kurzen, fast schon harten Laut, der für Licht-im-Schatten stand, doch meistens bedeuteten für ihn diese Laute ungleich weniger als die Wellenbewegungen im Geistesleuchten seiner Person.

Er achtete auch weiterhin darauf, doch Todesrachen-Verderb schien gut zurechtzukommen. Also entspannte sich Klettert-flink ein wenig und ruhte sich aus, um noch besser eingreifen zu können, sollte es zu einer Krise kommen.

2

»Du siehst also, Mom«, beendete Stephanie ihre Zusammenfassung des Gesprächs mit Chief Ranger Shelton, »das Ganze ist eine Wahnsinnsehre. Was meinst du?«

Marjorie Harrington schob sich eine braune Locke hinter das Ohr, bevor sie antwortete – eine Geste, die deutlich verriet, wie angestrengt sie nachdachte. Der Blick ihrer haselnussbraunen Augen hatte lediglich aufrichtig interessiert und ein wenig neugierig gewirkt, als Stephanie ihr von Chief Ranger Sheltons Angebot berichtet hatte. Ihr scharfer Verstand, der ansonsten mit beeindruckender Mühelosigkeit Genstränge von Pflanzenformen zu modifizieren, zu zerteilen und neu zusammenzusetzen wusste, hatte einiges an Konzentration nötig, um Vor- und Nachteile der jüngsten Gelegenheit zu überdenken, die sich für ihre Tochter ergeben hatte.

Selbstverständlich hatte Stephanie ihrem Vater schon während ihres gemeinsamen Fluges zum Besitz Harrington von dem Angebot des Chiefs berichtet. Es wäre untypisch für sie gewesen, das nicht zu tun, und Stephanie wollte nun wirklich nicht, dass ihre Eltern an ihrem Verhalten erkannten, wie unschlüssig sie selbst sich in dieser Sache doch war. Die Reaktion ihres Vaters hatte Stephanie auch schon eine recht genaue Vorstellung davon verschafft, was ihre Mutter wohl sagen würde … und sie wurde nicht enttäuscht.

»Schick mir die ganzen Informationen doch auf meinen Computer, ja? Ich will mir das selbst noch einmal in Ruhe ansehen und dann mit deinem Vater darüber sprechen. Und wie denkst du selbst darüber, Steph?«

»Ich bin ganz schön aufgeregt«, antwortete Stephanie. »Ist natürlich eine Riesengelegenheit. Aber … drei Monate auf Manticore ist ganz schön lange. Dort ist es ganz anders als hier auf Sphinx.«

Marjorie nickte. »So sonderbar das klingen mag: Vielleicht ist gerade das das beste Argument dafür, dass du fährst. Ich weiß ja selbst, wie heiß und innig du Sphinx liebst, aber es wäre vielleicht gar nicht schlecht, wenn du auch noch ein paar andere Planeten kennenlerntest. Nicht, dass du dich hier am Ende noch so sehr verwurzelst, dass du nachher nicht mehr über den Rand deines eignen Blumentopfs blicken kannst. Zu Anfang hattest du mit Sphinx schließlich auch deine Schwierigkeiten, weißt du noch?«

»Mom, das war mitten im Winter! Jetzt habe ich hier einen Frühling und einen Sommer erlebt, und allmählich bricht der Herbst an.«

»Und dann kommt wieder der Winter.«

»Ja, aber jetzt weiß ich schon so viel mehr über Sphinx, dass ich mich auf den Winter fast schon freue. Ich kann es kaum erwarten zu sehen, wie die Tiere und auch die Pflanzen mit dem ganzen Schnee zurechtkommen. Beim letzten Mal durfte ich ja schließlich ohne deine und Dads Begleitung nirgendwohin.«

»Schatz, da warst du erst zehn«, entgegnete ihre Mutter sanft.

»Ja, genau!«

»Trotzdem, Stephanie: Je länger ich darüber nachdenke, desto besser scheint mir, wenn du auch mal ein wenig Zeit auf einem anderen Planeten verbringst. Das heißt nicht, dass ich deine Teilnahme an der Schulung erlaube, versteh mich jetzt bloß nicht falsch! Aber ich sehe, dass das Ganze auf jeden Fall auch seine guten Seiten hätte. Du neigst nun einmal dazu, dich ganz und gar in etwas zu verbeißen, wenn dich ein Thema interessiert. Keine Ahnung, woher du das hast, denn weder dein Vater noch ich neigen zu solch obsessivem Verhalten, nein, ganz sicher nicht! Wie dem auch sei: Es wäre bestimmt gut, dir da ein bisschen Ausgleich zu verschaffen.«

Stephanie wusste sehr genau, wie sehr sich ihre Eltern in ihre Arbeit vertieften und dabei alles andere vergaßen: Nicht nur einmal hatte ihre Mutter ganze Nächte durchwacht und darauf gewartet, dass sich die Blüte einer Pflanze öffnete, um Pollen ernten zu können. Ihre Mutter neckte sie also und fand die Idee mit Manticore demnach gar nicht so schlecht. Doch gerade das ließ Stephanies Unbehagen wachsen. Sie hatte sich praktisch darauf verlassen, dass wenigstens ein Elternteil der Idee ablehnender gegenüberstehen würde – was praktisch gewesen wäre, falls sie selbst sich letztendlich doch dagegen entschiede. Aber bislang erwiesen sich beide als erstaunlich zugänglich. Misstrauisch fragte sich Stephanie, ob Chief Ranger Shelton ihren Eltern gegenüber vielleicht doch schon den einen oder anderen Hinweis hatte fallen lassen … obwohl er genau das ja bei der Besprechung ausdrücklich bestritten hatte.

»Ich schicke dir die Daten von meinem UniLink direkt auf deinen Computer«, sagte Stephanie. »Kann ich dir vielleicht beim Tischdecken helfen, oder so?«

»Na, das wäre ja prima …«

Den Rest des Abends ging es allein um den ganz normalen Familienalltag, was so selten der Fall war, dass es schon bemerkenswert war. Schließlich bat Stephanie darum, aufstehen zu dürfen.

»Ich soll Dacey ja Jessicas Wasserfall zeigen, weil sie den morgen malen will«, erinnerte sie ihre Eltern. »Anders und sie holen mich morgen ziemlich früh ab, und ein bisschen Schlaf sollte ich mir schon gönnen.«

»Du kommst aber rechtzeitig genug zurück, dass wir darüber noch einmal reden können, oder?«, fragte Richard nach. »Wir müssen dem SFD schließlich rasch antworten, da scheint mir eine Familienkonferenz angesagt.«

»Aber ja«, versprach Stephanie. »Ich wüsste nicht, warum ich nicht rechtzeitig zurückkommen sollte.«

In ihrem Zimmer angekommen, dachte Stephanie kurz daran, sich bei Jessica zu melden, verwarf die Idee aber. Sie war sich selbst so wenig sicher, was sie eigentlich wollte, dass ihr ein Gespräch mit der besten Freundin nicht viel weiterhelfen würde. Stattdessen saß sie noch lange Zeit an ihrem Schreibtisch und dachte nach, während auf ihrem Desktop eine Slideshow ihre Lieblingsholos ablief – alles Bilder von Zeit, die sie mit Anders verbracht hatte. Als sie schließlich ins Bett fiel, gingen ihr genau die gleichen Bilder durch den Kopf – nur waren es jetzt bewegte Bilder, die rätselhafte Andeutungen von sich gaben. Stephanie dachte noch, dass irgendwo in ihrem Traum wohl die Antwort verborgen lag, nach der sie suchte, aber als sie bei Tagesanbruch erwachte, verschwanden die Traumbilder rasch. Zurück blieb Ungewissheit.

»Hi, Dr. Richard«, begrüßte Anders Stephanies Dad, als dieser die Tür des großzügigen, aus Granitquadern errichteten Hauses öffnete. »Ist Stephanie so weit?«

»Guten Morgen, Anders«, gab Dr. Harrington zurück. »Steph ist gerade noch einmal hochgerannt, um irgendetwas zu holen. Magst du vielleicht einen Kaffee?«

»Ach, Dacey und ich haben zwar schon Kaffee getrunken«, antwortete Anders, »aber einen mehr könnte ich wohl noch vertragen. Haben Sie wieder die ganze Nacht durchgearbeitet?«

Der Tierarzt nickte und ging in Richtung Küche voran. »Saleem hat aus der Klinik angerufen. Wir hatten zwei Nipperhopper mit einem Atemwegsinfekt; bei einem der beiden ist es dann zur Krisis gekommen. Wahrscheinlich hat er auf das Antibiotikum überreagiert. Hinfliegen musste ich zwar nicht – Saleem ist wirklich ein guter Veterinär! –, aber wir standen die ganze Zeit in Verbindung, bis wir den Patienten durchbekommen hatten.«

»Das hat also geklappt, ja?« Anders nahm die große Tasse mit dampfend heißem Kaffee entgegen und trank einen vorsichtigen Schluck. Stephanie liebte Süßes, aber er zog Bitteres wie den Kaffee vor. »Herzlichen Glückwunsch!«

»Danke. Ich glaube, wir werden beide retten können. Aber, spannend oder nicht, manchmal sehne ich mich doch nach den Zeiten zurück, in denen ich mich um Hunde und Katzen gekümmert habe und auf Heilmittel zurückgreifen konnte, die schon seit Jahrhunderten erprobt sind.«

Anders grinste. Er wusste, dass Dr. Harrington hier ein wenig arg dick auftrug. Schließlich war er ausgebildeter Xenoveterinär und hatte auch schon auf Meyerdahl reichlich Lebensformen behandelt, die keinerlei terrestrische Verwandtschaft besaßen.

Dann hörte er bereits Stephanie die Treppe hinunterpoltern – wie üblich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. Einen Augenblick später kam sie auch schon in die Küche gestürzt, in einer Hand ihre Reisetasche. Mit großen, geschmeidigen Schritten folgte ihr Löwenherz dichtauf.

»’tschuldige, Anders! Mir ist gerade erst eingefallen, dass ich die Extranetze für deinen Dad vergessen habe.«

Wie stets hüpfte Anders das Herz, sobald er Stephanie Harrington sah. Sie selbst fand sich ja nicht schön, das wusste er. Sie hielt sich für zu klein und ihr Haar für zu lockig und langweilig braun. Ohne dass Stephanie je ein Wort darüber verloren hatte, hatte er an ihren Reaktionen auf Mädchen mit weiblicherer Figur bemerkt, dass sie diese beneidete, Jessica oder Trudy beispielsweise. Anders hatte schon versucht, Stephanie zu erklären, dass ein paar Kurven hier und dort wirklich in Ordnung seien … aber wie sollte er ihr das andere erklären, das Bild, das er vor sich hatte, jedes Mal, wenn er sie sah: ein Adler, der sich vom Wind tragen ließ? Oder ein Reh, das grazil gerade zum Sprung ansetzte? Wie klänge das denn, wenn er es laut ausspräche, das ganze romantische Zeug! Und das bei einem Mädchen, dessen Vater Tierarzt war und ihr beigebracht hatte, Tiere prinzipiell von der pragmatischen Warte aus zu betrachten.

»Über die Netze freut Dad sich bestimmt«, versicherte er ihr, ohne hinzuzufügen ›falls man ihm jemals erlaubt, nach Sphinx zurückzukommen‹. Stephanie und er hatten sich unausgesprochen darauf geeinigt, das Thema nicht anzuschneiden. »Er wird ja nicht müde, Artefakte miteinander zu vergleichen«, fuhr Anders fort. »Selbst wenn die für uns alle praktisch identisch aussehen.«

»Prima!«, sagte Stephanie, wandte sich zu ihrem Vater um und umarmte ihn rasch. »Zum Essen bin ich wieder da. Erinnerst du Mom bitte noch einmal, Jessica noch nichts davon zu erzählen? Das möchte ich selber machen.«

»Okay«, versprach Dr. Harrington, »mach ich.«

Tochter und Vater dieses Gespräch führen zu hören, überraschte Anders. Während der letzten sechs Monate waren Stephanie und Jessica einander so nahegekommen, dass es Anders ein bisschen eifersüchtig machte. Wahrscheinlich standen die beiden sich deshalb so nahe, weil sie beide von Baumkatzen adoptiert worden waren – oder das war bei Mädchen einfach so. Egal. Eigentlich. Denn obwohl die beiden nicht sonderlich viel Zeit damit verbrachten, über Klamotten oder Frisuren zu tuscheln und zu kichern, gab es Augenblicke, wo er sich eindeutig ausgeschlossen fühlte. Was sollten Stephanies Eltern denn ihrer Freundin nicht erzählen?

Vielleicht hat Jess demnächst Geburtstag, oder so, dachte er. Und Stephanie will ein Geschenk organisieren. Er nahm sich fest vor, später nachzufragen, schließlich war Jessica Pheriss auch eine seiner Freundinnen. Ihren Geburtstag wollte er ganz sicher nicht verpassen.

»Kann ich dir irgendwie tragen helfen?«, fragte er Stephanie, als sie zu dem gemieteten Flugwagen hinübergingen.

»Passt schon«, versicherte sie ihm. »Ist längst nicht so schlimm, wie es aussieht.«

Anders protestierte nicht. Er hatte sich allmählich daran gewöhnt, dass Stephanie, so klein sie war, sehr viel stärker war als er. Sie bewegte sich im stärkeren Schwerefeld von Sphinx – immerhin 1,35 mal so stark wie das der Erde –, ohne dabei eine Kontragraveinheit zu tragen, die Anders immer bei sich hatte: bei Tag und Nacht, ob er wach war oder schlief. Sie Dinge durch die Gegend wuchten zu lassen, machte ihm weniger aus als gedacht. Schließlich wusste er, dass Steph erklären würde, sie habe doch überhaupt nichts getan, um sich diese größere Körperkraft zu verdienen oder zu erarbeiten. Die Harringtons waren nun einmal Dschinns – genetisch modifizierte Menschen. Auf ihrer Heimatwelt Meyerdahl hatte man gezielt verschiedene Varianten ausgearbeitet, die für eine bessere Anpassung an für genetisch unveränderte Menschen ungeeignete Umgebungen sorgen sollten. Anders hatte zwar keine Ahnung, wie ausgeprägt und weitreichend diese Veränderungen waren, aber er wusste auf jeden Fall, dass Stephanie stark und zäh war. Verletzungen verheilten bei ihr ungewöhnlich schnell. Ob auch Stephanies beachtlicher Intellekt – das Mädchen war geradezu beängstigend klug – auf die Genveränderung zurückzuführen war oder ob sie da einfach Glück gehabt hatte, wusste er nicht. Ihre Eltern jedenfalls waren beide ganz offenkundig alles andere als geistig minderbemittelt.

Selbstverständlich besaßen Stephanies gezielt herbeigeführte Mutationen auch ihre Nachteile. Besonders offenkundig war ihr enormer Appetit. Meistens hieß das zwar nur, dass sie eigentlich immer und überall etwas futterte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen, aber es konnte auch anders kommen: Einmal waren sie auf eine etwas längere Wanderung gegangen, und die Snackriegel, die sie extra für Stephanie mitgenommen hatten, waren nicht mehr essbar gewesen, nachdem ihnen die Tasche in einen Bach gefallen war. Hätte Löwenherz nicht ein paar – ziemlich sonderbar aussehende – Nüsse herbeigeschafft, wäre es Stephanie ganz schön dreckig gegangen.

Aus eigener Erfahrung wusste Anders, wie glücklich man sich als Mensch schätzen konnte, Essbares unter dem zu finden, was auf Sphinx wuchs. Würden sich Menschen allerdings ausschließlich von heimischen Pflanzen oder deren Früchten ernähren, würden sich rasch Mangelerscheinungen einstellen. Doch allein schon die grundlegende Kompatibilität zeigte, dass der Planet – trotz seiner hohen Schwerkraft und dem allgemein recht kühlen Klima – den Menschen im Großen und Ganzen freundlich gesonnen war. Natürlich konnte immer noch ein Ungeheuer aus einem Sumpf auftauchen und einen fressen wollen …

Die Erinnerung entlockte Anders ein Grinsen. Abenteuer waren lustiger, wenn erst einmal alles vorbei war.

Am Flugwagen angekommen, stellten sie fest, dass niemand darin saß. Keine sonderliche Überraschung für Anders.

»Dacey?«, rief er.

»Hier oben, einen Moment noch! Ich habe da gerade was gesehen, was ich unbedingt noch skizzieren will.«

Stephanie und Anders blickten eine der zahlreichen Kroneneichen hinauf, die sich rings um das Haus der Harringtons herum in den Himmel reckten. Von einem von deren unteren Zweigen hangelte sich gerade eine hagere ältere Dame herab. Erst kurz bevor sie den Boden erreichte, veränderte sie die Einstellung ihrer Kontragraveinheit und landete mit einer Leichtigkeit, die verriet, wie viel Erfahrung sie mit diesem Gerät bereits gesammelt hatte.

»Guten Morgen, Stephanie«, begrüßte Dacey Emberly sie fröhlich. »Ich hoffe, es stört deine Eltern nicht, aber wie das Licht da gerade durch die Blätter gefallen ist – vor allem jetzt, wo das Laub diesen bemerkenswerten Goldton annimmt … da konnte ich mich einfach nicht mehr beherrschen.«

Stephanie grinste und verstaute ihren Rucksack im Flugwagen. Mit einem weiten Satz sprang Löwenherz ins Innere, hockte sich auf einen der Fensterplätze und bliekte lautstark. Er wollte, dass man ihm das Fenster öffnete, um Luft schnuppern zu können. Anders glitt auf den Fahrersitz und kam dem Wunsch des Baumkaters nach.

»Bei diesen Herbstfarben geht es Mom ganz genauso«, lachte Stephanie. »Das ist erst unser zweiter Herbst hier auf Sphinx, und beim letzten sind wir gerade erst hier angekommen, kurz vor Wintereinbruch. Im Augenblick macht Mom ständig Skizzen oder Aufnahmen – wirklich in jeder freien Minute. Sie möchte schließlich ihre Reihe mit den Jahreszeitenporträts abschließen.«

»Ja, ich weiß«, sagte Dacey, »und verstehe es, voll und ganz sogar. Wir sind jetzt schon fast ein ganzes T-Jahr hier, und vertraue ich meiner eigenen Erfahrung, herrscht auf Sphinx ewig Spätsommer. Aber die Veränderung der Laubfarben während der letzten paar T-Monate lässt mich dann doch glauben, dass es allmählich Herbst wird.«

»Eines kann ich Ihnen versprechen«, meinte Stephanie, »den Winter, glauben Sie mir, den merken Sie auf jeden Fall – sofern Sie dann noch hier sind.«

Während des Fluges zu dem Wasserfall, von dem sie Dacey erzählt hatte, unterhielten sie sich angeregt. Sie verglichen Sphinx und Meyerdahl mit Urako und verschiedenen anderen Planeten, die Dacey während ihres bereits beachtlich langen Lebens schon besucht hatte. Schließlich ließ Anders den Flugwagen auf der Lichtung aufsetzen, auf die ihn Stephanie hingewiesen hatte, und sie stiegen aus.

»Jetzt müssen wir noch ein paar Kilometer weit in diese Richtung«, sagte Stephanie und wies nach Nordosten. »Tut mir leid, dass ich keinen Landeplatz gefunden habe, der näher am Ziel liegt.«

»Das kriegen wir schon hin«, versicherte ihr Dacey und schaute dann zu, wie Stephanie die gewaltige Pistole überprüfte, die sie rechts an der Hüfte trug.

Anders hatte sich mittlerweile ebenfalls die Angewohnheit der Sphinxianer zu eigen gemacht, nicht unbewaffnet in den Urwald zu gehen. Allerdings zog er eine von den Ausmaßen deutlich bescheidenere Pistole vor, die er nun ebenfalls überprüfte. Dacey hingegen kannte ihre Grenzen nur zu genau. Sie hatte keinerlei Erfahrung im Umgang mit Feuerwaffen und nicht sonderlich viel Lust, daran etwas zu ändern. Sollte sich also irgendetwas mit Klauen und Zähnen auf sie stürzen wollen, würde ihr Beitrag darin bestehen, so rasch wie möglich aus dem Weg zu gehen und Stephanie die Hauptarbeit zu überlassen.

»Gehen wir!«, entschied Stephanie schließlich, schulterte ihren Rucksack und stiefelte zwischen den Pfostenbäumen hindurch. Dabei hielt sie sich an einen Pfad, den Löwenherz und sie während ihres letzten Besuches hier markiert hatten.

Anders und Dacey folgten ihr, und Stephanie bekam mit, dass die beiden sich über Calida Emberlys letztes Treffen mit Patricia Helton unterhielten, Gouverneurin Donaldsons Stabschefin. Heltons ganzes Auftreten hatte verraten, wie verstimmt die Gouverneurin angesichts von Dr. Whittakers Verhalten nach wie vor war, aber allmählich schien sie sich zumindest ein wenig zu beruhigen. Wahrscheinlich hilft’s sehr, dass der gute Dr. Whittaker nun schon seit fünf Monaten nicht mehr auf Sphinx ist, dachte Stephanie.

Es war sonderbar, wenn sie’s recht überlegte, dass Anders’ Vater nun schon seit fast zwei Monaten wieder im Kenichi-System sein sollte. Wie er sich wohl dabei geschlagen hatte, sein Handeln auf Sphinx zu rechtfertigen? Bislang hatte sie den Eindruck gehabt, es könnte ihm gelingen, den Groll, den seine Kollegen sicherlich gegen ihn hegten, zu beschwichtigen – aber was, wenn nicht? Und selbst wenn es ihm gelänge, dank seiner guten Beziehungen für seine Rückkehr ins Sternenkönigreich erneut ein schnelles Kurierschnellboot zu organisieren, könnte er frühestens in einem Monat hier eintreffen. Stephanie bliebe also noch ein wenig Zeit mit Anders – ganz egal, was sonst noch geschehen mochte. Aber was, wenn er käme, um Anders abzuholen, weil man ihn an der Urako University mit Schimpf und Schande empfangen hatte? Wenn er auf einem regulären Passagierschiff hierher zurückreiste, wären Anders und ihr noch mindestens fünf, vielleicht sogar sechs Monate vergönnt, bevor er nach Hause müsste. Aber sollte sich Anders’ Vater wieder eine Rückfahrt auf einem Kurierboot organisieren können, war Anders vielleicht schon auf der Rückreise nach Urako, bevor Stephanie von Manticore zurückkehrte.

Sich Sorgen zu machen, ändert nichts an dem, was einem Sorgen macht, erinnerte sie sich selbst, während sie mit allen Sinnen, die sie einzusetzen wusste, auf mögliche Bedrohung in der Nähe achtete. Das Tempo gab Löwenherz vor: Gut fünfzehn Meter über dem Waldboden huschte er von Baum zu Baum durch den Pfostenwald, und Stephanie vertraute ganz darauf, dass er Gefahren lange vor ihr wahrnehmen würde … aber das entband sie nicht von der Verantwortung, auch selbst auf sich und ihre Begleiter aufzupassen.

Während sie tiefer in den Wald vorstießen, dachte sie an die Vorfälle um die Whittaker-Expedition zurück. Falls Dr. Whittaker tatsächlich wieder zurückkehren dürfte, würden ihn dieses Mal andere Expeditionsteilnehmer begleiten – was Stephanie für eine gute Idee hielt. Was vor sechs Monaten geschehen war, hatte ihn hoffentlich von der Überzeugung kuriert, er wisse alles immer besser als jeder andere. Beinahe von einer Sphinxianischen Sumpfsirene gefressen zu werden, sollte eigentlich für jeden Warnung und Mahnung genug sein. Und dass er nicht mehr nur noch von Menschen umgeben wäre, deren Karrieren auf Gedeih oder Verderb von ihm abhingen, wäre für Dr. Whittaker vermutlich ebenfalls ganz heilsam.

Virgil Iwamoto hatte den Posten als Dr. Whittakers leitender Assistent abgegeben und eine Rückfahrt für sich selbst und seine schwangere Frau Peony Rose organisiert: Ungefähr einen Monat, nachdem Dr. Whittaker das Kurierboot bestiegen hatte, waren die beiden an Bord eines Sternenschiffs gegangen, das Beowulf ansteuerte. Moderne medizinische und technische Errungenschaften sorgten dafür, dass Schwangerschaften und Geburten auf Hochschwerkraftwelten längst nicht mehr so riskant waren wie früher, aber Anders hatte Stephanie erzählt, dass sich Virgil und Peony Rose trotzdem Sorgen machten. Außerdem hätten sie sicher während dieser aufregenden Zeit ihre Familie gern in der Nähe … und sie würden ohnehin nur gerade noch rechtzeitig die Heimat erreichen.

Ob nun aus Dankbarkeit, oder weil Whittaker wusste, dass Virgil nur die Wahrheit über die Vorfälle in Sphinx’ Urwald berichten müsste, um ihm seinen Ruf zu ruinieren, hatte Dr. Whittaker ihn aus seinem Vertrag entlassen und ihm ein perfektes Dienstzeugnis ausgestellt. Zugleich gestand er Virgil auch das Recht zu, die Daten der Expedition im Rahmen seiner Dissertation zu nutzen. Damit, so hatte Anders erklärt, war sichergestellt, dass dieser Arbeit reichlich Aufmerksamkeit zuteilwürde.

Nach Virgils Abreise war Calida das dienstälteste und damit führende Mitglied der offiziellen Urako-University-Expedition ins Sternenkönigreich – auch wenn es sehr wahrscheinlich schien, dass Kesia Guyen Virgils Platz einnähme, sobald – oder: falls – Dr. Whittaker eine Rückkehr gestattet würde. Da Kesia Linguistin war und sich die Baumkatzen bemerkenswert hartnäckig weigerten, ihr irgendetwas zu bieten, was sie nutzen konnte, hatte sie beschlossen, sich fachlich weiterzubilden. Wie sich herausstellte, vermochte ein Verstand, der mühelos kleinste Details von Wortabfolgen oder grammatische Regeln organisieren konnte, auch sehr gut Details fremdartiger Kulturen zu kategorisieren. Und für alle Beteiligten von Vorteil war, dass John Qin, Kesias Mann, einige äußerst profitable Geschäftsbeziehungen innerhalb des Sternenkönigreichs aufgebaut hatte. Im Gegensatz zu Virgil, dem die Abhängigkeit von seinem Mentor nur allzu bewusst gewesen war, hatte sich Kesia nicht von ihrem Chef einschüchtern lassen: Sie strebte zwar fachliches Fortkommen an, aber die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung ihres Mannes war ein gewisser Schutz für sie. Und nach allem, was Stephanie bislang mitbekommen hatte, sahen sich die beiden anderen bereits promovierten Wissenschaftler – Calida und Dr. Nez – anscheinend in der Pflicht, das Urteil über die mögliche Intelligenz der Baumkatzen nicht ausschließlich anhand der Feuersteinwerkzeuge sowie der Netze, Tonkrüge, Flechtkörbe und Behausungen zu fällen, die offenkundig die materiellen Kulturgüter von Sphinx’ Ureinwohnern ausmachten … was für Dr. Whittakers gelegentliche Anfälle exzessiver Begeisterung zweifellos einen weiteren Dämpfer darstellte.