Flucht in die Wälder - Phillip Mann - E-Book

Flucht in die Wälder E-Book

Phillip Mann

3,8
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was wäre, wenn … ?

Es ist unsere Zeit, aber nicht unsere Welt: Die römischen Legionen haben Großbritannien nie verlassen. Noch immer herrschen sie über ein Weltreich und sichern es mit moderner Technik und Skrupellosigkeit. Eboracum, das wir als York kennen, ist die Hauptstadt Britanniens. Solarbetriebene Fahrzeuge transportieren Bürger und Güter auf schnurgeraden Straßen von Stadt zu Stadt und durchqueren dabei die Wälder. Außerhalb von Eboracum steht der Kampfdom, eine riesige Arena, in dessen künstlich gestalteter Landschaft brutale Spiele ausgetragen werden. Viti, Miranda und Angus fliehen aus dem Dom in die Wälder – und stellen dort fest, dass die „Pax Romana“, der römische Friede, brüchig ist: In den englischen Wäldern erwacht die magische Tradition des alten Britanniens zu neuem Leben …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 537

Bewertungen
3,8 (16 Bewertungen)
4
8
1
3
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PHILLIP MANN

FLUCHT IN DIE WÄLDER

EIN LANDFÜR HELDEN

Erster Roman

Inhalt

Widmung

1 – Zwölf Sekunden entfernt

2 – Über die Wildnis

3 – Der Kampfdom

4 – Drei Geschichten

5 – Beschreibung eines Jahres

6 – Vitis Bankett

7 – Geächtete

8 – Was sich jenseits von Britannien ereignete

9 – Flucht in die Wälder

10 – Die erste Nacht

11 – Ulysses weint

12 – Der erste Tag

13 – Was sich in den ersten Monaten im Gasthaus zutrug

Für den jetzt

so schmerzlich vermissten Dick Rothrock,

Freund und Lehrer.

Und für Janice Rothrock,

deren Mut wie ein Leitstern leuchtet.

Und auch für Tom und Megan,

die gegenwärtig in L.A.

1

Zwölf Sekunden entfernt

Willkommen auf der Erde. Es ist jedoch nicht ganz die Erde, die Sie und ich kennen, obwohl man vom Mond aus den Unterschied gar nicht bemerken würde. Diese Welt gehört zu einem jener Paralleluniversen, deren Zahl unendlich ist. Aber jedes dieser Universen existiert in seiner ganz eigenen Zeitkapsel, und die Zeitrechnung weicht ein ganz klein wenig von der unserer eigenen Welt und der aller anderen Welten ab.

Die Welt, die wir nun gleich betreten werden, ist gegenüber unserer nur um zwölf Sekunden verschoben. Aber schon diese kurze Spanne sorgt dafür, dass diese Welt sich von unserer ganz und gar unterscheidet, auch wenn sie in bestimmter Hinsicht recht vertraut wirkt. Die Hügel, Flüsse und Ebenen zum Beispiel sehen im großen und ganzen so wie bei uns aus, aber die Männer und Frauen, die dort leben, sind anders. Auch ihre Geschichte und ihre Sitten und Gebräuche sind anders, anders auf kaum merkliche, aber seltsame Weise.

In dieser Welt sind die römischen Legionen nie aus Britannien abgezogen. Ganz im Gegenteil: Die römischen Legionen sind weiter marschiert. Zuerst haben sie Britannien ihr Brandzeichen aufgedrückt, dann haben sie den Rest der Welt erobert. Und wo immer sie hintraten, haben sie ihre Gesellschaftsordnung, ihre Gesetze und ihre militärische Organisation eingeführt.

Angesichts der nordischen Stämme hat Rom eine Zeitlang zwar bedenklich gewackelt, aber es hat überlebt und ist zur Hauptstadt einer riesigen, bunt zusammengewürfelten Zivilisation geworden. Rom ist jetzt berühmt als Wiege der Wissenschaft, als kultureller Schmelztiegel, als Platz an der Sonne, der alle Rassen aufnimmt, als Heimstätte guten Essens, seltener Gewürze und erlesenen Rotweins, als der Ort für den neuesten Klatsch und Tratsch, für die Philosophie, für Liebe und Lust, als Zentrum sagenhaften, verschwenderischen Reichtums, als Sitz einer angsteinflößenden, säbelrasselnden Weltmacht.

Was ja alles schön und gut ist, aber dieses Buch schert sich nicht sonderlich um Rom, übrigens auch nicht um den Rest der Welt. Vielmehr handelt es von einer ganz kleinen Ecke im fernen Nordosten der feuchten, bewaldeten Provinz Britannien.

Als der militärische Widerstand in Britannien mit der Niederlage der keltischen Stämme zusammenbrach, blühte die Provinz auf. Kreuz und quer durchs Land bauten die Römer ihre Straßen und regierten in ihren ordentlichen Groß- und Kleinstädten und von ihren Heereslagern aus. Nach und nach schufen sie eine wohlstrukturierte Gesellschaft, die sich auf einen städtischen Lebensstil gründete.

Kurz nach der Eroberung ernannte Rom den politischen Statthalter dieser Gesellschaft, den sogenannten Praefectus Comitum. Aber bald schon nahmen andere diese Position ein: Angehörige der großen aristokratischen Militärfamilien, die sich in Britannien niedergelassen hatten und sich in dieser Provinz mit der Zeit zu Hause fühlten. Diese Familien verwalteten ausgedehnte Ländereien und genossen fast uneingeschränkte Macht. Ihre Vorzugsstellung stützte sich auf zwei Klassen der Bevölkerung: auf die Bürger und auf die Soldaten. Diese beiden Klassen rekrutierten sich vor allem aus einheimischen Familien, die in früheren Zeiten das Stammesleben aufgegeben und die Pax Romana mit Wonne hingenommen hatten. Sie wurden ›zivilisiert‹. Aus Jahrzehnten wurden Jahrhunderte, aus Jahrhunderten wurde eine kleine Ewigkeit, und die römische Herrschaft kam allen nach und nach wie ein Naturgesetz vor. Da man den Bürgern materiellen Komfort, Sicherheit und einen festen Platz in der Gesellschaft bot, waren sie sich der strengen Gesetze, Vorschriften und Verbote, denen sie unterworfen waren, kaum bewusst. Deshalb kam es auch kaum vor, dass die Buchhalter, Kanalarbeiter, Köche, Putzfrauen, Ammen, Gärtner oder Kerzenmacher, die der römischen Militäraristokratie das zivilisierte Leben überhaupt erst ermöglichten, ihre eigene Situation in Frage stellten. Und was die Soldaten betraf, so gab es nichts, was sie ermutigt hätte, über irgend etwas anderes zu sinnieren als den Stolz auf ihren Dienst und die Freude an der eigenen Tüchtigkeit. Sie überwachten die Straßen und die Tore der Stadt.

Dort jedoch, wo die Stadtmauern aufhörten, begann die Wildnis. In den Wäldern, Mooren und Sümpfen rings um die römischen Städte spielte sich das Leben immer noch ähnlich wie vor Jahrhunderten ab, nicht anders als zu der Zeit, ehe die Kelten und, noch früher, Menschengenerationen gekommen waren, die Stonehenge errichtet hatten. So wie man hier lebte, hatte man sogar schon zur Zeit der Riesen gelebt. In den unterschiedlichen Regionen des Landes, das die Römer Britannien nannten, hatten die alten, grünen, ewig jungen Geister der Bäume, Lichtungen und Flüsse ihre Würde bewahrt und großen Einfluss auf die erdverbundenen Menschen. Jene Menschen in den riesigen Wäldern konnten ihre Vorfahren, die beinahe so alt wie die Hügel waren, in den Bäumen und zwischen den sprudelnden Wasserläufen flüstern hören. In der Dämmerung murmelten sie miteinander in den Schatten der langen Hügelgräber. Trotzdem liebten sich die goldenen Burschen und Mädchen in den Wiesen, oben auf den Hügeln und an den stillen Plätzen hinter den Hügelgräbern und dachten nicht an den Grabesstaub.

Aber für die alten römischen Familien und die ihnen dienenden Bürger und Soldaten waren diese Waldbewohner nichts als primitive Wilde, die man dulden konnte, weil von ihnen keine Gefahr drohte.

In manchen Teilen des Landes machte das Christentum von sich reden, aber nirgendwo wurde es zu einer so großen politischen Kraft wie in unserer Welt. Wo das Christentum tatsächlich überlebte, nahm es den Platz einer Sekte unter vielen anderen ein. Jede dieser Sekten feierte auf ihre ganz eigene Weise das Sühneopfer eines Mannes oder einer Frau, die freiwillig den Tod gewählt hatten, um die Menschheit zu erlösen. Diese unterschiedlichen Glaubensrichtungen verschmolzen mit älteren Religionen, in deren Mittelpunkt Erde, Himmel oder die Große Mutter standen.

Und alle Rassen und Religionen wandelten auf den römischen Straßen.

Wir kommen zur Gegenwart.

Überall in der Welt stoßen römischer Rationalismus und römisches Gesetz an ihre Grenzen. Sie sind zu einer Art Gefängnis des Geistes geworden, und dieser Geist zerrt jetzt – zumindest in einigen Teilen der Welt – an seinen Ketten und rüttelt an den Gitterstäben. Gleichzeitig sprudeln ekstatische Kräfte wie Lava hoch und drohen, die römische Ordnung so unvermeidlich zu zerstören, wie der Vesuv Pompeji zerstört hat.

Natürlich ist im Alltag davon kaum etwas zu merken. Wie immer geht die Sonne auf und unter. Der Mond nimmt zu und wieder ab, so dass sich die Meere rund um die Welt heben und senken. Auf den Winter folgt der Frühling, auf den Frühling der Sommer, dann der Herbst, bis der Winter wieder einsetzt. Aber tiefgreifender Wandel ist unbarmherzig und nicht aufzuhalten. Das ist ein Naturgesetz – dort wie hier.

Lasst uns nun diese Welt betreten …

2

Über die Wildnis

Aber im Augenblick treiben wir langsam über den riesigen wildwuchernden Wäldern des nördlichen Britanniens. Wir befinden uns ein paar Meilen östlich und ein wenig nördlich der großen Stadt Eburacum, die in dieser Welt Britanniens Hauptstadt ist. In unserer Welt kennt man diese Gegend als Pickering-Tal in der Grafschaft Yorkshire, und die große Stadt heißt York. Es ist mitten am Nachmittag und Frühling. Nach einem hellen warmen Tag fallen die Sonnenstrahlen schräg in den Wald und tauchen den herumwirbelnden Staub, die Pollen und tanzenden Insekten in goldenen Nebel.

Der Wald ist überwältigend, er dehnt sich aus, soweit das Auge reicht. An manchen Stellen erstrahlt das blasse Grün neuer Blätter, an anderen Stellen wirkt der Wald düster. Es gibt hier auffallend viele Stechpalmen und Haselnusssträucher, ihre Früchte sind bei Menschen und Vögeln sehr beliebt.

Eiben, nach menschlichen Maßstäben uralt, träumen im Schatten der größeren Bäume. Weiden markieren mit ihren hoch aufragenden Ästen die Wasserläufe und strecken ihre Arme zu den gewöhnlichen Erlen hinüber. Für Kontrast in Farbe, Form und Erscheinung sorgen Buchen und Eichen. Der Wald ist üppig und geheimnisvoll. Wenn der Wind bläst, schwanken die Baumwipfel, die Äste beugen sich, ächzen und schaben aneinander – dann ist der Wald wie ein einziges Lebewesen, ein gewaltiger grüner Organismus, der seine Zeit in Jahreszeiten und Jahrhunderten misst.

Hin und wieder treiben wir über dichte Hecken hinweg, die aus gestutztem Hagedorn, Haselnusssträuchern, manchmal auch aus Stechpalmen bestehen. Diese Hecken bilden eine Abgrenzung, sie halten den mächtigen Wald zurück und schützen kleine Dörfer. Jedes Dorf ist weitgehend als Runddorf angelegt, die Häuser stehen eng zusammen, es bleibt aber noch genügend Raum für kleine Gärten und Obstbäume. Bei vielen der großen Bäume, die nahe am Dorf wachsen, hat man die Äste zurückgeschnitten, damit das Tageslicht hereinfallen kann. Allerdings nicht bei den Lieblingsbäumen, den Eichen. Sie ragen hoch über die Hecke und werfen ihre Schatten auf die Lichtung. Im Herbst prasseln die Eicheln auf die Hausdächer und verstopfen die Dachrinnen.

Die Häuser bestehen aus Holz, Backsteinen und Lattenwerk und sind mit Ziegeln gedeckt, viele sind als kreisförmige Pfahlbauten angelegt. Unterhalb der Häuser ist Platz für Tiere. Die Häuser haben kleine Fenster und hohe Schornsteine, aus denen blauer Holzkohlenrauch aufsteigt. Vor den Haustüren hat man Rosmarin, Thymian, Zitronenmelisse und Minze angepflanzt. Zäune trennen kleine Parzellen gegeneinander ab. Dort wachsen Rüben neben Winterkohl, dort vermodert der Ausschuss der herbstlichen Ernte zu Kompost.

Das Frühjahrspflügen hat schon begonnen, an manchen Stellen sprießen aus der dunklen Erde schon die hellgrünen Halme der im Herbst eingesäten Frühsorten von Roggen und Gerste. Am Rande der Felder hat man feuchte Pflanzen, verrottende Ringelblumenblätter, schmutziges Erbsenstroh und die fauligen Ablagerungen aus Abwassergräben zum Abtransport in die Kompostbehälter aufgeschichtet.

Das Dorf ist voller Menschen, denn die Tagesarbeit ist getan. Jetzt ist es an der Zeit, auf dem Dorfplatz miteinander zu schwatzen und zu trinken. Überall riecht es nach Essen. Hühner gackern und picken unter den Tischen, die man in die Sonne gerückt hat. Kinder singen und schreien. Irgendwo wird gehämmert, ein Streit bricht aus. Anderswo wird gelacht. Dies sind die ›Wilden‹, wie die Römer sie nennen, die Waldbewohner, deren Feuer an Beltane brennen. Diese Männer und Frauen stammen von den Kelten ab, die Jahrhunderte vor den Römern in Britannien eingefallen sind, oder auch von den Wikingern und entlaufenen afrikanischen und orientalischen Sklaven. In ihren Adern fließt das Blut der frühesten Bewohner dieses Landes, das Blut der Männer und Frauen, die in den Hügeln steinerne Kreise und Festungen errichtet haben. Diese Waldbewohner setzen eine Kultur fort, die schon uralt war, als die Römer einfielen – manche behaupten sogar, dass diese Kultur bis zum alten Atlantis zurückreicht –, und sie sind auch keineswegs die einzigen Bewohner des Waldes.

Im Dorf versüßen nicht nur die Frühlingsblumen die Luft, sondern auch die Schweine, die zwischen den Eichen grunzen und schnüffeln. Kühe trampeln in den nassen Wiesen jenseits der Dorfmauer herum. Schafe blöken innerhalb der Einzäunungen, die man aus Weiden geflochten hat. Bärtige Ziegen zerren an ihrem Strick, alles, was außerhalb ihrer Reichweite liegt, macht ihnen ganz besonders Appetit. Ein Hund läuft von der Rückseite eines Hauses fort und duckt sich ins Gras, als er gerufen wird.

Unterhalb der Waldbäume schlängeln sich schmale Wege und verbinden die abseits stehenden Häuschen zu einem Netz. Alle Pfade sind gut ausgetreten, jeder Weg ist gerade breit genug, dass zwei Packpferde aneinander vorbei können. Man betritt das Dorf durch ein Tor, das jeden Abend bei Sonnenuntergang geschlossen wird. Oben ist das Tor mit Dornen gespickt. Es ist so hoch und solide gebaut, dass es einen brünftigen Hirsch oder ein Rudel heulender Wölfe aufhalten kann. Außerhalb der Dörfer verzweigen sich die Wege und verlieren sich unter den Bäumen, um am nächsten Dorf wieder aufzutauchen.

Nach Norden hin vermischt sich das Bunt des riesigen Waldes mit dem Nebelgrau und Purpurrot der Moore. Die Bäume weichen Farnkraut und Heide. Nach Osten hin drängt sich der Wald bis an den Rand der Klippen, die an die graue Nordsee grenzen. Dort sind die Bäume verkrüppelt und windschief, die salzige Brise hat ihnen phantastische Formen verliehen. Zum Süden und Westen hin umhüllt der Wald die niedrigen Hänge der Wolds und umsäumt die salzige Marsch dort, wo der Fluss Ouse mit den Gezeiten ringt. Dann drängt der Wald nach Süden und umschließt Hügel und Fluss mit seinen Ästen. Man sagt, dass derjenige, der jenseits der Mauern von Eburacum seinen Fuß in das grüne Gehölz setzt, den Schutz des Waldes bis zum Ufer jenes fernen Meeres im Süden nicht mehr verlassen muss.

Mit diesem weitläufigen Dickicht aus Bäumen und Unterholz hat sich das Land von der letzten Eiszeit erholt. Dieser Wald ist die Heimat von Wildkatzen, riesigen Wölfen und Bären. Selbst einen Tiger mit geflecktem Zottelfell und gekrümmten Fangzähnen hat man unter den Fichten nahe bei Kirkdale umherschleichen sehen. Und es gibt dort auch noch weitere Lebewesen, Lebewesen, die man selten sieht – es sei denn, sie wollen gesehen werden. Sie bewegen sich lautlos.

Zwar wimmelt der Wald von Leben, aber während wir über den Baumgipfeln dahintreiben, sehen wir nur Vögel aufflattern und gelegentlich einen Sonnenstrahl auf dem Wasser funkeln. Möglich, dass wir in der Ferne beizenden Rauch über dem Blätterdach aufsteigen sehen. Schließlich ist heute der erste Mai, zur Feier Beltanes brennen Feuer.

Plötzlich gelangen wir an einen Ort, an dem man große Waldflächen gerodet hat. Innerhalb dieses Gebietes liegt ein genau abgegrenztes Rechteck. Mit ein bisschen Phantasie könnten wir uns vorstellen, dass irgendein alter Gott, sagen wir Jupiter oder Vulkan, hier einen Riesen damit beauftragt hat, ein bestimmtes Waldgebiet abzuholzen. Der Rand ist durch hohe Steinmauern gekennzeichnet. Hinter den Zinnen patrouillieren Soldaten. An den Ecken ragen Wachtürme auf. Innerhalb dieses gerodeten Gebietes befinden sich quadratische Felder, lange Reihen von Glashäusern, ovale Fischteiche, Bewässerungsgräben, abgestufte Wasserkanäle und Windmühlen. Im Mittelpunkt der gerodeten Lichtung stehen mehrere Fertighäuschen, sie ziehen sich rings um eine Grasfläche, die ein Spielfeld darstellt. Diese kleine Ansiedlung sieht wie ein Dorf aus, aber in Wirklichkeit handelt es sich um einen einzigen Bauernhof. Dieser Bauernhof ist einer von vielen, die in der ganzen Provinz verstreut liegen. Sein einziger Zweck besteht darin, die Nahrungsmittel zu produzieren, die der Staat verlangt. Eburacum und dem benachbarten Heereslager liefert der Bauernhof Frischfleisch und Gemüse in bester Qualität. Jeder staatliche Bauernhof hat einen eigenen Namen und eine eigene Nummer. Die Höfe wetteifern nicht nur in der landwirtschaftlichen Produktion miteinander, sondern auch im Sport, das erklärt, wie wichtig das zentrale Spielfeld ist. Hier werden Ringkämpfe und Rennen ausgetragen. Zwei Gruppensportarten, ganz ähnlich wie Rugby und Cricket, sind besonders populär. Im Moment werden gerade die Rugby-Pfosten eingelassen, und die Gärtner sehen nach, welche Schäden das Cricket-Hauptfeld im Winter abbekommen hat.

Möglich, dass wir vieles wiedererkennen. Weniger vertraut sind wahrscheinlich die hohen Säulen, die das ganze Areal rund um den Bauernhof umgeben. An ihren Spitzen sind schwarze Platten mit Solarzellen angebracht. Solarenergie ist in dieser Welt weit verbreitet. Diese Technik ist, im Gegensatz zu vielen anderen, recht weit fortgeschritten. Der Bauernhof wird weitgehend mit Solarstrom versorgt.

Durch Straßen sind all diese staatlichen Bauernhöfe zu größeren Einheiten verbunden. So gerade wie Richtschnüre zerschneiden diese Landstraßen den wildwuchernden bunten Wald. Je weiter wir uns vom wilden Herz des Waldes auf Eburacum und seine Nachbarstädte zubewegen, desto augenfälliger werden Ordnung, Planung und wirtschaftliche Vorsorge. Die Straßen bekräftigen: Vernunft überwindet das Chaos der Natur. Und das ist für diejenigen, die der Meinung sind, dass die wilde Natur bezähmt werden muss, ein tröstlicher Gedanke. Dem aufmerksamen Beobachter entgeht allerdings nicht, dass die Vegetation dort am undurchdringlichsten ist, wo der Wald auf die zurechtgetrimmten Straßenbegrenzungen stößt. So als wollte der wildwuchernde Wald die grünen Lichtungen in seinem Innern von den lauten, bevölkerten Straßen isolieren.

Die Landstraßen verbinden sich mit größeren Straßen, die die ganze Provinz durchziehen. Diese wiederum vernetzen sich mit den Hauptverkehrsstraßen, den Schnellstraßen, die letztendlich zu den Metropolen des Reiches führen: zum glitzernden Byzanz, zum gigantischen Rom, zum marmornen Athen und zum weit entfernten, wohlriechenden Xi An – um nur einige zu nennen.

Wir treiben über eine dieser Schnellstraßen hinweg und merken, dass dort dichter Verkehr herrscht. Alle Fahrzeuge haben anscheinend dasselbe Ziel, bewegen sich in dieselbe Richtung, nämlich weg von der Stadt Eburacum Richtung Derventio. Wir kennen die Stadt als Malton. So viel befahren die Straße auch sein mag, geht doch alles ganz gelassen vor sich. Alle Fahrzeuge halten konstante Geschwindigkeit und wirken wie Perlen an einer Kette, jedes Fahrzeug bewahrt genau gleichen Abstand zu dem vor und hinter sich.

Die Fahrzeuge haben Ähnlichkeit mit motorisierten zweirädrigen Karossen, wie wir sie vielleicht schon auf einer Kirmes gesehen haben. Aber uns fällt auf, dass die Seitenräder nur aus bemalten Scheiben bestehen und den Boden eigentlich gar nicht berühren. Die Fahrzeuge gleiten lautlos auf ihren Luftkissen dahin. Ein Monitor, der die Schnellstraße überwacht, hat alle Fahrzeuge fest in seinem magnetischen Griff. Luftballons und Wimpel schnellen aus den Fenstern, tanzen im leichten Wind auf und ab, zerren an ihren Schnüren. Wir hören auch Singen und Lachen, gelegentlich sogar das ›Plopp‹ eines herausspringenden Champagnerkorkens.

Vom Mittelstreifen der Straße ragen hohe Säulen empor, ähnlich wie die auf den staatlichen Bauernhöfen. Nur sind sie viel höher und haben oben doppelte, schwarze und silberne Wölbungen. Sie sehen wie Pilze auf Storchenbeinen aus und überragen die höchsten Eichengipfel des Waldes um ein gutes Stück. Sie stehen in regelmäßigem Abstand von rund zweihundert Metern. In der Brise schwanken sie hin und her und beugen sich, als wären sie Lebewesen, die die Luft einschnuppern und filtern. Diese Säulen erfüllen zahlreiche Aufgaben: Sie empfangen Tageslicht und verwandeln die Sonnenenergie in Strom, der dazu dient, die verschiedenen Betriebswerke der Straße – einschließlich ihrer Überwachung – zu versorgen. Die Römer haben das Transportwesen in eine hohe Kunst verwandelt. Auf ihren Straßen kommt es kaum zu Unfällen, da Geschwindigkeit wie Abstand genau kontrolliert werden. Wenn der Fahrer sein Ziel in das Steuersystem des Fahrzeugs eingegeben hat, kann er sich in die weichen, pelzüberzogenen Sitze zurücklehnen, Champagner trinken und dem Überwachungsgerät die lästige Aufgabe überlassen, das Fahrzeug tatsächlich zu lenken. Außerdem strahlen die Säulen auf einer speziellen Wellenlänge Energie ab und versorgen damit eine ›Himmelsstraße‹ – wie man hier sagt –, auf der besondere Luftfahrzeuge mit erstaunlichen Geschwindigkeiten entlanggleiten. Die Himmelsstraße ist schmal und erstreckt sich auf beiden Seiten der Säulen kaum weiter als jeweils sechs Meter. Sie reicht nicht bis zum Wald. Das braucht sie auch gar nicht, schließlich gibt es in Britannien jede Menge Landstraßen. Und außerdem ist ja, wie das Klischee besagt, die römische Straße der kürzeste Abstand zwischen zwei Punkten.

Jedenfalls haben die Römer, die herrschen, und die Bürger, die ihnen dienen, wenig Interesse an den wilden Stämmen, die jenseits der Stadtmauern ihre Hörner blasen, ihre Trommeln schlagen und ihre Feuer entzünden. Außerdem sorgen die schlanken Säulen für helle Lampen, die mit Einbruch der Dämmerung auf die Straße niederstrahlen. Alle Hauptstraßen Britanniens werden auf diese Weise beleuchtet, das heißt abends ist die ganze Provinz von einem funkelnden Netz strahlendweißer Lichter überzogen.

Wo wollen all diese Fahrzeuge hin? Offensichtlich muss es an ihrem Zielort irgend etwas Aufregendes geben. Die Straße beschreibt eine sanfte nordöstliche Kurve und stößt auf eine wichtige Kreuzung. Hier verbindet sich der vom Süden hochströmende Verkehr mit den Fahrzeugen aus Eburacum. Die Kreuzung ist als großer Kreisel angelegt. Die meisten Fahrzeuge, die sich hier in den Kreisverkehr einordnen, nehmen eine Ausfahrt Richtung Kampfstraße. Die wenigen anderen setzen ihre Fahrt in nördlicher Richtung fort. Nach wenigen Meilen zweigen kleinere Straßen von der Schnellstraße ab. Eine davon führt nach Osten, nach Derventio und zu den Fischerdörfern an der Küste, eine andere zu den nördlich gelegenen Mooren, in deren Senken immer noch Schnee liegt. Ihr Endpunkt ist das berühmtberüchtigte Haft- und Straflager Caligula, das nahe bei den uralten Grabhügeln hoch über der Stadt liegt, die wir Rosedale Abbey nennen. Die zentrale Schnellstraße führt weiter nach Norden, über Cataractonium zu den Städten Kaledoniens.

Wir jedoch folgen den Fahrzeugen, die Richtung Kampfstraße abgebogen sind. Jetzt wird die Straße schmaler und ungewöhnlich malerisch, sie führt im Zickzackkurs um hübsche Seen, gepflegte Rasenflächen und Baumgruppen von Eiben und Ulmen. Der Verkehr fließt inzwischen langsamer. Wir sind fast am Ziel: am Kampfdom.

Der Kampfdom besteht aus einer riesigen Halbkugel, die sich über viele tausend Quadratmeter Fläche wölbt. Ihre Ränder ragen nackt und glatt aus dem Dickicht des Waldes. Selbst die höchsten Eichen und Buchen reichen nicht entfernt an die Kuppel heran. Makellos und steril, weiß und fremdartig ragt sie über die Bäume auf und wölbt sich majestätisch nach innen, auf ihren Scheitelpunkt zu.

Im Sommer prasselt Regen auf die Kuppel nieder, schäumt auf und strömt dann an ihren Rändern herunter. Im Winter fällt der Schnee hier in dichten Flocken nieder, gefriert und überzieht die Oberfläche mit Eis, so dass die Kuppel sich leicht senkt. Dann werden dort oben Lampen eingeschaltet. Durch die Wärme schmilzt die gefrorene Masse, wie eine Reihe zerknüllter Bettlaken gleitet der Schneematsch an den Rändern hinab und landet mit dumpfem Schlag auf dem Boden rings um die Kuppel. Bald darauf nimmt ihr Dach mit gedämpftem Knall wieder die ursprüngliche Form an.

Für diesen Abend ist ein sternenklarer Himmel, eventuell auch leichter Frost angekündigt. Möglich, dass der Frost die Fenster bemalt. Der Himmel ist wolkenlos, es geht kein Wind. Die Bäume stehen stumm und starr, während im Süden ein blasser, zunehmender Mond über den Wolds steht.

3

Der Kampfdom

Für die jungen Offiziere und Kadetten, die an der Marcus Aurelius-Militärakademie von Eburacum ausgebildet wurden, war dieser Abend der wichtigste des ganzen Jahres: Der Abschlusskampf soll stattfinden ein Kampf, für den sie das ganze Jahr hindurch trainiert haben. Die Feierlichkeit, die stets Ende April oder Anfang Mai über die Bühne geht, markiert die Etappen, in denen sie nach und nach in die römische Verwaltungsspitze hineinwachsen. Dieses wichtige Ereignis hatte man mit dem leicht veränderten alten Fruchtbarkeitsfest der Lupercalia verbunden. Eigentlich war nur der Zeitpunkt des Lupercalia-Festes ins späte Frühjahr verschoben worden: Im alten Italien hatte man es im Februar gefeiert. Aber im nördlicher gelegenen Britannien war es zu dieser Zeit einfach noch zu kalt.

Wohin man auch blickte: Aus allen Richtungen eilten Menschen herbei. Zauberhafte Lichter glänzten und funkelten in den Bäumen, Projektoren warfen Farbbilder auf die gewölbte Kuppel. Hunderte von Fahrzeugen, die den Landweg benutzt hatten, kamen jetzt an, glitten bis zu den Bäumen, hielten dort an und sanken auf ihre falschen Räder. Sie spuckten ihre Insassen aus, dann hoben sie sich wieder und fuhren weiter zu einer Rampe, die zu dem riesigen unterirdischen Parkplatz führte.

Flugzeuge aus Eburacum und den weiter entfernten Städten Londinium, Viroconium, Aquae Sulis und Deva, die die ihnen zugeteilte Himmelsstraße benutzt hatten, landeten auf einer Lichtung nahe beim Dom. Die aussteigenden Männer und Frauen waren elegant und in strahlenden Farben gekleidet. Viele trugen Laternen, andere entrollten bunte Fahnen mit Wappenzeichen. Auf diese Weise zeigten die Festgäste, welche der großen Familien sie unterstützten. Da war die Fahne der Caesar-Sippe: Rot auf Schwarz, da drüben die der Familie Manavia: Weiß auf schwarzem Grund. Das Gallica-Banner fiel mit seinen schwarzen Zeichen auf goldenem Grund besonders auf, das rotweiße der Agricolas stand ihm kaum nach. Die schwarzgrüne Ulysses-Fahne wetteiferte mit dem grün-roten Severus-Banner. Und es gab noch viele weitere. Überall Farbe, Pomp, aufgeregtes Stimmengewirr. Fast alle Gäste hatten irgendwann einmal selbst an der Militärakademie von Eburacum studiert und sich im Kampfdom geschlagen. Sie alle trugen die Schwerter, die man ihnen zum erfolgreichen Abschluss überreicht hatte. Und die Schwerter waren ungemein scharf. Schließlich waren es keine Spielzeugschwerter, sie würden an diesem Abend in Aktion treten.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!