For nEver - Aurora Rose Reynolds - E-Book
SONDERANGEBOT

For nEver E-Book

Aurora Rose Reynolds

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von der New York Times & Wall Street Journal Bestsellerautorin Aurora Rose Reynolds kommt eine brandneue romantische Komödie über eine Frau, die zu viele Schicksalsschläge erlebt hat, und einen Mann, der schnell lernt, dass manche Dinge wichtiger sind als Geld. Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Sommerjob mein Leben so ins Trudeln bringen würde. An einem Tag bin ich Sekretärin, am nächsten sitze ich im Privatflugzeug meines neuen Chefs und an meinem Ringfinger glänzt ein obszön großer Verlobungsring. Natürlich ist alles nur Show, und wären da nicht der Traum von einer Parisreise und die Arztrechnungen meiner Mom, hätte ich für kein Geld der Welt diesen Ring angezogen. Es ist ja nur für eine Woche. Eine Woche, in der ich mir mit Jace Ellis ein Bett teilen und so tun muss, als seien wir verliebt, mit allem, was dazugehört. Umgeben von seiner gesamten Familie. Eigentlich kann das nur in einer Katastrophe enden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 352

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



FOR nEVER

Aurora Rose Reynolds

© Die Originalausgabe wurde 2023 unter dem

Titel FOR NEVER von Aurora Rose Reynolds veröffentlicht.

© 2023 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH

8700 Leoben, Austria

Aus dem Amerikanischen von Jennifer Kager &

Corinna Lerchbacher

Covergestaltung: © Sturmmöwen

Titelabbildung: © MaksymIshchenko (depositphotos)

Redaktion & Korrektorat: Romance Edition

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903413-65-8

ISBN-EPUB:978-3-903413-66-5

www.romance-edition.com

Für alle, die auf der Suche nach ihrem Für Immer sind und die Hoffnung darauf schon aufgegeben haben.

Prolog

Jeder von uns lügt. Meist handelt es sich um klitzekleine Notlügen, die völlig harmlos sind. Ein Beispiel: Ich würde heute Abend so gerne ausgehen, leider habe ich schon etwas vor. Muss ja keiner wissen, dass ich eine Verabredung mit meiner Couch und meinem Fernseher habe. Ab und zu flunkern wir auch, wenn sich jemand stundenlang in der Küche abgemüht hat, um uns ein köstliches Essen zu zaubern. Nur leider ist der Braten alles andere als gut geworden und die Nudeln sind versalzen. Trotzdem essen wir die Teller leer und stimmen ein Loblied an, denn wir wissen die Geste zu schätzen. Der Gedanke zählt.

Kommen wir zu der klitzekleinen Lüge, die mir aktuell Probleme bereitet und die nun gar nicht mehr so klein und alles andere als harmlos ist.

Oder vielleicht war sie das nie.

Was ich hätte wissen müssen, denn eine Scheinverlobung ist keine Kleinigkeit. Das ist nicht mal eine große Sache, sondern eine riesige. Zu meiner Verteidigung: Ich dachte wirklich, dass diese Scharade innerhalb einer Woche ein Ende hätte. Nur sieben kurze Tage, dann würde ich wieder in mein altes Leben zurückkehren.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass diese Lüge ein Eigenleben entwickeln und ich den Überblick darüber verlieren würde, was echt ist und was nicht. Doch das Allerletzte, was ich erwartet hatte, ist, dass ich mich ausgerechnet und dummerweise in Jace Ellis verliebe.

Doch genau das ist geschehen. Jetzt muss ich herausfinden, ob Amors Pfeil auch ihn getroffen hat.

1. Kapitel

Mikroplastik

»Hast du Tante Lucy deine Flugdaten geschickt?«, frage ich meine Mom, während ich auf dem Boden neben ihrem offenen Koffer liege. Aus dem Schrank am anderen Ende des Raumes ist das Klirren von Kleiderbügeln zu hören.

»Ja, Mom«, ruft sie mir wie ein genervter Teenager zu, und ich kann förmlich sehen, wie sie dabei mit den Augen rollt.

»Hast du auch deine Medikamente eingepackt? Du weißt, dass du sie überallhin mitnehmen musst. Ich hoffe, du hast Tante Lucy eine Liste geschickt, damit sie sich erkundigen kann, ob ihre Stammapotheke alles vorrätig hat.«

Als meine Mutter mit Armen voller Kleidung aus dem Schrank auftaucht, schießt sie mir einen vielsagenden Blick zu, bevor sie ihre Fundstücke auf den wachsenden Kleiderberg neben mir wirft.

»Das habe ich. Jetzt hör auf, dir solche Sorgen zu machen.« Das Lächeln auf ihrem Gesicht und die Farbe in ihren Wangen lassen mich die letzten anderthalb Jahre beinahe vergessen. Nur das hübsche geblümte Kopftuch über ihrem kurzen, silberweißen Haar erinnert an den Albtraum, den wir zusammen durchgestanden hatten.

Im letzten Jahr wurde sie zweimal operiert und bekam eine Chemo- sowie Strahlentherapie, um den Brustkrebs, der bei ihr diagnostiziert wurde, zu bekämpfen. Sie hatte Glück. Vor einer Woche konnte sie ihre Therapie beenden, denn der Krebs ist restlos verschwunden. Nur das ungute Gefühl in meinem Magen, das sich bei ihrer Diagnose eingestellt hat, ist geblieben. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich jemals ganz verflüchtigen wird.

»Ich komme schon zurecht«, betont sie und holt mich aus meinen Gedanken. Ich lenke meine Aufmerksamkeit wieder auf sie, sehe die Sorge in ihrem hübschen Gesicht und muss lächeln. Den überfürsorglichen Charakterzug habe ich eindeutig von ihr.

»Ich weiß«, entgegne ich ehrlich. Mir ist natürlich klar, dass es ihr bei meiner Tante gut gehen wird, aber die Vorstellung, sie nicht mehr in meiner Nähe zu haben, gefällt mir trotzdem nicht.

»Erklär mir doch noch mal, warum du einen so langen Besuch geplant hast? Was wollt ihr beide denn ganze sechs Wochen lang machen?«

»Das werden wir schon herausfinden. Wichtig ist nur, dass du, mein schönes Mädchen, dich wieder wie jede andere Siebenundzwanzigjährige verhältst. Geh mit Freunden aus, genieße das Single-Leben ... oder finde einen Mann, mit dem du dir die Zeit vertreiben kannst.«

Ich seufze genervt auf. Während Moms Behandlung war ich kein einziges Mal mit meinen Freundinnen unterwegs, obwohl sie mich immer wieder eingeladen hatten. Ich lehnte stets ab, weil ich für meine Mutter da sein musste. Was mein Sozialleben betrifft, herrscht bei mir also tote Hose.

Und was ihre Idee angeht, mir einen Mann zu suchen, dazu kann ich nur Nein danke sagen. Ich hatte genug Dates, um zu wissen, was mich erwartet, und davon brauche ich wirklich keinen Nachschlag.

»Stell dich nicht so an, Liebes«, beharrt Mom. »Versuch wenigstens, dich wieder zu verabreden«, erklärt sie mit einem Seufzen. »Angle dir einen sexy Kerl.«

»Mom, der Single-Markt ist ein Haifischbecken. Die wenigen passablen Fische darin sind wegen der ganzen Giftstoffe und dem Mikroplastik im Wasser zu Raubtieren mutiert.«

»Es gibt auch nette Männer, Penny. Du musst sie nur finden.«

»Und wie genau treffe ich so einen netten Mann deiner Meinung nach?« Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Über eine Dating-App, wo keiner seine Seelenverwandte, sondern bloß unverbindlichen Sex sucht? Oder meinst du diese netten, betrunkenen Kerle in den vielen Bars, die auch nur darauf aus sind, einen abzuschleppen?«

»Sei nicht so eine Klugscheißerin. Du könntest ja jemanden in einem Laden kennenlernen. Oder im Supermarkt.«

»Im Supermarkt?«

»Ja, das passiert immer wieder.«

»Ich soll mich also für einen Sommerjob als Regaleinräumerin bewerben, in der Hoffnung, dass sich mein Traumprinz auf dem Weg durch die Milch- und Käseabteilung in mich schockverliebt? Ich glaube, du hast zu viele Liebesfilme geguckt.«

Mom wirft eins ihrer gerüschten Zierkissen nach mir, und ich muss lachen. »Ich sage ja nur, dass du, während ich weg bin, nicht bloß im Schlafanzug auf der Couch sitzen und Kriegs- oder andere Geschichtsdokus schauen sollst. Du bist schließlich kein siebzigjähriger Mann.«

»Weltgeschichte ist nicht nur für Historiker interessant.«

»Rede dir das nur weiter ein.« Sie grinst mich frech an, dann wird der Ausdruck in ihrem Gesicht sanft, aber ihr Tonfall ernst. »Bitte amüsiere dich, okay? Auch wenn du nur eine spaßigeSache unternimmst. Wenn ich zurück bin, will ich alles darüber hören. Abgemacht?«

»Na schön. Ich werde etwas Lustiges unternehmen, während du weg bist.«

»Gut.« Sie beugt sich vor und berührt mit ihren Fingerspitzen meine Wange. Dann fällt ihr Blick auf ihren Koffer. »Jetzt hilf mir packen, sonst verpasse ich noch meinen Flieger.«

»Bis zum Boarding sind es noch fünf Stunden.«

»Ja, aber ich möchte auch im Duty-Free-Bereich stöbern und einen Kaffee trinken. Außerdem lasse ich mich nicht gern hetzen.«

»Schon gut, schon gut. Lass uns packen, wenn du es so eilig hast, von mir wegzukommen.« Ich ziehe einen Schmollmund, was Mom ein heiteres Lachen entlockt. Ein Seufzen zurückhaltend, verdränge ich den Gedanken daran, dass sie bald in New York sein wird – viel zu viele Meilen von mir entfernt. Natürlich freue ich mich, dass sie Zeit mit ihrer Schwester und ihrer Mutter verbringen kann, aber ich werde sie vermissen. Bis vor kurzem wussten wir nicht, was die Zukunft bringen würde. Es ist gut, dass sie reisen kann. Sie braucht diese Reise.

Und nicht nur diese.

Während der letzten Monate habe ich selbst Reisepläne für uns geschmiedet. Es geht nach Paris, in die Stadt, von der meine Mom seit jeher schwärmt. Sie hat natürlich keine Ahnung, denn ich wollte sie mit den Flugtickets überraschen, sobaldsie in Remission ist. Insgeheim bin ich immer davon ausgegangen, dass sie den Krebs besiegen wird. Alles andere war für mich keine Option. Sobald sie aus New York zurückkommt, werde ich ihr mitteilen, dass wir auf ihre Traumreise gehen. Wir werden zehn Tage in einem schicken Hotel in der Nähe des Eiffelturms wohnen, nach Herzenslust essen, französischen Wein trinken und etwas von dem Flair dieser so geschichtsträchtigen Stadt aus nächster Nähe erleben.

Ich kann es kaum erwarten, Moms Reaktion zu sehen, wenn sie davon erfährt. Sie wird vor Freude ganz aus dem Häuschen sein.

Bevor wir jedoch unsere Koffer packen dürfen, muss ich die nächsten Wochen überstehen. Um mir die Reise leisten zu können, brauchte ich einen Sommerjob. Ursprünglich wollte ich in einem der Geschäfte nahe meiner Wohnung aushelfen, dort werden immer Leute gesucht, aber dann bot mir meine Studienfreundin Christy eine befristete Stelle als Sekretärin an. Sie hat gerade ein Baby bekommen und braucht jemanden, der sie während ihres Mutterschaftsurlaubs vertritt. Dieser Job wird mir sehr viel mehr Geld einbringen, als ich in einem Coffeeshop verdienen könnte, selbst wenn ich das Trinkgeld einrechne. Also habe ich ihr Angebot gern angenommen.

Trotzdem bin ich nervös. Seit meiner Studienzeit habe ich nicht mehr in einem Büro gearbeitet. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich jede Sekunde davon gehasst. Für mich gibt es nichts Schlimmeres, als mich mit Geschäftspolitik und Büroklatsch herumzuschlagen. Vielleicht bin ich den Umgang mit Erwachsenen auch einfach nicht mehr gewohnt, weil ich meine Zeit für gewöhnlich mit Sechs- und Siebenjährigen verbringe. Wenn ich in einem Klassenzimmer voll turbulenter Grundschüler überleben kann, dann werde ich mich auch durch den Bürodschungel und ein paar Papierberge kämpfen können.

Zumindest hoffe ich das.

Das Einzige, was mich ein wenig beunruhigt, ist die Tatsache, dass Christys ursprüngliche Vertretung überraschend gekündigt hat. Als ich nach dem Grund fragte, wechselte meine Freundin schnell das Thema. Ihr Chef ist ein ziemlich hohes Tier in der Tech-Branche, also kann ich mir vorstellen, was und wer eine Rolle bei der Kündigung gespielt hatte. Meine Vorfreude auf diesen Job sinkt damit gegen Null.

Oder ich interpretiere zu viel in diese Sache hinein. Vielleicht liege ich falsch und Christys Chef ist fantastisch. So oder so, ich werde es in Kürze herausfinden.

2. Kapitel

Treffen mit Mr Miesepeter

Eine Handtasche über meine Schulter geschwungen und mit Stöckelschuhen an den Füßen fühle ich mich überhaupt nicht wie ich selbst. In den letzten Jahren habe ich hauptsächlich bequeme Kleidung und Turnschuhe getragen. Ich öffne die Eingangstür von Ellis Technologies und bemerke sofort das geschäftige Treiben. Das riesige zweistöckige Großraumbüro ist erfüllt von leisem Gemurmel. Zwischen den Arbeitsplätzen gehen Männer und Frauen zielstrebig umher, wie die winzigen Ameisen in den Glasschaukästen, die ich in meinem Klassenzimmer stehen habe, damit meine Schüler sie beobachten können.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Ich drehe den Kopf und entdecke einen sehr attraktiven Mann in einer Sicherheitsuniform. Er kommt über die sonnenbeschienenen weißen Fliesen auf mich zu, und ich werfe einen schnellen Blick auf sein Namensschild. Mike.

»Hallo, ich bin die Vertretung von Christy Smith.«

»Penny, richtig?«, fragt er, und ich nicke. »Christy hat dich mir schon angekündigt«, informiert er mich freundlich und deutet dann nach rechts. »Wir müssen da lang. Erst besorgen wir dir einen Personalausweis, dann bringe ich dich zu Christys Schreibtisch und stelle dich Jace vor.«

»Toll.« Meine Absätze klackern über die Fliesen, als ich ihm durch die Halle folge. Das Geräusch zieht die Aufmerksamkeit der emsigen Arbeitsbienen auf sich und lässt einen nach dem andern innehalten. Ich schlucke, als mir bewusst wird, wie sehr ich aus der Menge heraussteche. Nicht nur mit meinen kupferfarbenen Haaren, die ich zu einem hohen Dutt gebunden habe, sondern vor allem wegen meines schicken Business-Outfits. Offenbar wird hier ein lockerer Kleidungsstil bevorzugt, denn die anderen tragen Jeans, Shorts und T-Shirts, als wären sie auf dem Weg in den Supermarkt und nicht an ihrem Arbeitsplatz.

Meine Wangen werden heiß, und ein unangenehmes Gefühl sammelt sich in meiner Brust. So fehl am Platz habe ich mich seit der Highschool nicht mehr gefühlt. Ich vermeide jeglichen Blickkontakt und bleibe dicht hinter Mike.

Wir halten kurz an, um ein Foto von mir zu machen. Mit dem frisch gedruckten Ausweis setzen wir unseren Weg fort. Diesmal geht es eine Treppe nach oben, wo wir bei langen Schreibtischreihen vorbeikommen, die mich an die Tischordnung in meinem Klassenzimmer erinnern. Nur dass hier niemand sitzt. Alle stehen, entweder in kleinen Gruppen zusammengetrottet und in eine Unterhaltung vertieft, oder sie starren auf die riesigen Bildschirme, die an jeder Seite des Raumes angebracht sind. Darauf sind Zahlen und Videospiele zu erkennen.

Vor einer Wand bleibt Mike stehen und drückt einen Knopf. »Du wirst dich hier drin aufhalten«, erklärt er mir über seine Schulter hinweg, bevor eine Milchglastür neben uns aufgleitet und den Blick auf ein großes Eckbüro mit raumhohen Fenstern freigibt. Als ich das Zimmer betrete, bin ich so von der Aussicht eingenommen, dass ich ohne nachzudenken darauf zugehe. Da ich näher an Modesto als an San Francisco wohne, kann ich die Golden Gate Bridge und die grünen Hügel dahinter nie sehen, aber von hier aus ist der Blick einfach atemberaubend.

»Penny, richtig?«, tönt eine tiefe, männliche Stimme durch den Raum und lässt mich zusammenzucken. »Sag mir, wenn du dich an der Aussicht sattgesehen hast, damit wir mit der Arbeit beginnen können.«

Ich drehe mich in die Richtung, woher die Stimme kam, und drücke meine Hand über mein wild pochendes Herz.

Erst sehe ich nur einen schwarz lackierten Schreibtisch, der mit Papieren und Kaffeetassen übersät ist, dann bemerke ich den dunkelhaarigen Mann dahinter. Kurz gerate ich ins Stocken. Seine dickrandige Brille ist nicht das einzig Auffällige an ihm, denn auch sein ordentlich gestutzter Vollbart zieht sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Brille verleiht ihm einen nerdigen Charme, aber die Tattoos auf seinen Armen, die unter seinen T-Shirt-Ärmeln hervorlugen und bis hinunter zu seinen Handgelenken reichen, verleihen ihm eine lässige Ausstrahlung, die auch zu seiner lockeren Haltung passt. Plötzlich muss ich an Superman denken. Ich wette, wenn der Mann vor mir einen Anzug anziehen würde, wäre er kaum wiederzuerkennen – so wie Clark Kent.

Als er sich von seinem Bürostuhl erhebt, trete ich nervös auf der Stelle. Ich komme mir wie eine Idiotin vor, weil ich Christy nicht nach der Kleiderordnung gefragt habe. Sonst hätte ich gewusst, dass es hier keine gibt. Wie alle anderen in der Firma trägt der Mann vor mir T-Shirt und Shorts – mit dem Unterschied, dass der schwarze Stoff seines Oberteils teuer und frisch gebügelt aussieht. Genauso wie seine khakifarbenen Shorts, die ihm überraschenderweise gut stehen.

Ich rufe mir in Erinnerung, dass ich nicht nur die Aushilfssekretärin eines Mitarbeiters bin, sondern die des Unternehmensleiters. Ein Chef ist sicher nicht so leger gekleidet. Und wenn doch, dann hätte uns Mike längst vorgestellt. Da dieser noch keinen Ton von sich gegeben hat, muss der bärtige Typ ein weiterer Angestellter sein. Ein unhöflicher noch dazu.

»Nun, Penny?«

Ich räuspere mich und halte seinem Blick stand. »Tut mir leid. Die Aussicht von hier ist einfach wunderschön.« Als mir meine Worte bewusst werden, schießt Hitze in meine Wangen. »Ich meine, die Aussicht auf San Francisco ist wunderschön. Auf keinen Fall wollte ich andeuten, dass du wunderschön bist«, stammle ich und trete ins nächste Fettnäpfchen. Über mich selbst genervt, drücke ich die Augen zu und schüttle den Kopf. »Womit ich keineswegs sagen will, dass du unattraktiv wärst.«

»Da wir nun festgestellt haben, dass du mich weder hässlich noch wunderschön findest, kannst du mir bestimmt den Grund nennen, warum du dich verspätet hast.«

Ich runzle die Stirn. »Ich habe mich nicht verspätet«, entgegne ich und beobachte, wie er auf mich zugeht.

»Wir fangen um sieben an.« Er blickt auf die schicke Uhr an seinem Handgelenk. »Jetzt ist es nach acht. Du bist eine Stunde zu spät.«

»Christy hat mir gesagt, dass ich um acht hier sein soll«, verteidige ich mich. Wer zum Teufel beginnt um sieben Uhr zu arbeiten?, denke ich insgeheim. Selbst die Schulen sperren für Lehrkräfte erst um diese Zeit auf, der Unterricht beginnt dann um acht. Vielleicht will dieser unhöfliche Typ eine Stunde vor dem Chef da sein, um sich auf den Tag vorzubereiten? Aber ist das nicht eigentlich die Aufgabe der Sekretärin? Heißt das, ich muss jeden Tag um sechs Uhr hier sein?

»Scheint so, als kommt ihr beide klar«, murmelt Mike von der Tür her. Ich beiße mir auf die Unterlippe, als sich der Mann vor mir zu ihm umwendet und ihn mit einem mürrischen Blick taxiert.

»Danke, Mike. Ich übernehme ab hier.«

Mike nickt und lenkt seinen Blick auf mich. »Es hat mich gefreut, Penny.«

»Mich auch«, gebe ich zurück und hebe die Hand zum Gruß.

Bevor Mike den Raum verlässt, sieht er noch einmal zu dem miesepetrigen Kerl neben mir. »Jace.«

Es ist, als hätte er mir einen Schlag versetzt, der die ganze Luft aus meiner Lunge presst. Mit diesem einen Wort ist klar, dass Mr Miesepeter nicht mein Kollege, sondern mein vorübergehender Chef ist. Am liebsten würde ich unter seinem finsteren Blick im Erdboden versinken.

»Die Meetings beginnen um sieben. Das Büro öffnet um acht«, erklärt Jace, wie in Jace Ellis, als sich die Schiebetür hinter Mike schließt.

»Es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung«, stottere ich mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen.

»Jetzt weißt du es.« Er geht an mir vorbei und berührt einen Knopf an der Wand, die sich daraufhin zu einem kleineren Büro mit der gleichen spektakulären Aussicht öffnet. »Das ist dein Bereich. Ich gehe davon aus, dass Christy nicht gelogen hat und du weißt, wie man tippt und ans Telefon geht.«

»Entspricht alles der Wahrheit«, antworte ich ihm, während er einen Laptop auf dem Schreibtisch öffnet.

»Wie du bestimmt weißt, wird Christy von zu Hause aus die dringendsten Angelegenheiten erledigen, trotzdem brauche ich jemanden im Büro, der sich um meinen Terminplan und die täglichen Aufgaben kümmert.«

»Sie hat gerade ein Baby bekommen«, erinnere ich ihn, denn er klingt verärgert darüber, dass sie zu Hause bei ihrem Kind anstatt hier bei ihm ist.

Er dreht den Kopf und sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. Da ich im Umgang mit verärgerten Blicken geübt bin, halte ich seinem mühelos stand. Schließlich fährt er mit seiner Unterweisung fort.

»Der Computer ist dein Hauptarbeitsinstrument«, erklärt er und sein Kiefer zuckt dabei. »Setz dich, damit ich dir unser Programm zeigen kann. Anschließend muss ich zu einer Besprechung.«

»Klar.« Ich schiebe mich vorsichtig zwischen ihm und dem Schreibtisch durch. Dabei ziehe ich meinen Bauch ein, damit ich nicht versehentlich gegen ihn stoße. Als ich Platz nehme, stelle ich meine Tasche auf den Boden, und schon rückt Jace neben mich. Der Moschusduft seines Rasierwassers dringt in meine Nase. Es riecht nicht aufdringlich. Als er sich jedoch vorbeugt, um näher an den Computer zu kommen, nähert er sich unweigerlich auch mir. Seine Wärme gepaart mit diesem Rasierwasser bringen mich ein wenig aus dem Konzept.

»Das ist unser E-Mail-Programm.« Er klickt auf ein kleines Symbol in der Ecke des Bildschirms, woraufhin sich ein Fenster öffnet. »Ich habe eine Adresse für dich eingerichtet. Die Terminplanung läuft bei uns fast ausschließlich über Mail.« Er kehrt zum Desktop zurück und öffnet ein anderes Programm. »Das ist mein Kalender. Wenn du Termine hinzufügst, achte darauf, dass du nicht die Zeiten verplanst, die ich geschwärzt habe.«

»Verstanden«, entgegne ich, woraufhin er den Kopf dreht und mich ernst ansieht. Mir wird klar, dass ich nur stumm dasitzen und zuhören soll. »Tut mir leid«, flüstere ich und presse die Lippen zusammen.

Jace wendet sich wieder dem Computer zu, klickt auf ein Symbol am unteren Bildschirmrand und ein weiteres Fenster ploppt auf. »Das ist unser Telefonsystem. Ich erwarte von dir, dass du jeden Anruf entgegennimmst. Wie gesagt, kümmerst du dich hauptsächlich um die Terminplanung. Auch bei telefonischer Absprache gilt: Verplane nicht die Zeitfenster, die ich geschwärzt habe.«

Ich verbeiße mir ein Kommentar. Anscheinend war das wieder die falsche Reaktion, denn Jace dreht erneut den Kopf in meine Richtung und hebt eine Braue. »Verstanden«, flüstere ich daher.

»Irgendwelche Fragen?« Er tritt einen Schritt zurück und schaut auf mich herab. Da er so viel größer ist als ich, kann ich mir in diesem Moment gut vorstellen, wie sich meine Schüler fühlen müssen, wenn ich an ihren Tischen stehe.

»Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?«

»Es ist alles ganz einfach. Beantworte die E-Mails. Wenn jemand um ein Treffen bittet, trage es in meinen Kalender ein. Geh ans Telefon.«

»Okidoki«, murmle ich, woraufhin Jace tief einatmet und den Kopf schüttelt. Was habe ich jetzt wieder getan?

»In der nächsten Stunde bin ich wegen einer Besprechung nicht im Büro. Falls Fragen aufkommen, kannst du sie stellen, wenn ich zurück bin.«

»In Ordnung«, antworte ich, und mit einem letzten Nicken geht er zur Tür. Auf halbem Weg bleibt er stehen, dreht sich zu mir um und sieht mich ... besorgt an?

»Wenn meine Mutter anruft, sag ihr, dass ich sie zurückrufe. Auch wenn ich in meinem Büro bin, stell ihren Anruf nicht zu mir durch.«

Ich will gerade fragen, wie ich einen Anruf an ihn durchstelle, bevor ich jedoch den Mund öffnen kann, schließt sich die Tür hinter ihm.

Ich atme tief durch und schaue mich erstmal um. Mein Blick fällt auf ein gerahmtes Hochzeitsfoto von Christy und ihrem Mann Jack, das in der Ecke des Schreibtisches steht. Ich nehme es in die Hand und denke lächelnd an ihre Hochzeit zurück. Auf dem Bild ist der Moment zu sehen, nachdem sie zu Mann und Frau erklärt wurden. Jack trägt einen Smoking und hält Christys Gesicht sanft in seinen Händen, während er sie küsst und ihr langes, rosafarbenes Kleid im Wind weht. Es war ein magischer Augenblick, und selbst ich – die größte Liebeszynikerin des Planeten – konnte nicht leugnen, wie glücklich und verliebt die beiden aussahen.

Und jetzt, sechs Jahre später, sind sich die beiden noch immer genauso zugetan. Sie sind das Aushängeschild für das perfekte Paar, und Jack ist einer der wenigen Männer auf der Welt, den ich vor dem Ertrinken retten würde, falls uns eine weitere Sintflut ereilt.

Ein Klingeln, das vom Computer kommt, lässt mich hochschrecken. Schnell stelle ich das Foto zurück und streiche mit dem Finger über das Trackpad, um den Anruf entgegenzunehmen.

»Ähm, Mr Ellis’ Büro. Was kann ich für Sie tun?« Zum wiederholten Mal an diesem Morgen fühle ich mich wie eine Idiotin, denn ich hätte Christy wenigstens fragen können, wie ich ans Telefon gehen soll.

»Penny, ich bin’s nur«, höre ich die vertraute Stimme meiner Freundin und atme erleichtert auf. Die Heiterkeit in ihrem Tonfall bringt auch mich zum Lächeln.

»Oh, hey!«

»Jace hat mir gerade eine Nachricht geschickt, in der er mich wissen ließ, dass du angekommen bist.«

»Das bin ich.«

»Lass mich raten. Er war super hilfsbereit und hat sich extra Zeit genommen, um dich einzuarbeiten.« Ihr Tonfall trieft vor Ironie.

»So in der Art«, entgegne ich ausweichend.

Sie seufzt. »Ich verspreche dir, er bellt, aber beißt nicht. Wenn man ihn erstmal kennt, ist er eigentlich ganz nett.«

»Ja, er scheint eine wahre Frohnatur zu sein«, antworte ich, und sie lacht wieder. Meine kleine Lüge war dann wohl zu offensichtlich.

»Ich werde dich mit der Videooption anrufen, also drück einfach auf Annehmen, wenn das Symbol erscheint.«

»In Ordnung.« Ich muss nicht lange warten, bis ein Kamera-Symbol am unteren Ende des Bildschirms auftaucht. Sobald ich es anklicke, füllt Christys lächelndes Gesicht den Bildschirm.

»Aww! Sieh dich an, wie du dich für die Arbeit herausgeputzt hast.« Sie grinst, und ich rolle mit den Augen.

»Du hättest mir ruhig sagen können, dass es keine Kleiderordnung gibt.«

»Tut mir leid, das habe ich total vergessen, aber du siehst wunderschön aus. Und ich liebe diese Frisur an dir.«

»Danke, aber meine Füße verfluchen dich im Moment.«

Sie lacht, dann ist ein spitzer Schrei bei ihr im Hintergrund zu hören, und ihre Augen weiten sich. »Mist. Ich glaube, ich habe Ivy geweckt. Gib mir eine Sekunde.«

»Ich werde hier sein«, versichere ich ihr, und sie steht schnell auf und verschwindet aus dem Blickfeld der Kamera.

Während ich warte, hebe ich meine Tasche vom Boden auf und stelle meine Wasserflasche auf den Schreibtisch. Anschließend krame ich mein Handy heraus und überprüfe, ob ich Anrufe oder Nachrichten von meiner Mom verpasst habe. Es gibt keine, aber sie war auch gestern Abend lange mit meiner Tante unterwegs. Die beiden sind nach Manhattan gefahren, um sich Der König der Löwen am Broadway anzuschauen. Die beiden schlafen vermutlich noch, auch wenn es in New York bereits beinahe Mittag ist. Seit sie dort ist, habe ich kaum etwas von ihr gehört. Ab und zu schickt sie mir eine Nachricht oder ruft an, um mir zu sagen, dass sie bei bester Laune und Gesundheit ist. Ansonsten habe ich mich über die sozialen Medien auf dem Laufenden gehalten. Sie postet regelmäßig über die Dinge, die sie während der wenigen Tage dort schon unternommen hat.

»Okay, hier bin ich wieder.« Christy erscheint auf dem Bildschirm und drückt Ivy an ihre Brust. Beim Anblick des kleinen rosa Bündels in ihren Armen schmilzt mir das Herz. »Tut mir leid wegen der Unterbrechung. Ich dachte, ich hätte noch fünfzehn Minuten, bis sie aufwacht.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Ich beobachte, wie sie Ivy in ihrem Griff zurechtrückt und das Oberteil ihres Tops herunterklappt. Als sich Ivy an ihrer Brust festsaugt, zuckt Christy zusammen, und auch ich erschaudere. »Autsch.«

»Wem sagst du das. Meine Brustwarzen sind so wund, dass sie schmerzen. Keine Ahnung, wie diese Vorzeigemütter jahrelang stillen können, sogar nachdem ihre Kinder Zähne bekommen haben.«

Ich wende meinen Blick von ihrer Tochter ab und konzentriere mich auf ihre müden, aber glücklichen Augen. »Es soll das Beste für sie sein, habe ich gehört.«

»Millionen von Babys sind ohne Muttermilch aufgewachsen. Es wird ihr auch gut gehen, wenn wir in ein paar Wochen auf die Flasche umsteigen.« Sie löst ihren Blick von Ivy und sieht mich an. »Außerdem wird es schön sein, wenn Jack für eine Weile die nächtlichen Fütterungen übernehmen kann. Versteh mich nicht falsch, ich liebe es, ihre Mom zu sein. Aber mich wie eine Milchbar zu fühlen, die vierundzwanzig Stunden am Tag auf Abruf ausschenkt, ist nicht so toll.«

»Das glaube ich dir aufs Wort.« Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss, einen so kleinen Menschen zu ernähren und zu pflegen und dabei selbst genug Schlaf und Essen zu bekommen.

»Okay, genug von mir und meinen Brüsten. Sag mir, wie du dich fühlst und was du wissen willst.«

»Wie stelle ich die eingehenden Anrufe zu Jace durch?«, platze ich heraus. Sie lacht und erklärt mir Schritt für Schritt, was ich beim Annehmen eines Telefonats sagen soll, wie man einen Anruf weiterleitet und wie ich am besten auf E-Mails antworte.

Als ich das Gespräch beende, fühle ich mich ein wenig zuversichtlicher, dass ich diesen Job meistern werde. Doch dieses Gefühl hält nur so lange an, bis ich meinen Posteingang öffne und über fünfzig E-Mails entdecke.

Gott, das werden ein paar sehr anstrengende Wochen.

3. Kapitel

Aye, aye, Captain

Um kurz vor sieben schiebe ich mich mit einem Milchkaffee in der einen und meiner Tasche in der anderen Hand durch die Eingangstür von Ellis Technologies. Die zehn Minuten, die mir bleiben, um meinen Ausweis zu scannen und meine Sachen in mein Büro zu bringen, werden gerade ausreichen, bevor ich Jace für das morgendliche Meeting ausfindig machen muss.

Eine Sache, die ich in den letzten Tagen gelernt habe, ist, dass der Typ immer in Bewegung ist. Er geht von einer Besprechung zur nächsten. Das ist zwar gut für mich, weil ich so nicht viel Zeit in seiner Gegenwart verbringen muss. Trotzdem ist es auch nervig, wenn ich für etwas seine Einwilligung brauche und ihn dann suchen muss. Noch dieses Wochenende werde ich mir einen Peilsender besorgen, und am Montag lass ich das Ding unbemerkt in Jace’ Hosentasche verschwinden, damit mein Leben ein bisschen einfacher wird.

»Wie geht’s, Mike?«, frage ich, als ich an der Rezeption ankomme, wo der Sicherheitsmann mit einem Kaffee und einem Lächeln im Gesicht sitzt.

»Morgen ist Freitag, danach bin ich eine Woche im Urlaub. Ich würde also sagen, gut.«

»Du Glückspilz.« Ich höre, wie er lacht, während ich meinen Ausweis scanne. »Hast du Pläne für deine freien Tage?«

»Meine Frau und ich fahren mit unserer Tochter nach Disneyland.«

»Das ist ja aufregend. Ist es ihr erstes Mal?«

»Nein, schon das zweite, aber beim letzten Mal war sie erst zwei. Jetzt ist sie sieben, also wird es eine andere Erfahrung sein.«

»Wenn du zurückkommst, erwarte ich mindestens tausend Schnappschüsse von euch.«

»Alles klar«, sagt er, als ich mich auf den Weg mache, dann bleibe ich noch mal stehen und drehe mich zu ihm um.

»Du hast nicht zufällig gesehen, wo sich Jace heute Morgen rumtreibt, oder?«, frage ich und zeige zu dem Computer mit Übertragungen der Sicherheitskameras.

»Vor ein paar Minuten ist er in den Keller gegangen. Wenn er es nicht irgendwie unbemerkt in sein Büro geschafft hat, ist er vermutlich noch dort.«

»Im Keller?«

»Ja. Nimm den Aufzug im oberen Stock und fahre runter zur Ebene B. Dann bist du auch schon dort.«

»Super, danke.« Ich schenke ihm noch ein Lächeln, dann eile ich die Treppe hinauf in mein Büro.

Da ich Jace nicht an seinem Schreibtisch vorfinde, lasse ich meine Sachen hier und gehe mit meinem Kaffee wieder hinaus. Ich grüße die Leute, die auf dem Weg zum Aufzug an mir vorbeikommen. Seit meinem zweiten Tag, an dem ich genauso leger gekleidet war wie alle anderen, gab es zum Glück keine seltsamen Blicke oder gar Getuschel mehr darüber, wer ich sein könnte.

Im Aufzug drücke ich den Knopf für die Ebene B und es dauert nur ein paar Sekunden, bis sich die Türen wieder öffnen. Als ich aussteige, muss ich zweimal blinzeln. Der Raum ist riesig, dunkel und vollgestopft mit Dutzenden von Sofas und Fernsehern – zumindest soweit ich das sehen kann.

»Hallo?«, rufe ich in die Dunkelheit, die durch die schwarz gestrichenen Wände noch intensiver erscheint. Keine Reaktion, mein Herz schlägt doppelt so schnell. »Das ist kein Gruselfilm, Penny«, tadle ich mich selbst, während ich mich umsehe.

Als ich im hinteren Teil des Raumes einen schwachen Lichtschein entdecke, steuere ich diese Richtung an. Jace sitzt auf der Kante einer Couch, und ich bleibe stehen. Er hat die Ellenbogen auf den Knien abgestützt, Kopfhörer auf den Ohren, die Finger kreisen um den Controller in seinen Händen und er konzentriert sich ganz auf den Fernseher vor ihm.

Da er abgelenkt ist, nehme ich mir einen Moment Zeit, um ihn in seinem Element zu beobachten. Schon an meinem ersten Tag habe ich gemerkt, dass Ellis kein gewöhnliches Tech-Unternehmen ist. Es ist eigentlich ein Spieleunternehmen. Bevor Jace an der Uni lernte, wie man Spiele entwickelt, hatte er einen Kanal auf YouTube, wo er Videos, sogenannte Let’s Plays, einstellte, in denen er beim Zocken zu sehen war.

Offenbar lässt sich mit solchen Streams viel Geld verdienen. Er war einer der ersten, der schon als Teenager in dieses Geschäft eingestiegen ist. Heute werden die von ihm entwickelten Videospiele von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt genutzt, und seine Plattform ist eine der beliebtesten überhaupt. Kinder und Erwachsene melden sich an und tun genau das, was er getan hat, um Geld zu verdienen. Sie filmen sich beim Zocken und lassen die Welt daran teilhaben, oder messen sich mit anderen Spielern in großen Wettbewerben, die monatlich stattfinden.

In seiner Branche gilt Jace als Genie, und er ist wirklich schlau. Sonst hätte er wohl kaum ein Hobby, das er einfach gerne machte, zu etwas Größerem und Besserem entwickeln können. Außerdem sieht er wirklich gut aus. Sein einziger Fehler ist seine Persönlichkeit. Eigentlich bin ich keine von denen, die nach wenigen Tagen über einen Menschen urteilt, aber bisher lässt sein Sozialverhalten sehr zu wünschen übrig. Trotzdem bin ich mir sicher, dass es viele Frauen gibt, denen das egal ist. Ich bezweifle, dass er sich nach weiblicher Aufmerksamkeit sehnen muss.

»Hast du vor, noch länger nur dazustehen und mich anzustarren?«, fragt er in seiner unverblümten Art, ohne seinen Blick von dem Spiel abzuwenden. Ich kann ein Augenrollen nur schwer unterdrücken.

»Vielleicht.« Ich gehe einen Schritt näher an ihn heran und schaue zum Fernseher, um das Spiel unter die Lupe zu nehmen. Auf dem Bildschirm sieht es so aus, als wäre er auf einem anderen Planeten, offensichtlich ein Kriegsgebiet, und er steht dort mit einem Schwert, das doppelt so groß ist wie seine Elfenfigur, und tötet jeden, der ihm über den Weg läuft. »Ich habe dich gesucht, um herauszufinden, wo die Besprechung heute Morgen stattfinden wird.«

»Die Besprechung ist abgesagt.«

»Oh«, entgegne ich, und er schaut kurz zu mir, bevor er sich wieder auf den Fernseher konzentriert.

»Sag alle Termine bis zum Nachmittag ab. Ich werde die meiste Zeit des Tages nicht im Büro sein.«

»In Ordnung«, murmle ich und versuche, mich nicht darüber zu ärgern, dass ich wahrscheinlich hundert Leute anrufen oder per E-Mail absagen muss, bevor ich mir einen weiteren Kaffee gönnen kann. »Soll ich die Termine in die nächste Woche verschieben, weil Freitag in deinem Kalender geschwärzt ist?«

»Ich werde nächste Woche nicht hier sein. Ich verreise.« Er flucht, reißt seine Kopfhörer herunter und wirft sie gemeinsam mit dem Controller achtlos zur Seite. »Hast du nicht in den Kalender geschaut?«

»Nein, nicht für nächste Woche.«

»Natürlich nicht«, brummt er und wischt sich mit den Händen über das Gesicht.

»Zu meiner Verteidigung: Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Woche überstehen würde, ohne zu kündigen oder gefeuert zu werden, also wollte ich nichts überstürzen.« Ich zucke mit den Schultern, und er nimmt die Hände vom Gesicht und sieht mich ungläubig an. »Was? Ich bin nur ehrlich.«

»Alle Termine, die von heute an verschoben werden müssen, müssen warten, bis ich wieder in der Stadt bin. Ich bin dabei, einen großen Deal abzuwickeln, und muss mich voll darauf konzentrieren.« Er erhebt sich von der Couch und mir fällt auf, dass er dunkle Augenringe hat, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. Ich frage mich, ob sie schon immer da waren und nur von der Brille verdeckt wurden, die er normalerweise trägt. Entweder er braucht sie nur für gewisse Tätigkeiten, oder er hat sich heute für Kontaktlinsen entschieden.

»Aye, aye, Captain«, entgegne ich leise, und er grummelt etwas zur Antwort, bevor er um mich herum zum Aufzug geht. Da ich keine andere Wahl habe, als ihm zu folgen, warten wir, in peinliches Schweigen gehüllt, vor den Lifttüren. Als wir in die Kabine steigen, kann ich die Stille nicht mehr ertragen.

»Um welchen Deal handelt es sich?«

»Wenn ich dir davon erzähle, muss ich dich umbringen«, antwortet er, und mein Blick schnellt in seine Richtung. Kurz befürchte ich, dass ich von der Bewegung ein Schleudertrauma davongetragen habe. Jace hält beruhigend seine Hände hoch. »Das war nur ein Scherz.«

»Ist mir klar. Ich hätte nur nie gedacht, dass du dich mal an einem Scherz versuchst.«

Die Lifttüren gleiten auf, und ich trete in den Flur. Als ich mich von Jace abwende, erhasche ich noch einen kurzen Blick auf seinen säuerlichen Gesichtsausdruck. Dass ich ihn nicht für witzig halte, scheint ihn zu stören.

»Penny«, ruft er, als ich schon halb den Flur hinunter bin. Erst da bemerke ich, dass er ein paar Meter hinter mir stehen geblieben ist, und drehe mich zu ihm um. »Heute Nachmittag besprechen wir, was nächste Woche ansteht, während ich nicht im Büro bin.«

»Klingt nach einem Plan.« Ich zaubere ein zuckersüßes Lächeln auf mein Gesicht, ehe ich mich mit Elan auf den Weg in mein Büro mache – beschwingt von dem Gedanken, dass ich Jace eine ganze Woche lang nicht persönlich antreffen werde.

Mike ist offiziell nicht der einzige Glückspilz.

4. Kapitel

Weckruf

Das Klingeln meines Telefons reißt mich aus dem Schlaf. Ich öffne die Augen und finde mein Zimmer dunkel vor. Während ich nach meinem Handy taste, das ich über Nacht immer an das Ladekabel neben dem Bett anschließe, beginnt mein Herz vor Sorge schneller zu schlagen. Niemand außer meiner Mom würde mich vor Morgengrauen anrufen. Sie würde das auch nur in einem Notfall tun.

Mit panischer Energie schnappe ich mir mein Handy, streiche mit dem Finger über den Bildschirm und halte es mir ans Ohr. »Hallo?«, sage ich atemlos.

»Penny, hier ist Jace«, dröhnt die tiefe Stimme meines neuen Chefs durch den Lautsprecher. Die Panik, die ich vor Sekunden noch empfunden habe, ist wie weggewischt.

»Jace?« Ich reibe mir die müden Augen. »Wie spät ist es?«

»Fünf.«

»Fünf«, wiederhole ich und bin mir sicher, dass ich mich verhört haben muss, denn es gibt überhaupt keinen Grund, warum er mich am Wochenende um fünf Uhr morgens anrufen sollte.

»Du musst mich in einer Stunde am Flughafen treffen.«

»Was?« Ich stütze mich auf einen Ellenbogen und knipse die Nachttischlampe an. Meine Reaktion entlockt Jace ein Seufzen.

»Ich erwarte dich in einer Stunde auf dem Privatflughafen an der Stadtgrenze von Modesto.«

»Warum?«

»Das erkläre ich dir, wenn du da bist.«

»Du verlangst, dass ich dich aus heiterem Himmel am Flughafen treffe, willst mir aber nicht sagen, warum?«

»Ja.«

»Es ist Samstag.«

»Ich weiß.«

»Ich arbeite nicht am Wochenende, Jace.«

»Das ändert sich heute. Wir sehen uns in einer Stunde. Ach, und Penny?«

»Ja?«

»Pack eine Tasche mit genug Kleidung für eine Woche.« Er legt auf, bevor ich ihm sagen kann, was ich von dieser Idee halte. Wütend ziehe ich das Telefon vom Ohr und starre es an, als hätte es Schuld an dieser Sache.

»Wenn er glaubt, dass ich tatsächlich zu ihm kommen werde, hat er sich geschnitten«, murmle ich vor mich hin, bevor ich mein Handy auf den Nachttisch lege und das Licht lösche. Ich schüttle mein Kissen auf, bette meinen Kopf darauf und ... knirsche mit den Zähnen.

Die Parisreise beginnt, mir gerade durch die Finger zu gleiten. Ich bezweifle, dass ich noch mal so leicht, vor allem so schnell, einen Job finde, der mir derart viel einbringt, wie ich bei Ellis Technologies verdiene. Selbst wenn ich innerhalb einer Woche eine neue Stelle finden würde, wären das sieben unbezahlte Tage, die ich mir nicht leisten kann.

Fluchend schlage ich die Decke zurück, setze mich auf und knipse erneut die Nachttischlampe an. Ich greife nach meinem Telefon, wähle die letzte Nummer in meiner Anruferliste und warte.

Jace nimmt nach dem dritten Klingeln ab. »Ja?«, fragt er, hörbar irritiert.

»Gibt es eine Kleiderordnung, die ich beachten sollte?«

»Was du diese Woche im Büro getragen hast, ist in Ordnung.«

»Gut.« Um meinen Unmut deutlich zu machen, lege ich auf, bevor er es tun kann, und hoffe, dass ihn das genauso ärgert wie mich.

Da ich nicht wirklich eine Wahl habe, stehe ich auf und hole meinen nagelneuen, rosafarbenen Koffer aus dem Gästezimmer. Sogar die Etiketten sind noch dran. Ich verreise nie – zumindest nicht für so lange, dass ich einen Koffer gebraucht hätte –, daher besaß ich bis vor kurzem auch kein adäquates Reisegepäck. Das änderte sich erst, als ich begann, den Paristrip zu planen. Als ich dann den rosafarbenen Koffer entdeckte, der damals auch noch im Angebot war, kaufte ich ihn, ohne groß zu überlegen. Rückblickend ein sehr weiser Entschluss, denn sonst wäre ich heute mit einem Rucksack und einem Müllbeutel voller Kleidung am Flughafen aufgetaucht.

Nachdem ich den Koffer auf das Bett gehoben habe, sortiere ich Shorts, Jeans, Leggings, T-Shirts und ein paar Sommerkleider in die zwei Fächer. Die ganze Zeit frage ich mich, warum mich Jace dabeihaben will und wohin wir fliegen werden. Als er am Donnerstag zurück ins Büro kam und wir darüber sprachen, was während seiner Abwesenheit zu tun sei, erwähnte er mit keinem Wort den großen Deal, an dem er gerade dran ist. Während ich gestern die Termine umdisponierte, warf ich einen Blick in seinen Kalender. Doch die nächste Woche war vollständig geschwärzt und enthielt keinerlei Informationen, nicht mal über seinen Aufenthaltsort. Ich habe wirklich keine Ahnung, was los ist, aber ich kenne jemanden, der es wissen könnte.

Nachdem ich genug Kleidung für eine Woche eingepackt habe, schließe ich den Reißverschluss und nehme mein Handy mit ins Bad, um mich fertig zu machen. Vor dem Waschbecken stehend, suche ich Christys Nummer in meinen Kontakten. Ich zögere kurz, dann fällt mein Blick auf die Uhrzeit. Christy wird nicht gerade begeistert sein, wenn ich sie an einem Samstag um halb sechs Uhr morgens störe. Vor allem, nachdem sie mir bei unserem letzten Gespräch erzählt hat, dass Ivy sie meist die ganze Nacht wach hält.

Kopfschüttelnd lege ich mein Handy weg und betrachte mein Spiegelbild. Meine Augen sind rot gerändert, weil ich gestern viel zu spät ins Bett bin. Da ich dachte, heute ausschlafen zu können, gönnte ich mir ein langes Bad und setzte mich mit einem großzügigen Glas Wein vor den Fernseher. Die Dokumentation über den Vulkan, der in der Römischen Antike die italienische Stadt Pompeji zerstört hat, war zu interessant, um den Fernseher auszuschalten und ins Bett zu gehen. Was ich mittlerweile bereue, denn die zusätzlichen sechs Stunden Schlaf hätte ich jetzt gut brauchen können.

Mit einem Stöhnen schnappe ich mir meine Zahnbürste und gehe meine morgendliche Routine durch, bevor ich mit meiner Brille auf der Nase zurück ins Schlafzimmer laufe. Nach einer ganzen Arbeitswoche kann ich meine Kontaktlinsen einfach nicht mehr tragen, aber ich packe sie in den Koffer. Ich ziehe mir ein Tanktop und einen übergroßen Hoodie an und schlüpfe in eine kurze Hose. Zuletzt schiebe ich meine Füße in ein Paar Flip-Flops und vergewissere mich, dass in meiner Wohnung alles in Ordnung ist. Nachdem ich mein Gepäck zu meinem Auto geschleppt und in den Kofferraum verfrachtet habe, rutsche ich hinter das Lenkrad.

In weniger als fünfzehn Minuten erreiche ich den kleinen privaten Flugplatz und parke auf einer der dafür vorgesehenen Flächen. Nervosität macht sich in meiner Magengrube breit. Das Gefühl hat nichts mit Jace zu tun oder damit, dass ich mit ihm allein unterwegs sein werde, sondern nur mit dem Fliegen.

Zumindest rede ich mir das ein.

Ich straffe meinen Pferdeschwanz, schnappe mir meine Handtasche vom Sitz neben mir und steige aus. Mit einiger Anstrengung schaffe ich es, meinen Koffer aus dem Auto zu hieven. Während ich mich auf den Weg zu dem Stahlgebäude mache, das wohl der Flughafen sein soll, versuche ich tief durchzuatmen.

Gerade als ich die Tür erreiche, tritt eine Frau in einem schicken Kostüm und mit Stöckelschuhen an den Füßen vor die Tür und lächelt mich an. »Penny?«

»Ja?« Ich bleibe vor ihr stehen, und sie streckt die Hand nach meinem Koffer aus, entreißt mir den Griff und beginnt zu reden.

»Ich bin Donna. Mr Ellis wartet im Flugzeug auf Sie. Wenn Sie mich bitte zum Schalter begleiten würden, damit ich Ihren Führerschein einscannen und Ihre Daten in das System eingeben kann. Sobald Sie die notwendigen Dokumente unterschrieben haben, bringe ich Sie direkt zu ihm.«