Francis und das Gasthaus der Geister - Amalia Zeichnerin - E-Book

Francis und das Gasthaus der Geister E-Book

Amalia Zeichnerin

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Beschreibung

Als Francis Bailey ein altes Gasthaus in Yorkshire erbt, beschließt er, seine Zelte in London abzubrechen, um ein Bed & Breakfast zu eröffnen. Doch bald muss er feststellen, dass es in dem alten Haus spukt. Eine Zumutung für ihn – und für potenzielle Gäste. Dazu kommt, dass einer der Geister sich offenbar zu ihm hingezogen fühlt, was es noch komplizierter macht. Als Francis den Handwerker Aaron kennenlernt und die beiden sich näherkommen, droht die Situation zu eskalieren. Doch was soll Francis tun, wenn sich die Geister nicht vertreiben lassen?

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Seitenzahl: 342

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Amalia Zeichnerin

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2024

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte: © Black Ivy Images – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-741-5

Playlist zum Roman

Ludovico Technique – Haunted

Gloria Gaynor – I will survive

P!nk – When I get there

The Cure – Friday I'm im Love

Depeche Mode – Ghosts again

Ray Parker Jr. – Ghostbusters

Siouxie and the Banshees – Tearing Apart

Ed Sheeran – Autumn Leaves

Evanescence – My Immortal

Muse – Ghosts (How can I move on)

Yazoo – Only You

Bobby Picket and the Crypt-Kickers – Monster Mash

Die Playlist auf Spotify: https://bit.ly/_geister

Inhalt:

Als Francis Bailey ein altes Gasthaus in Yorkshire erbt, beschließt er, seine Zelte in London abzubrechen, um ein Bed & Breakfast zu eröffnen. Doch bald muss er feststellen, dass es in dem alten Haus spukt. Eine Zumutung für ihn – und für potenzielle Gäste.

Dazu kommt, dass einer der Geister sich offenbar zu ihm hingezogen fühlt, was es noch komplizierter macht.

Kapitel 1

Dienstag, 11. September

Ob es hier wohl spukte? Ich schmunzelte, als ich mich bei diesem Gedanken ertappte. Vermutlich ging mal wieder meine Fantasie mit mir durch, oder vielleicht lag es an den dünnen Nebelschwaden, die wie in einem alten schwarz-weißen Gruselfilm um das Haus waberten. Ich legte den Kopf leicht in den Nacken, rückte meine Brille zurecht und betrachtete es genauer. Es war in einem hellen Grau gestrichen, das sich allerdings an mehreren Stellen fast schwarz verfärbt hatte. Efeu wucherte an einer Seite hoch, rankte sich vom Erdgeschoss bis hinauf zum ersten Stock. Einige Jugendstilverzierungen schmückten den Giebel über dem Eingang und die Fenster glichen stilisierten Blumen. Ein Messingschild wies auf die Jahreszahl hin, in der das alte Gasthaus gebaut worden war: 1891. Ich konnte es noch immer nicht fassen, dass ich auf Umwegen dieses historische Bauwerk geerbt hatte, das eigentlich für meinen Vater gedacht gewesen war.

Zwei große Kastanienbäume standen links und rechts davor, ihre Blätter hatten sich rötlich-orange gefärbt und auf dem Boden lagen bereits Dutzende Kastanien. Ein kleiner Schwarm Krähen erhob sich aus dem linken Baum. Krächzend und mit lautem Flügelschlagen verschwanden die schwarzen Vögel hinter dem Haus, flatternde Silhouetten vor dem grau bewölkten Himmel.

Meine Hündin Luna schnupperte und wedelte fröhlich mit dem Schwanz. Bestimmt war das für sie alles sehr aufregend. Ich streichelte ihr kurz über das hellbraune Fell. »Keine Sorge, ich gehe bald mit dir Gassi, dann kannst du die Gegend erkunden.«

Sie gab ein zufriedenes Schnaufen von sich, als ob sie mich genau verstanden hätte.

Das Haus lag so ziemlich im Nirgendwo und grenzte an leicht hügeliges Land voller Heidekraut, das hatte ich schon auf der Fahrt bemerkt. Auf jeden Fall ein gutes Ausflugsziel für Hundebesitzer, schätzte ich. Ich musste nur dem Moor in der Nähe ausweichen. Der nächste Ort, Barrowsfield, lag sechs Meilen entfernt. Wie gut, dass ich ein Auto und einen Führerschein mein Eigen nannte. Ohne beides hätte ich auf dem flachen Land in Yorkshire keinen Blumentopf gewinnen können. Bei gutem Wetter würde ich natürlich auch mit dem Fahrrad nach Barrowsfield fahren können, wenn ich etwas mehr Zeit einplante.

Ich öffnete meine Umhängetasche und griff nach dem Schlüsselbund, den ich von meinem Vater erhalten hatte. Erst mal eine Hausbesichtigung. Bisher hatte ich nur Fotos und einen Grundriss gesehen. Ich war zwar als Kind ein paar Mal hier gewesen, aber seitdem nicht mehr. Meine wenigen Erinnerungen waren verblasst. Plötzlich zitterte meine Hand, das musste die Aufregung sein. Ich konnte es alles noch nicht so ganz fassen.

Ich schloss die Eingangstür auf. Sie gab dabei ein unheimliches knarrendes Geräusch von sich. »Na toll«, murmelte ich kopfschüttelnd. »Das klingt ja wie in einem schlechten Horrorfilm.«

Luna jaulte plötzlich kläglich auf und blieb vor der Eingangstür stehen.

»He, was ist denn los?«, fragte ich sie verwundert.

Die Hündin blickte mich mit einem flehenden Blick an. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Nackenfell hatte sich gesträubt. Irgendetwas an dem Haus schien ihr ganz und gar nicht zu gefallen. Seltsam, sie war doch sonst nicht so empfindlich …

»Na, komm schon rein, drinnen ist es wärmer als da draußen.« Ich griff ein weiteres Mal in meine Tasche und zog ein Leckerli für Luna hervor.

Aber auch das half nicht, sie jaulte noch immer kläglich, es klang mittlerweile fast wie ein Wimmern.

In diesem Moment piepte mein Handy und ich zog es aus meiner Hosentasche.

Eine Textnachricht vom Umzugsunternehmen. Wir haben uns verfahren, sorry. Das Navi ist vorhin ausgefallen. Aber nun geht es wieder. Sind ca. in einer Stunde da.

Ich schrieb ihnen kurz zurück, dass das kein Problem sei, und beugte mich zu Luna hinunter. »Okay, ich sag dir was. Erst das Gassigehen, aber dann kommst du auch ins Haus, damit das klar ist. Du kannst schließlich nicht die ganze Zeit draußen bleiben.«

Unter meinen Füßen knirschte welkes Laub, das teilweise schon ganz grau war. Eine kalte Feuchtigkeit kroch mir in die Jacke, außerdem konnte ich durch den Nebel nicht besonders weit blicken. Ich würde mir alles einmal anschauen müssen, wenn die Sicht wieder klar war. In der Nähe erklang das Schlagen von Flügeln und das raue Krächzen mehrerer Krähen. Eine Handvoll der Vögel flog auf, sie verschwanden in den Dunstschwaden. Luna bellte und zerrte an ihrer Leine.

»Schon gut, meine Süße, das sind doch nur Krähen. Die kennst du aus London.«

Luna blickte mich treuherzig an und ich musste lachen.

Als wir eine Dreiviertelstunde später aus dem nebeligen Umland zurückkehrten, betrat Luna schließlich nach einigem Zögern mit mir das Haus. Sie schien weder fröhlich noch aufgeregt zu sein, blieb aber dicht in meiner Nähe und beschnupperte alles. In der Eingangshalle roch es muffig, wie in einem Raum, der seit Monaten nicht mehr gelüftet worden war. An den Wänden hingen einige historische Portraits, aber auch Landschaften. Eine Staubschicht lag auf dem Boden, die durch Lunas Pfoten und meine Fußspuren verwischt wurde.

Ich streichelte sie aufmunternd. »Komm, machen wir eine Besichtigungstour. Der Umzugstransporter müsste auch bald ankommen.«

Seit ich wieder allein lebte, hatte ich mir angewöhnt, viel mit Luna zu reden. Vielleicht war das ein bisschen schräg, aber es half mir gegen die Einsamkeit und sie verwickelte mich zum Glück nie in Streitgespräche. Anders als meine Eltern, die nach der Erbschaft nicht so wirklich begeistert gewesen waren, als ich ihnen mitteilte, dass ich nach Yorkshire ziehen würde. Einerseits mochten sie die Idee, dass ich dieses Gasthaus wiederbeleben würde. Andererseits wohnten sie in einem Vorort von London und mit spontanen Besuchen war es dann vorbei. Meine Mutter hatte die Angewohnheit gehabt, immer mal wieder bei mir aufzukreuzen, da sie »zufällig in der Nähe gewesen« sei. Wer's glaubte … wahrscheinlich meinte sie es nur gut, machte sich Sorgen um mich, seit ich wieder allein war. Aber ich war keine zwölf mehr und brauchte keine Bemutterung. Von hier aus dauerte eine Fahrt nach London rund vier Stunden mit dem Auto, wenn es unterwegs keine Staus gab.

Ich kam nicht weit mit meiner Besichtigungstour, denn jetzt hörte ich draußen Reifen auf dem Kies knirschen und ein kurzes Hupen. Rasch verließ ich den ehemaligen Speisesaal, den ich mir gerade genauer hatte ansehen wollen, und ging nach draußen. Luna folgte mir so dicht, als würde sie an meinem Hosenbein kleben.

Ein Ungetüm von einem Umzugstransporter parkte neben meinem Auto. Zwei Mitarbeiter des Unternehmens stiegen aus. Heute Morgen hatte ich gemeinsam mit ihnen den Transporter vollgepackt. Das Meiste waren volle Umzugskartons, denn ich würde nur wenige neue Möbel brauchen.

Ich hatte mir vorab eine ungefähre Auflistung aller im Haus vorhandenen Möbel senden lassen. Den Rest hatte ich mir anhand der Fotos zusammenreimen können, die mir mein Vater gegeben hatte. Er war vor einer Weile hierher gereist und hatte die Fotos selbst gemacht. Und wenn ich doch noch etwas brauchte, konnte ich es bestimmt in Huddersfield oder einer der anderen größeren Städte besorgen.

Worauf ich auf gar keinen Fall verzichten wollte, war mein Schreibtisch, der groß genug war für einen Bereich mit Schubladen und einer großzügigen Fläche, auf der ich zwei Monitore und einige Ablagefächer unterbringen konnte.

Die beiden kräftig gebauten Männer, die beide ungefähr in meinem Alter waren, verbrachten mit mir die folgende Stunde damit, alles ins Haus zu räumen, das Meiste davon in den ersten Stock, in dem sich mein Wohnbereich befand. Was für eine Plackerei! Nach mehreren Kartons spürte ich die Anspannung in meinen Armmuskeln. Hast selbst Schuld, schimpfte ich mit mir selbst. Du könntest echt mehr Sport machen. Ich wischte den Gedanken beiseite und griff fluchend nach dem nächsten Karton, der am Fuße der Treppe stand. Die Männer, beide zweckmäßig und robust bekleidet, schleppten auch die Einzelteile meines auseinandermontierten Schreibtischs in mein späteres Arbeitszimmer. Das große Fenster dort bot einen schönen Ausblick auf das Umland. Genau deshalb hatte ich ihn mir zum Arbeitszimmer erkoren. Ein einsamer Baum trotzte in der Ferne dem Wetter.

Ich würde mir später Hilfe organisieren müssen, um den Tisch wieder zusammenzuschrauben. Die Leute vom Umzugsunternehmen wollten bestimmt bald zurück nach London. Außerdem hatte ich, um Geld zu sparen, keine Zusatzleistungen gebucht, wie das Aufbauen von Möbeln. Ich war handwerklich nicht so geschickt, wie ich es mir wünschen würde.

Ich musste auch erst mal die Schachtel mit den Schrauben wiederfinden, die in einem der Umzugskartons verstaut war. Als wir endlich mit allem fertig waren, klebte mir das Shirt am Rücken. 

»Vielen Dank für die Hilfe«, wandte ich mich an die beiden.

»Kein Problem«, antwortete der Größere, dessen Gesicht sich gerötet hatte. »Darf ich Ihre Toilette benutzen?«

»Ja, natürlich.« Ich rief mir den Grundriss des Gebäudes vor Augen und erklärte ihm den Weg zu einer der beiden Gästetoiletten.

Als er zurückkehrte, sagte er: »Da stimmt etwas nicht mit dem Abflussrohr am Waschbecken. Vielleicht ist ein Rohr verstopft oder kaputt? Das Wasser läuft jedenfalls nicht ab. Und das Wasser war erst bräunlich, aber nach einer Minute oder so wurde es klar.«

»Danke für den Hinweis, ich werde mich darum kümmern«, erwiderte ich.

Als die Männer aufgebrochen waren, schaute ich mir die Misere in der Gästetoilette an. Das Wasser stand mehrere Zentimeter hoch im Waschbecken. Vorsichtshalber überprüfte ich sämtliche Wasserhähne im Haus, einschließlich der Duschen, während Luna um mich herumwuselte. In meinem Wohnbereich im ersten Stock lief zuerst eine bräunliche Brühe aus der Leitung, aber dann wurde das Wasser klar, so wie es mir auch der Mann vom Transportunternehmen berichtet hatte. Ich drehte den Wasserhahn zu und probierte es noch einmal. Diesmal blieb das Wasser ungetrübt. Der Ablauf war in Ordnung. Na, das war doch immerhin mal ein Anfang. In dem anderen Bad im Erdgeschoss gab es keine Probleme.

Mein knurrender Magen machte mich darauf aufmerksam, dass ich seit meinem Frühstück in London nichts mehr gegessen hatte. In den Resten meiner Lebensmittelkiste fand ich Brötchen zum Aufbacken und eine Suppe in einem Glas. Beides bereitete ich mir in der Küche im Wohnbereich zu, nachdem ich dort einen der Töpfe abgespült hatte. Der Ofen funktionierte zum Glück einwandfrei. Mein Vater  hatte mir erzählt, dass die Küche vor einigen Jahren renoviert worden war. Also eine Baustelle weniger in diesem Haus.

Ich überlegte, während die Suppe auf dem Herd langsam zu dampfen begann. Um die Stromversorgung des Hauses hatte ich mich bereits von London aus gekümmert, ebenso um das Wasser. Würde ein Rohrfrei-Mittel ausreichen, um die Verstopfung im Abflussrohr der Gästetoilette zu lösen? Oder lag ein anderes Problem vor?

Luna winselte und ich gab ihr ein Leckerli, über das sie sich mit Begeisterung hermachte. Danach durchsuchte ich in die Umzugskartons, die wir in die Küche gestellt hatten. Darin waren nicht nur meine Lebensmittelreste aus der alten Wohnung, sondern auch ein Karton mit einem Bio-Waschmittel und eine halbleere Flasche Abflussreiniger.

Nachdem ich gegessen hatte, las ich für alle Fälle noch einmal die Anleitung auf der Flasche und kippte die Flüssigkeit vorsichtig in den verstopften Abfluss. Ich rümpfte die Nase, denn diese Chemiebombe verströmte einen unangenehm stechenden Geruch. Das Mittel sollte über Nacht einwirken. Am nächsten Tag würde ich dann weitersehen. Hoffentlich war das Problem damit gelöst …

Anschließend machte ich eine Besichtigungstour durchs Haus. Luna blieb mir dicht auf den Fersen. Im Erdgeschoss des alten Gasthauses gab es fünf Gästezimmer, zwei weitere im ersten Stock. Diese lagen vorn, sodass die Gäste später nicht an den Zimmern meines Wohnbereichs vorbeigehen mussten. Im Erdgeschoss befand sich auch ein Speisesaal, an den sich eine Küche anschloss. In den Gästezimmern wollte ich später kleine Wasserkocher und Teegeschirr bereitstellen, damit die Leute sich den ganzen Tag über Tee, Kaffee oder heiße Tassen zubereiten konnten. Wie es hierzulande auch in vielen Hotels und Bed & Breakfasts üblich war.

Im Verlauf meiner Tour stellte ich fest, dass einige Renovierungsarbeiten notwendig waren. Mein Vater hatte mir das auch gesagt, meinte aber, ich sollte mir selbst ein Bild machen, was die Details betraf. Zwei der beigefarbenen, rauen Teppiche waren so verschlissen, dass ein Ersatz nötig war. In mindestens drei Räumen im Erdgeschoss blätterte die altmodische Blümchentapete von den Wänden, außerdem war sie reichlich vergilbt.

Im Flur im Erdgeschoss erregte eine recht große alte Porträtfotografie in einem schwarz lackierten Rahmen meine Aufmerksamkeit. Ein Mann und eine Frau mittleren Alters waren darauf abgebildet, mit zwei jüngeren Männern – oder waren das Jugendliche? Ich war mir nicht sicher. Vermutlich waren es ihre Söhne. Einer von ihnen hatte dunkles Haar, aber auffällig helle Augen und er schien mich direkt anzusehen. Auf mich machte er einen sympathischen Eindruck. Mensch, Francis, das ist lächerlich. Der Typ ist gewiss schon seit Jahrzehnten tot. Und natürlich hatte er direkt in die Kamera geblickt, wie es bei Porträtfotografien üblich war. Ich betrachtete die Kleidung der vier Abgebildeten und tippte auf frühes 20. Jahrhundert, war mir aber nicht ganz sicher. Ich nahm das Bild ab und blickte auf die Rückseite. Bingo, dort war ein Aufkleber: Familie Haynes, 1913. Die Familie des Mannes, der meinem Vater dieses Haus vererbt hatte. Peter Haynes war 98 Jahre alt geworden und hatte sämtliche seiner Familienmitglieder überlebt, einschließlich seiner Schwester, seiner Frau und seines Sohnes.

Auf diesem Bild war er aber vermutlich nicht zu sehen, er war ja erst einige Jahre später geboren worden. Ich hängte das Bild wieder an Ort und Stelle und ging weiter durchs Haus. Die Räume waren sehr staubig und überall hingen Spinnweben. Zum Glück hatte ich einen leistungsfähigen Staubsauger mitgebracht. Weiße Laken lagen über mehreren Möbeln, die ich mir genauer anschaute, nachdem ich den Stoff entfernt hatte. Ich hatte ein Faible für alte Dinge und diese waren aus massivem Holz gefertigt, teilweise mit geschnitzten Schnörkeln verziert. Ob die noch aus der Jugendstil-Ära stammten? Auf jeden Fall waren sie gut gepflegt worden. Etwas Holzpflegemittel und Politur und sie würden wie neu glänzen. Ein ungewohnter Tatendrang erfüllte mich, es gab so viel zu tun. Darin mischte sich aber auch Stolz – das alles hier war meins und ich konnte es so gestalten, wie ich wollte. Ein wunderbarer Gedanke.

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, meine Umzugskartons so weit wie möglich auszuräumen. Für meine Kleidung musste ich mir allerdings erstmal den noch vollen Kleiderschrank von Peter Haynes vornehmen und rätselte, was ich mit seinen Sachen machen sollte. Selbst anziehen kam nicht infrage. Seit meiner Teenagerjahre fühlte ich mich der Gothic-Subkultur verbunden und trug praktisch nur Schwarz. Peters Kleidung war im Vergleich sehr altmodisch, aber auch recht bunt: Hosen in Beige, hellem und dunklem Blau, verschiedene Brauntöne bei den Pullovern und pastellfarbene Hemden. Das Haus verfügte über einen Keller, vermutlich war es das Beste, sie erst mal dort einzulagern.

Ich stapelte meine eigene Kleidung aufs Bett und auf eine Kommode. In meiner Zeit in einer Grafikdesign-Agentur hatte ich mir bürotaugliche schwarze Kleidung besorgt. Dafür gab es in der Gothic-Szene sogar eigenen Begriff: »Corporate Goth«. Seit ich selbstständig von zu Hause aus arbeitete, konnte ich mich lässiger kleiden, meistens trug ich Jeans und dazu Bandshirts. An diesem Tag war es eines von The Cure.

Ich räumte Peters Kleidung in die freigewordenen Taschen und Kartons, danach hievte ich das alles die Treppe hinunter. An meinem Schlüsselbund suchte ich nach dem passenden Schlüssel für den Keller und öffnete die Tür. Die alten Scharniere knarrten unwillig. Eine Treppe führte nach unten. Luna folgte mir. Als ich endlich den Lichtschalter gefunden hatte und darauf drückte, tat sich nichts. Im Keller blieb es stockfinster. Vielleicht war die Glühbirne durchgebrannt? Luna winselte beunruhigt.

»Ja, ich finde das auch unheimlich«, gab ich zu. Ein Zittern erfasste meine Hände. Fluchend griff ich nach meinem Handy, um dessen Taschenlampe einzuschalten. Fast fiel es mir herunter. Das fehlte mir gerade noch, schimpfte ich mit mir selbst. Ich leuchtete die Treppe hinunter, die aus Holz gefertigt war. Sie war von Staub bedeckt, sah aber nicht baufällig aus. Plötzlich erklang ein Poltern aus dem weitläufigen Kellerraum. Mich überkam eine Gänsehaut und ich schlug hastig die Tür zu. Fuck. Was immer da unten war, ich wollte auf keinen Fall nähere Bekanntschaft damit machen! Zumindest nicht an diesem Tag. Mein Herz raste. Ich musste mich zwingen, langsamer zu atmen. Schließlich versuchte ich, mir Mut zu machen. Vielleicht waren es Ratten? Oder andere Kleintiere? Hatten die irgendetwas umgeworfen? Aber wenn Luna diese gerochen hatte, warum hatte sie dann nicht gebellt? Sie war ungewohnt still. Ich tätschelte ihren Kopf. Ach, vermutlich machte ich mir mal wieder zu viele Sorgen. Bestimmt war es wirklich nur eine Ratte gewesen. Egal, ich würde Peters alte Kleidung später in den Keller räumen. Lieber erst mal die Glühbirne ersetzen, dann konnte ich da unten zumindest ein bisschen mehr sehen. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich das wirklich wollte …

Abends stellte ich mich unter die Dusche, die ganze Packerei war schweißtreibend gewesen. Das Bad war himmelblau gekachelt und roch etwas muffig. Aber das war wohl nichts, was sich nicht mit gründlichem Lüften beheben ließ. In einer Ecke fand ich einen toten Weberknecht. Mit spitzen Fingern beförderte ich ihn in den kleinen Mülleimer.

Später schmierte ich mir ein Brot und versorgte Luna mit Hundefutter. Vermutlich war es das Beste, wenn ich am morgigen Tag in Barrowsfield einkaufte. Dann konnte ich mir diese Kleinstadt auch gleich einmal näher anschauen und das mit einem Spaziergang verbinden.

Ich sah mir das Schlafzimmer des ehemaligen Hausbesitzers noch einmal genauer an. Dort stand ein altes Doppelbett, das er sich gewiss früher mit seiner Frau geteilt hatte. Ich setzte mich probeweise auf eine der beiden Matratzen – die war erstaunlicherweise noch ganz in Ordnung. Ich testete auch die andere und kam zum selben Ergebnis. Danach hob ich beide nacheinander an und begutachtete den Lattenrost. Der sah stabil aus. Also bezog ich die linke Seite mit frischer Bettwäsche.

Dann griff ich in einen der Umzugskartons, den ich mit »Wichtig!« beschriftet hatte und zog eines meiner Lieblingsfotos hervor, das sich in einem schwarzen Stehrahmen befand. Darauf waren Keith und ich abgebildet, er hatte einen Arm um mich geschlungen. Das Foto war auf einer Party entstanden. Fast vier Jahre war sein Tod mittlerweile her, aber ich vermisste ihn noch immer, als wäre unsere letzte Begegnung erst vor wenigen Tage gewesen. Einen Moment lang musterte ich das Bild schweigend. In meinem Inneren fühlte ich wieder diesen Abgrund, das tiefe Loch, das sein Tod in meinem Leben hinterlassen hatte. Ein kaltes, schmerzhaftes Gefühl.

»Ich hoffe, es geht dir gut, wo immer du nun bist«, flüsterte ich, während ich sein Gesicht musterte. Ich glaubte an ein Leben nach dem Tod. Oder vielleicht wollte ich auch nur daran glauben, weil es so vieles erträglicher machte.

Kurz nach seinem Tod war Keith mir in einem Traum erschienen, und ich hatte mit ihm gesprochen. Es war wie ein Abschied gewesen … Ich klammerte mich oft an diese Erinnerung, wenn ich ihn wieder einmal vermisste.

Ein kleines Schnaufen von Luna erinnerte mich daran, dass ich nicht allein hierhergekommen war. Ich schüttelte die Gedanken an den Tod ab und streichelte ihr über den Kopf. »Kein Problem, Süße, ich hole deinen Korb.«

Den platzierte ich mit der darin liegenden Matte in der Nähe des Bettes. Es war gerade erst kurz nach neun, aber draußen war es schon dunkel und ich fühlte mich durch den Umzugsstress ziemlich groggy. Also warum nicht einfach mal früh schlafen gehen und morgen früher aufstehen?

Ich schlenderte noch einmal ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Auch der Spiegel dort war von einer Staubschicht bedeckt, der Dunst vom Duschen hatte daran nicht viel geändert. Ich wischte den Staub weg, so gut es ging, und fuhr mir durch die vom Waschen zerzausten kurzen Haare. Am Ansatz waren meine schwarz gefärbten Haare bereits wieder hellbraun. Und einen neuen Schnitt hätten sie auch vertragen. Ob es wohl in Barrowsfield einen guten Friseur gab?

Später schlüpfte ich unter die Bettdecke, während Luna es sich schon in ihrem Körbchen bequem gemacht hatte. Eine Zeitlang lauschte ich den fremden Geräuschen im und um das Haus herum – das leise Rauschen des Windes, ein Knacken im Flur, Lunas Atem. Ich hatte oft Schwierigkeiten, in einer mir fremden Umgebung die nötige Ruhe zum Schlafen zu finden. Doch auf der anderen Seite zerrte wirklich die Müdigkeit an mir und schließlich sank ich in einen Dämmerzustand.

Ich schrak aus dem Schlaf. Was war geschehen? In diesem Moment donnerte es krachend. Schlaftrunken, wie ich war, brauchte ich einen Moment, um zu begreifen, dass draußen ein Gewitter tobte. Puh, ich hatte meine Wetter-App am Handy abends nicht mehr gecheckt und nicht mit so etwas gerechnet. Der Regen prasselte laut gegen die Fensterscheiben des Schlafzimmers. Ich warf einen Blick auf den kleinen Digitalwecker, den ich neben das Foto von Keith und mir gestellt hatte. Kurz nach Mitternacht. Mist, meine erste Nacht in diesem Haus und ein schauriges Wetter wie in einem alten Horrorfilm. Ein greller Blitz entflammte den Himmel, sein Licht drang bis ins Zimmer. Ich mochte Horrorfilme, aber das hier fühlte sich trotzdem verdammt unheimlich an. Zum Glück hatte das alte Haus einen Blitzableiter, zumindest hatte mir mein Vater das erzählt.

Luna winselte leise. Sie kam zu mir ans Bett und ich streichelte sie zur Beruhigung, auch wenn ich selbst alles andere als ruhig war.

In das Rauschen des Regens drangen noch weitere seltsame Laute. Sie klangen wie ein Schluchzen und Weinen. Das kam aus einem der anderen Zimmer. Mit einem Mal raste mein Herz und mir brach der kalte Schweiß aus. War jemand ins Haus eingedrungen? Ich wagte es nicht, die Deckenbeleuchtung einzuschalten. Wenn ich es wirklich mit einem Eindringling zu tun hatte, würde ihn jeder Lichtschein warnen. Wieder donnerte es draußen. Hätte Luna es nicht gemerkt, wenn ein Einbrecher im Haus herumlief?

So leise wie möglich verließ ich das Bett und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Vorsichtig öffnete ich sie einen Spalt breit, sodass ich in den Flur schauen konnte. Aber da war niemand. Ich schlich in den Flur und lauschte. Ich hatte eine Scheißangst, aber ich musste einfach herausfinden, woher diese Geräusche kamen. Die Treppe war nicht weit entfernt. Mein Herz raste noch immer und meine Finger fühlten sich klamm an. Sollte ich es wagen? Oder sollte ich die Polizei rufen? Nein, lieber nicht. Wenn ich mich irrte und niemand außer mir und Luna im Haus war, würde ich mich lächerlich machen.

Vorsichtig ging ich zur Treppe hinüber. In der Dunkelheit konnte ich kaum etwas sehen, aber ich tastete mich leise vor bis zu jenem Zimmer, aus dem das unerklärliche Geräusch drang. Es handelte sich um eines der Gästezimmer. Sollte ich es wirklich wagen? Ich zögerte sekundenlang, aber schließlich gab ich mir einen Ruck, öffnete die Tür.

Mir stockte der Atem, als ich sah, wer dort auf dem Bett saß. Eine weiß-bläulich leuchtende Gestalt, eine Frau. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Ihr Oberkörper wurde von Schluchzern geschüttelt und sie schien sich gar nicht beruhigen zu können. Ihre altmodische Frisur sah aus wie die jener Frau auf der alten Fotografie. Ein Blitz zuckte über den Himmel und erfüllte das Zimmer für ein oder zwei Sekunden mit grellem Licht, in dem die gespenstische Gestalt zu verschwinden schien. Als es wieder finster wurde, war sie erneut zu sehen. Das Dröhnen des jetzt folgenden Donners tat mir in den Ohren weh. Mir wummerte das Herz in der Brust. Dieser Anblick, diese Gestalt … war das eine Halluzination?

Am liebsten wäre ich auf der Stelle umgedreht und zurück ins Schlafzimmer gelaufen. Dort hätte ich mir die Bettdecke bis über den Kopf gezogen, damit ich diesen Spuk nicht länger mitansehen musste. Aber ich war wie erstarrt und beobachtete den weinenden Geist. Vielleicht schlief ich längst und träumte das alles nur?

Ja, es stimmte, ich hatte eine Affinität für unheimliche Dinge. Aber Halloween zu feiern, Geistergeschichten zu lesen oder sich einen Gruselfilm anzusehen, das alles war etwas anderes, als einen leibhaftigen Geist zu sehen! Ein unangenehmes Kribbeln erfasste meine Haut, die sich vom Schweiß längst feucht anfühlte. Bisher hatte ich noch nie solch eine Erscheinung erlebt. Auch wenn ich es mir nach Keiths Tod fast gewünscht hätte. Wenigstens, um mich von ihm verabschieden zu können.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die weinende Frau. Zäh tropften die Sekunden und Minuten dahin. Ich fühlte die Kälte des Bodens an meinen nackten Füßen. Ein weiterer Blitz beleuchtete das dunkle Zimmer sekundenlang, gefolgt von grollendem Donner. Schließlich wurden die Schluchzer der Frau leiser, bis sie ganz verstummten. Gleichzeitig verblasste ihre leuchtende Figur allmählich und dann löste sie sich auf.

Ich drehte mich einmal um mich selbst, aber sie war nicht hinter mir. Danach wartete ich noch einen Moment, ehe ich auf Zehenspitzen das Zimmer betrat, auf der Suche nach Spuren. Es war kühl im Raum, aber das war wohl kein Wunder, weil ich die Heizung nicht angestellt hatte. Ich wollte das Licht einschalten, aber es funktionierte nicht. Vermutlich war die Glühbirne durchgebrannt? Verdammt. Ich würde wohl bei Tageslicht noch einmal nachsehen müssen.

Bis auf meine eigenen leisen Schritte war es inzwischen völlig still. Ein Gedanke ließ mich nicht los, auch wenn er vielleicht absurd war. Hatte sich ein Eindringling Zutritt zum Haus verschafft und diese Geistererscheinung mit irgendwelchen optischen und akustischen Tricks inszeniert, um mir Angst einzujagen? Wollte mich jemand aus diesem Haus vertreiben? Vielleicht fühlte sich jemand um das Erbe geprellt? Nein, das ergab keinen Sinn, mein Dad hatte mir doch erklärt, dass Peter keine lebenden Verwandten mehr hatte. Schließlich tastete ich mich die Treppe hinunter und ging bis zur Haustür in der kleinen Eingangshalle. Aber da war niemand. Falls tatsächlich eine fremde Person hier gewesen war, hatte sie sich wohl längst aus dem Staub gemacht. Bis auf ein einzelnes leises Knacken, wie es in alten Gebäuden wie diesem sicherlich häufig zu hören war, war alles ruhig.

Ich tappte zurück hinauf ins Schlafzimmer. Luna schnaufte leise und strich mir um die Beine. Ich streichelte ihr über den Kopf. »Alles gut, leg dich ruhig schlafen.« Ich wusste nicht so richtig, ob ich sie oder mich selbst meinte. Ich legte mich auch wieder hin, aber nach diesem seltsamen Erlebnis brauchte ich eine ganze Weile, bis ich schließlich in den Schlaf fand.

Kapitel 2

Mittwoch, 12. September

Am nächsten Morgen stellte ich gleich mehrere Dinge fest, die mich frustrierten. Das Erste: Es war schon fast elf Uhr. Ich hatte vergessen, meinen Wecker zu stellen. Das Zweite: In dem Gästezimmer, in dem ich die weinende Frau gesehen hatte, gab es keinerlei Spuren für ein nächtliches Eindringen oder irgendwelche Tricks, mit denen mir die Spukerscheinung vorgegaukelt worden war. Keine Fußspuren in der leichten Staubschicht auf dem Boden und auch nichts anderes, das verdächtig wirkte. Das dritte Problem: Im Karton mit den Lebensmitteln fand ich keinen Kaffee. Weder gemahlenen noch Instant, und schon gar nicht meinen geliebten veganen Instant-Cappuccino. Aber ohne Kaffee am Morgen war ich unausstehlich. Oder wehleidig. Mist, daran hätte ich wirklich denken müssen. Was für ein Horror!

Immerhin hatte ich so weit mitgedacht, dass ich für die schweißtreibenden Umzugsarbeiten zwei Sechserpacks Mineralwasser besorgt hatte, und davon waren einige Flaschen übrig. Also trank ich aus einer dieser Flaschen, denn ich musste erst mein Geschirr, Becher und Gläser auspacken. Das vierte: Im Gästebad hatte das Rohrfrei nichts bewirkt, das Wasser stand immer noch zentimeterhoch im Waschbecken. Und wo war eigentlich Luna? Ich musste dringend mit ihr rausgehen. Erst mal schaute ich in meinen Werkzeugkoffer. Hammer, Schraubenschlüssel, eine Zange. Auch ein Kasten mit einem Akkubohrer und eine Schachtel mit Nägeln und Schrauben. Allerdings kein passendes Gerät, mit dem ich das Rohr unter dem Waschbecken hätte abdrehen können. Probehalber versuchte ich es von Hand, aber es saß viel zu fest. So kam ich nicht weiter. Also forschte ich am Handy nach einem Klempnerunternehmen in Barrowsfield. Ich fand schließlich eines, das mehrere Dienstleistungen rund ums Haus anbot: Klempnerei, Schlosserdienste und Fliesenlegen. Auf der Kontaktseite stand nur eine Telefonnummer, dort rief ich an. Eine Mitarbeiterin meldete sich. »Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«

»Guten Tag, hier ist Francis Bailey.« Ich schilderte ihr mein Problem.

»Alles klar, unser Mitarbeiter Aaron Summers kann sich darum kümmern. Warten Sie mal kurz, ich schaue in den Kalender …« Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung. »Heute Nachmittag gegen drei, wenn Ihnen das recht ist? Sie haben Glück, hier wurde gerade ein Termin abgesagt.«

»Ja, vielen Dank.« Ich nannte ihr meine Adresse und verabschiedete mich. Wie gut, dass ich nicht mehrere Tage auf einen Termin warten musste.

Nach einem kurzen Gang mit Luna verfrachtete ich uns beide ins Auto, um in Barrowsfield Besorgungen zu machen. Ganz oben auf meiner Liste: Kaffee.

Barrowsfield kam mir wie ein Dorf vor. Aber vermutlich wirkte jede Kleinstadt so im Vergleich zu London. Dank meiner Straßenkarten-App, die auch Geschäfte, Tankstellen, Lokale, Behörden und so weiter abbildete, fand ich dort relativ bald einen Supermarkt. Hoffentlich würde ich meine sozialen Ängste in Schach halten können. Ich kannte mich in der Gegend noch nicht aus und so etwas war für meine Sozialphobie oft ein gefundenes Fressen …

Ich ließ Luna im Auto. »Bis gleich«, sagte ich zu ihr beim Aussteigen, was mir einen irritierten Blick von einer Frau mittleren Alters einbrachte. Ich ignorierte sie, holte tief Luft und betrat den Supermarkt. Der war angenehm leer, wie sich herausstellte und das bot meinen Ängsten wenig Anlass, aus ihren Löchern zu kriechen.

Eine halbe Stunde später verließ ich den Laden wieder. Ihr Sortiment an veganen Produkten war – abgesehen von Gemüse, Obst und Getreide – leider nicht ganz so groß, wie ich es mir erhofft hatte, aber ich würde schon über die Runden kommen. Vermutlich war ich verwöhnt, was das Angebot in London betraf. Da konnte eine Kleinstadt nicht mithalten. Aber egal, was mir fehlte, konnte ich notfalls auch bestellen oder bei Ausflügen in die nächste größere Stadt besorgen. Dieser Supermarkt hier hatte einiges an Haushaltsartikeln in einer eigenen Abteilung und so hatte ich mehrere Glühbirnen kaufen können. Ich schaute mir das Städtchen noch einmal auf Google Maps an und fand tatsächlich einen Bioladen. Ein Blick auf die Uhr: schon fast zwei. Gegen 15 Uhr sollte der Klempner kommen. Der Bioladen musste warten.

Auf der Rückfahrt meldeten sich meine sozialen Ängste zu Wort, die sich gestern zurückgehalten hatten – vermutlich, weil ich mit all den Kartons, Taschen und Beuteln beschäftigt gewesen war. Darauf hatte ich nun echt keine Lust, verdammt! Aber meine Gedanken drehten frei: Würde ich die richtigen Worte finden, um dem Klempner das Problem zu beschreiben? Oder würde ich mich verhaspeln, oder rot werden oder …  Du hast es der Mitarbeiterin doch auch ohne Probleme schildern können, ging mir durch den Kopf. Aber Telefonate fand ich manchmal leichter, weil ich mein Gegenüber dabei nicht anschauen musste.

Ich fühlte mich unwohl in Gesellschaft von Leuten, die ich nicht näher kannte. Noch schlimmer war es unter gänzlich Fremden. So ging es mir auch in Menschenansammlungen, wie es sie in London praktisch überall gab. Ich bekam dann oft das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Das war auch ein Grund gewesen, warum ich mich entschlossen hatte, hierherzuziehen. Anders war es in Clubs mit Gothic-Nächten oder entsprechenden Konzerten. Unter Gleichgesinnten fühlte ich mich deutlich wohler, selbst wenn ich die Leute nicht näher kannte. Vielleicht, weil sie für mich keine Bedrohung darstellten, stattdessen  fühlte ich mich in ihrer Gegenwart sicher.

In Barrowsfield hatte ich einen vollen Supermarkt erwartet, aber es war kaum Kundschaft dort gewesen. Gut für mich, das hielt meine Befürchtungen ein bisschen in Schach. »Ach, Luna …«, murmelte ich. »Warum ist das nur alles so schwer?«

Hoffentlich würde es nun besser werden, weil ich hier auf dem Land eben nicht ständig mit so vielen fremden Menschen in Kontakt kam.

Zurück in meinem neuen Heim schloss ich erst mal die Kaffeemaschine an und sorgte für einen Koffeinkick, nachdem ich einige Kaffeebecher ausgepackt hatte. Ich trank meinen Kaffee gern so, wie es in einem türkischen Sprichwort hieß: schwarz wie die Hölle, stark wie der Tod, süß wie die Liebe. Auf die Hölle und den Tod konnte ich verzichten. Was die Liebe betraf … es gab immer wieder Momente, in denen ich mich danach sehnte. Mehr, als ich mir eingestehen wollte. Aber ich vermisste auch Keith immer noch. Wenn ich an ihn dachte, zog sich mein Herz jedes Mal schmerzhaft zusammen.

Passend zu den bittersüßen Gedanken nahm ich seufzend einen weiteren Schluck. Danach suchte ich nach den Schrauben meines Schreibtischs und fand sie in einem der Umzugskartons.

Um drei sah ich auf die Uhr. Der Klempner würde jeden Moment kommen. Aber wie würde er auf das Chaos hier reagieren? Hoffentlich machte er keine blöde Bemerkung. Mensch, Francis, rief ich mich selbst zur Ordnung. Der Klempner war sicher nicht zum ersten Mal in einem Haus, in dem gerade ein Umzug in Gange war. Und er hatte bestimmt schon ganz andere Dinge gesehen.

Dennoch war ich nervös. Alle paar Minuten sah ich auf die Uhr. 15:08. 15:12. Es wurde 15:30 Uhr, dann klingelte es. Ich atmete fahrig aus und lief in die Eingangshalle. Luna folgte mir bellend. Ich öffnete die Tür.

Kastanienfarbenes, lockiges Haar und stechend blaue Augen … unwillkürlich verglich ich den Mann mit Keith, der ganz anders ausgesehen hatte mit seinem dunkelblonden, ständig zerzausten Haar. Der Handwerker trug einen Blaumann und einen Werkzeugkoffer. In seinem Gesicht spross ein Dreitagebart, der ihm verdammt gut stand. Auf einer Wange prangte ein dünner weißer Strich, eine Narbe. Ein Makel, der ihm ein leicht verwegenes Aussehen verlieh.

Er musterte mich neugierig und mir fiel ein, dass ich Eyeliner trug. Eine liebgewonnene Angewohnheit, seit ich mich in der Goth-Szene bewegte. Aber vermutlich war das hier auf dem Land eher ungewöhnlich für einen Mann …

»Guten Tag, ich bin Aaron Summers.« Er streckte mir die Hand entgegen. Überrascht ergriff ich sie. War das hier auf dem Land so üblich? In London war das eher in sehr förmlichen Zusammenhängen gern gesehen, ansonsten reichte eine höfliche Begrüßung ohne diese Geste.

Ich stellte mich ihm ebenfalls vor. Summers’ Händedruck war warm und fest. Es war lang her, dass ich einen anderen Mann berührt hatte, mal abgesehen von freundschaftlichen Umarmungen. Kaum hatte ich das gedacht, kroch mir Wärme in die Wangen. Himmel, das fehlte mir gerade noch, dass ich rot wurde.

Luna wedelt mit dem Schwanz und er beugte sich zu ihr herunter, streichelte ihr über den Kopf. »Wie heißt er?«

»Sie heißt Luna.«

Luna ließ sich die Streicheleinheit gern gefallen. Sie war nicht allen Fremden gegenüber so zutraulich.

Aaron Summers lächelte und ich bemerkte ein Grübchen in seiner Wange mit der Narbe. »Schöner Name. So, wo ist das Problem?«

»Ja, folgen Sie mir bitte.« Ich führte ihn zur Gästetoilette.

»Haben Sie schon versucht, das Rohr abzuschrauben und es sich anzusehen?«, wollte er wissen. Er krempelte seine Ärmel hoch und ich kam nicht umhin, das Spiel der Muskeln in seinen Unterarmen zu bemerken. Das brachte mich prompt so durcheinander, dass ich nur noch stockend Worte hervorbrachte. »Ich … ähm, also, nein. Ich habe nichts, ich meine, ich habe kein passendes Werkzeug dafür.«

»Kein Problem, ich kümmere mich darum.«

»Ich habe vorhin gerade Kaffee aufgesetzt, der ist auch noch heiß. Möchten Sie welchen?«

Er lächelte wieder. »Dann gern einen Becher davon.«

»Wie trinken Sie Ihren Kaffee? Ich habe keine Milch. Nur Haferdrink.«

»Ich bin Veganer«, erzählte er. Das war eine angenehme Überraschung für mich. Ob ihn die Erwähnung des Haferdrinks darauf gebracht hatte, das Thema anzuschneiden? »Ich trinke meinen Kaffee am liebsten schwarz, ohne Zucker«, fuhr er fort.

»Das ist ja ein netter Zufall«, platzte ich heraus. »Ich bin auch Veganer.«

Er blickte mich neugierig an. »Woher kommen Sie? London?«

»Ja, genau. Ich bin gerade erst eingezogen. Deshalb sieht es hier so chaotisch aus.« Worauf wollte er denn hinaus?

»Aha.« Er grinste. »Glauben Sie, auf dem Land leben nur Leute, die Fleisch essen, Milch trinken und so weiter?«

Ich lachte ein bisschen verlegen und er fuhr fort: »Wir sind hier nicht so hinterwäldlerisch, wie manche Leute gern glauben.«

»Das habe ich auch nicht gesagt«, entgegnete ich.

»Schon gut. Ich muss zugeben, ich kenne nicht so viele Leute in Barrowsfield und Umgebung, die vegan leben.« Er deutete auf das Waschbecken. »Ich kümmere mich mal darum. Sie können mich gern duzen und Aaron nennen.«

Überrascht blickte ich ihn an. »Gern, ich bin Francis.«

»Ich muss noch mal zum Wagen und hole einen Eimer. Damit kann ich das auslaufende Wasser auffangen.«

»Alles klar.«

Zwanzig Minuten später erklärte mir Aaron, wo das Problem gelegen hatte. »Im Abflussrohr hat sich ein Pfropfen Dreck festgesetzt. Der war offenbar so hartnäckig, dass auch kein Abflussreiniger mehr geholfen hat. Ich konnte ihn aber zum Glück rausholen.« Er deutete völlig ungerührt auf eine schmierige, recht feste bräunlich-schwarze Masse, die im Eimer lag. »Vielleicht hat irgendjemand versucht, etwas über diesen Abfluss loszuwerden, aber frag mich bitte nicht, was das ist.«

Allein schon von dem Anblick wurde mir übel, und ich musste einen Würgereiz unterdrücken.

Das war Aaron offenbar nicht entgangen. »Ich entsorge das gleich mal.« Er trank seinen Kaffee aus.

»Ich hätte eine Bitte. Falls du noch etwas Zeit hast?«

»Ja. Mein nächster Termin ist erst um 17:30 Uhr und es ist nicht weit von hier. Worum geht es denn?«

»Ich kenne hier niemanden und ich bräuchte Hilfe beim Montieren meines Schreibtischs. Die Platte ist schwer, dafür braucht man zwei Leute. Magst du mir helfen? Setz das auch gern mit auf deine Rechnung.«

Er winkte ab. »Ach was, das mache ich so. Ich verdiene gut genug.«

Überrascht sah ich ihn an. »Das ist sehr nett, danke.«

Nachdem er den Dreck aus dem Abfluss in einer der Mülltonnen entsorgt hatte, folgte er mir in das Arbeitszimmer. »Das Gasthaus hat einen gewissen Ruf hier in der Gegend«, erzählte er im Plauderton und ich horchte auf.

»Wie meinst du das?«, wollte ich wissen, während wir uns daran machten, den Schreibtisch zusammenzusetzen.

»Es heißt, der Vorbesitzer hat den Gasthausbetrieb nicht aufgegeben, um in den Ruhestand zu gehen, sondern weil es in den Gästezimmern gespukt hat. Und offenbar nicht nur dort.«

Ich ließ beinahe die Tischplatte fallen, die ich gerade festhielt, während Aaron eine Schraube befestigte.

»Entschuldigung«, sagte ich zerknirscht. Aber auf keinem Fall wollte ich ihm von meinen Beobachtungen in der vergangenen Nacht erzählen. Er würde mich garantiert für einen Spinner halten.

»Ich glaub ja nicht an so was«, erklärte er unbekümmert. »Ich meine, ich sehe das so: Vielleicht gibt es ein Leben nach dem Tod, vielleicht nicht. Das werde ich erst dann wissen, wenn ich ins Gras beiße.« Er lachte. »Na ja, wie auch immer, ich hatte noch nie … ein Spukerlebnis.«

»Tja, die Leute erzählen viel, wenn der Tag lang ist, nicht wahr?« Ich versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen, als ich fragte: »Wer soll hier denn spuken, haben sie das gesagt?«

Aaron zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Er schmunzelte. »Ich hab mal in einem Magazin gelesen, dass manche Hotels und Gaststätten sogar damit Werbung machen, dass es bei ihnen spukt. Verrückt, oder?«

Nachdenklich blickte ich ihn an und sagte: »Hierzulande gibt es eine Menge Geistergeschichten. Und der Glaube an Geister ist recht weit verbreitet. Ich schätze, das liegt wohl auch teilweise an der populären Spiritismusbewegung aus dem 19. Jahrhundert. Ich hab mal als Jugendlicher ein Buch über Spukerscheinungen gelesen, ›Haunted London‹ von Peter Underwood.«

»Hmm. Kann sein. Ich bin da eher skeptisch. Aber vermutlich finden es manche Leute reizvoll, in einem Spukhaus zu übernachten. Für den Nervenkitzel.«

Nach letzter Nacht wollte ich eigentlich nicht allzu viel über Geister und Spuk nachdenken. Also wechselte ich lieber das Thema. »Ich möchte aus dem Gasthaus hier ein veganes Bed & Breakfast machen.«

Aaron lächelte. »Oh, coole Idee.«

»Ja, ich dachte mir, da habe ich gleich ein Alleinstellungsmerkmal. Ich habe gegoogelt. Es gibt viele Bed & Breakfasts, Hotels und Hostels hier in der Gegend, aber keines, das ein komplett veganes Frühstück anbietet.«

»Und was machst du außerhalb der Tourismussaison, wenn ich fragen darf?«

»Ich arbeite weiter selbstständig als Grafikdesigner. Ich werde es das ganze Jahr über machen, in Teilzeit. Zumindest ist das der Plan. Ich arbeite von zu Hause aus, das hier wird mein Arbeitszimmer. So habe ich es auch in London gehalten. Ich muss dann nur manchmal Videochats anbieten, oder telefonieren. Der Rest geht per E-Mail, oder mit Textnachrichten.«

»Ah, ich verstehe.«

Als wir den Schreibtisch fertig montiert hatten, strich ich über die Platte. »Sehr schön. Vielen Dank, Mister … äh, ich meine, Aaron.«