Memento Mori - Amalia Zeichnerin - E-Book

Memento Mori E-Book

Amalia Zeichnerin

0,0

Beschreibung

Ein Brandanschlag und ein Mordfall in dem traditionsreichen Handelshaus, in dem Theodor Fox als Buchhalter arbeitet, erschüttern den jungen Mann. Auch seine Eltern Mabel und Clarence rätseln, wer für diese Verbrechen verantwortlich ist, zumal bald Theodor selbst unter Tatverdacht gerät und von der Polizei festgenommen wird. Und damit fangen die Probleme für die Familie Fox erst an …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 288

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Memento

Mori

Ein viktorianischer Krimimit Mrs und Mr Fox

Zeichnerin, Amalia: Memento Mori. Ein viktorianischer Krimi mit Mrs und Mr Fox. Hamburg, Dryas Verlag 2022

Originalausgabe

EPUB-ISBN: 978-3-98672-015-5

PDF-ISBN: 978-3-98672-016-2

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN 978-3-98672-014-8

Lektorat: Birgit Rentz, Itzehoe

Umschlaggestaltung: © Sabine Dunst | Guter Punkt, München, unter Verwendung von Motiven von istockphoto und iStock/Getty Images Plus

Umschlagabbildungen: © Sabine Dunst | Guter Punkt, München, unter Verwendung von Motiven von istockphoto und iStock/Getty Images Plus Umschlagabbildungen: © istockphoto/ilbusca, © OlgaMiltsova/iStock/Getty Images Plus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek :

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

Der Dryas Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© Dryas Verlag, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten.

http ://www.dryas.de

Inhalt

„Kapitel 1 – Theodor“

„Kapitel 2 – Mabel“

„Kapitel 3 – Clarence“

„Kapitel 4 – Clarence“

„Kapitel 5 – Mabel“

„Kapitel 6 – Clarence“

„Kapitel 7 – Clarence“

„Kapitel 8 – Mabel“

„Kapitel 9 – Clarence“

„Kapitel 10 – Clarence“

„Kapitel 11 – Mabel“

„Kapitel 12 – Mabel“

„Kapitel 13 – Mabel“

„Kapitel 14 – Clarence“

„Kapitel 15 – Mabel“

„Kapitel 16 – Clarence“

„Kapitel 17 – Mabel“

Kapitel 1 – Theodor

Montag, 1. März 1880

»Bis morgen! Und arbeite nicht zu lange.« Allan Parsons winkte Theodor Fox zu und griff nach seiner Tasche.

»Ja, bis dann, und dir einen schönen Feierabend«, verabschiedete er sich von seinem Kollegen, der sich bedankte und mit einem heiteren Pfeifen auf den Lippen das Büro verließ.

Kurz darauf fiel die Eingangstür ins Schloss. Nun war Theodor allein im Handelshaus. Das war nicht das erste Mal, aber die abendliche Stille in den sonst so geschäftigen Räumlichkeiten war immer ein wenig seltsam. Mit dem Geschäftsführer Mr Finlay hatte Theodor abgesprochen, dass er heute länger arbeiten würde, da er ausnahmsweise später angefangen hatte. Sein Arbeitgeber hatte ihm zwei Schlüssel gegeben, sodass er nach getaner Arbeit abschließen konnte. Er strich sich über das dunkle Haar, das ihm seine Eltern, Clarence und Mabel, in die Wiege gelegt hatten. Im Licht einer Öllampe vertiefte sich der Buchhalter in die Zahlen. Nach einer Weile drehte er an dem kleinen Rädchen, damit die Flamme größer wurde, denn inzwischen hatte sich Dunkelheit über die Stadt gesenkt. Im Büro war es kühl, doch das störte ihn nicht, er trug seine Jacke und einen karierten Wollschal. Theodor sah kurz aus dem Fenster. Den einzigen Lichtschein warf eine Gaslaterne in der Nähe. Im Dunst verschwamm die Umgebung dahinter zu einem düsteren Grau.

Theodor wandte sich wieder den Papieren zu – lange, ordentliche Zahlenreihen, dazu die Bezeichnung der jeweiligen Posten. Er tunkte die Schreibfeder in das Tintenfässchen und notierte mehrere Zahlen in das schwere Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag. Das Geschäft war schon seit Generationen ein Familienbetrieb der Finlays. Sie handelten teils mit einheimischen Stoffen, teils mit solchen aus Übersee. Leinen, Musselin, Brokat und Baumwolle aus der indischen Kronkolonie oder auch feine chinesische Seide. Letztere konnten sich fast ausschließlich Leute aus der Oberschicht leisten – für Westen, Morgenmäntel, Abendkleider oder Krawatten. Aber auch Garn und Spitze sowie andere, kleinere Posten gehörten zum Geschäft. Der Handel lief schon seit Jahrzehnten sehr gut, zumindest nach dem, was er bisher darüber gehört hatte. Theodor hatte hier seine Ausbildung gemacht und war mittlerweile seit drei Jahren im Unternehmen tätig. Er kannte alle zwölf Mitarbeiter gut, auch diejenigen, mit denen er weniger zu tun hatte. Im vergangenen Jahr hatten die Finlays ihre alljährliche Feier für ihre Mitarbeiter gegeben und dazu weitere Gäste eingeladen, darunter auch seine Eltern. Das war eine gute Gelegenheit gewesen, einmal abseits der Arbeit locker mit den Kollegen ins Gespräch zu kommen. Am liebsten war ihm Parsons, der ebenfalls in der Buchhaltung arbeitete. Was den Humor betraf, waren sie auf einer Wellenlänge. Parsons hatte eine Schwäche für Witze über Buchhalter, die er sich aus Zeitschriften und Magazinen zusammensuchte. Er schnitt sie aus und leimte sie in ein kleines Büchlein. Theodor erinnerte sich noch daran, wie Parsons ihn begrüßt hatte, als er neu im Handelshaus gewesen war: »Willkommen in unserer Buchhaltung! Sie können mit mir rechnen!« Das hatte ihn zum Schmunzeln gebracht. Inzwischen hatten sie sich angefreundet und trafen sich gelegentlich nach der Arbeit auf ein Bier in einem Pub.

Dank eines kundigen Mitarbeiters aus dem Lager hatte Theodor auch gelernt, die vielen verschiedenen Stoffe auseinanderzuhalten, was es ihm letztendlich erleichterte, die einzelnen Posten in der Buchhaltung besser einzuordnen; je nach Stoffart waren die Preise unterschiedlich. Allerdings änderte sich das fortlaufend und machte die Angelegenheit knifflig. Fiel beispielsweise eine größere Baumwollernte schlecht aus, wirkte sich das ebenso auf die Preise aus wie die Schwankungen bei der Nachfrage. Zahlreiche Schneidereien, Kaufhäuser und Läden in ganz England wurden von Finlays Handelshaus beliefert. Der stetige Wandel der Mode sorgte für einen regen Bedarf an bedruckten, bestickten oder auch schlichten, einfarbigen Stoffen, für die zahlreiche Webereien sorgten. Das würde gewiss auch in Zukunft so bleiben, schätzte Theodor.

Das Kratzen seiner Schreibfeder war das einzige Geräusch, das er hören konnte. Theodor hielt kurz inne, als die Tinte auf der Feder aufgebraucht war, und gestattete sich einen Gedanken an seine Verlobte, Nellie Holbrooks. Ihr herzförmiges Gesicht mit den dunklen Augen erschien vor seinem inneren Auge und zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. Die Hochzeit war für Mai geplant und er sehnte diesen Monat herbei. Sie hatten ihre Eheschließung um ein Jahr verschieben müssen, da Nellie um ihren Vater Horatio trauerte. Theodor seufzte. Bald würden sie endlich vereint sein, wie sie es schon so lange geplant hatten.

Er wandte sich erneut den Zahlen zu und strich mit einem Finger über das Papier, um die richtige Spalte wiederzufinden. In diesem Augenblick zerriss ein lautes Scheppern im Raum nebenan die abendliche Stille. Theodor ließ abrupt die Schreibfeder fallen und sprang auf. Dabei stieß er das Tintenfässchen um, dessen Inhalt sich quer über den Tisch ergoss, das Buch aber knapp verfehlte. Theodor fluchte. War da gerade ein Fenster zu Bruch gegangen? Er hetzte in den anderen Raum, um nachzusehen.

Voller Entsetzen starrte er auf den Schreibtisch, der dort stand. Ein brennender Gegenstand lag darauf, der inmitten der Flammen kaum zu erkennen war. Mit einem Knacken fraß sich das Feuer bereits durch einen Stapel Papiere, die auf dem Tisch lagen. Verdammt! Tatsächlich war eines der Fenster zu Bruch gegangen, aber das war nebensächlich. Beißender Qualm breitete sich im Raum aus und es wurde immer heißer. Theodor hustete würgend und drehte sich hastig um die eigene Achse. Da war absolut nichts, womit er dem Feuer hätte zu Leibe rücken können, ohne sich selbst zu gefährden. Vielleicht sein langer, dicker Wintermantel – ob er damit das Feuer ersticken konnte? Theodor hastete zur Garderobe im Flur und griff nach dem Mantel. In seiner Eile schaffte er es nicht auf Anhieb, das Kleidungsstück vom Haken zu lösen, stattdessen brauchte er einen zweiten Anlauf.

Als er mit dem schweren Mantel in den brennenden Raum zurückkehrte, erkannte er seinen Irrtum: Das Feuer breitete sich viel schneller aus als gedacht! Da war auch mit dem Mantel nichts mehr zu erreichen. Panik schnürte Theodor die Kehle zu. Er bekam keine Luft mehr. Die orangeroten Flammen leckten zischend an den Möbeln und begannen einen unheilvollen Tanz quer über ein Regal hinweg. Theodor hatte noch nie sonderlich Angst vor Feuer gehabt, nicht einmal als Kind, doch solch ein Flammenmeer hatte er noch nie mit eigenen Augen gesehen. Fassungslos musterte er die immer größer werdenden Flammen und erstarrte. Der Qualm war mittlerweile so dicht, dass ihn ein weiterer Hustenanfall schüttelte. Das krampfende Ringen nach Luft, das diesem folgte, riss Theodor aus seiner Erstarrung. Er musste hier raus, die Feuerwehr rufen! Auf der Stelle, sonst war hier alles verloren …

Einer Panik nahe, rannte er nach draußen, das Poltern seiner Schritte dumpf in seinen Ohren. Zum Glück lagen die Räumlichkeiten im Erdgeschoss, sodass er nicht erst durch ein Treppenhaus hinunterlaufen musste. »Feuer!«, rief er mit gellender Stimme. Nach kurzer Überlegung präzisierte er diesen Ruf: »Feuer in Finlays Handelshaus!«

Es dauerte keine Minute, da wurden die ersten Fenster in den Häusern ringsum aufgerissen und er sah mehrere Lichter aufflammen. Bald wurde sein Ruf von anderen aufgegriffen und setzte sich fort. Vorbei war es mit der abendlichen Stille. Theodor lief weiter und schrie sich die Seele aus dem Leib, immer wieder unterbrochen von Husten, der sich krampfhaft einen Weg durch seine Kehle bahnte. »Feuer!«, hallten nun unzählige Stimmen durch die Straßen.

Ein untersetzter Mann kam aus einem Eingang in der Nähe, in Hausschuhen und mit einem karierten Morgenmantel bekleidet, wie im Schein der Straßenlaterne zu sehen war. »Ich laufe zur nächsten Station der Feuerwehr!«, rief er.

»Danke! Ich komme mit«, erwiderte Theodor.

Sein Gegenüber nickte ihm zu und gemeinsam liefen sie weiter. Der Herr war in guter Form; Theodor hatte Schwierigkeiten, mit ihm mitzuhalten, und musste um Atem ringen.

Ein Polizist in der Uniform eines Constables kam ihnen entgegen. »Wo ist das Feuer?«

Theodor nannte ihm im Vorbeilaufen die Adresse des Unternehmens.

»Sind Menschen in Gefahr?«, rief der Polizist ihm hinter­her.

»Nein, aber Handelswaren und Papiere.«

Überall um sie herum ertönten noch immer die Rufe: »Feuer! Feuer in Finlays Handelshaus!«

Hinter ihnen waren schnelle Schritte zu hören. Theodor sah über seine Schulter; der Polizist folgte ihnen. Sie mussten allerdings gar nicht die gesamte Strecke zur Feuerwehrstation zurücklegen – ganz in der Nähe erklang nun das schrille Läuten einer Glocke. Im nächsten Moment bog das Fahrzeug der Feuerwehr um die Ecke und kam ihnen entgegen. Der große Wagen wurde von vier Pferden gezogen, die wiehernd voranpreschten. Vor rund fünfzehn Jahren war die Metropolitan Fire Brigade ins Leben gerufen worden, und inzwischen war ganz London mit Feuerwehrfahrzeugen und entsprechendem Personal ausgestattet. Ein Segen in dieser schweren Stunde!

Theodor rief dem Mann auf dem Kutschbock die Adresse zu und bedankte sich bei dem Herrn im Morgenmantel.

»Alles Gute!«, rief dieser ihm zu und machte sich mit raschen Schritten, aber nicht mehr laufend, auf den Heimweg.

Der Constable wandte sich an Theodor. »Wie ist das Feuer denn zustande gekommen? Waren Sie unachtsam mit einer Kerze oder einer Öllampe?«

Theodor schüttelte den Kopf. »Es war eine Brandbombe. Ich habe gehört, wie ein Fenster zu Bruch ging, als sie geworfen wurde. Und ich habe die Scherben gesehen.« Er schilderte dem Polizisten weitere Einzelheiten dessen, was vorgefallen war.

»Ein Brandanschlag also? Würden Sie bitte mit aufs Revier kommen, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können?«

Theodor nickte dem Polizisten zu. »Natürlich, Sir. Aber ich würde gern erst sehen, ob die Feuerwehr noch etwas retten kann.«

»In Ordnung, das kann ich verstehen. Ich komme mit Ihnen.«

Wenige Minuten später standen sie vor dem Gebäude. Aus diesem drang Qualm, während die Feuerwehrleute mit mehreren Schläuchen begannen, den Brand zu löschen. Das dafür benötigte Wasser pumpten sie offenbar aus einem Brunnen in der Nähe. Theodor sah einen langen Schlauch, konnte aber in der Dunkelheit keine weiteren Einzelheiten erkennen. Er blickte zum Handelshaus hinüber. Flammen waren nicht zu sehen. Er mochte sich gar nicht ausmalen, was wohl alles zerstört worden war – wichtige Unterlagen, womöglich sogar ganze Akten. Zum Glück war der Brand in einem der Büroräume ausgebrochen und nicht im Lager, das sich auf der Rückseite des Gebäudes anschloss. Manche Stoffe brannten sehr leicht und wären gewiss schnell ein Opfer der Flammen geworden. Aber wer um Himmels willen hatte es auf das Unternehmen abgesehen?

Schritte erklangen hinter ihm – einige Leute, die sich auf die Straße gewagt hatten. Schaulustige. Das hatte ihm gerade noch gefehlt!

Dem Constable gingen wohl ähnliche Gedanken durch den Kopf, denn er drehte sich zu diesen Menschen um und straffte sich ehrfurchtgebietend. »Gehen Sie wieder nach Hause, Herrschaften!«, sagte er in einem befehlsgewohnten Tonfall. »Der Brand ist unter Kontrolle, machen Sie sich keine Sorgen.«

»Aber wie kam es denn überhaupt zu dem Brand?«, erkundigte sich ein Mann mit schütterem Haar.

»Das versuchen wir noch herauszufinden«, wiegelte der Constable ab. »Gehen Sie bitte.«

Die kleine Schar zerstreute sich allmählich. Einige Gesprächsfetzen drangen noch an Theodors Ohr.

»So eine Aufregung!«

»Und das ausgerechnet bei uns im Stadtteil!«

»Da war bestimmt jemand unachtsam mit einer Kerze.«

»Wer weiß?«

»Das muss ich unbedingt morgen meiner Schwester erzählen …«

Schließlich begaben sich die Schaulustigen wieder in ihre Häuser und nur die Löscharbeiten und das Rauschen des Wassers waren weiterhin zu hören. Für Theodor war es schwer einzuschätzen, wie viel Zeit seit dem Beginn des Brandes vergangen war. Er hatte nicht daran gedacht, auf die Uhr zu sehen.

Endlich drang nicht mehr so viel Qualm aus dem Gebäude. Das Handelshaus war jetzt in einen dichten, gelblich-grauen Dunst gehüllt, der nach kaltem Rauch stank. Was wäre geschehen, wenn Theodor den Brand nicht rechtzeitig bemerkt hätte? Oder wenn er sich nicht aus dem Gebäude hätte retten können? Wenn der Ausgang von Flammen versperrt gewesen wäre? Diese Überlegung machte ihm schlagartig die eigene Sterblichkeit bewusst. Memento mori, so hieß das entsprechende lateinische Sprichwort, fiel ihm plötzlich ein. Ein ganz zufälliger Gedanke, den er vehement abschüttelte. Latein half ihm schließlich auch nicht weiter. Was für ein Glück – er war dem Tod entkommen! Die Anspannung der letzten Minuten fiel von ihm ab und hinterließ ein fröstelndes Zittern.

Theodor schob seine Hände in die Manteltaschen, als ein Feuerwehrmann auf ihn und den Polizisten zutrat. »Wir konnten das Feuer löschen, allerdings ist einiges an Schaden zu verzeichnen. Mehrere Papiere sind außerdem vom Wasser zerstört worden, das ließ sich nicht verhindern. Und die Räumlichkeiten müssen renoviert werden.« Er wandte sich an Theodor. »Kennen Sie jemanden, der in diesem Haus arbeitet?«

»Ich arbeite selbst dort und habe heute Überstunden gemacht, als die Brandbombe durchs Fenster geworfen wurde. Kann ich denn nun abschließen?«

»Gewiss.«

Theodor hatte kurz Gelegenheit, sich die Schäden anzusehen, die von den Flammen und dem Löschwasser verursacht worden waren, doch in der Dunkelheit war der eigentliche Schaden nicht bis ins kleinste Detail erkennbar. Das einzige Bild, das im Bereich der Büroräume gehangen hatte – ein feiner Kupferstich, der das Innere einer Weberei zeigte –, war von der Wand gefallen, der Rahmen halb verkohlt und die Glasscheibe beim Aufprall zersplittert. Einige der Scherben knirschten unter Theodors Schuhen. In der Luft hing ein Geruch von Rauch und Ruß, der ihm in der Lunge kratzte. Er räusperte sich, doch das half nicht viel. Bei Tageslicht sah es hier vermutlich noch schlimmer aus. Mr Finlay würde fluchen, wenn er die Zerstörung sah. Mit einem Seufzen schloss Theodor die Eingangstür ab und trat hinaus zu dem Constable. Die Feuerwehr war bereits abgerückt, in der Ferne waren noch das Rumpeln ihres Gefährts und das Klappern der Pferdehufe zu vernehmen.

»Folgen Sie mir bitte«, sagte der Polizist. Theodor nickte und sie setzten sich in Bewegung. Das Revier war etwa einen zehnminütigen Fußmarsch entfernt. Theodor wusste, dass dies das zuständige Revier für die Gegend war, doch bisher hatten weder er, noch das Handelshaus jemals mit den Ordnungshütern zu tun gehabt. Zumindest war das so, seit Theodor dort arbeitete.

Das Revier befand sich in einem hellen Sandsteingebäude, das in der Dunkelheit grau wirkte, vielleicht aber auch eine andere Farbe hatte. Mehrere Öllampen brannten im Eingangsbereich. Der Constable führte Theodor in ein kleines Büro und setzte sich an eine Schreibmaschine.

»Ich werde Ihre Aussage zu Protokoll nehmen, Mr …«

»Fox. Theodor Fox.«

Er nannte dem Herrn auf dessen Frage hin auch seine Adresse und berichtete ein weiteres Mal, was vorgefallen war. Dabei versuchte er sich an jede noch so geringe Einzelheit zu erinnern.

»Wann genau hat sich der Vorfall ereignet?«, erkundigte sich der Polizist. »Zu welchem Zeitpunkt wurde die Brandbombe durch das Fenster geworfen?«

»Ich habe leider nicht auf die Uhrzeit geachtet«, erwiderte Theodor wahrheitsgemäß. »Ich schätze, es war kurz vor acht.«

Der Constable tippte etwas auf der Schreibmaschine, dann fragte er: »Haben Sie eine Vermutung, wer hinter diesem Brandanschlag steckt? Hat das Unternehmen oder der Inhaber irgendwelche Feinde?«

Theodor hatte zwar spontan ein, zwei Ideen, doch aus seiner Sicht stand es ihm nicht zu, darüber zu sprechen. »Fragen Sie am besten Mr Finlay persönlich, der Ihnen diesbezüglich sicherlich genauere Auskünfte erteilen kann«, erwiderte er deshalb ausweichend.

»Das werde ich selbstredend tun, oder ein Kollege von mir kümmert sich darum, aber ich würde auch gern Ihre Einschätzung zu dieser Angelegenheit hören.«

Theodor überlegte einen Augenblick lang. »Also, es gibt ein Konkurrenzunternehmen, Maynard & Sons, die haben ihren Sitz ebenfalls hier im Stadtteil. Sie versuchen ständig, uns auszubooten, zum Beispiel mit Rabattaktionen und derlei Dingen. Das geht schon ziemlich lange so. Mr Finlay gefällt das natürlich ganz und gar nicht, aber er hat meines Wissens nie etwas unternommen, um jenem Unternehmen zu schaden. Und ich kann mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen, dass man dort zu solchen Mitteln greifen würde.«

»Aha, ich verstehe.« Der Constable tippte erneut etwas. »Und darüber hinaus? Gib es sonst noch jemanden, der aus Ihrer Sicht ein Interesse daran haben könnte, dem Unternehmen zu schaden? Seien Sie bitte ganz offen. Jeder Hinweis könnte wertvoll sein, wenn wir diesen Fall näher untersuchen.«

Theodor erinnerte sich an einen Mitarbeiter, der im Unfrieden gegangen war. Er hatte Mr Finlay um eine Gehaltserhöhung gebeten, doch dieser hatte abgelehnt, weil ihm der gewünschte Betrag zu hoch erschien. Das war allerdings schon fast ein Jahr her und tat hier gewiss nichts zur Sache. Er überlegte noch eine Weile. »Nein, ansonsten fällt mir nichts ein«, erklärte er schließlich mit fester Stimme.

»Gut, wie Sie meinen. Wird Mr Finlay morgen im Geschäft sein? Ich meine, er ist nicht zufällig gerade auf einer Geschäftsreise oder aus anderen Gründen nicht in der Stadt?«

»Er wird morgen mit Sicherheit ins Handelshaus kommen. Das wird ein großer Schreck für ihn werden …« Theodor würde alles noch einmal erzählen müssen, so viel stand fest.

Der Constable sah ihn direkt an. »Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber er kann von Glück reden, dass Sie noch im Gebäude waren und die Feuerwehr alarmieren konnten. Richten Sie Mr Finlay bitte aus, dass wir ihn hier auf dem Revier erwarten, damit er ebenfalls eine Aussage macht.«

Theodor nickte. »Selbstverständlich.«

»Warum waren Sie eigentlich so spät noch allein vor Ort?«

»Ich habe heute ausnahmsweise später mit der Arbeit begonnen und deshalb mit dem Geschäftsführer vereinbart, dass ich länger arbeiten würde.«

»Sie hätten diesen Brandsatz also theoretisch auch selbst durch das Fenster werfen können …«

»Wie bitte?! Verdächtigen Sie mich etwa?« Mit einem Mal brodelte Wut in Theodors Magen. Diese Unterstellung war ungeheuerlich! »Nur weil ich zufällig vor Ort war? Das ist absurd! Ich habe keinerlei Interesse daran, meinem Arbeitgeber in irgendeiner Weise zu schaden.«

Beschwichtigend hob der Polizist eine Hand. »Immer mit der Ruhe – niemand verdächtigt Sie zurzeit. Ich gehe lediglich alle Möglichkeiten durch, so unwahrscheinlich sie auch scheinen mögen. Bleiben Sie bitte in der Stadt, Mr Fox. Für den Fall, dass wir weitere Fragen haben.«

Theodors Wut flaute angesichts dieser Erklärung so schnell wieder ab, wie sie gekommen war. Er nickte seinem Gegenüber zu. »Selbstverständlich.«

»Ach, übrigens, was mir gerade noch einfällt: Haben Sie jemanden weglaufen sehen?«

Theodor schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Ich war in einem anderen Raum, als der Brandsatz durchs Fenster geworfen wurde.«

»Ah, ich verstehe. Nun gut. Ich danke Ihnen für Ihre Aussage, Mr Fox. Sie können jetzt gehen. Morgen sprechen wir dann mit Mr Finlay.«

Wie betäubt trat Theodor nach draußen. Das nervöse Zittern hatte mittlerweile nachgelassen, aber eine Welle von Übelkeit kroch durch seinen Magen. Das musste von all der Aufregung kommen. Er hätte jetzt gut einen Whisky oder etwas anderes Hochprozentiges vertragen. Zu Hause würde er sich ein Glas genehmigen, auf den Schreck. Selten hatte er es so eilig gehabt, seine eigenen vier Wände zu erreichen. Die Gaslaternen malten schwache Kreise aus Licht auf die Straßen. Nach den aufwühlenden Erlebnissen dieses Abends würde ihm ein Spaziergang in der kühlen Nachtluft guttun. Tief sog er die kalte Luft ein. Das half tatsächlich gegen die Übelkeit. Ein hochgewachsener Mann eilte an ihm vorbei und auf der anderen Straßenseite lief ein schwarzer Hund.

Vor seinem geistigen Auge sah er wieder das Feuer, die brennenden Papiere … Wie gut, dass die Feuerwehr so schnell da gewesen war!

Für den folgenden Abend war ein Besuch bei seinen Eltern vereinbart. Einerseits wollte er sie nicht beunruhigen, andererseits hatte er das Gefühl, seinem Herzen Luft machen zu müssen. Theodor fühlte sich hin- und hergerissen. Sollte er ihnen von dem Brandanschlag erzählen?

Kapitel 2 – Mabel

Dienstag, 2. März 1880

Der Abend war kühl und regnerisch, wie so oft im Frühjahr. Kleine Regentropfen perlten an den Fensterscheiben ab, sie glänzten im Schein der Kerzen, die Mabel auf dem Fensterbrett entzündet hatte. Ein würzig-kräftiger Duft zog durch die Wohnung – feine Aromen, die das Essen ankündigten. Holz knackte im Kamin, brachte das Feuer zum Zischen und sorgte für eine angenehme Wärme. Gemeinsam mit ihrer Bediensteten Lindsey hatte sie für die Gäste gekocht: ihren Sohn Theodor und seine Verlobte Nellie Holbrooks.

»Bitte decken Sie den Tisch«, bat Mabel die junge Frau, die sich mit einem höflichen Lächeln an die Arbeit machte.

Als Theodor rund eine Viertelstunde später als Erster eintraf, erschrak Mabel angesichts seines Aussehens. Für gewöhnlich hatte er rosige Haut und wache, muntere Augen, doch unter Letzteren prangten an diesem Abend dunkle Ringe und sein Teint war aschfahl.

Clarence blickte ihn ernst an. »Guten Abend, Theodor. Ist etwas passiert?«

Theodor machte eine wegwerfende Handbewegung. Mit einer fahrigen Geste strich er sich über das glatt gekämmte Haar und zerzauste es damit. »Ja, schon. Aber lasst es mich bitte nachher erzählen, wenn Nellie da ist und wir beim Essen sitzen.«

Mabel musterte ihn nachdenklich. Während der letzten Jahre hatte sie ihn nie so übernächtigt gesehen. Er hielt sich mit dem Trinken zurück und zog am Wochenende nicht um die Häuser, wie es andere Menschen mit Anfang oder Mitte zwanzig gern taten. Was war nur vorgefallen? Sie zwang sich, nicht nachzuhaken, sondern übte sich in Geduld.

Sie mussten nicht lange auf Nellie warten. Etwa zehn Minuten später klopfte sie an die Tür und Lindsey bat die junge Frau herein. Theodors Verlobte trug noch immer schwarze Trauerkleidung ohne viel Zierrat. Bald würde sie darauf verzichten können, denn der Tod ihres Vaters war fast ein Jahr her und damit war das Trauerjahr für sie beendet. Als sie voreinander standen, zog Theodor seine Verlobte in eine feste Umarmung.

»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Ist alles in Ordnung?«, fragte sie ihn.

»Kommt, meine Lieben«, sagte Mabel. »Setzen wir uns, dann kann Theodor erzählen, was geschehen ist. Möchtet ihr ein Glas Wein?«

Nellie, Clarence und Theodor bejahten dies und sie schenkte ihnen allen Rotwein aus der Glaskaraffe ein.

Theodor zerrte an seinem Kragen, als ob dieser ihm plötzlich zu eng sei. Er räusperte sich umständlich, wie es sonst gar nicht seine Art war. »Gestern Abend gab es einen Brand im Handelshaus. Ich war als Einziger noch dort.« Als alle ihn überrascht ansahen, begann er damit, die Einzelheiten zu berichten.

Mabel lauschte seiner Schilderung der Ereignisse und auch Clarence musterte Theodor aufmerksam. Er endete mit der Beschreibung, wie er im Polizeirevier eine Aussage gemacht hatte.

Nellie strich sich, während sie ihm zuhörte, mit nervöser Miene eine rotbraune Strähne hinters Ohr. Als er seine Erzählung beendet hatte, drückte sie seine Hand. »Gott sei Dank ist dir nichts passiert!«, rief sie.

Er nickte und stieß hörbar die Luft aus. »Oh ja, ich bin heilfroh darüber. Aber die Schäden im Geschäft sind so stark, dass Mr Finlay uns Mitarbeitern heute mitgeteilt hat, dass er es bis mindestens kommenden Montag schließen wird, womöglich sogar noch länger. Es geht nicht anders. Während dieser Zeit werden die Räume, so gut es geht, renoviert. Und natürlich wird die kaputte Fensterscheibe ersetzt. Die Polizei war noch einmal da und Mr Finlay hat eine Aussage gemacht. Sie haben auch alle anderen Mitarbeiter verhört, die heute da waren. Sogar mir haben sie noch einige Fragen gestellt, aber ich habe ihnen gesagt, dass ich meine Aussage bereits auf dem Revier gemacht habe.«

Clarence wandte sich an seinen Sohn. »Kannst du dir denn einen Reim darauf machen, wer dem Handelsunternehmen schaden will? Du sagtest eben, es gäbe ein Konkurrenzunternehmen im selben Stadtteil?«

Theodor strich sich über das dunkle Haar und zögerte. »Ja, das ist richtig«, sagte er gedehnt. »Sie handeln auch schon seit Jahrzehnten mit Textilien, das Unternehmen heißt Maynard & Sons. Mr Finlay liegt mit ihnen gewissermaßen im Clinch, weil sie ständig versuchen, uns Kundschaft abspenstig zu machen. Aber einen Brandanschlag traue ich diesen Leuten ehrlich gesagt nicht zu. Allerdings, das muss ich einräumen, kenne ich dort niemanden näher, also wer weiß, was sie möglicherweise im Schilde führen?« Er zuckte mit den Schultern. »Nun ja, die Polizisten, die heute bei uns waren, sagten, dass sie auch dort die Mitarbeiter und die Geschäftsleitung verhören wollen.«

Mabel trank einen Schluck Wein. »Und wenn es jemand von Finlays eigenen Mitarbeitern war?«

Clarence schüttelte den Kopf. »Das ergibt wenig Sinn, oder? Ich meine, wer um alles in der Welt würde denn den Ast absägen, auf dem er sitzt?«

Theodor griff nach seinem Glas und drehte es nachdenklich in der Hand. »Nun, vor ungefähr einem Jahr ist ein Mitarbeiter im Unfrieden gegangen. Mr Alridge hat unseren Geschäftsführer um eine Gehaltserhöhung gebeten, aber sie sind sich in dieser Angelegenheit nicht einig geworden. Das hat Mr Finlay uns anderen gegenüber erwähnt, als jener Mitarbeiter kurz darauf gekündigt hat.«

»Aber wenn das schon über ein Jahr her ist … dann ist es wohl eher unwahrscheinlich, dass sich dieser Mr Alridge mit einem Brandanschlag rächen wollte, nicht wahr?«, gab Nellie zu bedenken.

»Ja, das halte ich auch für wenig plausibel. Hast du denn danach noch mal etwas von diesem Herrn gehört?«, wollte Mabel wissen.

Theodor trank einen Schluck, ehe er antwortete. Er stellte sein Glas ab. »Nein. Ich habe auch keinen meiner Kollegen mehr von ihm sprechen hören. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was aus ihm geworden ist. Vermutlich hat er woanders eine Anstellung gefunden.«

»Vielleicht sollte die Polizei auch einmal mit ihm sprechen«, warf Clarence ein.

Theodor nickte. »Ich bin mir sicher, sie werden alle Leute verhören, die in irgendeiner Weise verdächtig sind.«

»Gibt es nicht einen Teilhaber im Unternehmen?«, erkundigte sich Nellie.

»Ja, Adrian Peterson. Er ist seit zwei Jahren Teilhaber des Geschäfts. Aber er ist zurzeit gar nicht in London, sondern auf einer Urlaubsreise in Brighton.«

Nellie schnitt eine Kartoffel entzwei. »Ah, ich verstehe. Das wird sicherlich ein Schreck für ihn sein, wenn er von den Ereignissen erfährt.«

»Das sagte mein Kollege Mr Isham heute auch.«

»Habt ihr denn nun alle Urlaub? Wegen der Renovierung?«, fragte Mabel.

»Ja, teilweise. Aber ich habe einige der Bücher, die nicht verbrannt sind, mitnehmen dürfen und kann mich zu Hause um die Buchhaltung kümmern. Dann bleibt nicht so viel Arbeit liegen. Und die Leute, die bei uns im Lager tätig sind, können wie gewohnt weiterarbeiten. Zum Glück wurden die Lagerräume nicht durch das Feuer oder die Löscharbeiten beeinträchtigt.«

»Da hat Mr Finlay ja großes Glück gehabt, dass du ausgerechnet an diesem Abend länger gearbeitet hast«, fiel Mabel ein.

Theodor gab ein Seufzen von sich. »In der Tat. Nicht auszudenken, wenn keiner von uns da gewesen wäre! Ich meine, sicherlich hätten die Nachbarn in der Umgebung irgendwann das Feuer bemerkt. Aber ob dann noch etwas von der Inneneinrichtung übrig geblieben wäre – wer weiß?« Er stocherte mit der Gabel im gedünsteten Gemüse herum, machte aber keine Anstalten, einen Bissen zu sich zu nehmen. Stattdessen sprach er weiter. »Wir haben gemeinsam die Schäden gesichtet. Einige wichtige Papiere sind verbrannt, aber einen Teil davon kann Mr Finlay erneut bei unseren Handelspartnern anfordern, die bekommen wir dann sicherlich ohne Probleme als Brief zugestellt. Allerdings sind auch Papiere verbrannt, deren Inhalt wir nicht näher kennen, die waren noch unsortiert. Mr Isham wollte sie in den kommenden Tagen durchgehen. Sie lagen als Stapel auf dem Tisch, der wohl Feuer gefangen hat. Drei Aktenordner in einem Regal sind ebenfalls vollständig verbrannt und das Regal selbst wird ersetzt werden müssen, weil es starke Beschädigungen aufweist.«

»Oh. Wurde denn noch mehr zerstört?«, fragte Nellie mit gerunzelter Stirn.

»Die Wände und die Tür in dem betroffenen Raum müssen neu gestrichen werden, sie sind ziemlich verkohlt. Und wir brauchen neue Möbel, da ist nichts mehr zu retten. Das Feuer ist bis in den Flur gedrungen, der Teppich dort ist hinüber und der Boden verkohlt. Die Handwerker werden wohl neue Dielen einsetzen. Das alles wird mehrere Tage dauern.« Theodor nahm einen Bissen und kaute einen Moment lang schweigend. »Ach, da fällt mir ein – die Polizei erwähnte heute, dass Nachbarn zum Zeitpunkt des Brandanschlags jemanden vom Unternehmen haben weglaufen sehen.«

»Ach, das ist ja interessant!«, rief Mabel. »Konnten sie die Person denn beschreiben?«

»Leider nicht genau. Es war ja dunkel und im Schein der Gaslaternen war offenbar auch nicht viel zu erkennen. Sie gehen davon aus, dass es ein Mann war, wegen der Kleidung. Aber sein Gesicht wurde angeblich von einem recht großen Schlapphut verborgen. Nun ja, immerhin bin ich damit weniger verdächtig.«

Mabel sah ihn verwirrt an. »Was?! Sie haben dich verdächtigt? Das ist ja … Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.«

Theodor nickte. »Ich war der Einzige, der sich in den Räumlichkeiten des Unternehmens befand. Theoretisch hätte ich kurz rausgehen und dieses Brandgeschoss durchs Fenster hineinwerfen können.«

Clarence strich sich über den Bart. »Aber warum hättest du die Feuerwehr gerufen, wenn du das Geschäft in Schutt und Asche hättest legen wollen?«

Theodor zuckte mit den Schultern. »Eben. Das sagte der Detective Inspector auch. Aber da niemand diesen Verdächtigen näher beschreiben konnte, wird es schwierig werden, mehr über ihn herauszufinden. Himmel, ich möchte nicht in Mr Finlays Haut stecken! Der Arme war vorhin völlig durch den Wind.«

Nellie griff nach Theodors Hand und drückte sie. »Das ist mehr als verständlich. Ich bin sehr froh, mein Liebster, dass dir nichts passiert ist. Die Situation scheint ja nicht ganz ungefährlich gewesen zu sein.«

Theodor erwiderte den Händedruck mit einem warmen Lächeln, ehe er sich an Clarence wandte. »Vater, darf ich dich um einen Gefallen bitten?«

»Was gibt es denn?«

»Einige der Bücher, die ich mit nach Hause genommen habe, sind stellenweise verbrannt. Ich könnte ein zweites Paar Augen gebrauchen, um sie durchzugehen.«

»Wie wäre es denn, wenn ich morgen nach der Arbeit zu dir komme und wir gemeinsam einen Blick darauf werfen?«

Theodor lächelte und wirkte nun nicht mehr ganz so blass. »Noch besser würde mir Donnerstagabend passen. Das wäre ganz famos.«

Clarence nickte. »In Ordnung. Mabel und ich haben am Donnerstag nichts weiter vor, nicht wahr, Liebes?«

»Das stimmt. Apropos Vorhaben: Lasst uns über euren großen Tag sprechen, ja?«

Mabel und Clarence halfen Theodor und ihrer zukünftigen Schwiegertochter bei den Vorbereitungen zu ihrer Hochzeit. »Ich habe einen Sitzplan für das Essen gezeichnet, da könnten wir schon einmal die Namen der Gäste eintragen.«

»Sehr gut. Aber ich habe noch gar nicht alle Rückmeldungen erhalten«, erwiderte Nellie. »Sollten wir die Sitzordnung nicht lieber kurz vorher durchgehen?«

»Wie du magst«, erwiderte Theodor.

Den Rest des Abends besprachen sie die Hochzeitsfeier. All die kleinen Einzelheiten, die bedacht werden wollten! Mabel fühlte sich zurückversetzt in die Zeit, als sie und Clarence geheiratet hatten. Das war ein ganz besonderer Tag für sie beide gewesen und nichts anderes wünschte sie ihrem Sohn.

»Wir wollten ja zusammen einige Konditoreien in Chelsea aufsuchen, wegen der Hochzeitstorte. Wie passt es euch morgen Nachmittag?«

»Ich habe für den Tag keine Pläne«, erwiderte Nellie. »Von mir aus gern. Wie sieht es bei dir aus, Theodor?«

»Nun, da ich morgen nicht arbeiten kann, passt es mir gut. Wollen wir uns um vierzehn Uhr treffen?«

Mabel nickte.

»Sehr gern. Ich freue mich darauf«, sagte Nellie fröhlich. »Ach, ich esse so gern Torte! Am liebsten mag ich den Victoria-Biskuit-Kuchen.«

Mabel lächelte. Das war ein sehr populärer Kuchen, der nach der Königin benannt war. Es hieß, dass sie ihn gern zur Tea Time aß. Ob das nur ein Gerücht war, das eine findige Konditorei in die Welt gesetzt hatte, um ihre Spezialität anzupreisen? Mabel war es gleich – Hauptsache, der Kuchen schmeckte. Sie hatte sogar ein entsprechendes Rezept in ihrer Sammlung: zwei Biskuitböden, die mit Marmelade und Sahne gefüllt wurden, und auf dem oberen Boden gab es als Garnierung ein wenig Puderzucker.

Nellie fuhr fort: »Meint ihr, die Konditoren lassen uns von ihren Torten probieren, damit uns die Entscheidung leichter fällt?«

Mabel schmunzelte angesichts Nellies Enthusiasmus. »Ja, vielleicht.«

Das Feuer im Kamin war längst heruntergebrannt, als Theodor sich erhob, um aufzubrechen. Nellie schloss sich ihm an. »Wir könnten uns eine Kutsche teilen«, schlug sie vor.

»Das wollte ich auch gerade anbieten«, erwiderte er.

»Ich würde ja zu gern wissen, ob die Polizei in den nächsten Tagen noch etwas über diesen Brandanschlag herausfindet«, sagte Mabel, als sie sich voneinander verabschiedeten.

Theodor lächelte. »Wenn ich etwas Neues höre, sage ich euch gern Bescheid.«

»Danke, mein Lieber«, erwiderte sie.

Er umarmte sie zum Abschied und verließ gemeinsam mit Nellie die Wohnung.

Clarence und Mabel saßen schließlich noch eine Weile im Wohnzimmer. Lindsey hatte sich bereits zurückgezogen. Die Kerzen auf dem Fensterbrett flackerten. Clarence hatte noch ein wenig Holz nachgelegt und das Kaminfeuer wieder in Gang gebracht. Jetzt studierte er eines seiner Sachbücher über Fotografie. Mabel widmete sich ihrem Strickzeug. Wie jedes Jahr fertigte sie einiges an Kinderkleidung für den Wohltätigkeitsbasar ihrer Kirchengemeinde.

Sie konnte sich nicht helfen, ihre Gedanken kreisten noch immer um den Brandanschlag. Ihr kam eine Idee. »Wie wäre es, wenn wir Mr und Mrs Finlay zum Tee einladen?« Sie blickte von ihrem Strickzeug auf. »Das haben wir nicht mehr gemacht, seit Theodor damals seine Arbeit bei Mr Finlay aufgenommen hat. Wie lange ist das nun her? Drei Jahre?«

Clarence nickte bedächtig. »Stimmt, ich erinnere mich.« Er warf Mabel einen prüfenden Blick zu. »Ich wette, du möchtest Mr Finlay allerhand Fragen stellen, ist es nicht so? Wegen des Brandanschlags?«

Mabel lächelte, löste eine Hand vom Strickzeug und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nun, ich gebe zu, ich bin neugierig, was er zu alldem sagt, du nicht auch?«

»Ja, schon«, brummte Clarence. »Doch ich möchte mich nicht aufdrängen.«

»Vielleicht ist eine Einladung zum Tee für die Finlays eine willkommene Abwechslung«, entgegnete sie.

Clarence schwieg für einen Moment, er schien zu überlegen. »Das mag sein. Nun, wir werden es sehen. Möglicherweise sagen sie ja ab.«

Mabel dagegen war frohen Mutes. Sie hatte die Finlays als gesellige Leute in Erinnerung, also war es wohl eher unwahrscheinlich, dass sie ablehnen würden. Es sei denn, die Aufregung um das Handelshaus ließ ihnen keine Zeit. Sie legte ihr Strickzeug beiseite. »Wie dem auch sei, ich werde ihnen gleich eine Nachricht schreiben, die kann ich dann morgen losschicken.«

»Mach das, Liebes.« Während Clarence sich wieder seinem Buch widmete, setzte sich Mabel an den Schreibtisch und legte Feder, Tinte und Papier bereit. Anschließend nahm sie das alte, schon etwas abgegriffene Adressbuch, das sich im Regal befand, und forschte nach dem Eintrag für das Ehepaar Finlay. Hoffentlich würden sie die Einladung annehmen.

Mittwoch, 3. März 1880