Hexen in Hamburg: Verflucht - Amalia Zeichnerin - E-Book

Hexen in Hamburg: Verflucht E-Book

Amalia Zeichnerin

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Beschreibung

Hexen gibt es wirklich und sie leben mitten unter uns ... Hexen in Hamburg: Verflucht Henny lebt polyamor und betreibt einen Hexenladen in Hamburg. Bei einem von ihr organisierten Stammtisch für Hexen und Heid*innen taucht ein völkischer Neonazi auf, der für einen Fluch und jede Menge Ärger sorgt. Gemeinsam mit fünf anderen Hexen vom Stammtisch geht Henny gegen ihn vor, doch er scheint unauffindbar zu sein. Werden sie den Fluch lösen und dem Neonazi und Seinesgleichen das Handwerk legen können? Die Buchreihe »Hexen in Hamburg« erzählt von modernen Hexen, in einer Mischung aus Urban Fantasy, Cosy Mystery und magischem Realismus. Jeder Band dieser Reihe ist in sich abgeschlossen, und unabhängig von den anderen lesbar, jeweils mit einer eigenen Hauptfigur. Die Bände sind durch den Schauplatz Hamburg und die sechs verschiedenen Hexen verbunden, die in allen Bänden eine Rolle spielen und sich miteinander anfreunden.

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Table of Contents

Titelei

Klappentext und Buchreihenbeschreibung

Inhaltshinweise und Inhaltswarnungen

Playlists zum Roman

Illustration "Odin"

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Nachwort

Danksagung

The Witches of Portland

Impressum

Hexen in Hamburg

Verflucht

 

Amalia Zeichnerin

Hexen gibt es wirklich und sie leben mitten unter uns ...

 

Hexen in Hamburg: Verflucht

Henny lebt polyamor und betreibt einen Hexenladen in Hamburg. Bei einem von ihr organisierten Stammtisch für Hexen und Heid*innen taucht ein völkischer Neonazi auf, der für einen Fluch und jede Menge Ärger sorgt. Gemeinsam mit fünf anderen Hexen vom Stammtisch geht Henny gegen ihn vor, doch er scheint unauffindbar zu sein. Werden sie den Fluch lösen und dem Neonazi und Seinesgleichen das Handwerk legen können?

 

Die Buchreihe »Hexen in Hamburg« erzählt von modernen Hexen, in einer Mischung aus Urban Fantasy, Cosy Mystery und magischem Realismus. Jeder Band dieser Reihe ist in sich abgeschlossen, und unabhängig von den anderen lesbar, jeweils mit einer eigenen Hauptfigur. Die Bände sind durch den Schauplatz Hamburg und die sechs verschiedenen Hexen verbunden, die in allen Bänden eine Rolle spielen und sich miteinander anfreunden.

 

 

 

Inhaltshinweise

Magie, Hexenkunst, modernes Heidentum/Paganismus, Polyamorie, queere Liebe (als Nebenhandlung), bisexuelle Protagonistin, mehrere queere Nebenfiguren, keine expliziten Sexszenen, Familie und Found Family, Freundschaft

 

Inhaltswarnungen

Rechtsextremismus, Volksverhetzung (in einem Magazin), Brandgefahr, belastende psychische Erkrankung einer Nebenfigur (wird mehrmals erwähnt), Sexismus (wenig)Bodyshaming (wenig)

 

Playlists zum Roman

 

Eine Playlist von mir mit Hexen-Ambiencevideos gibt es hier auf YouTube:

 

https://bit.ly/hexen_ambience

 

Eine Playlist mit paganer Musik zur Wintersonnenwende (Winter Solstice):

 

https://bit.ly/paganplaylist_wintersolstice

 

 

 

Kapitel 1

 

Freitag, 3. November

 

Ein kühler Wind strich durch den Laden, als die Tür geöffnet wurde. Er brachte das Windspiel aus Muscheln und Federn am Eingang zum Klingeln, das ich mit meiner Tochter gestaltet hatte. Ich sah auf und lächelte der Frau, die gerade hereingekommen war, freundlich entgegen. Sie nickte mir zu, erwiderte mein Lächeln und trat an eines der Regale heran.

»Kommst du morgen Abend auch zum Hexenstammtisch?«, fragte ich meine Mitarbeiterin Dani, die ihr rotbraunes, lockiges Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden hatte. Im Laden war es gerade ruhig, aber zur Feierabendzeit hin, die bald anbrach, rechnete ich noch mit einiger Kundschaft.

Dani, die gerade damit beschäftigt war, mehrere neue Bücher in eines der Regale einzusortieren, drehte sich zu mir um. Ihre grünen Augen glänzten. »Ja, das hab ich eingeplant, Henny.«

Wie schön! Ich nickte ihr zu. »Das freut mich.«

Dani arbeitete als Künstlerin und Illustratorin, außerdem in Teilzeit hier im Laden, meistens auch samstags. Sie war mir eine große Hilfe, die ich nicht missen wollte.

»Stammtische sind echt eine Herausforderung für mich, wegen meiner sozialen Ängste«, erklärte sie nun. »Aber ich habe viel in meiner Verhaltenstherapie gelernt, das hilft mir sehr. Meine Therapeutin hat mir auch geraten, dass ich regelmäßige soziale Termine mit einplanen sollte, wenn ich die Zeit habe.«

»Prima, das finde ich gut.« Ich schenkte ihr ein Lächeln.

Dani hatte mir schon zu Beginn ihrer Tätigkeit erzählt, dass sie seit Jahren soziale Ängste hätte und sich oft Sorgen mache, mehr als eigentlich nötig. Die Arbeit im Geschäft helfe ihr aber, sich mit diesen Ängsten immer wieder zu konfrontieren und daran zu arbeiten. Und ihre Therapie war offenbar ebenfalls hilfreich.

Mein Geschäft Midgard hatte ich vor mittlerweile zwei Jahren in Altona eröffnet. Das Gebäude stand in einer der Seitenstraßen hinter der Ottenser Hauptstraße, in der sich das Einkaufszentrum Mercado befand. In den Straßen ringsum gab es viele kleinere Geschäfte, zum Beispiel für Dekoartikel und Boutiquen, eine Eisdiele, Restaurants und Cafés. Das sorgte auch bei uns dankenswerterweise für einiges an Laufkundschaft. Eine Erbschaft und ein Kredit hatten mir vor fast vier Jahren das nötige Startkapital für den Laden geliefert. Vorher hatte ich im Einzelhandel gearbeitet und mich fortgebildet, um später ein eigenes Geschäft eröffnen zu können.

Ich strich mir eine blonde, schon teils graue Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich pfiff auf die Ratschläge, Frauen sollten mit über vierzig kein langes Haar mehr tragen. Ich mochte langes Haar, auch wegen der verschiedenen Möglichkeiten, es zu frisieren. Das würde ich auf gar keinen Fall aufgeben.

Unsere Kundin war gegangen und nun waren wir einen Moment lang allein im Laden. Ich gönnte mir einen stolzen Rundblick durch den Raum, der in einem warmen Violett gestrichen war. Einige ausgewählte Kunstwerke zierten die Wände, sie bildeten verschiedene pagane Gottheiten ab. Ich hatte mich für einige von denen entschieden, die bei Hexen nach meiner Erfahrung besonders populär waren: Freya und Hekate. Die Morrigan und Cernunnos. Die keltische Brigid und die altägyptische Isis. Dazwischen hingen vier Banner aus bemaltem Stoff, die Dani gestaltet hatte; sie zeigten die vier Elemente mit den passenden Grundfarben. Weil es der Raum hergab, hingen sie auch in den dazu gehörigen Himmelsrichtungen: kräftig rötlich-orangefarbenes Feuer im Süden, das zarte Gelb der Luft im Osten, waldgrün die Erde im Norden, tiefblaues Wasser im Westen. Die Farben leuchteten wunderbar auf den Seidentüchern.

Ich sah zum Schaufenster hinüber. Dort zeigten wir einen Querschnitt durch unser Warenangebot: Räucherwerk und Kristalle. Bücher über Paganismus beziehungsweise Heidentum, Hexenkunst, Druidentum, Schamanismus und einzelne ausgewählte Themen, darunter Meditation. Daneben einige ätherische Öle und Ölmischungen für den rituellen Gebrauch. Gegenstände, die in der Hexenkunst beliebt waren, darunter ein kleiner Kessel, dekorativ gestaltete Kerzenhalter und Kelche. Draußen hing neben dem Eingang ein bemaltes Schild aus gebranntem Ton mit folgender Aufschrift:

 

Willkommen im Midgard,

wo Träume verzaubern,

Gottheiten und Geister zu Gast sind

und die Magie leise nach dir ruft …

 

Ich hatte es bei einer Freundin in Auftrag gegeben, die nebenberuflich als Töpferin arbeitete und oft auf Kunsthandwerksmärkten ausstellte. Am Schaufenster hing wie jeden Monat ein großes Plakat, das unsere Veranstaltungen bewarb – Vorträge und Workshops, die in einem der Hinterräume stattfanden. Dort war genug Platz für dreizehn Personen. Ich besaß eine entsprechende Anzahl an bequemen Sitzkissen und Klappstühlen. Ich bestritt unser Programm nicht allein, sondern lud immer mal wieder Leute ein, die unsere Räumlichkeiten nutzen konnten. Bald würde »Vera, die wandernde Wahrsagerin«, zu uns kommen. Sie hatte im Midgard schon öfter Workshops gehalten und Weissagungen gemacht. Ich freute mich schon darauf, sie wiederzusehen.

Gelegentlich verirrten sich Rollenspielende in den Laden, die Dani oder mich dann nach »W10«-Würfeln oder Rollenspielbüchern fragten. Das hatte mich zunächst sehr irritiert, bis mir einer dieser Leute erklärte, es gäbe ein deutsches Pen & Paper Rollenspiel mit dem Namen »Midgard«. Ich hatte schon überlegt, ein weiteres Schild anzubringen: »Wir sind kein Rollenspiel-Geschäft«, hatte dann aber doch darauf verzichtet, weil diese Verwechslung nicht so häufig passierte.

Vor kurzem hatten Dani und ich Inventur gemacht und dafür jede Menge Packungen Räucherstäbchen, Kristalle, Kerzen, Orakelkarten und noch mehr Waren gezählt. Es war eine nervige Beschäftigung, aber wenn ich den Überblick über mein Geschäft behalten wollte, musste es sein.

Ich beschäftigte mich schon seit vielen Jahren mit Hexenkunst und nannte mich auch gern Hagazussa – eine Zaunreiterin, die mit einem metaphorischen Bein in der gewöhnlichen Alltagswelt stand, mit dem anderen in nicht-alltäglichen spirituellen Ebenen.

Eine Frau in einem bunten gewebten Mantel betrat den Laden und das Windspiel klirrte leise. Ich schätzte sie auf etwa Mitte Vierzig, also mein Alter. »Moin«, grüßte sie.

Ich begrüßte sie ebenso und legte einige Flyer auf den Kassentisch, die eine Freundin mir gebracht hatte.

»Haben Sie auch Bücher über Naturheilkunde?«, erkundigte sich die Dame.

»Meinen Sie Heilpflanzen?«, fragte ich. Hoffentlich suchte sie keine Werke über Homöopathie oder andere nicht evidenzbasierte alternative Heilmethoden, denn so etwas führten wir nicht. In Teilen der esoterisch-spirituellen Community wurde die evidenzbasierte Medizin rundheraus abgelehnt und stattdessen die Alternativheilkunde hochgehalten. Das fand ich gefährlich. In meinen Augen konnten alternative Heilmethoden bestenfalls ergänzend angewendet werden. Abgesehen von Heilpflanzen, die gut als Hausmittel bei Bagatellerkrankungen eingesetzt werden konnten, kannte ich mich mit der Materie nicht näher aus, weil ich auf die evidenzbasierte Medizin setzte. »Wir haben einige Bücher über Heilpflanzen, dort drüben.« Ich wies auf das entsprechende Regal.

Sie lächelte höflich. »Danke, ich schaue sie mir mal an.«

Sie suchte sich eines der Heilpflanzenbücher aus, außerdem einen geschliffenen Bergkristall und ein Gläschen Räucherwerk.

Kurz darauf kam eine junge Frau in den Laden, vielleicht Mitte zwanzig. Sie trug einen rostfarbenen Wintermantel und eine dazu passende Mütze. Unsicher sah sie sich um. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich sie.

»Ja, also … ich suche ein Weihnachtsgeschenk für eine Freundin. Ein Buch.«

»Welches Thema soll es denn sein? Oder suchen Sie ein bestimmtes Buch?«

Sie schüttelte den Kopf. »Kein bestimmtes. Sie hat angefangen, sich für Hexenkunst zu interessieren. Können Sie mir ein Buch für den Einstieg empfehlen?«

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen gern einige.«

Ich ging zu dem Regal mit den Hexenbüchern hinüber und zog mehrere heraus, darunter auch einige der bekannten Hexe Claire.

Sie deutete auf eines davon. »Nein, das da hat sie schon.«

Wir schauten die Bücher gemeinsam durch und ich erzählte ein wenig über jene, die ich selbst gelesen hatte.

Nach einiger Zeit entschied sie sich für »Rebel Witch – Befreie die Hexe in dir: So entwickelst du deine ganz eigene magische Kraft« von Kelly-Ann Maddox. Die junge Frau erklärte: »Ich denke, meine Freundin wird sich über das Buch freuen. Ich glaube, sie hat Kelly-Ann mal erwähnt – diese Autorin hat viele Videos auf YouTube.«

»Wunderbar«, erwiderte ich. »Möchten Sie sich noch weiter umschauen?«

»Ähm … haben Sie Räucherstäbchen?«

Ich deutete in die entsprechende Regalabteilung. »Ja, dort drüben.«

Zehn Minuten später verließ die junge Frau mit einem fröhlichen Lächeln das Geschäft. Sie hatte auch eine unserer Visitenkarten mitgenommen. Vielleicht wollte sie uns ihrer Freundin weiterempfehlen? Wie so viele andere Geschäfte, lebte auch meines von Mund-zu-Mund-Propaganda, daher war ich über jede Weiterempfehlung froh. Nach ihr kam noch ein weiterer Schwung Kundschaft ins Geschäft, sodass Dani und ich alle Hände voll zu tun hatten. Zwei Leute erkannte ich wieder, sie waren schon öfter hier gewesen. Ich begrüßte sie herzlich und legte ihren Einkäufen eine kleine Probierpackung Räucherwerk bei, das ich selbst aus Kräutern und Harzen hergestellt hatte. Ich lud sie auch zum Stammtisch ein, aber beide sagten mir, dass sie am Samstag bereits verplant seien.

»Dann vielleicht ein anderes Mal?«, schlug ich vor. Ich war gespannt, wer an diesem Samstag dort auftauchen würde …

 

Später schloss ich den Laden zufrieden ab, nachdem wir gemeinsam noch ein wenig aufgeräumt und den Boden gewischt hatten. Dani verabschiedete sich mit heiterer Miene von mir, hob eine Hand zum Gruß. »Bis morgen dann, schönen Feierabend.«

Ich nickte ihr zu. »Danke, dir auch.«

Ich konnte mit dem Fahrrad heimfahren und die Bewegung tat mir richtig gut. Zwar war es kühl und regnerisch, aber meine gepolsterte Winterjacke war schön warm und wasserabweisend. Ich kam in den Feierabendverkehr, aber das kannte ich schon. Bei dem ungemütlichen Wetter hatten es die meisten Leute sicherlich eilig, nach Hause zu kommen.

Frank, unsere Tochter Liv und ich wohnten in einem Haus südlich von Altona, in Groß-Flottbek. Auch ein kleiner Garten war dabei, das war ein echter Segen. Ich hatte dort verschiedene Kräuter und Tomaten angepflanzt, und ein einzelner Apfelbaum sorgte im Herbst für ein paar Äpfel. Eine Buchsbaumhecke umschloss den Garten.

Ich stellte das Fahrrad in unsere Garage, durchquerte den vorderen Teil des Gartens und schloss die Haustür auf. Aus der Küche drangen verlockende Gerüche. Wunderbar, Frank und Liv hatten gekocht, wie abgesprochen. Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Ob Insa auch schon da war?

Ich rief aus dem Flur heraus: »Moin, ich bin zu Hause.«

Insa kam aus der Küche, das kurze, dunkelbraune Haar sah leicht zerzaust aus. Sie hatte haselnussfarbene Augen und ein wenig Lidschatten in einem Erdton aufgelegt, der gut dazu passte. »Hallo, meine Liebe.« Meine Freundin umarmte mich, und wir küssten uns.

Mein Mann steckte den Kopf zur Küchentür hinaus. An diesem Abend trug er einen graumelierten Strickpullover. Sein kurzes hellbraunes Haar zeigte an den Schläfen schon etwas Weiß. Deutliche Lachfältchen waren an seinen Augen zu sehen. Ein warmes Gefühl durchzog meine Brust. Wir waren schon so lang zusammen, und ich liebte ihn noch immer wie damals, als wir uns kennengelernt hatten. Und ich liebte auch Insa, mittlerweile seit fünf Jahren. Die Freiheit, sie beide zu lieben, ohne dass es zu einem Beziehungsdrama oder übermäßiger Eifersucht führte, war noch immer wie ein Wunder für mich. Das Leben war manchmal wirklich magisch …

Frank lächelte mich an. »Fein, dass du da bist, das Essen ist gerade fertig.«

»Prima, dann decke ich mal den Tisch.«

»Ich helfe dir, Mama«, hörte ich Livs Stimme. Ich betrat die Küche. Sie war in einem hellen Lavendelblau gestrichen und an den freien Wandflächen hatte ich mehrere Bilder aufgehängt: ein großes Poster mit Illustrationen verschiedener Kräuter. Appetitanregende Fotos von saftigem, bunten Gemüse und Obst. In einem Wandregal hatte ich mehrere Gewürze untergebracht. Die Küchenschränke waren schon etwas älter und aus hellem Holz.

Meine Tochter hatte sich bereits einen Schwung Löffel geschnappt und strahlte mich an. Morgens hatte ich das hellbraune Haar zu einem Zopf geflochten. In ihrem Gesicht tummelten sich einige Sommersprossen. Ich umarmte sie. Wenig später saßen wir alle gemeinsam am Esstisch, der sich im Wohnzimmer direkt hinter der Küche befand.

Der Raum war in einem Eierschalenton gestrichen und die Wände erzählten von unseren Interessen. Ein Kunstdruck von einer heidnischen Künstlerin aus Hannover zeigte mehrere nordische Gottheiten: Thor, Frigg, Freya und Odin. Ein stilisiertes Muster mit Drachenköpfen war hinter ihnen zu sehen, außerdem mehrere Runen und eine Gewitterwolke mit einem Blitz. Das war natürlich eine Anspielung auf Thor. Das Bild war in heiteren, kräftigen Farben gehalten. Thor, Frigg und Odin hatten keine Ähnlichkeiten mit den Gottheiten aus den Marvel Verfilmungen, und das war mir auch lieber so. Diese Comicverfilmungen fand ich zwar unterhaltsam, aber sie achteten kaum auf die ursprüngliche nordische Mythologie. Außerdem wäre es mir persönlich für meine spirituellen Aktivitäten reichlich seltsam vorgekommen, Abbildungen von Anthony Hopkins als Odin oder Chris Hemsworth als Thor zu verwenden.

Mein Mann hatte früher mit einer Gruppe Schauschwertkampf gemacht, hin und wieder auch auf Mittelaltermärkten. Er traf sich noch heute gelegentlich mit der Gruppe, um ein wenig zu trainieren. Daran erinnerten das Kurzschwert und der Anderthalbhänder, die über dem Kamin hingen. Auf dem Kaminsims befand sich unser Hausaltar, mit mehreren kleinen Statuen der Gottheiten, einigen größeren Kristallen und Schalen für Opfergaben. Oft stand auch ein Strauß Blumen auf dem Altar – zumindest in den Monaten, in denen wir Blumen aus der Region kaufen konnten, zum Beispiel auf dem Wochenmarkt. Hin und wieder machten wir auch Ausflüge aufs Land und besuchten dann Felder, auf denen man selbst gegen eine Gebühr Blumen pflücken konnte. Im Winter verzichtete ich lieber auf Blumen, die entweder in Gewächshäusern wuchsen oder aus anderen Ländern importiert wurden.

Ein Kranz aus naturbelassenen Weidenruten hing neben der Tür: Je nach Jahreszeit dekorierte ich ihn mit Liv um, im Moment hingen daran herbstliche Blätter. Auch den Altar gestalteten wir immer mal wieder anders, um dem Wandel der Monate Rechnung zu tragen.

Glücklich sah ich meine Liebsten an. Frank, Insa und ich bildeten schon seit Jahren ein polyamores Beziehungsgeflecht: Ich war mit Frank und Insa zusammen, Frank »nur« mit mir. Hätte er ebenfalls eine weitere Beziehung haben wollen, hätte ich dazu nicht nein gesagt, aber ihm war nicht danach. Das hatte für ihn auch praktische Gründe: Wir mussten schon jetzt zu dritt einen Haufen Termine abstimmen und hinzu kamen natürlich noch die von Liv, zum Beispiel Verabredungen mit ihrem Freundeskreis.

Insa lebte in einer eigenen Wohnung in Bahrenfeld. Sie schätzte das Modell »Living together apart« sehr und hatte außer mir auch noch eine weitere Beziehung, ebenfalls zu einer Frau, die wiederum noch mit einer anderen Person zusammen war. Ich kannte Insas Freundin allerdings nicht, wir hatten uns bisher nie getroffen. Aber das machte mir nichts aus. Irgendwann würden wir bestimmt die Gelegenheit dazu haben.

»Wie war es heute im Laden?«, fragte mich Insa.

Ich griff nach der Schale mit den Bratkartoffeln. »Ganz gut, vor allem abends. Das ist ja meistens so. Und wie war es bei euch?«

»Alles im grünen Bereich«, antwortete Frank und erzählte ein wenig vom neuesten Projekt, an dem er mitarbeitete. Sein Job in einem großen Bauunternehmen hielt ihn ordentlich auf Trab, er reiste auch gelegentlich durch Norddeutschland, um in verschiedenen Städten Besichtigungstermine und andere Aufgaben wahrzunehmen.

Insa arbeitete in der städtischen Verwaltung. »Bei uns fehlte mal wieder eine Tonerkartusche«, erzählte sie. »Für den großen Laserdrucker. Hoffentlich bekommen wir am Montag Nachschub, sonst bricht ein mittleres Chaos auf meiner Etage aus. Vermute ich jedenfalls.« Sie schnitt eine Grimasse, griff nach der Rhabarberschorle, und schenkte sich ein.

»Und wie war es heute in der Schule?«, wandte ich mich an meine Tochter.

»Ganz gut. Ich hab vorhin mit Margot über Mathe gesprochen, sie hat mir da was erklärt.«

»Und hast du es dann verstanden?«, fragte Frank.

»Ja. Sie kann gut erklären.«

»Super!« Das freute mich. Früher, als Liv noch kleiner gewesen war, hatte ich in Teilzeit gearbeitet. Liv kam mittlerweile um 16 Uhr oder auch mal etwas früher aus der Schule, eine Zeit, in der Frank, Insa und ich noch arbeiteten. Deshalb hatten wir vor drei Jahren mit unserer Nachbarin Margot, einer alleinstehenden Rentnerin, die Vereinbarung getroffen, dass Liv bei ihr bleiben durfte, bis Frank und ich von der Arbeit nach Hause kamen. Liv betrachtete Margot mittlerweile als Familienmitglied und war sehr gern bei ihr.

Für mich war Margot ebenfalls ein Teil unserer erweiterten Familie. Sie wusste auch, dass wir heidnisch waren; das war in unserem Wohnzimmer ja kaum zu übersehen. Wir hatten lange darüber gesprochen und Margot auch deutlich gemacht, dass wir Liv den Freiraum einräumten, selbst zu entscheiden, ob sie Anhängerin einer Religion – welcher auch immer – werden wollte oder lieber nicht. Margot war als junge Erwachsene aus der Kirche ausgetreten. Sie hatte mit Religion seitdem »nichts mehr am Hut«, wie sie es ausdrückte, aber sie respektierte unseren Glauben.

Margot holte Liv oft von der Schule ab. Die beiden aßen gern zusammen einen kleinen Snack, sprachen über Livs Hausaufgaben oder was sonst so in der Schule anstand. Ich hatte keine Ahnung, was wir ohne Margot gemacht hätten. Frank und ich hatten ihr Geld angeboten, weil sie so viel auf Liv aufpasste, aber davon hatte sie nichts wissen wollen. Stattdessen luden wir sie nun öfter zum Essen ein oder auch mal zu einem kleinen Ausflug innerhalb der Stadt.

Später brachte ich Liv zu Bett und las ihr noch eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Natürlich konnte sie längst selbst lesen, aber das Vorlesen hatten wir noch immer nicht aufgegeben. Es war unser abendliches Ritual und ich schätzte es ebenso wie sie. An diesem Abend las ich eine kindgerechte Nacherzählung eines nordischen Mythos, das hatte sich Liv gewünscht. Das gleiche Buch verkaufte ich auch im Laden.

»Schlaf gut, Liebes«, wünschte ich ihr, als ich zu Ende gelesen hatte.

»Danke, du auch, Mama.«

Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und stand auf. Ich löschte das Licht und verließ ihr Zimmer.

Insa, Frank und ich verbrachten unseren Feierabend im Wohnzimmer und spielten Karten, eine liebgewonnene Gewohnheit.

»Du hast ja morgen wieder deinen Stammtisch. Erwartest du da eigentlich viele Leute?«, erkundigte sich Insa, während Frank die Karten für eine zweite Runde mischte.

Ich zuckte mit den Schultern. »Gute Frage. Der Stammtisch ist ja offen für alle paganen Leute und Hexen. Ich weiß nie so genau, wie viele da sein werden. Ein paar melden sich über die Facebook-Eventseite an, aber manche kommen einfach so hin. Mal sehen, wie es morgen wird.«

Im Gegensatz zu Frank und mir war Insa keine Heidin, sondern Agnostikerin. Wir hatten mehrere längere Gespräche darüber gehabt und respektierten unsere unterschiedliche Haltungen in Sachen Glauben seitdem voll und ganz. Wir konnten auch miteinander darüber sprechen, ohne in Streit zu geraten, worüber ich sehr froh war. Anderenfalls hätte wir wohl früher oder später Probleme mit unserer Beziehung bekommen.

»Ich drücke euch die Daumen, dass da nicht irgendwelche Weirdos auftauchen«, sagte Frank.

»Ja, das hoffe ich auch.« In der paganen Community gab es, wie wohl in so manchen anderen Subkulturen, so einige schräge Vögel. Manche waren einfach ein bisschen exzentrisch, das brachte die Hexenkunst oder das Heidentum oft mit sich, aber einige waren für meinen Geschmack zu abgehoben und weltfremd. Oder sie glaubten an irgendwelche Verschwörungserzählungen, und da hörte für mich der Spaß auf. Bisher hatte ich Glück gehabt, was den Stammtisch anging: Die Leute, die dort hingekommen waren, hatten einen eher bodenständigen Eindruck auf mich gemacht. Ich war wirklich gespannt, wie es am Samstag werden würde …

 

Kapitel 2

 

Samstag, 4. November

 

Das Neun Welten war eine Kneipe im Grindelviertel und ein beliebtes Ziel für Studierende, Geeks, Mittelalterfans und pagane Leute. Dort gab es auch regelmäßig interessante Veranstaltungen, darunter Livemusik von Barden oder Mittelalterbands, Vorträge zu Rollenspielen und Spieleabende. Ich kannte den Wirt schon länger; Hauke war ebenfalls Heide und hatte meine Idee eines Stammtisches für Hexen und heidnische Leute für gut befunden. An diesem Abend würde er zum sechsten Mal stattfinden. Bisher hatten wir uns monatlich getroffen.

Ich betrat das Neun Welten. Das Lokal war so eingerichtet, dass es an eine Mittelalter-Fantasy-Taverne erinnerte: An den terrakottafarbenen Wänden hingen passende gerahmte Illustrationen, darunter eine vom Weltenbaum Yggdrasil. Außerdem ein glänzend polierter Einhänder, ein Dolch und einige Kerzenhalter aus poliertem Holz, die stilisierte Drachen darstellten. In einem alten Eckregal mit verschnörkelt geschnitzten Verzierungen lagerten die Spiele der Kneipe. Die Tische und Stühle bestanden aus dunkelbraunem Holz und auf den Fensterbrettern befanden sich kleinere Kübel mit Zimmerpflanzen.

Wie so oft spielte im Hintergrund pagane und Folkmusik, darunter auch instrumentaler Irish Folk. Ich grüßte Hauke. Er war schlaksig und hochgewachsen. In seinen Vollbart hatte er sich einen kleinen Zopf geflochten, verziert mit einer silbernen Zopfperle. Um den Hals trug er einen kleinen silbernen Anhänger mit einigen Runen.

»Moin, wie gehts dir, Henny?« erkundigte er sich und stellte ein frisch gespültes Bierglas beiseite.

»Alles bestens, danke. Und bei euch?«

»Der Kleine hatte gerade Durchfall, aber nun wird es wieder besser.«

»Gute Besserung für ihn.«

Hauke bedankte sich und wies in den Schankraum. »Ein paar Leute vom Stammtisch sind schon da.«

»Das freut mich.« Ich betrat den Schankraum und steuerte einen der größeren Tische an, den Hauke für uns reserviert hatte.

Dort hatten sich bereits Alannah und Dani niedergelassen. Alannah hatte dunkelbraunes, kinnlanges Haar und auch braune Augen. An ihrer Jacke steckte ein Button mit den Farben der asexuellen Pride-Flagge.

Neben ihr und Alannah saß Fabian. Er hatte seinen dunkelblonden Haaren blaue und grüne Strähnen verpasst, die unter einer schwarzen Beaniemütze hervorlugten. Der Student war mit einundzwanzig der jüngste in unserer Runde und probierte sich noch aus in Sachen Magie, zumindest hatte er das bei unserem ersten Treffen erzählt.

Jannis, ein Gothic von Mitte Zwanzig, mit langen schwarzgefärbten Haaren, begrüßte mich, er hatte das Neun Welten direkt nach mir betreten. Seine Augen hatte er mit schwarzem Kajal umrandet. Ich lächelte ihn an. »Schön, dass du wieder dabei bist.«

Er nickte. »Na klar. Ich gehe nachher noch auf eine Party ins Batcave.«

Das Batcave war ein Gothic Club in Eimsbüttel, der mich freundlicherweise Flyer für meinen Laden auslegen ließ – sie hatten eine ganze Wand für Flyer, Zeitschriften und Veranstaltungsposter. Es war zwar ein Klischee, aber viele Gothics interessierten sich für Paganismus oder Hexenkunst. Jannis hatte das Midgard und den Hexenstammtisch über einen dieser Flyer gefunden, die ich im Batcave ausgelegt hatte.

Ich begrüßte auch alle anderen und setzte mich neben Fabian. Danach stellte ich das Erkennungszeichen für den Stammtisch auf den Tisch: Einen großen Becher, auf dem die Silhouette eines Kopfes mit einem dekorativ gezackten Hexenhut abgebildet war, wie ein Scherenschnitt. Die Silhouette war ausgefüllt mit einem schwarz-bläulichem Nachthimmel, in dem eine golden schimmernde Mondsichel und Sterne leuchteten. Zwei Hutbänder flatterten wie im Wind vom Hexenhut herab. Das war einer meiner Lieblingsbecher.

Cedric gesellte sich als nächstes zu uns. Er war Ende Zwanzig und halb Engländer. Er hatte rötlich-blondes, leicht gelocktes Haar und einen Haufen Sommersprossen im Gesicht. Er trug einen silbernen Armreif mit den sechs Farben des Pride-Regenbogens, die darin als dünne Streifen eingelegt waren.

Diese fünf waren bereits öfter beim Stammtisch gewesen, und ich betrachtete sie mittlerweile als den »harten Kern«, wie es so schön hieß. Entsprechend brauchten wir keine Vorstellungsrunde mehr.

Wir alle verehrten unterschiedliche pagane Gottheiten aus verschiedenen europäischen Pantheons. Aber ich fand den Austausch darüber interessant, wie die anderen ihren Glauben lebten. Bei allen Unterschieden gab es doch einige Gemeinsamkeiten. Wir alle hatten von den Altarplätzen erzählt, die wir für »unsere« Gottheiten eingerichtet hatten. Bei einigen von uns waren das einfach Regalfächer oder Wandregale, andere hatten dafür einen eigenen kleinen Tisch aufgestellt oder Platz auf einer Kommode geschaffen. Wir waren außerdem alle mehr oder weniger als Hexen aktiv und feierten die Jahreskreisfeste, wenn auch ein wenig unterschiedlich.

Alle, die zum Stammtisch gekommen waren – mich eingeschlossen – waren weiß und das erinnerte mich daran, dass die pagane Community hier in Norddeutschland in der Tat ziemlich weiß war. Ob sich das wohl irgendwann ändern würde?

Weitere Leute betraten den Schankraum. Ein Mann mit dunkelblondem Haar und einem Vollbart, der ein naturfarbenes Leinenhemd mit einer Schnürung unter seinem Wintermantel trug, wandte sich an mich. »Ist das hier der Stammtisch für Heiden?«

»Ja, genau. Herzlich willkommen. Ich bin Henny.«

Der Mann, den ich auf Ende dreißig oder Anfang vierzig schätzte, stellte sich als Björn vor und setzte sich neben Dani.

Ich warf einen Blick auf die Uhr; falls noch Nachzügler kamen, konnten sie sich uns anschließen. Ich räusperte mich und sah in die Runde. »Schön, dass ihr alle da seid.«

Dani grinste. »Schön, dass du da bist.«

Das ließ mich schmunzeln. »Seid so gut, und stellt euch alle kurz vor.«

Die anderen Hexen beließen es dabei, sich namentlich vorzustellen und auch ich erwähnte erst einmal nur, dass ich den Stammtisch ins Leben gerufen hatte. »Hat jemand von euch ein Thema mitgebracht, über das ihr gern reden würdet? Wir könnten damit starten, wenn ihr mögt.«

»Ja, klar, warum nicht«, erwiderte Alannah.

Fabian sah mich direkt an. »Ich hätte da was, wofür ich einen Rat brauche.«

Aufmunternd sah ich ihn an. »Schieß los.«

Er zögerte. Was immer er uns erzählen wollte, schien ihm nicht leichtzufallen. »Ich habe vor vier Wochen die Diagnose bipolare Störung bekommen. Früher hieß das manisch-depressive Erkrankung, falls euch das mehr sagt. Macht euch keine Sorgen, ich bin nun auf einer Warteliste für eine Therapie, und ein Psychiater im UKE1 hat mir Medikamente verschrieben. Aber warum ich das alles erzähle – ich habe Probleme mit dem Meditieren. Ich hatte ja erzählt, dass ich das lernen will. Aber im Moment habe ich eine depressive Phase. Und meine Gedanken kommen einfach nicht zur Ruhe.«

Er griff nach seiner Limonade und trank einen Schluck, ehe er weitersprach. »Wisst ihr, ich setze mich hin, in den Schneidersitz, lasse Meditationsmusik laufen, aber ich finde diese innere Stille einfach nicht.«

Meditation oder Trance waren für viele von uns Mittel, um unsere magischen Fähigkeiten zu vertiefen. Sie konnte auch dazu dienen, mit Geistern oder Gottheiten Kontakt aufzunehmen oder zumindest deren Präsenz wahrzunehmen.

Fabian erklärte nun: »An Astralreisen traue ich mich gerade überhaupt nicht heran.«

Eine Bewegung von Björn lenkte mich ab, ich warf ihm einen Blick zu. Er hatte die Stirn gerunzelt und musterte Fabian fast feindselig. Ich fragte mich im Stillen, was ihm nicht gefiel.

Dann wandte ich mich wieder Fabian zu. »Hast du mit dem Psychiater darüber gesprochen, ob Meditation zurzeit für dich in Frage kommt?«

»Nein. Aber das würde auch wenig bringen, schätze ich, der kennt mich ja so gut wie gar nicht. Ich bin noch auf der Suche nach einer psychiatrischen Fachkraft, zu der ich regelmäßig hingehen kann, das wurde mir im UKE geraten.«

»Ich verstehe. Weiß jemand von euch einen Rat für Fabian?«

Alannah sah von mir zu ihm. »Ich bin ja keine Ärztin, sondern Physiotherapeutin, aber ich habe ein, zwei Leute im weiteren Bekanntenkreis, die ebenfalls Depressionen haben. Sie haben mir auch erzählt, dass sie in diesen Phasen kaum meditieren können. Aber eine von ihnen sagte, sie hätte ganz gute Erfahrung mit geführten Meditationen gemacht. Da wird man ja von einer Stimme durch den Prozess geleitet und im Hintergrund sind zum Beispiel ruhige Musik oder Naturgeräusche zu hören. Das kann hilfreich sein, um sich besser konzentrieren zu können. Hast du das mal ausprobiert?«

Fabian schüttelte den Kopf. »Meinst du so etwas wie Traumreisen?«

»Ja, das ist ein anderer Name für geführte Meditationen. Auf YouTube gibt es viele, oder auch auf CD oder als MP3 Download zu kaufen. Ich mache das selbst auch ganz gern und habe mir eine Playlist dafür auf YouTube angelegt. Wenn du magst, schicke ich dir einen Link.«

Fabian nickte langsam. »Ja, das würde mich freuen.«

»Kannst du denn ganz gut visualisieren, oder ist das auch schwer? Ich frage das, weil manche Leute Afantasie haben.«

»Was ist das?«, meldete sich Dani zu Wort.

»Diese Menschen haben kein bildliches Vorstellungsvermögen. Sie können auch keine mentalen Bilder visualisieren. Das betrifft zum Beispiel manche neurodiverse Menschen.«

»Oh, ach so. Ich verstehe«, erwiderte Dani.

»Ja, es ist dann oft so, dass andere Sinne, zum Beispiel das Hören oder der Tastsinn, besser einsetzbar sind bei geführten Meditationen«, erklärte Alannah. »Sie hören dann im Geiste zum Beispiel gut Geräusche anstatt etwas zu sehen.«

»Visualisieren kann ich eigentlich ganz gut«, sagte Fabian nun. »Nur ist es schwerer als sonst, wegen der Depression.«

Alannah sah ihn mitfühlend an. »Ich wünsche dir gute Besserung für diese depressive Phase.«

»Danke, das ist lieb von dir.«

»Lass uns hören, wie es dir geht, ja?«, schlug ich vor. »Und wenn du Fragen hast oder mit jemanden reden möchtest, schreib das gern in unsere Stammtischgruppe.«

»Okay, ich schau mal«, erwiderte er mit unsicherer Miene.

»Nur wenn du magst.« Ich wollte ihn auf gar keinen Fall unter Druck setzen.

»Ja, mal sehen«, sagte er mit einem zaghaften Lächeln.

Unser Gespräch wurde nun kurz unterbrochen, da Hauke zu uns an den Tisch kam und unsere Getränke brachte.

Ich bedankte mich und trank einen Schluck von meinem Bier. Ich dachte an das kommende Jahreskreisfest im Dezember. »Wie feiert ihr eigentlich die Wintersonnenwende – falls ihr sie feiert?«, fragte ich in die Runde. Das bot sicherlich Anlass für einiges an Gesprächsstoff.

Dani erzählte, dass sie Weihnachten mit ihren Eltern verbrachte und die Sonnenwende gar nicht groß feiere.

Das irritierte Björn offenbar. »Bist du denn keine nordische Heidin?«, fragte er verwundert.

»Nein. Ich verehre Aphrodite und noch einige andere griechische Gottheiten.«

»Hast du denn griechische Vorfahren?«, hakte Björn nach, der nun seinen Mantel auszog und hinter sich auf die Sitzbank legte.

»Nein. Nicht, das ich wüsste. Aber das ist ja auch nicht zwingend notwendig. Hellenismus ist keine geschlossene pagane Religion.«

»Hmm. Damit kenne ich mich nicht näher aus«, erwiderte er. Fast vorwurfsvoll blickte er mich an. »Ich dachte, das hier wäre ein Stammtisch für germanische Heiden.«

»Da musst du etwas missverstanden haben«, antwortete ich. »Dieser Stammtisch ist für alle paganen Leute gedacht, unabhängig von einer bestimmten Ausrichtung.«

Er runzelte die Stirn. »Oh, ach so. Schade.«

Es irritierte mich, dass er das schade fand. »Auch wenn wir unterschiedliche Gottheiten verehren, nach unterschiedlichen Traditionen – wir sind alle pagan«, betonte ich.

»Nichts für ungut, aber ich interessiere mich nicht so sehr für andere Traditionen, sondern mehr für die unserer Heimat«. Er klang ziemlich unwirsch.

»Oh. Vielleicht hätte ich das in der Facebookgruppe genauer formulieren sollen«, überlegte ich.

»Jedenfalls, zu deiner Frage, wir feiern die Wintersonnenwende so …« Und nun kam eine längere Beschreibung, in der er einiges erwähnte, das mir vertraut war. Die Tradition eines brennenden Sonnenrades. Die Verabschiedung der untergehenden Sonne am Abend der Wintersonnenwende und das Warten auf den Sonnenaufgang am folgenden Tag.

»Und wie feierst du?«, wandte er sich an mich.

»Ganz ähnlich, mit meiner Familie.«

»Also, ihr seid nordische Heiden?«

»Ja. Das heißt, meine Tochter ist noch recht jung und hat sich noch nicht entschieden, welchem Glauben sie angehören möchte. Oder ob sie das überhaupt verfolgen möchte. Das hat ja auch noch Zeit. Aber sie feiert gern die Jahreskreisfeste mit uns.«

Björns Miene verdüsterte sich noch mehr. »Ich finde es sehr wichtig, seinen Kindern die eigenen Traditionen zu vermitteln. Mein Sohn ist auch nordischer Heide, schon jetzt.«

Der Verlauf des Gesprächs wurde mir allmählich unangenehm, aber ich blieb ruhig und erklärte: »Ich vermittle meiner Tochter, was sie über das Heidentum wissen möchte. Sie liest zum Beispiel sehr gern die alten Mythen, wir haben ein Buch, das die kindgerecht nacherzählt. Aber ich dränge ihr nichts auf. Denn es ist nicht meine Entscheidung, welchen Glauben sie einmal wählt. Oder ob sie atheistisch leben wird.«

Björn schüttelte mit sichtlicher Verärgerung den Kopf. »Das sehe ich anders. Unsere Vorfahren waren germanische Heiden und wir sollten diese Tradition fortsetzen.«

Das ungute Gefühl, dass ich schon seit mehreren Minuten in seiner Nähe verspürte, machte nun mehreren Alarmglocken Platz, die schrill anschlugen. War das am Ende ein völkisch-heidnischer Neonazi? Denen lag ja sehr viel an ihren Vorfahren, in dem Sinne, dass sie stolz auf ihre Herkunft waren und alle anderen Völker als minderwertig betrachteten. Eine grässliche, menschenverachtende Einstellung. Und wenn es so weiterging, befanden wir uns bestimmt in wenigen Minuten mitten in einem Streitgespräch. Ich erwähnte an dieser Stelle lieber nicht, dass unter seinen Ahn*innen sicherlich auch viele christlich gewesen waren, also bei weitem nicht nur Heid*innen. Davon mal abgesehen, dass es »die reinen Germanen« sowieso nie gegeben hatte, wegen der zahlreichen Völkerwanderungen in vergangenen Jahrhunderten.

Unsere Unterhaltung wurde nun allerdings von ein weiteres Mal von Hauke unterbrochen, der unsere Bestellungen für Speisen entgegennahm.

Ich war mir unsicher: Sollte ich Björn direkt nach seiner politischen Gesinnung fragen? Oder noch abwarten?

In diesem Moment begann Cedric zu erzählen, wie er die Wintersonnenwende feiern wollte. Dabei fiel mir der Anhänger auf, den er an einer Kette trug – eine stilisierte Darstellung des keltischen Gottes Cernunnos, der im Schneidersitz saß und ein Hirschgeweih auf dem Kopf hatte. Wir kamen auch auf die Volkssage von der »Wilden Jagd« zu sprechen, die es in verschiedener Ausprägung in mehreren Ländern gab, auch in England – meistens war sie mit dem Winter verbunden und handelte von übernatürlichen Wesen, die durch den Himmel jagten, und oft galten sie als Vorboten von Kriegen, Naturkatastrophen oder anderem Gräuel.

»In Skandinavien ist sie übrigens auch als Odensjakt bekannt – Odins Jagd«, warf ich ein. »Er wird auf dieser Jagd in manchen Überlieferungen von den Walküren begleitet und noch anderen Wesen.«

Björn sagte dazu nichts und nun wandte sich das Gespräch den Rauhnächten zu. »Diese zwölf Nächte zwischen der Wintersonnenwende und dem Dreikönigstag nutzen ja viele Leute für allerhand Aktivitäten, zum Beispiel Wahrsagerei, und es gibt auch Bücher mit Anregungen dazu. Wie haltet ihr das? Ist das eine besondere Zeit für euch?«

Fabian murmelte: »Ich habe da frei. Ich bin meistens einfach nur faul und möchte mich im Bett verkriechen. So winterschlafmäßig.«

Alannah lachte auf. »Geht mir ähnlich. Ich nutze die Zeit einfach, um mich auszuruhen.«

Fabian schob sich die Mütze zurecht. »Und jetzt mit der depressiven Phase – na ja, mal schauen, wie es mir im Dezember geht, vielleicht ist es dann wieder besser.«

»Ich drücke dir die Daumen«, sagte ich, und er bedankte sich.

»Henny, ich würde mich gern mehr mit den Rauhnächten beschäftigen«, warf Cedric ein, »Kannst du mir vielleicht ein Buch dazu empfehlen?«

»Ich schreibe dir ein oder zwei, wenn du magst.«

»Ja, ist gut, danke.«

Kurz darauf servierte uns Hauke die bestellten Snacks. Ich griff nach meinem Bier und prostete den anderen zu. Björn musterte uns schweigend und trank von seinem Met. Es juckte mir in den Fingern, ihm ein paar Löcher in den Bauch zu fragen, aber das Gespräch verlagerte sich gerade auf Neujahrsvorsätze und ich wollte es nicht unterbrechen. Dani erzählte, dass sie sich für das kommende Jahr vorgenommen hatte, sich zu Dates zu verabreden. »Ich bin schon länger Single, aber ich würde gern wieder mehr ausgehen, Leute kennenlernen und so.«

»Und hast du auch Vorsätze in Sachen Hexenkunst?«, erkundigte ich mich.

»Hmm … es wird ja oft dazu geraten, am besten täglich irgendetwas in der Richtung zu machen. Zum Beispiel eine tägliche Meditation, und wenn sie nur kurz ist. Aber bisher schaffe ich das noch nicht. Das wäre wohl auch etwas für einen Vorsatz. Wie machst du das denn?«

»Ach, das mit den täglichen Übungen … ich muss ganz ehrlich sagen, ich schaffe das auch nicht immer. Familie, Job, Garten … ich habe meistens viel zu tun.«

»Geht mir auch so«, erzählte Cedric. »Ich meine, ich habe keine Kinder und keinen Garten, aber mein Job hält mich ziemlich auf Trab.«

Dani wollte nach ihrem Becher greifen, aber durch eine ungeschickte Bewegung stieß sie ihn um, sodass die Flüssigkeit auf Björns Ärmel spritzte und sich auch auf das Tischtuch unter seinem Arm ergoss.

»Oh, Entschuldigung!«, rief sie.

Björn gab ein verärgertes Geräusch von sich und zog sich den feuchten Ärmel hoch. Auf seinem Unterarm bemerkte ich zwei kleine Tätowierungen und erstarrte. Eine schwarze Sonne und eine Wolfsangel. Ich sah noch einmal hin, aber es waren tatsächlich diese beiden Nazi-Symbole. Björn hatte offenbar meinen Blick bemerkt, denn er schob seinen Ärmel rasch wieder nach unten.

Verdammt! Was sollte ich tun?

Ich stand auf. »Entschuldigt mich kurz.«

Ich ging in den anderen Raum hinüber, in dem sich die Theke befand. Dort sprach Hauke gerade mit einem Gast.

»Kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?« bat ich ihn.

Überrascht sah er mich an, nickte aber. »Klar, Henny. Gehen wir kurz vor die Tür?«

Ich folgte ihm nach draußen in die Kälte.

»Was gibt es denn?«, fragte er mich.

»Einer der Leute vom Stammtisch, der vorher noch nie dabei war, ist offenbar ein Neonazi. Der Blonde mit dem Vollbart und dem grauen Mantel. Er hat zwei entsprechende Tätowierungen auf dem Arm und was er heute so erzählt hat, hört sich auch sehr danach an.«

Haukes Miene zeigte seinen Ärger. »Oh, Mist! Die schleichen sich echt überall ein, wenn man nicht aufpasst. Ich setze ihn gleich mal vor die Tür.«

»Danke. Ich werde ihm auch sagen, dass er nicht mehr zu unserem Stammtisch kommen soll.«

Hauke folgte mir zurück an den Tisch, an dem Björn noch immer saß und seinen Met trank. »Trink aus und dann geh. Du bist hier nicht willkommen«, sagte Hauke ohne Umschweife. Mir entging nicht, dass er nicht vom Zahlen sprach. Vermutlich wollte er von dem Kerl kein Geld annehmen?

Björns Miene verfinsterte sich. »Ach ja? Warum das denn? Und was ist mit der viel gepriesenen Gastfreundschaft der Heiden?«

Im nordischen Heidentum zählte die Gastfreundschaft, als hohes Gut. Aber Hauke ließ sich von dem Einwand nicht beeindrucken. »Die gilt in diesem Haus nicht für Leute wie dich. Henny hat deine Tätowierungen bemerkt.«

Dani rückte von Björn ab, dessen Gesicht sich allmählich rötlich färbte. Abrupt stand er auf. »Was für ein Drecksladen! Ich werde meinen Leuten sagen, dass sie nicht hierherkommen sollen.«

Hauke nickte. »Tu das, ist mir nur recht.«

»Das werdet ihr bereuen!«, polterte der Neonazi.

»Ich glaube nicht«, sagte Hauke mit einer Ruhe, um die ich ihn beneidete. Meine Hände zitterten vor lauter Aufregung, ich verbarg sie in meinen Hosentaschen.

Als der Kerl mit polternden Schritten aus dem Schankraum gestapft war, entschuldigte ich mich bei den anderen.

Cedric sagte: »Das ist vielleicht das Problem mit einem offenen Stammtisch – du weißt nie, wer dorthin kommt, nicht wahr?«

Ich nickte ihm zu.

---ENDE DER LESEPROBE---