Queer durch die Märchenwelt: Der Prinz, der mich liebte - Amalia Zeichnerin - E-Book

Queer durch die Märchenwelt: Der Prinz, der mich liebte E-Book

Amalia Zeichnerin

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Es war einmal ein Prinz namens Timeon, der lebte in einem Land weit weg von hier: Nebenannien. Timeon hatte eine große Schwäche für Schwertkampf, Wettreiten und für den hübschen Stallburschen mit den dunkelblonden Locken. Wofür er keine Schwäche hatte? Prinzessinnen.« Nach dem Willen seiner Eltern soll Kronprinz Timeon endlich heiraten. Doch das ist nicht alles: In einem Nachbarland wurde eine Prinzessin entführt und er soll mit seinem Diener ausziehen, um sie zu retten. Eine abenteuerliche Reise beginnt. Als sich die vermeintliche Prinzessin als Prinz entpuppt, ist es um Timeons Herz geschehen. Doch den beiden stehen noch einige Herausforderungen bevor.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Table of Contents

Titelei

Inhaltswarnungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Nachwort und Danksagung

Impressum

 

 

 

Amalia Zeichnerin

 

Queer durch die Märchenwelt:Der Prinz, der mich liebte

 

 

© Amalia Zeichnerin 2021

Inhaltswarnungen zu diesem Roman

 

Gewalt gegen Menschen (wenig)

 

 

 

Es war einmal ein Prinz namens Timeon, der lebte in einem Land weit weg von hier: Nebenannien. Timeon hatte eine große Schwäche für Schwertkampf, Wettreiten und für den hübschen Stallburschen mit den dunkelblonden Locken. Wofür er keine Schwäche hatte? Prinzessinnen.

Und das war ein ausgemachtes Pech, denn mittlerweile war er schon zweiundzwanzig und seine Eltern bestanden darauf, dass er sich gefälligst bald vermählen sollte. Schließlich brauchte das Reich Nebenannien einen königlichen Erben, wie sie immer wieder betonten. Und das war ein Riesenproblem! Denn bisher hatte noch keine Prinzessin es geschafft, Timeons Herz zu erobern, und dabei gaben sich so viele Mühe. Einige von ihnen waren ganz reizend. Timeon fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart und hätte sich sehr gern mit ihnen angefreundet, aber darum ging es hier ja nicht – eine Freundschaft war nicht ausreichend; seine Eltern wollten ihn verliebt und vor allem verlobt sehen.

Auf den zahlreichen Bällen im königlichen Schloss lachten die jungen Damen ganz bezaubernd über Timeons Witze, strichen sich übers Haar, machten ihm schöne Augen und hingen an seinen Lippen, wenn er etwas erzählte.

So auch an diesem Abend. In dem weiß-golden eingerichteten Ballsaal schien alles zu strahlen: Kerzen, Schmuck, glänzende Gläser mit perlenden Getränken, die Gesichter der Gäste und edel schimmernde Stoffe in bunten Farben. Die Herzogin von Waldesfeld hatte zwei ihrer Töchter ins Schloss mitgebracht und stellte sie ihm mit einem gewinnenden Lächeln vor. Timeon unterdrückte ein Gähnen; er hatte in der Nacht zuvor schlecht geschlafen. Aber er konnte nicht einfach den Ball verlassen, auch wenn er sich nichts sehnlicher gewünscht hätte, als es sich im Bett bequem zu machen. Stattdessen deutete er eine Verneigung an, und weil es die Hofetikette verlangte, forderte er eine der beiden Töchter aus gutem Hause zum Tanz auf. Schon kurz darauf bereute er das – sie war ein wenig tollpatschig und trat ihm mehr als einmal auf den Fuß. Mit hochrotem Gesicht entschuldigte sie sich, aber er winkte ab und versuchte sich an einem Scherz.

Seine Schwester Cecilie tanzte mit ihrem Verlobten, dem Sohn eines Fürsten, an ihnen vorüber. Die Hochzeit war für das kommende Jahr geplant. Ihr Zukünftiger war ein freundlicher Mann mit einem ansprechenden Aussehen und viel Humor. Cecilie lachte gerade schallend über einen seiner Witze.

Timeon war insgeheim neidisch auf sie. Was hätte er darum gegeben, mit einem Mann tanzen zu dürfen! Aber auf diesem Ball, wie schon so oft, musste er noch mit vielen Töchtern der hohen Gesellschaft das Tanzbein schwingen. Er lächelte so sehr, dass ihn die Muskeln in seinem Gesicht wehtaten, hörte sich die Kommentare der Damen allerdings nur mit halbem Ohr an. Sehnsüchtig sah er zu manch einem Mann hinüber, doch es kam natürlich überhaupt nicht in Frage, einen von diesen zum Tanze aufzufordern. Bei all dem war er sich der strengen Blicke seines Vaters und der hoffnungsvollen seiner Mutter nur allzu deutlich bewusst. Sie erwarteten eine Hochzeit … und einen Erben. Und das möglichst bald.

Es war ja nicht so, dass die herausgeputzten Damen hässlich waren. Ganz im Gegenteil. Er wusste ihre Schönheit durchaus wertzuschätzen – die hohen, feingezupften Bogen der Augenbrauen bei der einen, die zarten Wangenknochen bei einer anderen, bei einer weiteren sinnlich volle Lippen und bei der nächsten eine Flut beneidenswert schimmernder Haare. Aber keine der Damen, die er bisher auf diesen Bällen – ach, so viele Bälle mit wundgetanzten Füßen – kennengelernt hatte, vermochte es, sein Herz zum Singen zu bringen. Stattdessen tagträumte Timeon davon, was er mit dem Stallburschen gern im Heu anstellen würde, wenn sie denn jemals unbeobachtet wären. Was sie niemals waren, wie er sich mürrisch eingestehen musste.

Aber schließlich war er der Kronprinz und damit die zweitwichtigste Person im ganzen Land. Kein Wunder, dass man ihn nur zur Nachtruhe allein ließ. Morgens in der Frühe wurde er von seinem Diener Sancho geweckt. Und abends, wenn es Zeit zum Schlafengehen war, zog dieser die Vorhänge in Timeons Gemach zu. Den ganzen Tag über war Timeon von Dienern und Höflingen umgeben, von seinen Lehrern, dem Schwertmeister und noch anderen Leuten, die alle im Schloss der nebenannischen Königsfamilie lebten. Himmel, er durfte nicht einmal allein ausreiten. Das wurmte ihn zunehmend mehr – er war doch kein Kind mehr!

Manchmal wünschte Timeon sich, er wäre ein einfacher Mann, der frei und ungezwungen einer Arbeit nachgehen und ungestört von höfischem Pomp leben konnte. Aber Timeon konnte sich nicht einmal betrinken ohne die Aussicht auf eine gewaltige Standpauke seines Vaters.

»Findet ihr nicht auch?«, riss Timeons Tanzpartnerin ihn aus seinen Gedanken.

»Wie bitte?« Verwirrt blickte er sie an.

»Ich fragte, ob euch dieser Tanz nicht auch ein wenig zu rasant ist«, erwiderte sie lächelnd.

Er hatte schon wieder ihren Namen vergessen, sie war eine Grafentochter, aber an mehr erinnerte er sich nicht.

»Ja, das ist er allerdings«, antwortete er. »Ich denke, ich könnte eine kleine Pause vertragen.«

Sie sah enttäuscht drein. Er versprach, ihr ein Getränk zu besorgen und brachte sie damit wieder zum Lächeln.

Aber er musste raus hier, die Luft war ja zum Schneiden dick und all die vielen Menschen … er würde hier drin noch ersticken!

Timeon ließ die strahlende Pracht des Ballsaals hinter sich und entspannte seine vom Lächeln verkrampften Muskeln. Er ging quer durch den ersten Stock und trat auf einen der steinernen Balkone hinaus. Eine laue nächtliche Brise strich über sein Gesicht. Timeon starrte hinauf in den Nachthimmel, der voller Sterne war. Es hieß, Seefahrer orientierten sich in der Nacht auf hoher See an den Gestirnen. Einen Moment lang träumte er sich fort, auf ein Schiff, das ihn mitnehmen würde, ein Schiff voller gutaussehender Seeleute … Ja, das würde ihm gefallen. Ach, wenn er doch nur von hier fortgehen könnte!

Ein unmöglicher Traum, aber ein schöner. Doch fürs Erste musste er bleiben, den braven Kronprinzen mimen, Komplimente machen und das Lächeln nicht vergessen. Und der Grafentochter wie versprochen ein Getränk besorgen. Mit einem Seufzen verließ er den Balkon. In einer Nische etwas abseits hörte er ein Kichern. Zwei Frauen flüsterten miteinander, wenn auch nicht leise genug, als dass er sie nicht verstehen könnte.

»Findest du nicht auch, dass Prinz Timeon wunderbar aussieht? Mit diesen Haaren wie Gold und den braunen Augen?«

»Ach, ich weiß nicht, ich finde ihn eigentlich recht gewöhnlich. Mir sind schon besser aussehende Männer begegnet. Aber darauf kommt es ja nicht an, nicht wahr? Er wird einmal König werden, wen kümmert da sein Aussehen?«

Ein erneutes Kichern. »Wir sollten bald aufbrechen, denke ich«, sagte die andere. »Meine Schuhe sind schon ganz zertanzt, ich habe mittlerweile ein Loch in der Sohle.«

»Meine machen auch nicht mehr lange mit«, erwiderte die andere. »Ach, das wird wieder Ärger mit Vater geben!«

Auf Zehenspitzen lief er in die entgegengesetzte Richtung weiter, bevor die beiden ihn entdecken konnten. Ein Mann in prächtiger Kleidung rempelte ihn an, als er auf der Höhe der Treppe war.

»Verzeiht, Hoheit.« Der Gast hastete weiter. Er bückte sich und hob einen gläsernen Damenschuh auf, der auf einer der Treppenstufen lag.

»Ich muss sie wiederfinden!«, rief er aus.

»Ihr wollt eine Frau mithilfe eines Schuhs wiederfinden!?« Kopfschüttelnd sah Timeon dem Adligen nach. »Na, dann viel Glück.«

Zurück im Ballsaal, griff er sich den erstbesten Becher vom Tablett eines Dieners, dessen er habhaft werden konnte, und sah sich nach der Grafentochter um. Mit Erleichterung stellte er fest, dass sie mittlerweile mit einem anderen Herrn tanzte. Vielleicht hatte sie nicht länger auf Timeon warten wollen? Er ließ sich das Getränk munden – ein samtiger Met, der ihm die Kehle hinunterlief wie geschmolzene Butter, wenn auch mit einem ganz anderen, feurig-süßen Aroma.

Der Tanz endete. Minuten später erinnerte Timeons Mutter ihn mit strenger Miene an seine Pflicht. Also zwang er sich ein weiteres strahlendes Lächeln ins Gesicht und tanzte mit der nächsten Dame.

So verging Stunde um Stunde des Balls, während sich Timeon weit, weit weg sehnte. Nach der ganzen Tanzerei, spät in der Nacht, begannen die Gäste sich nach und nach zu verabschieden. Timeon verteilte Handküsse bei den Damen und nickte den Herren zu, eine endlose Prozession edel gekleideter Leute mit hoffnungsfrohen Mienen.

Timeon indes war einfach nur todmüde und sehnte sich ausnahmsweise nicht nach dem Stallburschen, sondern nur nach seinem Bett. In das er sich eine Stunde später fallen ließ, mitsamt der blank polierten Stiefel. Bis sein Diener Sancho mit gerunzelter Stirn hereinkam, und ihm letztere auszog. Danach reichte er ihm ein zusammengefaltetes Nachthemd, machte aber glücklicherweise keine Anstalten, selbst Hand anzulegen. Gähnend wechselte Timeon die festliche Garderobe gegen das schlichte weiße Leinen. Minuten später fiel er in einen tiefen Schlaf.

 

***

Wie jeden Morgen nahmen seine Eltern und er das Frühstück am Esstisch im Speisesaal ein. Dessen Boden war wie ein Schachbrett in schwarz und weiß gemustert und über ihnen an der Decke erstreckte sich eine kunstvolle Malerei, die Szenen aus alten Mythen zeigte – Gottheiten in fließenden Gewändern und prächtigem Kopfschmuck, einen Helden auf der Jagd und seine Beute. Der Esstisch aus dunklem Nussbaumholz war lang genug, als dass eine ganze Kompanie daran hätte speisen können.

Timeon plagten drückende Kopfschmerzen. Vielleicht hätte er auf dem Ball nicht so viel Met und Wein durcheinander trinken sollen? Seine Eltern dagegen wirkten recht munter, Cecilie und ihr Verlobter ebenso.

Die Königin schenkte Timeon ein Lächeln. »Nun, mein lieber Sohn? Sag an, welche der Damen auf dem Ball hast du für eine Eheschließung ins Auge gefasst? Du warst ja wieder recht zurückhaltend …« Erwartungsvoll blickte sie ihn an und auch sein Vater musterte ihn neugierig.

Er wollte gar nicht erst um den heißen Brei herumreden. »Es tut mir leid, aber keine von ihnen hat mir das Herz erwärmt.«

Mit gerunzelter Stirn stellte König Adathorn seinen Becher ab. »Aber Timeon, ich muss doch sehr bitten! Wie viele Bälle lang willst du uns denn noch hinhalten? Du bist der Kronprinz. Es ist deine Pflicht, dich zu vermählen, wie oft müssen wir das denn noch sagen?«

Ein flaues Gefühl machte sich in Timeons Magen breit. Mit einem Mal war ihm der Appetit vergangen. Er wollte etwas erwidern, doch sein Vater hob eine Hand und sprach weiter: »Es reicht mir! Wenn du keine Frau finden kannst, der deine Liebe gilt, dann finde eine, der du freundschaftlich verbunden sein kannst. Eine Frau, die halbwegs angenehm ist und den Eindruck macht, später gesunde Erben in die Welt setzen zu können. Das Königreich braucht nun einmal einen Erben!«

Timeon wurde immer kleiner in seinem Stuhl. Das entging offenbar auch seinem Vater nicht. Cecilie und der Fürstensohn schwiegen mit betretenen Mienen.

»Nun, ich weiß ja, dass es nicht immer einfach ist, wenn man sich auf Freiersfüßen bewegt«, gab der König zu. »Deine Mutter und ich, wir hatten auch so unsere Probleme.« Er wechselte einen Blick mit seiner Gattin. »Als wir uns kennenlernten, war sie recht hochnäsig. Sie hat sie mich verspottet, hat mich König Drosselbart genannt, wegen meines krummen Kinns, das sie an einen Schnabel erinnert hat. Ihr Vater und ich haben ihr zu jener Zeit eine Lektion erteilt, die sie nie vergessen hat. Aber genug von diesen alten Geschichten ...« Adathorn räusperte sich. »Auf dem nächsten Ball oder bei der nächsten sonstigen Gelegenheit wirst du dir eine Frau suchen. Ob sie dir nun gefällt oder nicht. Manchmal kommt die Liebe mit den Jahren, so war es auch bei deiner Mutter und mir. Das ist mein letztes Wort in dieser Sache!«

 

***

 

In der folgenden Woche reisten Cecilie und ihr Verlobter ab, sie wollten dessen Familie besuchen und über erste Vorbereitungen zur Hochzeit sprechen.

Die drohenden Worte seines Vaters ließen Timeon nicht los. Mehr als einmal floh er aus dem Palast, um auf einem Ausritt mit seinem Pferd Falada den Kopf freizubekommen. Und um den bezaubernden Stallburschen zu sehen. Doch der erzählte ihm freudestrahlend, er hätte sich mit einer jungen Frau aus dem Nachbardorf verlobt. Sobald er befördert wurde – der alte Stallmeister würde die Arbeit sicher nicht mehr lange machen können –, wollten die beiden heiraten.

Ein bitterer Schmerz erfasste Timeons Herz, als er davon hörte. Er beschloss, seine Sehnsucht in eine kleine Kammer in seinem Inneren zu sperren und den Schlüssel wegzuwerfen. Denn was half ihm alles Schmachten gegenüber gutaussehenden jungen Burschen wie jenem aus dem Stall, wenn er doch eine Frau ehelichen sollte, und das so bald wie möglich?

Ach, warum war er nur als Prinz geboren worden? Die ganze Welt schaute ehrfürchtig auf zum Adel, doch da war nicht alles Glanz und Gloria – Menschen wie er saßen in einem goldenen Käfig gefangen, von allerhand Verpflichtungen erdrückt. Timeon spielte mit dem Gedanken, seinem Diener Sancho von seinen Grübeleien zu erzählen. Sancho war mit einem gesunden Menschenverstand – und einer kleinen, rundlichen Statur – gesegnet. Vielleicht hatte er ja einen Ratschlag?

Aber Sancho lächelte nur unsicher, als Timeon ihm sein Herz ausschüttete. »Herr, Ihr solltet Euch doch glücklich schätzen. Ihr habt gütige Eltern, ein Dach über dem Kopf, prächtige Kleidung und das beste Essen, das man sich nur vorstellen kann. Und in einigen Jahren werdet Ihr das Königreich regieren und alle Menschen werden Euch lieben und ehren, wie schon Euren Vater vor Euch.«

»Aber was ist mit meinem Herz?«, fragte Timeon. »Ich soll eine Frau finden, möglichst bald, gleichgültig, ob ich sie liebe oder nicht.«

Sancho lachte. „Liebe? Liebe ist was für Träumer, Barden und Dichter, Herr.«

»Ach, Sancho«, erwiderte Timeon mit einem Seufzen. Wahrscheinlich war es wirklich das Beste, alle romantischen Anwandlungen aus seinem Leben zu verbannen und sich seinen Aufgaben zu stellen? Ihm sank allerdings das Herz bei diesem Gedanken. Das waren traurige Aussichten.

 

***

 

Am Ende jener Woche nach dem Ball saß Timeon wieder einmal an der langen Tafel seiner Eltern und schaufelte lustlos das köstliche Essen in sich hinein.

»Ich habe Neuigkeiten für dich«, verkündete König Adathorn mit triumphierender Miene.

Timeon legte überrascht den Löffel wieder hin, den er gerade hatte zum Mund führen wollen. »So?«

»Ein Schreiben aus dem Land Inderferne hat mich erreicht. Einer unserer Gelehrten hat es für mich übersetzt. Die Tochter des Königspaares, Prinzessin Rosalio, wurde entführt. Die Einzelheiten klären wir später, aber du wirst auf jeden Fall dorthin reisen und sie retten. Und danach wirst du sie heiraten. Das steht zwar nicht in dem Schreiben, aber sicher wird dem nichts im Weg stehen. Der König, Sebastiao III., wird sich gewiss erkenntlich zeigen wollen. Wir haben bisher so gut wie keine Beziehungen zu diesem Reich, doch meine Berater haben mir schon oft nahegelegt, dass sie von Vorteil wären. Inderferne verfügt über von unserer Wirtschaft höchst begehrte Rohstoffe. Es gibt dort sogar Goldminen. Wir sollten Handelsbeziehungen und noch mehr anbahnen, um auch den Wohlstand von Nebenannien zu mehren. Deshalb erscheint mir eine Ehe mit der Kronprinzessin höchst angemessen.«

Timeon zögerte. »Aber … wenn sie mir nicht gefällt?«, presste er hervor.

Eine steile Falte grub sich in die Stirn des Königs. »Darüber haben wir doch schon gesprochen. Du wirst sie heiraten. Das ist ein königlicher Befehl. Hast du mich verstanden?« Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch.

»Ja, Vater«, erwiderte Timeon pflichtschuldig, auch wenn es in seinem Inneren ganz anders aussah. Ohnmächtiger Zorn brodelte in ihm wie Lava. Er schob sich ein Stück Braten in den Mund und kaute kräftig darauf herum, um seiner Wut Herr zu werden.

»Nimm deinen Diener Sancho mit auf die Reise. Morgen brecht ihr auf.«

Timeon verschluckte sich fast und hustete. »Morgen schon?«, fragte er, als seine Kehle wieder frei war.

»Natürlich! Die Zeit drängt«, erklärte Adathorn mit gerunzelter Stirn. »Die Prinzessin ist schon viel zu lange verschwunden, und bis ihr nach Inderferne gereist seid, werden ja auch noch einige Tage vergehen.«

»Kann ich mit der Kutsche fahren?«

»Wo denkst du hin? Wenn das Gelände unwegsam ist, werdet ihr damit nur steckenbleiben. Nein, ihr werdet reiten, getarnt als einfache Leute.«

»Ich soll fast ohne Gefolge reisen? Nur mit einem Diener? Aber was ist, wenn wir angegriffen werden? Von Diebesgesindel, oder Wegelagerern?«

Der König schwieg einen Moment lang. »Das ist allerdings wahr. Unterwegs mögen allerhand Gefahren lauern. Aber Sancho und du, ihr beide beherrscht den Umgang mit einem Schwert. Ihr werdet euch wie gesagt, tarnen. Und du wirst selbstredend eine Rüstung tragen. Ich bin mir sicher, je weniger Leute dich begleiten, desto weniger werdet ihr auffallen.«

Timeons Wut war nicht verschwunden, aber sie war nicht so übermächtig, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Er überlegte. Adathorn konnte sehr stur sein. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er keine Widerworte gelten. Und warum auch, immerhin war er der König und gewohnt, dass man seine Befehle befolgte. Eine Diskussion hätte den Standpunkt seines Vaters wohl nur noch mehr verfestigt.

Aber warum musste Timeon ausgerechnet nach Inderferne reisen, um eine ihm vollkommen fremde Prinzessin zu retten, die er dann auch noch heiraten sollte? Nicht, dass er grundsätzlich etwas gegen eine Reise einzuwenden gehabt hätte – ein Tapetenwechsel hin und wieder, das ließ er sich gern gefallen. Aber er hätte viel lieber selbst gewählt, wohin die Reise gehen würde und dieser Anlass erschien ihm wenig verlockend. Sein Glück hatte ihn offenbar vollends verlassen! Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. »Wie Ihr wünscht, Vater«, erwiderte Timeon schließlich und fügte sich zähneknirschend seinem Schicksal.

 

Schon am folgenden Tag machten sich Timeon und sein Diener Sancho bereit für die Abreise. Timeon hatte erneut schlecht geschlafen, wilde Träume hatten ihn geplagt, in denen er mit Drachen kämpfte. Vor lauter Nervosität knabberte er an einem Fingernagel, eine Angewohnheit aus seiner Kindheit, die ihm ein Lehrer damals abgewöhnt hatte.

Sancho blickte ihn prüfend an und Timeon nahm den Finger vom Mund. Sie hatten allerhand Proviant dabei und einiges an Gegenständen, die sich unterwegs als nützlich erweisen mochten: ein langes Seil, zwei Schwerter, jeweils einen Dolch und einen Sperrhaken, mit dem man Schlösser öffnen konnte. Ein Beamter des Königreiches hatte ihnen außerdem über Nacht gefälschte Ausweispapiere angefertigt, die sie zur Tarnung vorzeigen konnten. Sie beide wurden darin als Bauhandwerker bezeichnet. Diese Leute reisten oft nicht nur als Gesellen durchs Land, sondern auch später noch, immer auf der Suche nach Baustellen, bei denen sie ihre Dienste anbieten konnten.

Timeon trug ebenso schlichte Kleidung wie sein Begleiter: Eine dunkelbraune, robuste Hose, dazu ein naturfarbenes Leinenhemd mit einer Schnürung, darüber eine Lederrüstung, die teilweise mit Metall beschlagen war. Seine Stiefel wirkten bescheiden, an ihnen fehlte jeglicher Zierrat, wie er es sonst von seinem Schuhwerk gewohnt war. Das Haar trug er offen, ohne eine Kopfbedeckung. Es war Sommer und gewiss würde der Tag recht warm werden. Für alle Fälle hatte er auch einen schweren Wollumhang dabei, der konnte zur Not auch als Decke dienen und ihn wärmen. Sancho trug ein rotes Halstuch, das ihm unterwegs nützlich sein mochte.

»Viel Glück!«, wünschte ihnen der König zum Abschied.

»Eine gute Reise«, sagte seine Mutter und umarmte Timeon, ehe er auf Falada aufsaß.

Wehmütig drehte Timeon sich noch einmal um, betrachtete einen Moment lang seine Eltern und das Schloss hinter ihnen. Die Wut auf seinen Vater war verraucht und er schwankte nun zwischen Abenteuerlust und der bangen Frage, ob es eine gefährliche Reise werden würde. Hoffentlich würde sie nicht allzu lang dauern! Er winkte dem Königspaar zu und drehte sich wieder um, blickte auf die mit groben Steinen gepflasterte Straße, die vor ihnen lag. Timeon war nicht oft von zu Hause fortgereist – und bei den wenigen Gelegenheiten noch nie so schlicht und ohne Komfort.

Sancho kommentierte lautstark die Landschaft, die sie durchquerten, vorbei an brachliegenden Feldern und solchen, die bestellt wurden, an Weideflächen mit blökenden Schafen und bunten Feldblumen, die von Insekten umschwirrt wurden. An einigen Stellen gab es tiefe Schlaglöcher in der Straße, so dass sie hier und da im Zickzack ausweichen mussten.

Ein Schwarm Wildgänse flatterte schnatternd an ihnen vorbei. Einige Zeit später zählte Timeon sieben Schwäne, die am Himmel eine gerade Linie bildeten und sich kurz darauf an einem See in der Nähe niederließen. Drei Stunden nach ihrem Aufbruch tat ihm bereits der Hintern weh. Natürlich hatte er schon oft Ausritte gemacht, aber die dauerten selten so lange.

Sie erreichten einen weitläufigen Wald, den Timeon von Jagdausflügen kannte. Laub- und Nadelbäume waren zu sehen, ebenso allerhand Gebüsch. Manche Stellen waren von dichten Farngewächsen bedeckt. Hier und da malten Sonnenstrahlen hell erleuchtete Flecken in das Grün des Waldes, während anderswo tiefe Schatten das Licht verschluckten. Die friedlich wirkende Landschaft war wie Balsam für Timeons Nervosität und er fühlte sich nun etwas wohler als bei ihrem Aufbruch.

Sancho summte ein Liedchen vor sich hin, als sie einem schmalen Pfad folgten, der sich schon bald im Dickicht verlor. »In welche Richtung müssen wir reiten?«, fragte er. »Ich fürchte, wir werden uns hier verirren.«

»Das denke ich nicht. Halten wir einen Moment.« Timeon zügelte Falada und zog einen Kompass aus seiner Gürteltasche. Er hielt das kleine Gerät hoch. »Siehst du? Das war ein Geschenk meiner Eltern zu meinem achtzehnten Geburtstag. Eine wunderbare Erfindung, mit deren Hilfe man immer die Himmelsrichtungen herausfinden kann. Diese Nadel zeigt wie ein Pfeil stets nach Norden.«

»Wir müssen nach Nordosten reiten«, sagte Sancho. »In jener Richtung liegt Inderferne.«

Auf dem Kompass war auch der Nordosten eingezeichnet. Timeon betrachtete die Nadel einen Moment lang und blickte in den Wald. »Dort entlang ist Nordosten«, sagte er schließlich zufrieden und steckte den Kompass ein.

Allerdings wurde der Wald in jener Richtung immer dichter. Immer wieder mussten sie dichtem Gestrüpp und Bäumen ausweichen. Die Pferde stiegen vorsichtig über breite Wurzeln, die aus dem Boden hervorragten. Die Luft des Waldes war erfüllt von einem Rascheln und Knistern, hin und wieder huschte ein Eichhörnchen vorbei und in den Bäumen zwitscherten Singvögel um die Wette.

Plötzlich tauchte in einiger Entfernung eine rote Gestalt auf, ein heller Farbfleck in all dem dunklen Grün.

Timeon zügelte erneut sein Pferd und hob eine Hand. »Halten wir! Sieh nur.« Er deutete in Richtung der Gestalt.

Sancho nickte. Laut rief er jener Person entgegen: »Wer seid Ihr?«

Timeon warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich hoffe, du bringst uns nicht in Gefahr«, murmelte er. Ein Kribbeln in seinem Inneren; ob es besser war, wenn sie sich auf eine Flucht einstellten?

Die rote Gestalt drehte sich zu ihnen herum und entpuppte sich als junges Mädchen mit einem Korb in der Hand und einem fast bodenlangen blutroten Umhang mit einer weiten Kapuze. Schwankend kam sie näher.

Falada wieherte nervös.

»Guuu’n T-tag, die Herrn. Hab mich verlaufn.« Ihre Stimme klang verwaschen, manche Silben zog sie in die Länge. Sie umklammerte den Korb, der mit einem rotweiß karierten Tuch zugedeckt war. »Rottkäppch’n, nee, Rotkäppchen wer … werd ich genannt«, lallte sie.

»Die hat doch einen im Tee«, murmelte Sancho kopfschüttelnd.

Timeon ignorierte dies und wandte sich an Rotkäppchen. »Was machst du denn hier allein im Wald?«

»Ich soll die Großmudder besuch’n, mit Wein un’ Kuchen. Meine Mudder schickt mich …« Ein hicksendes Geräusch unterbrach ihre Worte. »Aber der Weg … hab den Weg verloren. Bin schon seit Stund’n unnerwegs. Un’ dann hat ich Durst un’ Huunger, da wollte ich nur ein Schlückch’n tring’n. Und den Kuchen, den wollt ich probier’n. Ach, der war soo lecker. Nun is er leer un’er Wein auch.« Etwas Weinerliches schlich sich in ihre Stimme. »Sagt es nich der Mudder, ja? Sonst wirdse mit mir schimpf’n.«

»Wo ist denn das Haus deiner Mutter?«, fragte Timeon.

Sie zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nich’. Hab mich doch verlauf’n.«

»Ist es denn im Wald? Oder am Waldrand?«, fragte der Diener.

»Nee, nee, das is midden im Wald. Aber ich weiß nich’ wo.«

»Dann komm mit uns«, schlug Timeon vor. »Wir reiten ohnehin durch den Wald, vielleicht finden wir zusammen das Haus deiner Mutter. Oder das deiner Großmutter.«

Rotkäppchen lächelte überrascht. »Ach, das is aber sehr freunnlich von Euch. Das nehm ich gern an.«

Mit dem schwankenden Mädchen an ihrer Seite kamen sie deutlich langsamer voran, deshalb schlug Sancho vor, sie solle zu ihm aufs Pferd steigen.

»Aber ich kann nich’ reiden, wie soll das geh’n?

---ENDE DER LESEPROBE---