Post mortem - Amalia Zeichnerin - E-Book

Post mortem E-Book

Amalia Zeichnerin

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Beschreibung

London, 1878. Als die junge Sängerin Pauline Westray in einem Fotoatelier überraschend stirbt, stehen der Fotograf Clarence Fox und seine Ehefrau Mabel vor einem Rätsel – war die Praline, die sie kurz vor ihrem Tod aß, vergiftet? Während die Polizei keine Erklärung für den Tod finden kann und den Fall bald als natürlichen Tod zu den Akten legt, kann Mabel, die die junge Frau kannte, das nicht glauben. Mabel und Clarence beginnen, weitere Nachforschungen anzustellen. Schon bald stoßen sie auf mehr als nur einen Verdächtigen aus Miss Westrays Umfeld ...

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PostMortem

Ein viktorianischer Krimimit Mrs und Mr FoxvonAmalia Zeichnerin

Inhalt

Kapitel 1 – CLARENCE Dienstag, 29. Oktober 1878

Kapitel 2 – MABEL

Kapitel 3 – CLARENCE

Kapitel 4 – MABEL Donnerstag, 31. Oktober 1878

Kapitel 5 – MABEL Freitag, 8. November 1878

Kapitel 6 – CLARENCE

Kapitel 7 – MABEL

Kapitel 8 – CLARENCE Sonnabend, 30. November 1878

Kapitel 9 – MABEL

Kapitel 10 – CLARENCE Montag, 9. Dezember 1878

Kapitel 11 – MABEL Dienstag, 10. Dezember 1878

Kapitel 12 – CLARENCE Montag, 23. Dezember 1878

Kapitel 13 – MABEL Mittwoch, 25. Dezember 1878

Kapitel 1 – CLARENCE

Dienstag, 29. Oktober 1878

Clarence Fox schüttelte das Glas mit der Kollodium-Lösung, die er für seine Nassplattenfotografie benötigte, und sah sich in seinem Atelier um. Die Einrichtung war in verschiedenen Brauntönen gehalten, bewusst schlicht, aber gepflegt. Das dunkle Nussbaumholz der wenigen Möbel glänzte, hier lag kein Staubkorn zu viel. Schließlich wollte er bei seiner Kundschaft einen guten Eindruck erwecken. Außerdem sollten sie sich in seinem Geschäft wohlfühlen und es weiterempfehlen.

Nachdenklich warf Clarence einen Blick aus einem der beiden Fenster seines Ateliers, während er das Glas weiter schüttelte. Tropfen prasselten gegen die Scheiben. Sie glänzten im Lichtschein, der aus dem Nachbarhaus drang, wie goldene Fäden, die quer über das Glas liefen. Ein Mann in einem langen Mantel eilte vorbei, den Zylinder leicht schräg auf dem Kopf. Dessen Gestalt hob sich dunkel vor dem Grau des trüben, verregneten Oktobertages ab.

An den Wänden seines Ateliers hingen einige gerahmte Abbildungen aus den letzten Jahren, die potenziellen Kundinnen und Kunden als Anschauungsmaterial seiner Kunst dienen konnten. Ein warmes Gefühl durchzog seine Brust; er war stolz auf das, was er und sein Vater, in dessen Fußstapfen er getreten war, hier erreicht hatten. Die Fotografie war für sie beide eine eigene Kunstform. Vor einigen Jahren, als die Sehkraft seines alten Herrn nachzulassen begonnen hatte begann, hatte Clarence das Atelier von ihm übernommen.

Jeremiah Fox hatte seinerzeit mit Daguerreotypien begonnen – ein viel aufwendigeres Verfahren als die Kollodium-Nassplatte, mit deren Hilfe sich auch relativ einfach Albuminpapierabzüge herstellen ließen. Als Clarence noch ein Jugendlicher gewesen war, hatte sein Vater ihm einen Artikel im Magazin »The Chemist« gezeigt, in dem dieses neue Verfahren von einem gewissen Frederick Scott Archer vorgestellt wurde. Eine Innovation, die sich schließlich durchsetzen sollte.

Auf einer Schiefertafel, die an sonnigen Tagen draußen neben dem Eingang hing, hatte Clarence seine Preise mit Kreide aufgelistet. An solch regnerischen Tagen wie diesem hängte er die Tafel innen neben die Eingangstür. Manche Kunden verlegten sich gern aufs Feilschen, aber Clarence waren feste Preise lieber. Das war auch viel einfacher für die Buchhaltung, bei der ihm sein Sohn Theodor gelegentlich half.

Das Glöckchen an der Eingangstür läutete und im nächsten Moment betrat eine junge Frau das Atelier. Clarence stellte die Kollodium-Lösung ab und trat auf die Dame zu. Sie war noch jung, ungefähr im Alter seiner Tochter Adelia, und wirkte wie das blühende Leben: mit einem rosigen Teint und rotblondem Haar, das an den Seiten unter ihrem blaugrauen Hut hervorschaute. Wache Augen blickten ihm entgegen. Die Dame trug einen fast bodenlangen blauen Mantel mit einem leichten Violettschimmer, der hervorragend zu ihrer Haarfarbe passte. Dazu schwarze Handschuhe aus feinem Wildleder und eine dunkelblaue Handtasche, die sie sich über den Unterarm gehängt hatte. Ihr Rock bauschte sich modisch auf der Rückseite, wie die Damen es dieser Tage trugen, war aber nicht übermäßig voluminös, denn das war eher festlichen Abendgarderoben vorbehalten.

»Guten Tag, Mr Fox«, begrüßte sie ihn mit einem höflichen Lächeln. »Ich bin eine Bekannte Ihrer Gattin, mein Name ist Pauline Westray.« Sie hatte eine helle, melodische Stimme und artikulierte ihre Worte sehr genau. So genau, dass er ihren Akzent nur schwer einordnen konnte. Auch angesichts ihrer Kleidung vermutete er, dass sie der Mittelschicht entstammte, aber ob es eher die untere, die mittlere oder die gehobene war, konnte er auf Anhieb nicht benennen.

Seine Ehefrau Mabel hatte einmal eine junge Sängerin mit diesem Namen erwähnt.

Er schenkte der Dame ein ebenso höfliches Lächeln. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte mich gern am Royalen Opernhaus als Chorsängerin bewerben. Dafür benötige ich eine Abbildung meiner Person – auf Papier. Ihre Frau hat mir von Ihrem Atelier erzählt, deshalb bin ich hierhergekommen.«

Clarence nickte erfreut. Mabel hatte, wie er selbst, einen großen Bekanntenkreis, angefangen bei Leuten aus der Kirchengemeinde über die Nachbarinnen – darunter zwei reizende ältere Damen – bis hin zu alten Freundinnen, die sie schon fast ihr halbes Leben lang kannte. Sie empfahl das Fotoatelier bei jeder sich bietenden Gelegenheit weiter und hin und wieder hatte ihm das Aufträge beschert. Es fiel ihm gelegentlich schwer, sich all die Namen zu merken, wenn seine Frau ihm von ihren zahlreichen Bekanntschaften erzählte. Mit Gesichtern war es anders – Clarence vergaß nie ein Gesicht, wenn er es einmal gesehen hatte. Er hatte allerdings des Öfteren Schwierigkeiten einzuordnen, wo er jemanden, den er wiedererkannte, schon einmal gesehen hatte.

»Sehr gern, Miss Westray.« Er nannte ihr den Preis für eine solche Abbildung.

Sie nickte ihm zu. »Das ist mir recht.«

»Gut. Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen?«, sagte er mit einem Fingerzeig in Richtung des Garderobenständers aus dunklem Nussholz in der Ecke. Als er sich ihr näherte, nahm er einen schwachen Parfümduft wahr. Rose und ein Hauch Sandelholz, Letzteres vielleicht aus der indischen Kolonie. Exotische Parfüms waren sehr beliebt bei den Damen, das wusste er von seiner Frau. Allerdings waren diese auch sehr kostspielig. Vermutlich stammte Miss Westray aus der gehobenen Mittelschicht. Ihre Kleidung ließ das zumindest vermuten. Aber das ging ihn nichts an, deshalb verscheuchte er diesen Gedanken.

Auch den Hut und die Handschuhe legte sie ab. Sie trug keinen Ring, war also weder verlobt noch verheiratet. Das hätte ihn auch gewundert, schließlich schickte es sich für verheiratete Damen aus der Mittelschicht nicht zu arbeiten.

»Sind Sie mit meiner Frau näher bekannt, wenn ich fragen darf?«

»Nun, das nicht gerade, wir kennen uns über gemeinsame Bekannte«, erwiderte Miss Westray mit einem unverbindlichen Lächeln und er hakte nicht weiter nach, denn er wollte nicht über Gebühr neugierig erscheinen.

»Das freut mich«, sagte Clarence deshalb nur. Je nach den Wünschen seiner Kunden sorgte er für eine passende Kulisse im Hintergrund. »Wie möchten Sie abgebildet werden? Im Stehen oder im Sitzen?«

Sie warf einen Blick auf den bereitstehenden Stuhl mit den Armlehnen. »Gern im Sitzen.«

»Wie Sie wünschen, Miss Westray. Sie haben freie Wahl, was den Hintergrund Ihrer Abbildung betrifft. Ich verfüge über verschiedene große Leinwände. Die eine ist schlicht und neutral, ich habe aber auch drei bemalte. Ein Bühnenbildner, der eigentlich fürs Theater arbeitet, hat sie gestaltet.«

»Ganz vorzüglich! Um was für Motive handelt es sich denn?«

»Ich könnte Ihnen eine liebliche Sommerlandschaft mit Bäumen und einer Wiese anbieten oder eine antik anmutende Szenerie mit Säulen, die über korinthische Kapitelle verfügen. Ansonsten hätte ich noch ein durchaus realistisch gemaltes Regal voller Bücher, wie in einer Bibliothek.« Clarence hielt kurz inne. »Wenn Sie einen Rat von mir wünschen?«

Ein charmantes Lächeln erhellte ihre Züge. »Ich bitte darum.«

»Ein neutraler Hintergrund für ein solches Bild wäre aus meiner Sicht ratsam, da Sie sich ja damit bewerben wollen. Ein bemalter Hintergrund würde von Ihnen selbst … ein wenig ablenken, schätze ich.«

Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ja, das denke ich auch.«

Das ließ sich gut an. Manche Kunden waren enttäuscht, wenn er ihnen seine Auswahl vorstellte, oder hatten ganz andere Vorstellungen als er zu einer Abbildung oder auch Ideen, die sich in seinem Atelier gar nicht umsetzen ließen. Er nickte seiner Kundin zu. »Gut, dann nehmen Sie bitte hier Platz.«

Hinter dem Stuhl, auf den er deutete, befand sich eine gabelartige Vorrichtung aus Metall, die verhindern sollte, dass sich die Abzubildenden versehentlich bewegten.

»Haben Sie schon einmal eine Abbildung von sich anfertigen lassen?«, erkundigte er sich.

Miss Westray überlegte kurz, ehe sie ihm antwortete. »Zuletzt als Jugendliche, zusammen mit meinen Eltern. Das dürfte an die fünf Jahre her sein.«

Er lächelte höflich. »Ah, ich verstehe. Nun, dann kennen Sie ja das Prozedere. Seitdem hat sich daran nichts geändert. Ich kümmere mich nun um die Nassplatte und würde Sie um einen Moment Geduld bitten.«

Sie nickte ihm zu, nahm auf dem Stuhl Platz und öffnete ihre Handtasche.

Clarence verließ mit dem Fläschchen Kollodium-Lösung den Raum und ging in den kleineren Lagerraum nebenan, in dem er die Chemikalien und die Glasplatten aufbewahrte. In diesem Raum, den er nie seiner Kundschaft zeigte, weil es gänzlich unnötig war, hatte er alles ganz schlicht und zweckmäßig eingerichtet: ein Regal für die chemischen Substanzen, außerdem ein Tisch, den er immer gründlich abwischte, darauf ein hölzerner Kasten, in dem er die Glasplatten lagerte. Er zog eine der Platten heraus und streifte sich die Handschuhe über.

Die Glasplatte putzte er mit einem Tuch so gründlich, dass sich schließlich kein Staubkorn mehr darauf befand. Vorsichtig legte er sie auf dem blank polierten Tisch ab und übergoss sie mit der Lösung. Diese bestand aus Kollodiumwolle sowie Iod- und Bromsalzen in Ethanol und Ether. Die Flüssigkeit trocknete wie immer rasch zu einer gallertartigen Masse ein. Nun musste er sich eilen. Rasch ging er mit der Platte in die angrenzende Dunkelkammer und tauchte sie in eine Silbernitratlösung, die auf einem Tisch bereitstand. Die Iodsalze wandelten sich nun in Silberiodid und Silberbromid um.

Clarence nahm die behandelte Glasplatte aus dem Silberbad heraus und steckte sie, nass wie sie war, in das lichtdicht schließende Kästchen der Kamera, die ebenfalls auf dem Tisch stand. Er griff mit beiden Händen nach der Kamera, denn sie war recht schwer. Dann nahm er sie mit hinüber ins Atelier.

Miss Westray saß noch immer auf dem Stuhl und kaute etwas, was sie allerdings herunterschluckte, als er die Kamera auf dem Stativ in Stellung brachte. Die Handtasche stand nun zu ihren Füßen, und das war gut so, denn so würde sie nicht im Bild zu sehen sein.

»Miss Westray, ich würde Sie nun bitten, sich nicht mehr zu bewegen«, wies er sie an, während er hinter der Kamera hantierte. »Lächeln Sie gern – aber nur, wenn Sie das längere Zeit durchhalten, ohne dass sich Ihre Gesichtszüge verkrampfen.«

Durch die Lichtwirkung, die mehrere Minuten in Anspruch nahm, würde sich auf der Glasplatte ein Negativ bilden, von dem er nach einer weiteren chemischen Behandlung Papierabzüge herstellen konnte.

Miss Westray hustete.

Er sah hinter der Kamera hervor. Irgendetwas stimmte nicht; ihr Gesicht war mit einem Mal krebsrot. Sie schnappte nach Luft und fasste sich krampfhaft an den Hals.

Einen Moment lang war Clarence wie erstarrt. So etwas war in seinem Atelier noch nie passiert. Natürlich kam es vor, dass Kunden in einem ungünstigen Moment niesten oder husteten, und dann musste er mit der Aufnahme ganz von vorn beginnen. Miss Westray hustete immer noch. Vergessen waren Kamera und Abbildung, Clarence eilte zu der jungen Frau. »Was ist denn los, haben Sie sich verschluckt?«

Sie antwortete nicht. Ihre Hände gestikulierten wild in der Luft, während sie weiter nach Atem rang. Mit zwei langen Schritten war er hinter ihr und klopfte ihr mehrmals auf den Rücken. Aber auch das schien nicht zu helfen, denn sie gab noch immer würgende Geräusche von sich und ihre Gesichtsfarbe war bedenklich. Vielleicht ein Glas Wasser? Er spürte ihr Korsett durch den Stoff des Oberteils ihres Kleides. Sollte er es öffnen, damit sie besser Luft bekam? Aber nein, wenn sie sich verschluckt hatte, half das auch nicht! Himmel, was sollte er nur tun?

Mabel! Seine Frau war Lazarettkrankenschwester gewesen, sie kannte sich besser mit Medizin aus als er. Und sie war zu Hause. Bei allen Heiligen, hoffentlich konnte sie etwas ausrichten!

»Ich hole Hilfe, Miss Westray, halten Sie durch!«

Ohne auf eine Reaktion zu warten, stürzte er aus dem Atelier, nach hinten ins Treppenhaus. Auf der Treppe verfluchte er die Beinverletzung aus Kriegszeiten, die ihn hinken und außerhalb des Hauses einen Gehstock verwenden ließ. Die ihn langsamer machte. Er musste sich am Geländer festhalten, während er sich Stufe um Stufe vorkämpfte. Ihm raste das Herz. Himmel, nahmen diese verdammten Stufen denn gar kein Ende? Endlich war er im ersten Stock vor der kleinen Wohnung, in der er mit seiner Frau lebte, seit die Kinder aus dem Haus waren.

»Mabel!« Er hämmerte an die Tür. »Komm schnell! Ein Notfall!«

Es dauerte keine Minute, bis Mabel die Tür aufriss mit der Arzttasche in der Hand, die sie für Notfälle im Haus hatte. Ihr dunkles Haar, das bereits von grauen Strähnen durchzogen war, wirkte ein wenig zerzaust. Ihre dunkelbraunen Augen waren weit aufgerissen.

»Eine Kundin, Pauline Westray. Sie erstickt!«

Die Augen seiner Frau weiteten sich noch mehr. »Rasch!«, rief sie. Ihre Stimme überschlug sich fast. Gemeinsam hasteten sie die Treppe hinunter – Mabel voran, denn sie war schneller zu Fuß als er. Clarence verfluchte ein weiteres Mal im Stillen sein Bein und die Treppe. Schließlich polterte er mit schweren Schritten zurück ins Atelier.

Mabel war längst bei der Frau in Nöten, die noch immer auf dem Stuhl saß, und beugte sich über sie. Miss Westray war in sich zusammengesunken und hatte ihre Augen geschlossen. Ihre Lippen und die Augenlider wirkten geschwollen. Rund um den Mund ebenso wie am Hals war ihr Gesicht gerötet. Das steife Korsett hielt ihren Oberkörper halbwegs aufrecht. Das Gleiche galt für die Metallvorrichtung hinter ihrem Kopf.

Mabel legte ihr zwei Finger an die Halsschlagader. Die Sekunden wollten nicht vergehen. Sie wurde blass und presste für einen Moment die Lippen zusammen. »Miss Westray ist tot«, sagte sie mit aschfahlem Gesicht. »Oh Gott, die Ärmste! Was ist denn bloß passiert?« Eine Träne lief ihr übers Gesicht. Das, was Clarence selbst noch nicht fassen konnte, war bei seiner Frau wohl längst angekommen: die Gewissheit, dass sich in seinem Atelier ein plötzlicher Todesfall ereignet hatte.

Clarence starrte auf die junge Frau mit den seltsamen Rötungen und Schwellungen. Mit einem Mal war ihm schwindelig. Er musste sich setzen. Unsicher wankte er zu dem anderen Stuhl, der nur wenige Schritte entfernt stand.

»Was ist passiert?«, fragte seine Frau leise.

Clarence umklammerte die Stuhllehne, er brauchte den zusätzlichen Halt. Ruhe bewahren! Auf keinen Fall durfte er jetzt den Kopf verlieren. Er war nicht mehr im Krimkrieg, es war lange her. All die Leichen, all der Tod und der grässliche Geruch von Schießpulver, Blut und einsetzender Verwesung … Kalter Schweiß brach ihm aus, seine Hände waren mit einem Mal klamm.

Clarence straffte sich und konzentrierte sich auf das vertraute Gesicht seiner Frau. Er atmete zwei, drei Mal bewusst langsam ein und aus, so wie Doktor Tyner es ihm schon damals geraten hatte, wenn die grässlichen Bilder wieder auf ihn eingestürmt waren. Ein … aus … ein … aus. Allmählich beruhigte sich sein rasendes Herz.

Stockend begann er zu erzählen. »Ich sollte eine Abbildung von ihr anfertigen. Miss Westray sagte, sie wolle sich damit an der Königlichen Oper bewerben. Ich … ich sah, dass sie etwas aß, als ich mit der Glasplatte aus der Dunkelkammer kam. Sie schluckte es hinunter und ich vermutete zunächst, dass es ihr vielleicht im Rachen stecken geblieben war. Also klopfte ich ihr kräftig auf den Rücken. Doch das half nicht. Oh Mabel, ich weiß doch auch nicht, warum sie erstickt ist! Ich begreife das nicht, wie kann das sein?«

Seine Frau betastete den Hals der Verstorbenen. »Diese Schwellungen und Rötungen sind seltsam. So etwas passiert eigentlich nicht, wenn man sich verschluckt.« Ihre Stimme klang nun gefasst, was nicht zu ihren verquollenen, geröteten Augen passen wollte. Andererseits – sie war Krankenschwester gewesen, hatte dem Tod mehr als einmal ins Auge geblickt. Das hatte einen Teil ihres Lebens geprägt, und offenbar griff sie nun auf die ruhige Sachlichkeit von damals zurück, mit der er sie in jenen schrecklichen Tagen im Krieg als verwundeter Soldat kennengelernt hatte.

Mabel bückte sich nach Miss Westrays Handtasche. »Ich werde einmal schauen, ob ich herausfinde, was sie gegessen hat. Vielleicht hatte sie einen Apfel dabei oder …« Sie kramte in der Handtasche und zog eine kleine Pralinenschachtel heraus, wie man sie in manchen Konditoreien bekommen konnte. »Bromleys Pralinen – feine Schokoladenpralinen mit einer Apfel-Zimt-Füllung«, las sie die Beschriftung vor. Sie öffnete die Schachtel, sodass Clarence den Inhalt sehen konnte. Wie es aussah, fehlte nur eine einzige Praline.

»Wie seltsam! Ich denke nicht, dass sie sich an der Praline verschluckt hat. Mir scheint, die Rötungen passen nicht dazu. Näheres lässt sich aber wohl erst sagen, wenn sich ein Gerichtsmediziner die Leiche angeschaut hat.«

Clarence sah seine Frau überrascht an. »Du meinst, ihr Tod ist ein Fall für die Gerichtsmedizin?«

»Ganz sicher bin ich mir nicht, man müsste sie genauer untersuchen. Auf jeden Fall müssen wir Doktor Tyner verständigen.«

Der Coroner hier im Stadtteil war ein Bekannter von ihnen. Er arbeitete zudem im Leichenschauhaus als Gerichtsmediziner. Im Krimkrieg war Gerald Tyner Militärarzt gewesen. Mabel kannte ihn noch von damals, als sie in seinem Lazarett gearbeitet hatte. Sie hatte eine Menge von ihm gelernt und half ihm gelegentlich aus, wenn er zu viel zu tun hatte.

»Ich werde ihn suchen«, sagte er, doch Mabel schüttelte den Kopf.

»Würdest du dich stattdessen um die Abbildung kümmern?«, bat sie ihn. »Vielleicht kann sie uns etwas über den Tod der armen Pauline verraten. Ach Gott, sie hatte noch so viele Pläne und glänzende Zukunftsaussichten … Sie war eine wirklich talentierte Sängerin. Und nun wurde sie plötzlich aus dem Leben gerissen.« Mabel schniefte und wischte sich mit der Hand wenig damenhaft über das Gesicht. »Ich suche Doktor Tyner, wenn es dir recht ist.«

Clarence ließ sich das alles durch den Kopf gehen. In gewisser Weise war der einzige Zeuge dieses Todesfalls seine Kamera. Vermutlich würde es nicht viel bringen, aber einen Versuch war es wert. Er nickte. »In Ordnung.«

Nachdem Mabel das Atelier verlassen hatte, ergriff Clarence die Kamera mit beiden Händen und kehrte in die Dunkelkammer zurück. Die Routine der vertrauten Abläufe. Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren! Durfte sich nicht von Erinnerungen an die Begegnung mit dem Tod während des Krieges überrollen lassen. Nur die Ruhe!

Aber ach, das war leichter gesagt als getan. Ihm zitterten die Finger, unkontrollierbar. Um ein Haar hätte er die Kamera fallen lassen. Das hätte ihm gerade noch gefehlt! In der Kammer stellte er hastig das Gerät ab und ballte die Hände zu Fäusten, bis endlich die Anspannung nachließ und das vermaledeite Zittern aufhörte.

Vorsichtig nahm er die Glasplatte aus ihrer Kassette und übergoss sie mit einer Eisensulfatlösung. Er fixierte das gläserne Negativ und löste das enthaltene Silberiodid und das Silberbromid mit einer Natriumthiosulfatlösung heraus. Danach wusch er die Platte vorsichtig und überzog sie mit einem Alkoholfirnis. Ein erster Blick darauf zeigte ihm die zusammengesunkene, regungslose Gestalt von Miss Westray. Ein Albuminpapierabzug würde ähnlich aussehen als Positiv in bräunlichen und weißen Tönen.

Eine Post-Mortem-Abbildung. Wenn Kinder oder ältere Menschen starben, machten sich manche Angehörige – zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten – die Mühe, eine Abbildung der Verstorbenen erstellen zu lassen, bevor die Verwesung einsetzte und der Leichnam den Weg alles Irdischen ging. Das war gängige Praxis, auch sein Vater hatte solche Bilder angefertigt. Clarence selbst scheute davor zurück. Im Krieg hatte er so viele Leichen, so viele Tote gesehen, dass es für ein ganzes Leben reichte. Und nun saß ein Leichnam auf dem Stuhl in seinem Atelier …

Kapitel 2 – MABEL

Mabel wischte sich über das verweinte Gesicht. Die Tränen waren ihr peinlich, draußen vor den Leuten, aber wohin sollte sie sonst mit ihrer Trauer? Unfassbar, dass Miss Westray aus dem Leben geschieden war. Über gemeinsame Bekannte, die Porters, hatte sie die junge Frau kennengelernt. Sie war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Sie hatten einmal über Mabels Familie gesprochen, und bei allen weiteren Treffen hatte sich Miss Westray nach ihren Angehörigen erkundigt und das offenbar nicht nur als höfliche Floskel gemeint.

Mabel erinnerte sich noch gut an ein gemeinsames Gespräch, als sie beide und einige andere Damen bei Mrs Porter zum Tee eingeladen gewesen waren.

»Wann möchten Sie denn eine Familie gründen, Miss Westray?«, erkundigte sich Mrs Porter.

»Das weiß ich noch nicht. Erst einmal möchte ich an der Oper singen, das hat für mich oberste Priorität.« Miss Westray schenkte den anwesenden Damen ein schiefes Lächeln. »Meine Mutter wirft mir hier Ehrgeiz an der falschen Stelle vor. Mögen Sie Musik, Mrs Porter?«

»Ja, natürlich, keine Frage! Das geht uns sicher allen so.«

Mabel und die anderen Damen stimmten dem zu.

»Sehen Sie. Musik braucht ja nicht nur Hörende, sondern auch jene, die sie zum Klingen bringen. Ich möchte Menschen mit meinem Gesang erfreuen, aber auch mich selbst, das muss ich zugeben. Dabei denke ich ganz gewiss nicht im Kleinen. Ich möchte ein ganzes Theater mit meinem Gesang füllen, das ist mein größter Wunsch. Wenn ich das erreicht habe, dann – und erst dann – werde ich über eine Ehe nachdenken.«

»Aber haben Sie denn keine Angst, dass Sie als alte Jungfer enden könnten?«, fragte Mabel. »Je älter Sie werden, desto schwieriger wird es doch mit einer Eheschließung. Wissen Sie, in meinem Haus leben zwei ältere Damen, die sich eine Wohnung teilen. Miss Clover und Miss Gettis. Beide haben nie geheiratet und auch keine Kinder zur Welt gebracht. Sie sagten mir, es hätte sich für sie einfach nicht ergeben.«

Miss Westray lächelte. »Ich kann mich nur wiederholen. Meine erste Priorität ist der Gesang. Alles andere stelle ich hintan, auch wenn es nicht den üblichen Gepflogenheiten entspricht.«

»Ich muss schon sagen, Miss Westray – ich bin ein wenig erstaunt, dass Ihre Eltern Ihnen das erlauben«, sagte Mrs Porter.

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Nun, ich bin volljährig und kann meine eigenen Entscheidungen treffen. Mir ist es wichtig, meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen – mit Musikunterricht.«

Eine ältere Dame ergriff das Wort. »Also, zu meiner Zeit wäre das undenkbar gewesen. Ich meine, in unseren Kreisen.«

Miss Westray zuckte leicht mit den Schultern. »Die Zeiten ändern sich.«

»Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen viel Erfolg für Ihre Pläne«, sagte Mabel. Miss Westray wusste offenbar sehr genau, was sie wollte.

All diese Pläne der jungen Frau, die in Adelias Alter war – nein, gewesen war –, ihr Enthusiasmus für die Musik. Alles dahin, von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen. Mabel schauderte. Wenn sie sich vorstellte, dass ihre eigene Tochter … Der Gedanke ließ sich nur schwer abschütteln. Seit Mabel damals die Kinder geboren hatte, hatte sie die Angst begleitet, sie zu verlieren, sei es durch Krankheit, Unfälle oder gar Verbrechen. Es war eine Angst, die sie mit anderen Müttern teilte, wie sie über die Jahre immer wieder in Gesprächen festgestellt hatte. Mit der Zeit waren diese Gedanken in den Hintergrund getreten. Doch an Tagen wie diesen meldeten sie sich wieder, und mit Macht. Nein, rief sie sich zur Ordnung. Nicht weiter darüber nachdenken. Nicht jetzt!

Sie hatte den Beruf der Krankenschwester nicht zuletzt deshalb gewählt, weil sie es als praktisch empfand, entsprechende Kenntnisse auch im privaten Umfeld anwenden zu können. Zumindest im Kleinen, bei einfachen Erkrankungen. Außerdem hatte sie etwas gegen den Tod unternehmen wollen – gegen Todesfälle, die durch den Einsatz geeigneter Heilmethoden, durch Medizin verhindert werden konnten. Was Miss Westray betraf; war sie einfach zu spät hinzugekommen, oder hätte sie ihr so oder so nicht mehr helfen können?

Während Mabel weitereilte, wanderten ihre Gedanken zu Doktor Tyner, einem hochgewachsenen Mann mit hagerem, leicht eingefallenem Gesicht und dunkelblauen Augen hinter einer Hornbrille. Mabel kannte ihn seit mehr als fünfundzwanzig Jahren und sie hatten einander nie aus den Augen verloren, nachdem der Krimkrieg ein Ende gefunden hatte.

Mabel hatte damals zu den Krankenschwestern und den katholischen Nonnen gehört, die mit Florence Nightingale im November 1854 die als Lazarett eingesetzte Selimiye-Kaserne in Scutari erreichten. Was sie dort vorgefunden hatte, würde sie ihr Leben lang nicht vergessen. Es waren nicht die schrecklichen Verletzungen, die Schmerzenslaute oder die geflüsterten Gebete. Natürlich war auch das alles furchtbar gewesen, als viel schlimmer hatte sie jedoch die katastrophalen Zustände empfunden. Die viel zu wenigen Ärzte vor Ort waren völlig überarbeitet gewesen. Außerdem hatte es an allen Ecken und Enden gefehlt, die Medikamente hatten nicht ausgereicht und viele der verwundeten Soldaten waren aufgrund der schlechten hygienischen Bedingungen an einer Infektion gestorben.

Doktor Tyner zählte zu jenen Ärzten, die damals bis zur Erschöpfung gearbeitet hatten, um zu retten, was zu retten war. Trotz der chaotischen Verhältnisse in jenem Lazarett war er umsichtig geblieben, war niemals laut geworden und hatte Schwestern sowie Assistenzärzte mit ruhiger Stimme angewiesen. Doktor Tyner verfügte über eine Seelenruhe, um die Mabel ihn beneidete.

Wie es der Zufall wollte, lebten sie mittlerweile beide in Pimlico, was sie als Segen empfand, denn sie schätzte ihn sehr. Vor fünf Jahren war seine Frau gestorben, eine schwere Lungenentzündung hatte sie hinweggerafft. Mabel hatte Mrs Tyner sehr gemocht und besuchte regelmäßig deren Grab, um dort ein paar Blumen niederzulegen. Die vier Kinder der Tyners hatten schon lange eigene Familien gegründet.

Mabel fand den Arzt, wo sie ihn vermutet hatte – im Leichenschauhaus, das sich in der Buckingham Palace Road befand, gerade einmal zehn Minuten Fußweg von der Sutherland Street entfernt.

»Was ist denn passiert, Mrs Fox?«, fragte er sie mit Besorgnis in der Stimme. »Meine Liebe, Sie wirken ja völlig aufgelöst!«

Mabel holte tief Luft und schilderte ihm stockend, was vorgefallen war. Die Worte kamen ihr nicht leicht über die Lippen, immer wieder musste sie neu ansetzen, und auch die Tränen lauerten schon wieder darauf, ihre Wangen zu erobern, aber sie wollte vor Doktor Tyner nicht die Fassung verlieren.

Der Arzt lauschte ihr aufmerksam, nahm seine blutige Schürze ab und hängte sie an einen Haken.

»Das werde ich mir selbst ansehen, Mrs Fox«, sagte er stirnrunzelnd. »Danke, dass Sie hergekommen sind.«

Rasch zog er sich seinen Mantel an und sprach kurz mit einem Mitarbeiter des Leichenschauhauses, danach folgte er ihr nach draußen.

Im Eilschritt ging er neben Mabel her. »Auf das, was Sie mir geschildert haben, kann ich mir im Moment noch keinen Reim machen«, erklärte er. »Ich werde mehr wissen, wenn ich mir die Verstorbene angesehen und sie untersucht habe.«

»Ich kannte Miss Westray über eine gemeinsame Bekannte«, erklärte Mabel.

»Hatte sie Familie? Angehörige? Wissen Sie das?«

Betrübt schüttelte sie den Kopf. »Nicht hier in der Stadt, soweit ich weiß. Sie ist aus Hackney hergezogen, um eine Karriere als Sängerin zu verfolgen.«

»Ich nehme an, es gibt auch keinen Ehemann? Einen Verlobten vielleicht?«

So gut hatte sie die Verstorbene nicht gekannt. »Einen Ehemann definitiv nicht. Einen Verlobten hat sie mir gegenüber nie erwähnt. Aber ich muss dazu sagen, dass wir nicht in engerem Kontakt standen. Jedenfalls trug sie keinen Verlobungsring.«

»Aha.« Doktor Tyner beschleunigte seinen Gang und Mabel hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Sie passierten den großen Victoria-Bahnhof, der vor rund acht Jahren eröffnet worden war und zwei verschiedene Bahnlinien bediente. Zahlreiche Passanten strömten aus dem Bahnhofsgebäude. Die meisten von ihnen waren dunkel gekleidete Männer mit Zylinderhüten oder Mützen, dazwischen vereinzelt Frauen, die farbenfroher gekleidet waren. Vor dem Eingang versuchte ein Zeitungsjunge, der eine zerschlissene graue Strickmütze trug, seine Ware anzupreisen, allerdings war er heiser und hatte es sichtlich schwer, auf sich aufmerksam zu machen. Ein Mann mit einem Koffer und einer Zeitung unter dem Arm drängte sich an Mabel vorbei. Es roch nach Ruß und Rauch und von irgendwoher wehte ein fauliger Gestank zu ihnen herüber. Die Feuchtigkeit des kalten Herbsttages kroch Mabel in die Gelenke. Ihre Handschuhe halfen dagegen nur wenig.

Sie überquerten die Brücke, die über die Eisenbahntrassen führte. Stampfend rauschte eine Bahn heran, deren Räder über das Metall der Schienen ratterten, während sich der aus der Lok hervorquellende Dampf mit dem Grau des Oktobernachmittags vermischte.

Nachdem sie die Brücke passiert hatten, dauerte es zum Glück nur wenige Minuten, bis sie Clarences Atelier erreichten. Das kobaltblaue Schild mit dem weißen Schriftzug »Fotoatelier Fox« war kaum zu übersehen, selbst an einem so trüben Tag wie diesem. Ihr Mann hatte das kleine hölzerne Schild an der Eingangstür auf »Geschlossen« umgedreht. Durch eines der Fenster konnte sie undeutlich die zusammengesunkene Gestalt der armen Miss Westray sehen, die noch immer auf dem Stuhl saß oder vielmehr hing. Wieder kribbelten ihr die Augen.

Reiß dich zusammen, Mabel! Jetzt war nicht die Zeit, um zu trauern. Noch nicht.

»Guten Tag, Mr Fox«, begrüßte Doktor Tyner ihren Mann, als er das Atelier betrat. Clarence erwiderte den Gruß und fügte dumpf hinzu: »Das ist kein guter Tag, fürchte ich. Ganz und gar nicht.«

»Ja, natürlich.«

Der Coroner trat zu der Verstorbenen hinüber und fühlte an der Halsschlagader nach ihrem Puls. Dann blickte er Clarence an. »Würden Sie bitte einmal aus Ihrer Sicht schildern, was geschehen ist, Mr Fox?«

Clarence wiederholte alles, was er Mabel bereits erzählt hatte. Er sprach schnell, abgehackt.

Doktor Tyner nickte. »Zeigen Sie mir doch einmal diese Pralinenschachtel«, verlangte er.

Mabel zog die Schachtel aus Miss Westrays Handtasche.

Währenddessen fuhr sich Clarence über das Gesicht, ehe er sich wieder dem Doktor zuwandte. »Ich schätze, sie hat eine der Pralinen gegessen und sich daran tödlich verschluckt. Oder …« Er hielt einen Moment inne. »Oder irgendetwas stimmte mit der Praline nicht.«

Das war in der Tat eine gute Frage.

»Bromleys …« Doktor Tyner betrachtete die Schachtel von allen Seiten. »Das ist doch eine Konditorei in der Belgrave Road. Meine Gattin – Gott hab sie selig – hat dort früher gelegentlich Kuchen gekauft oder sich mit einer Freundin auf einen Tee getroffen. Die Konditorei gibt es schon ziemlich lange – ein Familienunternehmen, soweit ich weiß.« Er wandte seinen Blick von der Schachtel und sah Clarence fest in die Augen. »Ich sage Ihnen, was ich tun werde. Ich nehme die Pralinen mit ins Labor und untersuche sie. Nur vorsichtshalber.«

Mabel riss die Augen auf. Ihr Mund formte ein stummes »Oh«, ehe sie zu sprechen begann. »Meinen Sie, die wurden vergiftet?«

Doktor Tyner runzelte die Stirn. »Zunächst einmal meine ich gar nichts. Lassen Sie uns lieber keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Er beugte sich ein weiteres Mal über die bedauernswerte Miss Westray. »Hm. Lippen und Augenlider sind geschwollen. Und dann diese Rötungen. Und sehen Sie hier, diese Quaddeln.« Er deutete auf eine Stelle des Halses, an der sich kleine, unregelmäßig geformte, teilweise punktförmige Erhebungen befanden, die ebenfalls leicht gerötet waren.

»Ich denke, einen Erstickungstod durch Verschlucken können wir wohl ausschließen.« Er nahm seine Brille ab und rieb sich über die Nasenwurzel. »Das sind jedenfalls keine Anzeichen, die bei einer Erstickung durch Verlegung der Luftwege entstehen. Ich musste gerade an Mumps denken, aber dabei treten Schwellungen eher im Bereich der Wangen auf, allerdings natürlich nicht binnen Sekunden. Mumps können wir also ebenfalls ausschließen.«

Doktor Tyner wirkte nachdenklich. »Wie viel Zeit ist vergangen, seit Sie den Tod festgestellt haben?«, fragte er und setzte sich die Brille wieder auf.

Clarence zog die silberne Taschenuhr aus seiner Westentasche und warf einen kurzen Blick darauf. »Etwa eine Stunde.«

Der Doktor nickte. »Ich habe heute viel zu tun«, erklärte er. »Mrs Fox, würden Sie mich zurück ins Leichenschauhaus begleiten und Miss Westrays Leichnam selbst untersuchen? Oder sind Sie befangen, weil Sie die Dame persönlich kannten?«

»Nun, also … ich …« Mabel suchte nach Worten. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihm im Leichenschauhaus half, Obduktionen durchzuführen, zumeist als Assistentin. Nachdem die Kinder ausgezogen waren, hatte sie sich nach einer Beschäftigung gesehnt, die über die Haushaltsführung hinausging. Im Anschluss an eine Einladung zum Tee bei Doktor Tyner war eines zum anderen gekommen. Sie beide hängten Mabels gelegentliche Betätigung im Leichenschauhaus nicht an die große Glocke, denn im Grunde war es unerhört, dass eine verheiratete Frau überhaupt arbeitete – zumindest in der Mittelschicht, der sie angehörte. So manch einer aus ihrem Bekanntenkreis hätte mit Befremden darauf reagiert. Aber Clarence erlaubte es ihr.

Die Männer, die im Leichenschauhaus arbeiteten, waren ein Völkchen für sich und akzeptierten sie, denn sie waren froh über die Hilfe. Gelegentlich hatte sie selbst schon unter Doktor Tyners Anleitung Obduktionen durchgeführt.

Normalerweise hätte sie dem Arzt sofort zugesagt. Angesichts dieser Situation jedoch wütete ein Wirbelsturm aus Emotionen in ihrem Kopf. Immerhin ging es um Miss Westray. Nicht gerade eine enge Freundin, aber doch eine Bekannte. Sie warf einen Blick auf den Leichnam, auf die inzwischen leicht wächserne Haut, und verspürte erneut ein verräterisches Kribbeln in den Augen. Was sollte sie nur tun? Am liebsten wäre sie hinauf in die Wohnung und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen. Aber was geschehen war, war geschehen. Der Tod hatte Miss Westray zu sich geholt und Tränen halfen der armen Frau nun auch nicht mehr. Aber sie konnte etwas anderes für sie tun. Einen letzten Dienst.

Mabel erwiderte Doktor Tyners fragenden Blick und fasste sich ein Herz. »Doch, ich denke, ich werde dazu in der Lage sein.«

»Gut«, erwiderte er. »Ich kümmere mich darum, dass der Leichnam so schnell wie möglich ins Leichenschauhaus gebracht wird. Später informiere ich die Kollegen vom Polizeirevier. Wir können dann mit dem Leichenwagen direkt mitfahren. Möchten Sie sich dafür umziehen, Mrs Fox?«

»Nein, das hier wird gehen.« Sie deutete auf ihr Kleid, das aus vier Teilen bestand – das graue geknöpfte Oberteil aus Leinen mit den am Saum aufgestickten Blüten, der hinten leicht aufgebauschte Rock in einem anderen Grauton, die etwas hellere Rockschürze, die darüber getragen wurde, sowie der Unterrock. Es war eines ihrer schlichteren Ensembles und schon etwas älter. Sie hatte es mehrfach geändert, um es an die neue Mode mit der Tournüre anzupassen, deren Silhouette in diesem Jahr vergleichsweise schmal war; weniger voluminös als in den Jahren zuvor.

»Gut, dann sehen wir uns gleich, ich beeile mich«, erwiderte der Coroner, legte grüßend zwei Finger an seinen Bowler und verließ das Atelier.

Während das Läuten der Türglocke verklang, wandte sich Mabel an Clarence. Sie griff nach seiner Hand, streichelte seinen Handrücken, eine Geste des Trostes. Er blickte sie traurig an und drückte leicht ihre Finger. »Hast du die Abbildung entwickelt?«, fragte sie ihn.

»Ja, das schon. Aber sie ist etwas verwischt, vermutlich weil Miss Westray sich in ihrem … ihrem Todeskampf noch eine Weile bewegt hat.« Er hielt ihr einen rötlichen Albuminpapierabzug entgegen. Das gesamte Bild wirkte leicht verschwommen. Miss Westrays Kopf war gesenkt, sodass ihr Gesicht nicht zu erkennen war. Allerdings war die Rötung auf ihrem Hals nicht zu übersehen, zumal sie sich dunkel von den helleren Hautpartien abhob.

»Ich denke, ich schließe das Atelier für heute«, sagte Clarence mit gefurchter Stirn. Seine Haltung war kraftlos und sein Gesicht blass. Er sah so aus, wie sie sich fühlte. »Ich werde mich wohl kaum noch aufs Ablichten und schon gar nicht auf Kundschaft konzentrieren können.«

Mabel umarmte ihn. »Das kann ich gut verstehen, mein Lieber.«

Er seufzte. »Wenn ich doch irgendetwas für die arme Frau hätte tun können!«

Mabel strich ihm liebevoll über den Arm. »Ich bin selbst fassungslos. Aber vielleicht wissen wir bald mehr. Ich meine, woran sie gestorben ist.«

Das Warten auf Doktor Tyner war eine Qual. Mabel war, als säße sie auf Kohlen. Unter anderen Umständen hätte sie oben in der Wohnung ihre Bedienstete Lindsey gebeten, einen Tee zuzubereiten. Diesen zu trinken, das war in jeder Lebenslage möglich und hatte etwas Tröstliches. Aber dafür war nun keine Zeit.

Zum Glück hielt der Coroner sein Wort: Eine halbe Stunde später fuhr er mit der schlichten schwarzen Kutsche vor, die dem Leichenschauhaus für Leichentransporte diente.

Williams, einer der Mitarbeiter, der auch die Aufgabe des Kutschers innehatte, kam mit einer großen Trage aus grobem, festem Stoff ins Atelier. Nachdem er sie beide begrüßt hatte, legte er den Leichnam mit Clarences Hilfe behutsam auf die Trage, was angesichts der Stoffmassen von Miss Westrays Kleid keine leichte Aufgabe war. Mabel musste an sich halten, um nicht wieder zu weinen.

»Kommen Sie, Mrs Fox. Wir sollten uns beeilen. Die einsetzende Totenstarre ist zwar kein Hinderungsgrund für eine Untersuchung, aber wenn sich etwas in Miss Westrays Hals befindet, das zu ihrem Tod geführt hat, wird es sich mit der Zeit zersetzen, und das würde uns die Angelegenheit erschweren.«

Sie straffte sich, nickte ihm zu und drehte sich zu ihrem Mann um. »Bis später, mein Lieber!«

Er wagte den Versuch eines aufmunternden Lächelns, doch es wirkte eher gequält. Mabel konnte es ihm nachfühlen. Zunächst einmal würde sie Doktor Tyner unterstützen und damit der Verstorbenen einen letzten Dienst erweisen. Was war bloß mit der armen Frau geschehen? Hoffentlich fanden sie es bald heraus. Sie griff nach der Tasche der Toten und vergaß es auch nicht, die Pralinenschachtel hineinzulegen.

Kurz darauf saß sie in der geräumigen Kutsche auf der schmalen Bank, der Coroner neben ihr und die Trage mit dem Leichnam auf dem Boden des Gefährts. Das Gesicht der Sängerin wirkte wächsern, ihr Hals war noch immer gerötet und von den Quaddeln bedeckt. Der Prozess der Verwesung streckte seine kalten Finger aus und würde schon bald sein Werk vollendet haben. Mabel schauderte. Natürlich, der Tod gehörte zum Leben dazu. In ihrem Bekanntenkreis gab es zahlreiche Menschen, die Angehörige verloren hatten – totgeborene Kinder, Kinder, die früh gestorben waren, Ehemänner und Söhne, die im Krieg gefallen waren, und einige andere. Pauline Westray hatte glänzende Aussichten auf eine Karriere als Sängerin gehabt, aber nun war ihre begnadete Stimme für immer verstummt.

»Ach, es ist jedes Mal so schwierig, sich um Todesfälle zu kümmern, wenn die Angehörigen nicht in der Stadt leben und man keine Adresse von ihnen hat«, sagte der Coroner mit gerunzelter Stirn.