Françoise Gilot – Die Frau, die Nein sagt - Malte Herwig - E-Book

Françoise Gilot – Die Frau, die Nein sagt E-Book

Malte Herwig

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Für Pablo Picasso blieb sie ein Rätsel, und sie war die einzige Frau, die ihn verließ. Françoise Gilot ist Malerin, Wahrheitssuchende, Rebellin. Die Mutter von Claude und Paloma Picasso öffnete Malte Herwig die Türen ihrer Ateliers in New York City und Paris und sprach mit ihm über zentrale Fragen des Lebens: Worauf kommt es wirklich an? Ein Buch über die Kunst. Und über die Kunst eines erfüllten Lebens.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 210

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Malte Herwig

Françoise Gilot Die Frau, die Nein sagt

Ihr Leben mit und ohne Picasso

Mit einem Bildteil zu Leben und Werk

Diogenes

Non, rien de rien

Non, je ne regrette rien

Ni le bien qu’on m’a fait

Ni le mal tout ça m’est bien égal

Edith Piaf,Non, je ne regrette rien

Vallauris, 23. September 1953

Die Frau, die Nein sagt

Picasso tobte. Beladen mit Koffern, zwei Kindern und einer jungen Frau fuhr das Taxi vor der Villa La Galloise in Vallauris an. Bald war der Wagen nur noch eine Staubwolke auf der südfranzösischen Landstraße in Richtung Paris, und Picasso stampf‌te wütend zurück in das leere Haus. Sie hatte es tatsächlich getan, hatte Wort gehalten und war mit den beiden Kindern – seinen Kindern! – fortgefahren für immer. Es war ein Unding, nicht vorgesehen und nicht vorhersehbar im Lebensplan des alten Meisters.

Die Frau im Wagen blickte nicht zurück. Aber sie konnte sich lebhaft ausmalen, wie sich Picasso gerade auf‌führte. Zehn Jahre lang waren sie ein Paar gewesen, die junge Françoise und der alte Pablo. Sie kannte ihn wie kaum ein zweiter Mensch, kannte seine zärtlichen und seine fürchterlichen Seiten. Aber sie wusste auch, dass sie und die Kinder zugrunde gehen würden, wenn sie weiter bei Pablo blieben. Françoise betrachtete Claude und Paloma, die neben ihr saßen. Sie liebte Pablo immer noch, aber die Kinder liebte sie mehr.

»Keine Frau verlässt einen Mann wie mich«, hatte Pablo ihr noch vor wenigen Wochen erklärt und sie mit seinen dunkel leuchtenden Basiliskenaugen fixiert. Einen Mann, so reich und berühmt, wie er es war, der bekannteste Maler der Welt, ein König der Kunstwelt, ja, eine Art Gott. Noch in 500 Jahren würde man sein Werk bewundern und Bücher über ihn schreiben. Sie aber würde eine Fußnote sein im Schatten seines Genies. Er hielt sich für unersetzlich und unwiderstehlich. Wenn er auch mal unausstehlich war, hatten das seine Mitmenschen gefälligst in Kauf zu nehmen als Preis für die Gnade seiner Gegenwart.

Und sie? Hatte schallend gelacht und ihm entgegnet, dann sei sie eben die erste Frau, die es fertigbrächte, ihn zu verlassen. Er hatte dieses helle, freie Lachen immer geliebt an ihr, aber diesmal ging es ihm auf die Nerven. Ja, es machte ihm Angst. Ihn verlassen? Was gab es da zu lachen! Es war ihm todernst. Ihr aber offensichtlich auch.

***

Sie wolle von nun an mit ihrer eigenen Generation und den Problemen ihrer eigenen Zeit leben, hatte sie ihm erklärt und damit wieder einmal seinen Zorn erregt. Gewiss, zwischen ihnen lagen 40 Jahre, aber was hatte das schon zu bedeuten! Gehörte die Gegenwart nicht immer noch ihm, dem ewigen Kind? Er war in seinem Schaffen jünger und kräftiger geblieben als alle ihre Altersgenossen. Und sie hatte es gewagt, sein Alter zum Thema zu machen? Es war eine unglaubliche Gotteslästerung.

Er hatte sie beredet und beschworen, hatte an ihr Pflichtgefühl appelliert. Schon wegen der Kinder müsse sie bei ihm bleiben. Dann hatte er ihr gedroht: »Du bildest dir wohl ein, dass sich die Leute für dich interessieren? Niemals, und schon gar nicht um deiner selbst willen. Auch wenn du denkst, die Leute mögen dich, wirst du nichts als Neugier für einen Menschen finden, dessen Leben sich mit meinem so sehr berührt hat. Und du wirst von allem nur einen bitteren Nachgeschmack haben. Für dich ist die Realität zu Ende – hier, an diesem Punkt, endet sie. Wenn du versuchst, auch nur einen Schritt aus meiner Welt zu machen, die die deine geworden ist, weil ich dich entdeckte, als du noch jung und unentschieden warst, und alles um dich her verbrannt habe, dann gehst du geradewegs in die Wüste.«1

Es sollte eine Warnung sein, aber auch ein Fluch: Ohne mich bist du nichts mehr. Ich bin die Sonne, das Licht und das Leben. Ohne mich vertrocknest du, kleine Blume, du verschwindest im Nichts. Ich habe dich schon gemalt, bevor du geboren wurdest! Ich habe dich geliebt, weil du meiner Liebe bedurf‌test, und du verdienst es nicht, geliebt zu werden, wenn nicht von mir.

Doch diesmal half alles nichts. Sie wolle lieber in der Wüste leben als weiter in seinem Schatten, hatte sie gesagt. Ihr Ich wiederfinden, wie sie sich ausdrückte. Als ob es so etwas widerlich Sentimentales wie Glück gäbe. Was für einen modernen Unfug so eine Frau denkt! Wo waren heute die römischen Mütter – ein Ausdruck, den er gerne benutzte –, die ihr Leben klaglos für Mann und Kinder opferten?

Françoise lächelte. Was für naives Zeug selbst ein Genie so von sich geben konnte. Aber sie wusste, dass Picassos Prahlerei ihr gegenüber weniger dazu diente, sie zu überzeugen. Er wollte sich vor allem von seiner eigenen Angst ablenken, allein zu sein. Die junge Frau erwischte sich dabei, wie sie fast Mitleid mit dem tyrannischen Genie bekam, das sie soeben für immer verlassen hatte. Sie stellte sich vor, wie der große Picasso jetzt dasaß, allein und fassungslos. Wie er um sich blickte in dem Haus, in dem sie seit fünf Jahren lebten, das er in rastloser Produktivität mit seinen Keramiken gefüllt hatte und das ihm ohne sie plötzlich leer erschien.

Er blickte umher auf die Pinsel, Flaschen und Fundstücke, die sich auf dem Fußboden und in Regalen stapelten, und auf einmal überkam ihn ein nie gekanntes Gefühl. Die heillose Unordnung, die ihn sonst bei seiner Arbeit beflügelte, irritierte ihn nun. Wo war der ruhende Gegenpol zu seinem wilden Leben? Das staunende, liebende Publikum für sein gewaltiges Ich?

»Merde!«

Missmutig setzte sich Picasso an den Küchentisch und zündete sich eine Zigarette an. Er sollte Sabartés, seinem treuen Sekretär, nach Paris schreiben und ihn beauf‌tragen, ihr nachzuforschen. Hatte sie etwa einen Liebhaber? Er selbst hatte nie viel dabei gefunden, sich auf Seitensprünge zu begeben. Gewiss, manchmal musste er nachhelfen. Es gab Frauen, die sich künstlich zierten und so taten, als ginge es ihnen nur darum, von ihm gemalt zu werden. Als sei es nicht genug, damit gewissermaßen schon zu Lebzeiten in die Unsterblichkeit einzutreten. Der Rest war aus seiner Sicht eine Frage der Dankbarkeit, eine bloße Formalität, ein Nachspiel zu seinem Vergnügen. Sie hatten ihm wohl nie etwas bedeutet, und wenn doch, dann nur für eine kurze Zeit, nach der er sich ihrer wieder zu entledigen wusste.

Einmal hatte er, noch am Anfang seiner Karriere und auf der Suche nach Zugang zu besseren Kreisen, den schweren Fehler gemacht, eine Frau zu heiraten. Doch Olga war ihm schon lästig geworden, als er Marie-Thérèse entdeckte und schwängerte. Dann kam Dora, und er machte sich eine Zeit lang sein Vergnügen daraus, beide Frauen gegeneinander auszuspielen.

Er hatte sich immer darauf verstanden, die weniger unwichtigen Frauen in seinem Leben finanziell abhängig und damit zu seiner Verfügung zu halten. Vor anderen tat er trotzdem gerne, als ob sie ihm nichts mehr bedeuteten und ihr bloßes Fortleben eine Ruhestörung für ihn sei: »Jedes Mal, wenn ich eine neue Frau nehme«, drohte er gerne, »sollte ich ihre Vorgängerin verbrennen. Dann wäre ich sie los.« In Wirklichkeit steckte mehr hinter seiner Prahlerei. Die Vorstellung, dass ihn eine seiner viel jüngeren Frauen überleben könnte, machte ihn rasend, und er, der abergläubischen Ideen nie abgeneigt war, glaubte, durch den Tod der anderen vielleicht seine Jugend zurückgewinnen zu können. Wenn er vor der Umsetzung des scheußlichen Gedankens auch zurückscheute, ließ er es sich doch nicht nehmen, seinen Geliebten zu prophezeien, er werde sie überleben – so oder so. Auch Françoise hatte er gedroht: »Du wirst nicht so lange leben wie ich.« Aber sie hatte ihn ausgelacht und ihm entgegnet: »Das werden wir ja sehen.« Sprach man so mit ihm? Was bildete sie sich ein? Nicht umsonst hatte er sie »Die Frau, die Nein sagt« genannt. Aber das war als harmloser Scherz gemeint.

Und nun hatte sie tatsächlich ihre Drohung wahr gemacht und ihn sitzenlassen. So etwas war noch nie vorgekommen. Für einen winzigen Augenblick nistete sich der Gedanke in Picassos Herz ein, dass es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, immer nur an sich zu denken und die Geduld seiner Mitmenschen mit seinen Eskapaden als selbstverständlich vorauszusetzen. Schnell verscheuchte er diesen Gedanken wieder wie ein lästiges Insekt und fand zurück zur ihm gemäßen Form des gerechten Zorns.

Was hatte es schon zu bedeuten, dass er ihr nicht immer treu gewesen war! Treu hatte er nur der Kunst zu sein, und nur ihr gegenüber fühlte er sich verantwortlich. Ihr opferte er alles, wenn nötig auch die Menschen, die ihm am nächsten standen, und immer auch sich selbst. Sie hatte das von Anfang an gewusst und ihm durch ihre stille Duldung seiner Extravaganzen, Seitensprünge und Wutanfälle auch zu verstehen gegeben, dass sie ihn so akzeptierte, wie er war. Sogar die Rolle der Mutter hatte sie angenommen, wenn auch nach langem Zögern und nur auf sein Drängen hin. Er hatte schließlich darauf bestanden, dass sie ihm Kinder gebären solle, denn er wollte sie ganz an sich binden. Sie hatte ihm erst Claude, dann Paloma geschenkt, und er hatte Mutter, Sohn und Tochter immer wieder gemalt.

Die Vorstellung, dass jetzt ein anderer Mann an seine Stelle treten sollte, war ihm unerträglich und machte ihn zornig. Er war der Meister, sie die Muse. Er hatte sie entdeckt, als sie 22 Jahre alt war, jung und unbeeinflusst, jungfräulich wie eine weiße Leinwand, die zu füllen ihn reizte.

Es wäre nicht zu viel gesagt, glaubte er, dass ihr Leben erst mit ihm begonnen hatte. Er hatte sie geschaffen und in den zehn Jahren ihrer Liebe wie eine Keramik zu dem geformt, was sie heute war. Sie war unter seinen Händen durch das Feuer gegangen, er hatte ihr das »Brandmal seiner Unruhe« aufgedrückt, wie er sich gerne ausdrückte, und sie damit für immer gezeichnet. Er liebte solche Ausdrücke, denn sie halfen ihm, das Chaos der Welt in Bahnen zu lenken, und sie erinnerten ihn an seine Kindheit in Spanien. Schon als Neunjährigen hatte ihn sein Vater zum Stierkampf mitgenommen, und die staubige Arena war ihm wie ein Sinnbild der ganzen Welt erschienen. Stiere und Matadore, jeder hatte seine Rolle, ein Kampf mit klaren Regeln. Sein erstes Ölbild, damals 1891.

Sie war sein Geschöpf, also lag es an ihm zu bestimmen, was mit ihr zu geschehen habe. Niemand würde es wagen oder wäre auch nur in der Lage, an seinem Kunstwerk irgendeine Linie zu ändern, einen Strich hinzuzufügen.

Der Gedanke beruhigte ihn ein wenig. Wenn er sie schon nicht mehr besitzen würde, dann wenigstens auch kein anderer. Selbst ein Mensch, der bereit wäre, sich ihr völlig hinzugeben, wäre nicht fähig, ihr zu helfen. Was immer sie von nun an tun sollte, würde sich vor einem Spiegel abspielen, der alles, was sie mit ihm erlebt hatte, zurückwerfen würde.

Dennoch empfand er es als eine Beleidigung des Schicksals, dass sie ihn heute verlassen hatte. Missmutig schlurf‌te er ins Badezimmer und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Als ihm auch das nach einigen Minuten keine Freude machte, griff er zu Messer und Pinsel und rasierte sich. Er hasste Bartstoppeln. Manchmal rasierte er sich dreimal täglich, damit sich seine Haut immer anfühlte wie die eines makellosen Kindes. Das Ritual besänftigte ihn. Als er fertig war, tunkte er den Zeigefinger in den Rasierschaum und malte sich die dicken Lippen eines Clowns ins Gesicht und unter jedes Auge eine Träne. Es war umsonst. Mit einem gequälten Lachen gestand er sich ein, dass er immer noch allein war, ein einsamer, trauriger Harlekin, der sein eigenes Publikum war.

Die Wut, die bei ihrer Abfahrt in ihm aufgeschossen war, verebbte langsam und eine Woge des Selbstmitleids überkam ihn. Hatte sie denn kein Verständnis für seine Lage? Mit wem sollte er jetzt über all die Dinge reden, die ihn beschäftigten? Er hatte doch zu viel zu tun, um jetzt allein zu sein. Es war unverantwortlich von ihr, ihn einfach seiner Einsamkeit zu überlassen.

Und doch musste er sich eingestehen, dass Françoises Flucht, denn um nichts anderes handelte es sich, nicht überraschend kam. Er wusste, dass sie seinetwegen unglücklich war, doch er ließ sich nichts anmerken und gab sich strenger denn je. Als sie wieder einmal weinte, was sonst gar nicht ihrer beherrschten Natur entsprach, zeichnete er sie und lobte ihre ernste Trauer. »Dein Gesicht ist heute wundervoll.« Ein andermal schimpf‌te er mit ihr, weil sie nach der Geburt des zweiten Kindes Gewicht verloren hatte: »Früher warst du eine Venus, jetzt siehst du aus wie ein leidender Christus, bei dem man jede Rippe zählen kann.« Sie solle sich schämen, jede andere Frau würde nach der Geburt eines Babys schöner, sie aber sehe aus wie ein Besenstiel.

War er am Morgen in deprimierter Stimmung, was an den meisten Tagen der Fall war, weigerte sie sich, ihn aufzuheitern, und gab ihm einfach recht, wenn er wieder einmal über die Schlechtigkeit des Lebens klagte. Ja, sie hatte ihn sogar in seinem Klagen bestärkt: Es sei wirklich alles schrecklich und morgen werde es nur noch schrecklicher werden, bis er einen Tobsuchtsanfall bekam und mit Selbstmord drohte. Nachts beredete er sie oft bis in die frühen Morgenstunden, dozierte über das Leben und schimpf‌te, bis sie vor Müdigkeit und Erschöpfung ohnmächtig wurde. Dann war er glücklich, denn er sah, dass sie trotz ihrer 32 Jahre nicht seine robuste Konstitution hatte.

***

Oft hatte er sie getadelt bis zur Erniedrigung und sich dann darauf hinausgeredet, es sei alles nur Spiel. »Ich sage doch immer Dinge, die ich nicht meine. Du solltest das wissen. Wenn ich dich anschreie und dir unangenehme Dinge sage, dann tue ich das, um dich abzuhärten. Ich möchte, dass du wütend wirst, schreist und eine Szene machst, aber das tust du nicht. Du schweigst mich an, wirst sarkastisch, ein wenig bitter, zurückhaltend und kalt. Ich möchte einmal erleben, dass du aus dir herausgehst, dich gehen lässt, lachst, weinst – mein Spiel spielst.« Aber sie hatte ihm standgehalten und seine Feindseligkeit damit umso mehr angestachelt.

Weinte sie doch einmal, wusste er immerhin, dass er einen Treffer gesetzt hatte. Doch meist fiel es ihm – dessen lanzenspitze Bemerkungen schon manches Herz mit Leichtigkeit durchbohrt hatten – erstaunlich schwer, ihren Panzer zu durchdringen. Hart und undurchlässig war sie wie die Hummer und Ritter, die seine Bilder jetzt öfter bevölkerten.

Doch er beharrte darauf, das Spiel weiterzuführen, und malte sie im grünen Kleid auf blutrotem Boden, wie sie mit einem großen Hund rang. Das war im Februar, wenige Monate vor ihrem endgültigen Abschied, und er ahnte schon, dass sie ihn verlassen wollte. Wie um sich zu beruhigen, erzählte er es überall herum. »Sie müssen wissen, Françoise wird mich verlassen!« Natürlich hatte er nie damit gerechnet, dass es wirklich so weit kommen würde. Dazu waren sein Vertrauen in sich selbst und seine Fähigkeit, die Dinge immer in seinem Sinn lenken zu können, einfach zu groß.

Als Françoise auch nach Wochen und Monaten keine Anstalten machte, zu ihm zurückzukehren, traf Picasso die nötigen Vorkehrungen, um die Geschichte ins rechte Licht zu rücken. Er war ein Meister darin, was wir heute Krisenkommunikation nennen. Er schrieb seinem Sekretär Sabartés und streute auch unter seinen Freunden die Nachricht. Bald klagte ganz Vallauris darüber, dass der arme Meister alleingelassen worden sei – und das in seinem Alter!

Von Vallauris aus verbreitete sich die begierig von Zeitungsleuten nachgeplapperte Nachricht, seine junge Gefährtin habe den Meister verlassen, weil sie nicht länger mit einem »historischen Monument« leben wolle. Nie hatte sie das gesagt, aber Picasso kam es allein darauf an, was die Menschen denken sollten.

Niemand konnte ahnen, wie schwer es ihn tatsächlich traf, dass er verlassen worden war. Sie hatte gewonnen, denn sie hatte überlebt. Der Stier war aus der Arena geflüchtet und hatte den Matador mit Mantel und Degen ratlos im Staub zurückgelassen. Das Spiel war aus, und dieses eine Mal hatte der berühmteste Künstler seiner Zeit es nicht gewonnen.

Weihnachten 1953 war ein einsames Fest für Picasso. Am 29. Dezember trat er vor die Staffelei und malte noch einmal Françoise. Sie liegt auf dem blauen Bett ihres gemeinsamen Schlafzimmers, die Arme hinter dem Kopf verschlungen, hellweiß strahlend ihre Haut. Durch die Türöffnung aber fällt der lange Schatten eines Mannes auf ihren nackten Körper, und dieser Mann ist er. Sie hatte sich ihm entzogen, und nur sein Schatten konnte sie noch berühren.

War es Schmerz, Sehnsucht, Trauer, die ihn überwältigten? Er tat, was er in solchen Lebenslagen schon immer getan hatte: Er goss sein Innerstes auf die nackte Leinwand, und es wirkte wie eine Selbstbeschwörung. Sie war seinem Licht entkommen, aber sein Schatten würde immer auf ihr liegen.

Dachte er.

Paris

Nordlicht

»Ich persönlich stelle beim Malen meine Vernunft lieber in den Dienst der Verrücktheit und nicht umgekehrt.«

Françoise Gilot, Monograph 1940–2000

Vor wenigen Jahren erst habe ich sie das erste Mal getroffen. Es war in Paris, im Mai. Die Bordsteinmaler standen auf der Place du Tertre in Montmartre und zeichneten japanische Touristen. Viel war nicht geblieben vom Ruhm und Ruch des Künstlerviertels, in dem einmal Renoir und van Gogh lebten und Picasso sein Atelier hatte.

Aber noch war diese Welt lebendig, hatte ich gehört, man musste nur wissen, wo. Wenige Straßen weiter arbeitete in einem lichtdurchfluteten Atelier die berühmteste Überlebende der Kunstgeschichte. Ich klingelte an der Pforte des alten Gebäudes und wurde eingelassen. Da stand sie vor mir: kleines rotes Kleid, kurzer Pagenkopf, über den wachen Augen hoben und senkten sich die legendären Zirkumflex-Brauen, von denen einst Henri Matisse schwärmte: die Malerin Françoise Gilot. Damals war sie 90 und schien mir doch halb so alt zu sein. Sie sprang auf, lachte, ging umher. Gemessen an der zierlichen Figur sind ihre Hände kräftig, dachte ich. Malen ist Arbeit, und sie malte immer noch jeden Tag.

»Wenn du malst, musst du schnell sein. Selbst wenn es nicht besonders gut wird, ist es immer noch besser, als wenn du langsam bist. Du musst die Energie deiner ganzen Existenz in das Bild bringen.« Vor ihr standen zwei schwere Staffeleien mit großen abstrakten Bildern auf blauem Untergrund. Sie standen noch da, obwohl sie fertig waren, frische Schaustücke für Besucher. »Ich würde anderen Leuten nie Werke zeigen, die noch auf dem Weg sind.«

Linker Hand war ein einfacher weißer Tisch, Dosen voller Pinsel, Pastasaucen-Gläser mit Lösungsmitteln, Maler-Alchemie. An den Wänden lehnten Dutzende Bilder und Zeichenmappen in großen und kleinen Formaten – alle mit dem Rücken zum Betrachter. Man merkte sofort: Das ist kein Museum, keine Galerie, sondern eine Werkstatt.

Sie begann ihre Arbeit immer im Morgengrauen, noch in Pyjama und Pantoffeln. Ein Blick von der Empore zur halb fertigen Leinwand auf der Staffelei, dann stieg die Malerin hinab und machte sich sofort ans Werk. So hielt sie es seit 75 Jahren.

Ich sah mich um: kein Schemel weit und breit. Françoise Gilot malte im Stehen, deshalb die Pantoffeln: Man stand einfach bequemer über viele Stunden. Ich versuchte, mir die elegante, zarte Dame vorzustellen, wie sie in einem beklecksten Pyjama und Pantoffeln vor der Staffelei lauerte, in jeder Hand mit einem Pinsel bewaffnet – unmöglich.

Sie zuckte mit den Schultern: »Wenn du im Nachthemd bist, dann bist du nicht so kritisch. Manchmal sitzt mir der Kritiker wie ein Vogel auf der Schulter. Aber die Vernunft ist kein Freund des Malers, du brauchst sie nicht unbedingt bei der Arbeit. Zum Malen brauchst du Leidenschaft, du musst in Schwung kommen und den Vogel Zweifel von der Schulter scheuchen.«

Auch das Alter war kein Freund des Malers. Vor fünf Jahren hatte sie freiwillig mit dem Autofahren aufgehört – Probleme mit dem Herzen. Nicht, dass sie Angst vor dem Tod hätte, aber sie wollte niemanden mit sich nehmen. »Wenn du auf dem Freeway einen Herzinfarkt hast, tötest du womöglich noch jemand anderen.« Noch schwerer wog ein anderes Altersleiden: Sie war inzwischen auf dem linken Auge fast blind. Für eine Malerin eine Katastrophe, oder? »Ach was, das stört mich überhaupt nicht. Natürlich könnte es ein Problem bei der Perspektive sein, aber in meinen Bildern schaffe ich den Raum ohnehin nicht aus der Perspektive, sondern durch die Farben!«

Ihre gelassene Einstellung überraschte mich: Wie oft hatte ich alte Menschen über dies und das klagen hören – durchaus nachvollziehbar, wenn die Lebenskräfte ab- und die körperlichen Leiden zunehmen. Françoise Gilot schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen, sondern machte einfach weiter. Mehr noch: Sie schien selbst verwundert über ihre Zähigkeit.

»Eigentlich hängt mir das Leben zum Halse heraus«, sagte die alte Dame und rührte empört mit den Händen in der Luft. Hatte sie nicht alles schon getan und erlebt? Was sollte sie noch hier? »Als ich 86 wurde, dachte ich: Jetzt ist endlich Schluss, denn in dem Alter ist meine Mutter gestorben. Länger als sie zu leben konnte ich mir nicht vorstellen, denn niemand in unserer Familie war bis zu diesem Zeitpunkt älter als sie geworden. Dann wurde ich 87 und wunderte mich. 88 war verrückt, 89 schien unmöglich und 90 war nun wirklich das Allerletzte. Als ich 90 wurde, dachte ich mir: Du musst dich umbringen, wenn du jemals sterben willst. Aber da ich keinen Grund sah, mich umzubringen, lebe ich eben weiter und sage mir: Das musst du jetzt durchstehen. Ich hasse es. Aber da ich nun mal hier bin, male ich eben.«

***

Für eine lebensmüde Neunzigjährige hatte Françoise Gilot allerdings ziemlich viel zu tun. Zehn Monate im Jahr wohnte und arbeitete sie in ihrem 100 Jahre alten Studio nur wenige Meter vom Central Park entfernt auf der Upper West Side in Manhattan. Den Mai und Juni verbrachte sie in Paris in ihrem zweiten, ebenso großen Studio. Die Bilder reisten mit ihr hin und her.

Als ich bemerkte, dass sie trotz Lebensüberdrusses mehr Energie hatte als eine Handvoll Teenager, blickte sie mich streng an: »Ich habe gesagt, dass mir das Leben zum Hals heraushängt, nicht die Malerei!«

In 75 Jahren war dabei ein mächtiges Œuvre entstanden: Mehr als 5000 Zeichnungen und 1600 Gemälde waren es bis heute, und täglich wuchs das Werk weiter. »Außer malen tue ich ja nichts.« Eine Untertreibung. Da gab es das Archiv, in dem ihre wichtigsten Werke mit genauen Angaben verzeichnet waren und das gepflegt werden musste. Auch die Korrespondenz aus aller Welt riss nicht ab. Von nirgendwo erhält sie mehr Post als aus Deutschland. »Ich bekomme jeden Monat drei, vier Briefe aus Deutschland mit der Bitte um Autogramme, ist das nicht lustig?«

Nur der kleinste Teil ihrer Bilder war in Museen zu sehen, und doch war sie überall präsent. Seit über einem halben Jahrhundert hatte sie jedes Jahr mindestens eine Ausstellung ihrer Werke. Die Kunstsammlungen Chemnitz widmeten ihr 2003 und 2011 eigene Ausstellungen. Die meisten Bilder befinden sich im Privatbesitz von Sammlern in Amerika, England, Skandinavien und Deutschland.

Das Metropolitan Museum in New York hat einige Zeichnungen gekauft, darunter ein frühes Selbstporträt von 1941, auf dem die zwanzigjährige Françoise Gilot den Betrachter direkt aus ernsten Augen anblickt. Paris war zu dieser Zeit schon unter deutscher Besatzung, und das Leben der jungen Studentin der Philosophie und Rechtswissenschaft war mehr als einmal in Gefahr gewesen.

***

Als sie am 11. November 1940 zusammen mit Kommilitonen zum Arc de Triomphe marschierte, um Blumen auf das Grab des unbekannten Soldaten zu legen, wurde sie verhaftet und ihr Name auf eine Liste mit Geiseln gesetzt. Wenn in ihrem Wohnviertel ein deutscher Soldat getötet worden wäre, hätten die Deutschen 50 Franzosen auf dieser Liste umgebracht. »Es war ziemlich unangenehm«, erinnert sie sich. Drei Monate lang musste sie sich jeden Tag auf der Kommandantur melden.

Doch die weit aufgerissenen Augen der jungen Frau auf dem Selbstporträt von 1941 sind nicht die ängstlichen Augen eines Tieres im Scheinwerferkegel. Aus ihnen spricht keine Angst, sondern Lebensneugier, ja: Lebensgier. Ihr Blick ist ernst und fest. Kein Unglück, denkt sie sich, das nicht auch seine positive Seite hat.

Obwohl ihre Eltern das zeichnerische Talent der einzigen Tochter früh erkannt und gefördert hatten, verbot ihr der Vater, zur Kunstakademie zu gehen und die Malerei zum Beruf zu machen. So schloss sich an das offizielle Studium ein heimliches an, und sie ging jede Woche zu dem ungarischen Maler Endre Rozsda.

Drei Monate nach ihrer Verhaftung kommt ihr eine kühne Idee. Als sie sich wieder auf der deutschen Kommandantur melden muss, gibt sie an, nicht mehr Jura zu studieren. »Aus irgendeinem Grund hassten die Deutschen Jura-Studenten. Also habe ich gesagt: Ich bin Modegestalterin. Da haben sie mich laufen lassen, und seitdem male ich jeden Tag.«

Ihr erstes Ölbild malte Françoise Gilot 1939, da war sie 17. Es zeigt den Blick aus einem Fenster auf eine sonnendurchflutete französische Landschaft, und man erkennt sofort, dass darin die Geschichte ihres Lebens vorgezeichnet ist. Die großen offenen Türen sind in kühlem Blau gehalten, und das filigrane Eisengitter des französischen Balkons schafft eine gewisse Distanz zwischen dem Rauminneren und der bunten, wilden Welt dort draußen.

Françoise Gilot hat ihr kühles, nordisches Temperament nie verleugnet, das ein Erbteil ihrer Vorfahren aus der Normandie und dem Elsass ist. »Den Italienern kommt es vor allem auf Stil und Ausdruck an, die Spanier suchen Extreme, das brutal Deformierte. Ich glaube, ich bin in meiner Malerei viel eher eine Mathematikerin oder Philosophin und daher typisch französisch. Die Menschen in Frankreichs Norden haben dieses besondere Interesse daran, Mathematik und Metaphysik zu verbinden. Meine Vorfahren waren Wikinger, ist es da ein Wunder, dass meine Bilder nördliche Bilder sind?«

Der Norden ist ihre Himmelsrichtung. Von dort muss auch das Licht kommen, das durch die sechs Meter hohen Fenster sanft auf die Art-déco-Möbel