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Andrea Camilleri

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Beschreibung

Mal skandalös, mal zart und sehr amüsant: Camilleri setzt den Frauen seines Lebens ein Denkmal. Da ist die wunderschöne Desideria, die niemals einen eigenen Wunsch äußert und damit alle Jungen in der Klasse um den Verstand bringt. Helga aus der Schweiz, die einen irritierenden und zugleich faszinierenden Sauberkeits- und Pünktlichkeitswahn hat, von dem sie auch beim Liebesakt nicht ablässt. Angelica aus dem «Rasenden Roland», die der junge Camilleri in einer illustrierten Ariost-Ausgabe seines Vaters bewundern darf – womit er zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben eine nackte Frau sieht. Und viele mehr.

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Andrea Camilleri

Frauen

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Mal skandalös, mal zart und sehr amüsant: Camilleri setzt den Frauen seines Lebens ein Denkmal.

 

Da ist die wunderschöne Desideria, die niemals einen eigenen Wunsch äußert und damit alle Jungen in der Klasse um den Verstand bringt. Helga aus der Schweiz, die einen irritierenden und zugleich faszinierenden Sauberkeits- und Pünktlichkeitswahn hat, von dem sie auch beim Liebesakt nicht ablässt. Angelica aus dem «Rasenden Roland», die der junge Camilleri in einer illustrierten Ariost-Ausgabe seines Vaters bewundern darf – womit er zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben eine nackte Frau sieht. Und viele mehr.

Über Andrea Camilleri

Andrea Camilleri wurde 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, geboren. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur und lehrte über zwanzig Jahre an der Accademia d’Arte Drammatica Silvio D’Amico. Seit 1998 stürmte jeder Titel des Autors die italienische Bestsellerliste. Mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk hat er sich inzwischen auch einen festen Platz auf den internationalen Bestsellerlisten erobert. Im Kindler Verlag sind etliche seiner Werke erschienen, zuletzt «Aussetzer» (2015). Andrea Camilleri ist verheiratet, hat drei Töchter, vier Enkel und lebt in Rom.

Angelica

In zwei Angelicas war ich verliebt. Die Angelica, die Ludovico Ariosto in seinem Rasenden Roland erschuf, weihte mich in das Gefühl der Liebe ein, eine erregende, qualvolle Erfahrung.

Mit sechs Jahren lernte ich flüssig lesen. Seither habe ich nicht mehr aufgehört. Ich hatte meinen Vater um die Erlaubnis gebeten, Bücher aus seiner Bibliothek zu nehmen, und meine erste Lektüre war ein Roman von Conrad, Almayers Wahn. Mein Vater war kein Intellektueller, aber er hatte eine Vorliebe für gute Bücher. Wild durcheinander las ich Conrad, Melville, Simenon, Chesterton, Maupassant und von den Italienern Alfredo Panzini, Antonio Beltramelli, Massimo Bontempelli …

Meine Großeltern mütterlicherseits wohnten in der Wohnung neben uns, doch die Bibliothek von Großvater Vincenzo interessierte mich nicht. Sie war voller Handbücher über Getreideanbau und Viehzucht, außerdem standen da ein paar Werke über Kindererziehung, aber Romane fehlten völlig. Großvater sammelte auch eine Heftreihe über Geschichte, Geographie und Wirtschaft der Regionen Italiens. Die meisten Hefte hatte er binden lassen, doch etwa dreißig Stück lagen lose auf dem untersten Bord des Bücherregals.

Eines Tages bemerkte ich ganz zufällig, dass sich unter diesem Stapel ein großes Buch versteckte. Ich zog es hervor. Es war von beträchtlichem Umfang, zweimal so groß wie ein normales Buch. Auf dem schweren rotbraunen Einband stand in vergoldeten Buchstaben geschrieben: Ludovico Ariosto, Orlando Furioso. Die glänzenden Seiten waren aus dickem Papier. Schon auf den ersten Blick beeindruckten mich die wunderbaren Illustrationen von Gustave Doré.

Ich nahm das Buch an mich und brachte es in mein Zimmer. Ohnehin hätte niemand sein Verschwinden bemerkt.

Von da an lebte ich ein paar Jahre lang mit Angelica zusammen, deren äußerer Erscheinung ich hoffnungslos verfallen war. Dorés Stichen verdankte ich auch die unbeschreiblich erregende Erfahrung, zum ersten Mal den nackten Körper einer Frau zu sehen. War das Buch womöglich wegen dieser Zeichnungen halb versteckt gewesen?

Angelica wurde von Doré nie ohne Schleier gezeichnet, doch ich verlieh ihr den Körper eines anderen Mädchens, das nackt an einen Ast gefesselt war und dessen Bild ich an einer anderen Stelle im Buch gesehen hatte, ich habe vergessen, wo. Mit dem Zeigefinger fuhr ich behutsam über die Umrisse ihres Körpers, streichelte sie mit geschlossenen Augen, während mein Herz laut klopfte und ich mir den Namen Angelica unablässig aufsagte, wie eine Litanei.

Ich erinnere mich auch, dass dem Zehnjährigen, dessen Geist seit vier Jahren von ausgezeichneter und alles andere als kindgerechter Lektüre geprägt wurde, zwei Episoden des Poems unvergesslich blieben. Eine war die Geschichte von Fiammetta, die es schafft, ihre beiden Liebhaber zu betrügen, während sie zwischen ihnen im Bett liegt. Die andere war die Geschichte von Angelica, die sich, obwohl sie von heldenhaften Kriegern und reichen Adeligen umworben wird, in den armen Schäfer Medoro verliebt und mit ihm fortgeht, um ihr Leben mit ihm zu teilen.

Ich verstand, warum Orlando außer sich gerät, als er das erfährt, doch instinktiv verstand ich Angelicas Entscheidung noch besser und schlug mich auf ihre Seite.

Im ersten Jahr auf dem Gymnasium ging ich in eine gemischte Klasse. Alle meine Kameraden verliebten sich sofort in Liliana. Ich nicht, denn sie war zwar unbestreitbar schön, aber Angelica zu unähnlich.

Immer bevor wir ins Klassenzimmer gingen, hängten wir unsere Mäntel an die Kleiderhaken im Flur. Wenn der Unterricht beendet war, rannten meine Klassenkameraden nach draußen, um Lilianas Mantel zu holen und ihr beim Anziehen zu helfen. Das war ein Wettbewerb, bei dem es nicht ohne Schubsen und Beschimpfungen abging.

Fast immer gewannen die zwei kräftigsten Jungen, Giogìo und Cecè, Söhne reicher Kaufleute, stets gut gekleidet, immer Geld in der Tasche. Mich, den Sohn eines kleinen Angestellten, beachteten sie nicht einmal.

Doch eines Tages drehte sich Liliana zu Cecè um, der ihr den Mantel hinhielt, und befahl ihm kalt:

«Häng ihn wieder hin.»

Verblüfft gehorchte Cecè. Dann rief Liliana völlig unerwartet meinen Namen. Ich hatte die Szene beobachtet und ging gerade zum Ausgang, nun wandte ich mich überrascht um. Sie hatte mich bisher nur selten angesprochen.

«Andrea, hältst du mir den Mantel, bitte?»

Von dem Tag an war ich immer der Zelebrant dieses Rituals. Und so wurden mir verschiedene Privilegien zuteil, um die man mich glühend beneidete, allen voran, Liliana von der Schule nach Hause begleiten zu dürfen. Außerdem genoss ich Dinge, von denen niemand je erfuhr: ihre Hand, die meine suchte, ein rascher Kuss auf meine Wange, ein kaum hörbares «Ich mag dich» …

Und so entdeckte ich, dass in jeder Frau, mehr oder weniger verborgen, etwas von Angelica steckt.

Der anderen Angelica begegnete ich in Rom, es war Ende 1949 oder Anfang 1950, ich erinnere mich nicht genau.

Ich studierte Regie an der Accademia Nazionale d’Arte Drammatica, die damals von Silvio D’Amico, dem Gründer der Theaterakademie, geleitet wurde. Ein Stipendium erlaubte mir, fünfundzwanzig Tage im Monat ziemlich gut zu leben, die restlichen fünf oder sechs versank ich immer in Armut. Dann musste ich mich zum Mittagessen mit einem Cappuccino und einem Hörnchen begnügen. Fast immer setzte ich mich dafür in ein Café auf der Piazza Venezia an der Ecke zur Via del Corso.

Eines Tages bemerkte ich am Nebentisch eine schmächtige alte Dame, geschmackvoll gekleidet, die ebenfalls einen Cappuccino und ein Hörnchen bestellt hatte. Sie hob den Kopf und sah mich einen Augenblick lang an. Mein Herz machte einen Sprung.

Sie hatte genau die gleichen großen, sehr lebhaften Augen wie meine Großmutter Elvira. Ich liebte Großmutter innig, sie vermisste ich in Rom mehr als meine Eltern. Vielleicht blieb mein Blick zu lange an der alten Dame hängen, denn sie sah mich abermals an, diesmal lächelnd. Dieses Lächeln und dieser Blick übten einen unbeschreiblichen Zauber aus, im Nu brachten sie all die Jahre, die auf der Dame lasteten, zum Verschwinden und ließen sie wieder zum Mädchen werden. Ich konnte mich nicht beherrschen. Meine Beine bewegten sich von allein, ohne dass ich es ihnen befohlen hätte. Ich nahm meine Tasse und das Hörnchen, stand auf und ging zu ihrem Tisch.

«Darf ich?»

Sie bedeutete mir, Platz zu nehmen. Dann fragte sie ein wenig verwundert: «Haben Sie mich erkannt?»

Warum hätte ich sie erkennen sollen?

«Nein, aber Sie … ich bitte um Entschuldigung, Sie erinnern mich so sehr an meine Großmutter, dass …»

Sie lächelte. Ach, dieses Lächeln!

«Wie heißt Ihre Großmutter?»

«Elvira.»

«Ich heiße Angelica. Angelica Balabanoff.»

Ich fuhr zusammen, fast wäre ich vom Stuhl gefallen. Natürlich wusste ich, wer Angelica Balabanoff war: die große russische Revolutionärin, Freundin von Lenin, die Frau, die auf Mussolini großen Einfluss hatte …

Der Satz entwischte mir, bevor ich ihn zurückhalten konnte:

«Und wie war Lenin so?»

Diese Frage musste man ihr tausendmal gestellt haben. Sie antwortete sofort.

«Ein Mann von kompromissloser Aufrichtigkeit. Ein grausamer Engel.»

Doch sie hatte nicht die Absicht, mit mir über Politik zu sprechen, denn sie wechselte sofort das Thema und fragte mich, was ich machte. Als sie erfuhr, dass ich Theater studierte, leuchteten ihre Augen auf. Sie fing an, mich zu duzen.

«Was kennst du von Tschechow?»

«Alles, glaube ich.»

«Als junge Frau», seufzte sie, «wäre ich in der Möwe die perfekte Nina gewesen.»

Und sie begann, mit großer Begeisterung und Fachkenntnis über Tschechow zu sprechen. Doch sie redete nicht mit mir, um mich zu belehren, sondern auf Augenhöhe, als wäre sie eine meiner Mitstudentinnen an der Akademie. Ohne es zu merken, strich sie von Zeit zu Zeit über meinen Handrücken.

So entdeckte ich, dass die zweite Leidenschaft der Balabanoff, neben der Politik, das Theater war. Als ich gehen musste und mich von ihr verabschiedete, sagte sie: «Bis morgen. Und sag nicht Signora zu mir, nenn mich Angelica.»

Ich weiß nicht, warum, am nächsten Tag ging ich mit Herzklopfen zum Café, wie zu einer Verabredung mit einer Geliebten. Ich hatte niemandem erzählt, dass ich sie kennengelernt hatte, meine Freunde hätten es sowieso nicht verstanden.

Sie sagte mir nie, wo sie wohnte und wie sie ihre Tage verbrachte. Der Monat endete, wir hatten uns fünf Mal gesehen, am nächsten Tag würde ich mein Stipendium ausgezahlt bekommen. Somit war das Intermezzo der Cappuccini vorerst beendet.

«Angelica, darf ich Sie morgen zum Mittagessen einladen?»

Sie blickte mich überrascht an. Dann sagte sie zu.

«Ja, einverstanden.»

Sie ließ sich die Adresse des Restaurants geben und versprach, um ein Uhr dort zu sein. Dann erklärte sie, sie habe jetzt eine Verabredung und müsse leider los. Zum Abschied reichte sie mir die Hand. Ich beugte mich vor und berührte sie kurz mit den Lippen. Da stellte sie sich auf die Zehenspitzen, küsste mich auf die Wangen und umarmte mich.

Sie erschien nicht nur nicht im Restaurant, sie kam auch nicht mehr in das Café. Sie verschwand aus meinem Leben. Darunter litt ich lange.

Antigone

In der Tragödie Sieben gegen Theben schilderte Aischylos den von Polyneikes ausgelösten Bruderkrieg gegen Theben, aus dem Kreon, der König der Stadt, als Sieger hervorging. Sophokles schrieb dann mit seiner Tragödie Antigone eine Art Fortsetzung der Geschichte.

Kreon befiehlt, dass der Leichnam des Polyneikes, der als Verräter gilt, unbestattet bleibt und den Geiern zum Fraß vorgeworfen wird. Doch eines Nachts überraschen Wachen die junge Antigone, Polyneikes’ Schwester, als sie gerade versucht, den Bruder zu begraben. Ein solcher Verstoß gegen das königliche Verbot wird mit dem Tode bestraft. Vor Kreon rechtfertigt die junge Frau sich nicht, sondern beruft sich stolz darauf, den Gesetzen der Götter gehorcht zu haben, die in diesem Fall mit den menschlichen Gesetzen in Konflikt geraten sind. Sie ist bereit, ihr tragisches Schicksal anzunehmen, gibt weder Drohungen noch Schmeicheleien nach.

Kreon verurteilt sie tatsächlich zum Tode, sie soll lebendig in einer Höhle begraben werden. Doch Antigone erhängt sich. Und die Toten schreien nach weiteren Toten. Haimon, Kreons Sohn und Verlobter der Antigone, tötet sich, weil er seine Liebste verloren hat. Eurydike, Kreons Gattin, wird aus Trauer über den Verlust ihres Sohnes ebenfalls den Tod suchen. Der König kann dem Untergang seiner Familie nur ohnmächtig zusehen.

Die Figur der Antigone hat seither viele Bühnenautoren inspiriert.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb der französische Dramatiker Jean Anouilh einen langen Einakter. Darin wird Antigone als eine Figur gezeichnet, der die Auflehnung in die Wiege gelegt ist («Ich bin auf die Welt gekommen, um nein zu sagen und zu sterben»), und König Kreon als ein Pragmatiker, der aus seinen Sachzwängen agiert.

Viele lasen darin eine kaum verhüllte Verteidigung des Vichy-Regimes von Marschall Pétain, der während der Besetzung Frankreichs mit den Nazis kollaborierte.

Ich habe auch eine Antigone kennengelernt.

Natürlich nicht die literarische Figur, sondern ein Mädchen aus Fleisch und Blut, in deren Leben es jedoch dieselbe tragische Dimension und denselben düsteren, felsenfesten Willen der klassischen Heldin gab.

Ich bin ihr bei einer Talkshow im Fernsehen begegnet, bei der ich einen meiner allerersten Montalbano-Romane vorstellen sollte. Unter den Gästen war auch ein schmales Mädchen, brünett, große Augen, kaum älter als zwanzig, ungeschminkt und blass. Sie trug einen dunklen Pullover und Jeans, saß ein wenig zusammengekrümmt auf ihrem Stuhl, offensichtlich eingeschüchtert vom Publikum. Der Moderator stellte sie vor, ich hatte ihren Namen noch nie gehört. Er sagte, das Mädchen habe eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen.

Etwa in der Mitte der Sendung erteilte er ihr dann das Wort.

Sie begann zögerlich, mit Mühe, verriet beim Sprechen eine leichte sizilianische Färbung, und auch als sie nach einer Weile Mut gefasst hatte und unbefangener erzählte, klang ihre Stimme flach, verriet keinerlei Gefühlsregung. Sie nannte einfach nur die Fakten, mehr nicht. Und sie bewegte dabei keinen Muskel, machte keine Geste. Ihre Hände lagen im Schoß, ihr Kopf war ein wenig zur linken Seite geneigt, die Füße standen nebeneinander, der Blick war starr geradeaus gerichtet. Dabei sprach sie von Ereignissen, die ihr Leben zerstört hatten.

Sie erzählte, wie ihr Vater und ihr achtzehnjähriger Bruder eines Tages nicht rechtzeitig zum Abendessen zurückgekehrt waren. Wie sie, von der Mutter gedrängt, aufs Feld hinausgegangen war. Und wie sie im Stall die Leichen des Vaters und des Bruders gefunden hatte, fürchterlich entstellt von einem Jagdgewehr.

Sie war ins Dorf zurückgerannt und zur Kaserne der Carabinieri gestürzt. Die Ermittlungen konnten schnell abgeschlossen werden, die Carabinieri verhafteten zwei Mafiosi, die sogar in derselben Straße wohnten wie ihre Opfer. Wie sich rausstellte, hatten ihr Vater und ihr Bruder sich geweigert, den erpresserischen Forderungen der Gewalttäter zu gehorchen.

Doch dank irgendeiner juristischen Spitzfindigkeit waren die Täter, obwohl sie des zweifachen Mordes angeklagt blieben, bis zum Beginn des Prozesses wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Ein Jahr war seither vergangen, von dem Prozess sprach niemand mehr.

Das Mädchen lief den beiden Mördern jeden Tag über den Weg und wurde von ihnen stets mit einem ironischen, herausfordernden Grinsen bedacht.

Hier machte das Mädchen eine kurze Pause.

Sie hob den Kopf, reckte den Oberkörper und sagte mit derselben, fast monotonen Stimme, mit der sie bis jetzt gesprochen hatte: «Das ist nicht richtig, das ist keine Gerechtigkeit. Eines Tages werde ich sie töten. Wenn ich es nicht tue, bringen sie vorher mich um.»

In diesem Moment lief mir und wohl allen Zuschauern im Saal ein kalter Schauer über den Rücken, denn es stand außer Zweifel, dass sie es tun würde. Und dass es ihr nichts ausmachen würde zu sterben.

Gleichzeitig begriff ich, dass dieses Mädchen aus demselben Holz geschnitzt war wie Antigone und dass Antigone in genau dem Ton zu Kreon gesprochen hatte, in dem wir die junge Sizilianerin sprechen hörten – ohne Nachdruck, ohne überflüssige Gesten, vor allem aber mit jener ruhigen, übermenschlichen Entschlossenheit, zu der nur bestimmte Frauen fähig sind.

Beatrice

Halten wir uns an die Fakten. Im Jahr 1274 begegnet ein neunjähriger Junge mit Namen Dante, Sohn des Alighiero di Bellincione d’Alighiero, in Florenz einem Mädchen von acht Jahren, das Bice heißt und die Tochter eines gewissen Folco Portinari ist. Vielleicht lächeln die beiden sich an oder wechseln einen skeptischen Blick, auf jeden Fall ist das die ganze Begegnung. Doch dieser flüchtige Moment wird sich im Gedächtnis des Jungen festsetzen und im Lauf der Zeit zu ungeheurer Größe ausdehnen.

1277 wird Dante, gerade mal zwölf Jahre alt, vom Vater mit Gemma di Manetto Donati verlobt.

1283 begegnet der achtzehnjährige Dante abermals Bice. Er grüßt sie, und sie antwortet höflich, obwohl sie sich höchstwahrscheinlich fragt, wer dieser junge Mann wohl sein mag. Wie die erste Begegnung hat auch diese keine Folgen. Doch der Gruß wird für ihn nicht nur zu einem besonderen Erlebnis, sondern revolutioniert auch die Dichtkunst und bringt eine neue Sicht auf die Frau hervor.

So ganz holdselig scheint, so reich an Sitte

Die Liebste, sieht man sie im Gruß sich neigen,

Dass Zittern jeden Mund befällt und Schweigen,

Und keinem Aug’ ein dreister Blick entglitte …

Ist das nicht ein bisschen viel für einen einfachen Gruß? Und was wäre passiert, wenn das Mädchen sogar gesprochen, ein paar Sätze mit ihm gewechselt hätte? Wäre eine Panik in der Stadt ausgebrochen?

Vier Jahre später heiratet Bice Simone di Geri de’ Bardi. Und sie stirbt am 8. Juni 1290. Dante heiratet seine Verlobte Gemma wahrscheinlich 1295. Aus der Ehe gehen drei Jungen und ein Mädchen hervor.

Es gilt als gesichert, dass Dante und Beatrice (so wird Bice vom Dichter umgetauft) niemals Gelegenheit hatten, einander wirklich kennenzulernen, also nie auch nur ein Wort wechseln konnten. Sie blieben einander vollkommen fremd. Dennoch wird Beatrice für Dante immer und ewig «meine Liebste» bleiben, die Frau, die er ein Leben lang liebt und schließlich zu seiner Führerin durch das Paradies verklärt.

Ich muss an dieser Stelle meine vollkommene, ja, eingefleischte Unfähigkeit bekennen, diese Geschichte, die als eine sublime Art der Liebe gilt, zu verstehen. Ist Liebe denn nicht immer ein Spiel zwischen zweien? Die arme Bice hat nicht die leiseste Ahnung von dem Riesenspektakel, das Dante in ihrem Namen veranstaltet, sie ist himmelweit davon entfernt, sich für einen Engel oder etwas Ähnliches zu halten, sie ist eine treue Ehefrau und gute Mutter. Nie käme sie auf den Gedanken, dass sie zum Objekt nicht der Liebe, sondern des einsamen, rein geistigen Lasters dieses Dante geworden ist. Denn wenn der sich einmal auf etwas versteift hatte, gab es kein Halten mehr.

Francesco Petrarca schreibt in einem Brief an seinen Freund Giovanni Boccaccio, er habe Dante anlässlich eines Besuches bei seinem Vater nur einmal gesehen, als er noch ein Knabe war. Obwohl Petrarca endlose Lobeshymnen auf den Dichterfürsten singt, gibt er hier und da in einem Halbsatz zu verstehen, dass Dante stur seine Ziele verfolgte und auf nichts anderes bedacht war, als sich einen großen Namen zu verschaffen. Und nichts auf der Welt hätte ihn dazu bringen können, vom eingeschlagenen Wege abzuweichen.

Dante geht also so weit, sich eine Frau zurechtzuzimmern, die in der Wirklichkeit niemals existierte, und er stellt dieses Gebilde seiner Vorstellung so lange vor die wahre Bice, bis es sie auslöscht, sie zum Verschwinden bringt.

Wir müssen auf Petrarcas Dichtung warten, um eine Frau wieder in ihrer untrennbaren Einheit von Leib und Seele geschildert zu sehen, der «wahren Gestalt», wie es der Dichter nennt. Ironie des Schicksals: Während wir von Beatrice alles wissen, fehlt uns jede Information über Petrarcas Laura. Eines ist jedoch sicher: Diese Frau, die der Dichter am 6. April 1327 in der Kirche Santa Chiara in Avignon zum ersten Mal sah, hat wirklich existiert, und zwischen den beiden entbrannte eine übermächtige Leidenschaft.

Ebenso unbestreitbar ist, dass wir noch bis zu Boccaccios Decamerone warten müssen, um dort endlich wieder die ganze Fülle von Frauengestalten zu finden, so wie sie wirklich waren und sind, ohne Überhöhung oder Herabsetzung, mit all ihren Tugenden und Makeln.

Auch ich habe eine Beatrice gehabt, die aber Bice genannt wurde. Meine Geschichte mit ihr passt jedoch nicht zu Dantes Dichtung, sondern eher zu Boccaccios Erzählungen.

Bei uns in Sizilien endete der Krieg im Sommer 1943. Ein paar Monate lang musste sich alles neu ordnen, dann brach eine große Lebenslust aus.

Unser Freundeskreis, der sich in den letzten Schuljahren gebildet und später, nach der Landung der Alliierten, zerstreut hatte, fand sich wieder, mit ein paar Lücken zwar, die aber bald geschlossen wurden. Wir waren etwa ein Dutzend knapp zwanzigjähriger Männer und Frauen, und wir veranstalteten jedes Wochenende Tanzfeste, die von acht Uhr abends bis drei Uhr morgens und länger dauerten. Die Treffen fanden reihum in den Ferienhäusern auf dem Land oder am Meer statt, natürlich ohne die Eltern. Abwechselnd sorgte einer von uns für Proviant: drei große Laibe duftender «cuddriruni», eine runde Focaccia, die beim Bäcker bestellt und in Scheiben geschnitten wurde, und ein paar Flaschen guter Wein. Im Grunde waren wir genügsam, wir betranken uns nicht. Liebesgeschichten gab es keine, höchstens ein paar Fälle unverkennbarer Sympathie.

Die Lust am Zusammensein, am Tanzen und Trinken und daran, einander unsere Hoffnungen anzuvertrauen, wurde im darauffolgenden Sommer noch stärker. Jetzt sahen wir uns jeden Abend bei Sonnenuntergang und machten lange Spaziergänge. 1944 war der erste Friedenssommer für uns. Und es war, das ahnten wir dunkel, der Abschied von der Jugend.

Eines Tages – am 1. Juli, ich erinnere mich genau – überraschten Bice und Filippo uns alle mit der Ankündigung ihrer Verlobung. Die beiden erzählten uns, dass sie sich schon seit langem heimlich trafen. Wir hatten nichts davon bemerkt. Um den Freundeskreis für das zu entschädigen, was wir als Verrat ansahen, verdammten wir Filippo – mit seinen einundzwanzig Jahren der Älteste und auch der mit den reichsten Eltern – dazu, den ganzen Monat lang unseren Proviant zu bezahlen.

Bald aber fiel mir auf, dass sich in Bices Verhalten mir gegenüber etwas verändert hatte. Bis zu diesem Moment waren Bice und ich echte Freunde gewesen. Sie war eine schöne junge Frau, achtzehn Jahre alt, größer als ich, strahlend, langes, rotblondes Haar, schlanke, wohlgeformte Beine. Sie im Badeanzug zu sehen, war ein Genuss. Wir tanzten oft zusammen, vor allem beim Boogie-Woogie verstanden wir uns blind. Da sie nun aber mit Filippo verlobt war, erschien es mir natürlich, dass sie nur noch mit ihm tanzte. Doch eines Samstags Ende Juli kam sie auf mich zu und sagte, sie habe Lust, mit mir zu tanzen.

«Legen wir einen Boogie auf?»

«Nein, etwas Langsames. Nimm Stardust.»

Beim Tanzen drückte sie mich etwas fester an sich, dabei sah sie mich eindringlich an. Plötzlich flüsterte sie mir zu: «Ich sage es nur dir. Anfang Oktober heirate ich.»

Als die Platte zu Ende war, kehrte sie zu Filippo zurück. Der tanzte nicht so gerne, lieber schnappte er sich jemanden, zog ihn beiseite und verwickelte sein Opfer in ein Gespräch über Philosophie. Darum schien er auch keineswegs verstimmt, als Bice kurz darauf erneut zum Angriff auf mich überging. Doch diesmal war Bices Körper für alle sichtbar an meinen gepresst. So sehr, dass es mich verwirrte.

«Bice, was ist los mit dir?», fragte ich überrascht und verlegen.

«Stell keine Fragen.»

Wenn es ihr so gefiel …

Beim letzten Tanz flüsterte sie mir ins Ohr: «Halt dir den nächsten Samstag frei.»

Am kommenden Freitag verkündete Bice uns während des abendlichen Spaziergangs, dass ihre Eltern verreist seien, das Haus am Meer also zur Verfügung stehe. Darum solle das Tanzfest am folgenden Abend bei ihr stattfinden. Und sie fügte hinzu, Filippo und sie würden schon am Vormittag hinfahren. Darauf wandte sie sich an mich: «Kommst du mit uns?»

Ich war versucht, nein zu sagen. Was sollte ich dort, der lästige Dritte?

Doch ihr Blick überredete mich. Ich willigte ein. Am nächsten Morgen brachen wir mit Fahrrädern auf, Bice, Filippo, ich und Marina, Filippos siebzehnjährige Schwester, eine Art Wachhund der beiden Verlobten. In der Villa angekommen, zogen wir unsere Badesachen an und gingen zum Strand hinunter. Die Hitze war kaum zu ertragen. Filippo öffnete den Sonnenschirm, den er im Haus gefunden hatte, und flüchtete sich mit Marina in den Schatten. Bice und ich gingen derweil ins Wasser. Wir schwammen weit hinaus, irgendwann schlang Bice unter der Wasseroberfläche ihre Beine um meine. Küssen konnten wir uns nicht, vom Strand aus hätte man uns gesehen. Nach einer Weile wurde sie unruhig, ließ mich los und schwamm auf das Ufer zu.

Kaum am Sonnenschirm angekommen, sagte sie in gebieterischem Ton zu Filippo: «Ich habe Lust auf Seeigel. Kommst du mit?»

Seeigel zu sammeln bedeutete, in der sengenden Sonne einen Kilometer weit über den heißen Sand bis zur Scala dei Turchi zu wandern. Filippo lehnte ab und sah mich an. Da wurde mir klar, dass Filippos Weigerung von Bice eingeplant war. Ich holte das Messer aus der Strandtasche, und wir gingen los. Kaum waren wir außer Sichtweite, fingen wir an zu laufen, die Begierde brannte stärker als die Sonne. Der Strand war menschenleer. Keuchend fielen wir in den Schatten eines Felsvorsprungs aus weißem Kalkstein.

Zwei Stunden lang liebten wir uns wild und ohne Pause, wir wechselten kein einziges Wort, vergaßen die Seeigel, die Zeit, die ganze Welt.

Auch auf dem Rückweg sprachen wir nicht. Unsere Hände berührten sich kein einziges Mal. An diesem Abend tanzte sie nur mit Filippo, und für mich wurde sie wieder die Freundin, die sie immer gewesen war. Und so wie ich sie damals nicht nach dem Warum gefragt habe, frage ich mich auch heute nicht danach, siebzig Jahre später.

Bianca

Der Name und die Geschichte von Bianca Lancia dürfen in dieser Sammlung nicht fehlen, und zwar wegen einer kurzen, herzzerreißenden Biographie Biancas, die ich vermutlich vor langer, allzu langer Zeit gelesen habe. Ich sage «vermutlich», weil ich diese Biographie, obwohl ich später überall danach gesucht habe, nie wiedergefunden habe, und auch an den Namen des Autors erinnere ich mich nicht. Schlimmer noch, Biancas Geschichte, wie sie bei Wikipedia zusammengefasst wird, stimmt ganz und gar nicht mit meiner Erinnerung überein. Ich bin darum zu dem Schluss gekommen, dass besagte Biographie eine Phantasie oder sogar ein Traum war. Solche Streiche spielt uns das Gedächtnis mitunter.

Ich beginne mit der offiziellen Version.

Bianca ist die Tochter von Bonifacio I., Conte di Agliano und Marchese di Buscavisse. Bonifacios Bruder, Manfredi II., ein treuer Gefolgsmann des Stauferkaisers Friedrich II., ist außerdem ein so guter Freund des Kaisers, dass dieser ihn 1240 zum Reichsvikar in Italien und später zum Stadthauptmann von Asti und Pavia ernennen wird. Als Friedrich 1225 in zweiter Ehe Jolante von Brienne heiratet (seine erste Frau war Konstanze von Aragon), ist die Familie Lancia zu den Feierlichkeiten eingeladen. Bei dieser Gelegenheit sieht Bianca den Kaiser nicht nur zum ersten Mal, sie verliebt sich auch gleich Hals über Kopf in ihn und wird, ipso facto oder fast, seine Geliebte.

Ihre Verbindung wird von langer Dauer sein. Bianca und Friedrich bekommen drei Kinder: Costanza (1230), Manfred (1232) und Violante (1233). Friedrich hatte viele Geliebte und Kinder, doch zweifellos genießt Bianca eine bevorzugte Stellung, nicht zuletzt weil sie die Mutter des von Friedrich innig geliebten Manfred ist. Als Friedrichs dritte Frau Isabella von England, die er 1235 heiratete, im Jahr 1241 stirbt, erhält Bianca das mit der Festung Monte Sant’Angelo verbundene Lehensgut. Hier, erzählen die Chronisten, lebt sie wegen Friedrichs krankhafter Eifersucht lange in völliger Abgeschiedenheit. Denn immer wenn ihn die Besitzgier überfällt, geht er dazu über, die Geliebte völlig von der Welt zu isolieren.

Den Historikern Pantaleo und Pater Bonaventura da Lama zufolge scheint er dies auch getan zu haben, als Bianca mit Manfred schwanger war: Er sperrt sie im Kastell Gioia del Colle ein. Nach der Entbindung soll Bianca sich umgebracht haben, indem sie sich die Brüste abschneidet und sie, zusammen mit dem Neugeborenen, dem Kaiser bringen lässt. Wie hätte sie aber als Tote Violante noch gebären können?

Andere Chronisten berichten, dass Friedrich sie um 1246 heimlich in articulo mortis heiratet, weil Bianca schwer krank ist. Und tatsächlich soll sie wenige Tage nach der Eheschließung gestorben sein. Doch Salimbene de Adam bietet in seiner Chronik eine ganz andere Version. Er erzählt, dass Bianca sich in Wahrheit einer ausgezeichneten Gesundheit erfreut, aber die Schwerkranke spielt, nur um geheiratet zu werden, und dass sie Friedrich, der 1250 stirbt, sogar überlebt. Sie inszeniert also den gleichen Betrug wie Filumena Marturano in De Filippos herrlicher, gleichnamiger Komödie. Die Behauptung des Historikers Salimbene, Bianca habe Friedrich überlebt, führt uns nun direkt zu der Geschichte, die ich geträumt oder gelesen habe. Hier ist sie.